In „Hamburger Fremdenblatt” vom 30.Juli 1897
„Jawohl, ich kaufe mir ein Rad,” wiederholte der Gefreite Meinert von der königlichen Zwölften, gegenüber den Meinungsverschiedenheiten seiner Kameraden. „Radfahren ist der Sport der Zukunft, auch für den Krieg wird der Radfahrer einst von wichtigster Bedeutung sein, außerdem spart man durch die schnelle Beförderung außerordentlich viel Zeit und kann an Sonntagen oder Abends nach dem Dienst die schönsten Ausflüge machen —”
„Falls nicht unterwegs ein Unglück passirt — dann sitzt man da „bei der schönen Aussicht” und kann weder vorwärts noch rückwärts.”
„Alle Schäden sind leicht zu repariren,” meinte der Angeredete siegesgewiß, „Das muß ich doch wissen.”
„Bist Du denn Deiner Künste schon so ganz sicher?”
„Nein, aber ich übe das Fahren nun schon mehrere Tage, da kann man sich schon immerhin ein Urtheil erlauben.”
Nun schwiegen die Anderen und hörten Meinert's ferneren Darstellungen zu: wie schnell man das Fahren erlerne, welch eine Geschmeidigkeit es dem Körper verleihe und wie sich die Muskel- und Sehnenkraft dabei ausbilde, „besonders bergauf ist es zuerst eine schwere Arbeit, aber, wie gesagt, Das stärkt die Glieder.”
Meinert konnte Viel behaupten, ohne fürchten zu müssen, daß ihm Jemand widerspräche. Jeden Abend führte er das Lernrad, das er sich vorläufig von einem Trödler geliehen hatte, vorsichtig durch die Straßen der Stadt, warf liebevolle Blicke auf die blanken Speichen und die straffen Gummistreifen, die die Räder umgaben und behauptete, außerhalb der Thore nur noch als Blitz aufzutreten. Niemand konnte ihn Lügen strafen, Jeder fand es nur begreiflich, daß Meinert sich erst als Meister bewundern lassen wollte und sich Dem nicht aussetzte, daß er in den Straßen bei dem Erweisen einer Ehrenbezeugung — für Anfänger bekanntlich das Schwerste „so man hat” — herunterfiele und sich und den Rock, den er trug, nicht lächerlich machte.
„ Und bald bin ich ja nun so weit,” schloß er seine Rede und trank sein Glas Bier aus, „dann werdet Ihr mich beneiden.”
Das thaten sie eigentlich jetzt schon, einmal weil der Gefreite Meinert Compagnieschreiber war und als solcher dienstlich ein sehr bequemes Leben führte, dann aber auch, weil er von seinen Eltern, die sehr wohlhabende Leute waren, monatlich eine bedeutende Zulage erhielt, endlich aber, weil ein Rad zu besitzen, der sehnlichste Wunsch jedes Einzelnen war, besonders Derjenigen, die Meinert am meisten abgerathen hatten, sein Geld für solchen „Blödsinn” auszugeben.
„Willst Du Dich auch an dem Wettfahren betheiligen, das ja wohl in vier Wochen ist?” fragte der Gefreite Brause, und als Meinert ein „Natürlich, selbstverständlich” zur Antwort gab, fuhr Brause fort: „Hast Du Dich denn schon angemeldet? Die Listen Derjenigen, die sich an dem Rennen betheiligen wollen, sollen bis übermorgen Mittag dem Regiment eingereicht werden. Vergiß Das nicht, Nachnennungen sind nicht zulässig.”
„Natürlich melde ich mich noch an, natürlich,” antwortete Meinert. Dann aber holte er sich ein frisches Glas Bier und brachte das Gespräch auf den Dienst, er wollte sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängen.
Innerlich aber war ihm nicht ganz behaglich; daß man von ihm erwartete, er würde sich an dem Wettfahren betheiligen, Das war doch für einen Anfänger eine starke Zumuthung, aber daß seine Eitelkeit ihn dazu veranlaßt hatte, auf die diesbezügliche Frage mit „natürlich” zu antworten, Das war denn doch noch stärker. Dachte er an das heutige Resultat — er „fuhr” nun schon vierzehn Tage — so mußte er leider zugeben, daß er von der Ausfahrt zwei Löcher in der funkelnagelneuen Extrahose, einen zerquetschten Finger und mehrere Hautabschürfungen davongetragen hatte, die er sich bei einem Fall auf einen Haufen kleingehauener Chausseesteine zugezogen hatte. Die Hautabschürfungen an der Stirn und der Nase hatte er mit englischem Pflaster überklebt und sie als „Mückenstiche” bezeichnet, die verunglückte Hose hatte er heimlich zu einem Uniformschneider in der Stadt gebracht, und den gequetschten Finger versuchte er mit Glück der Beachtung des Publicums zu entziehen, indem er die Hand geballt hielt, aber seine Ungeschicklichkeit ließ sich damit doch nicht aus der Welt leugnen, am wenigsten vor dem eigenen Gewissen. Er mußte also in vier Wochen enorme Fortschritte machen, oder richtiger gesagt, er mußte Alles lernen; sicheres Aufsteigen, Gradeausfahren mit Vermeidung aller Schlangenlinien, in denen er bisher die Chausseegräben abwechselnd streifte, dann das Bergauffahren und vor allen Dingen noch Ausdauer, und die war doch nur durch endloses Ueben zu erreichen. Jetzt ermüdete er schon in wenigen Minuten und fühlte sich, wenn er stolz erhobenen Hauptes sein Rad durch die Straßen der Stadt zurückschob, zum Umfallen matt und erschöpft. Und nur seine Energie als Mann und als Soldat zwang ihn dazu, den Sport weiter zu treiben. Ach was! Er konnte ja irgend einen Ausweg ersinnen, wenn er wirklich bis dahin noch nichts Besonderes leistete, wenn er in seinem Innern überzeugt war — und schließlich, eines Tages würde er denn doch dieses Rad besiegen — und sich als dessen Meister fühlen, also nur nicht den Muth verlieren.
Weder trank Meinert sein Glas aus, denn mit der Zuversicht wuchs sein Durst und mit diesem wieder die bestimmte Hoffnung: bis dahin lerne ich es doch!
Als am nächsten Mittag die Königliche Zwölfte eben bestäubt und müde von einer großen Felddienstübung zurückgekehrt war, trat in die Stube, in der Meinert mit zehn anderen Kameraden lag, in Begleitung eines Mannes der Kasernenwache, ein sehr elegant gekleideter Herr, der den „Gefreiten Meinert” zu sprechen wünschte.
Meinert, der gerade bei dem Umziehen war, trug als der Besuch in das Zimmer trat, dasselbe Costüm wie damals bei dem Sündenfall, und während man sonst seine Besucher bittet, näher zu treten, konnte er seinen Gast nur bitten, nach draußen zu treten und ihn dort zu erwarten.
„Mein Name ist Reders, Kaufmann,” begann der Fremde, als Meinert ihm wenige Minuten später in einem reinen Drillichanzuge, die Füße in grünen Filzpantoffeln, auf dem Corridor gegenüberstand, „ich bin nämlich der Vorstand des hiesigen Radfahrervereins, und ich komme im Auftrage des Comités, um Sie, Herr Meinert, um Ihre Theilnahme an unserm bevorstehenden Fest zu bitten.”
„Aber ich bitte Sie,” wehrte Meinert mit aller ihm zu Gebote stehenden Liebenswürdigkeit und Höflichkeit gezwungen lächelnd ab, „meine Künste können noch gar nicht in Betracht kommen, ich bedarf noch sehr der Uebung.”
„Zu bescheiden, wirklich zu bescheiden,” unterbrach ihn das Vorstandsmitglied, „Sie wollen gewiß nur gebeten werden, und Das thue ich von Herzen gern. Der Herr Gefreite Brause, den ich gestern Abend noch traf und mit dem Sie, wie er mir sagte, in der Kantine darüber gesprochen haben, erzählte mir, daß Sie eine Aufforderung nur selbstverständlich finden würden.”
„Natürlich, Brause,” sagte Meinert wüthend vor sich hin — er stand sich mit diesem etwas auf dem Kriegsfuß. Brause beneidete ihn um die Stellung des Compagnieschreibers, die er selbst gar zu gern innegehabt hätte; dazu kam, daß auch dem „Ewig Weiblichen” gegenüber Meinert entschieden im Vortheil war, und so gönnte Brause dem Kameraden, der nach seiner Meinung „riesig großschnauzig” war, von Herzen einmal eine kleine Niederlage irgend welcher Art.
„Natürlich, Brause,” wiederholte Meinert wüthend; dann aber besann er sich darauf, daß das Wort „natürlich”, das er vorgestern Abend schon einmal gebraucht, schuld an diesem ihm höchst unangenehmen Besuch sei, und so fügte er denn auf Reders' erstaunten Ausdruck hin schnell hinzu:
„Ich meine, Brause hat eine von mir im Gespräch hingeworfene Bemerkung für ernst genommen. Abends beim Bier spricht man so manches Wort leichthin, ohne es auf die Wagschale zu legen. Nicht wahr, Herr Reders?”
Dieser stimmte ihm durch ein bedeutungsvolles Nicken seines Kopfes bei und schon glaubte Meinert, die Sache sei damit abgethan, als Reders, der keineswegs daran dachte, sein vis-à-vis so leicht sich entschlüpfen zu lassen, zu ihm sagte:
„Gewiß ja, Sie haben ja sehr Recht, aber Sie können doch nicht leugnen, daß Sie radfahren?”
„Nein, aber —”
„Bitte, entschuldigen Sie! Und daß Sie im Begriff stehen, sich ein eigenes Bycicle anzuschaffen?”
„Ja, aber —”
„Und daß Sie jeden Tag am Abend fleißig üben?”
„Ja, aber —”
„Bitte, noch einen Moment! Selbstverständlich würde es unserem Club, dessen Vorstand zu sein, ich die Ehre habe,” Herr Reders richtete sich zu seiner ganzen nicht bedeutenden Höhe empor — was ihm über dem Kopf fehlte, war ihm vor dem Magen gewachsen — „selbstverständlich würde es unserem Club niemals in den Sinn kommen, Sie mit unseren besten Fahrern oder solchen von Profession in Concurrenz zu bringen. Aber der Zweck unseres Vereins ist es ja gerade, das Interesse für diesen Sport in den weitesten Kreisen zu erregen und in allen Kreisen der Bevölkerung für diese der Gesundheit des Körpers wie der Ausbildung der Glieder und Muskeln gleich vortheilhafte Bewegung Propaganda zu machen. Und wie könnte Dies besser geschehen, als durch ein kleines Wettrennen, das dem Zuschauer zeigt, zu welchem bedeutenden Können sich das als Spielerei betrachtete Vergnügen ausbilden läßt und das ihm beweist, wie weit sich der Sport schon Bahn gebrochen hat, was ja auch mit dem Radfahren sehr einfach ist, nicht wahr?” unterbrach Herr Reders seine „wie gedruckt” klingende Rede mit einem kleinen Witz. Er nahm sich den Hut von der Stirn und trocknete sich mit seinem Taschentuch die auf derselben perlenden Schweißtropfen — auch Reden macht heiß und müde —, dann fuhr er wieder ernsthaft fort, Meinert die Vortheile auseinander zu setzen, wenn auch das Militär sich an dem Wettfahren betheiligen würde, er habe bereits vor einigen Tagen mit dem Herrn Regiments-Commandeur darüber gesprochen, und auch Dieser habe der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß sich möglichst viele Unterofficiere und Mannschaften betheiligen würden, da das Fahrrad auch in militärischer Hinsicht dereinst eine große Rolle zu spielen berufen sei. Und schließlich sprach er noch über das erhebende Gefühl, das den Sieger durchströme von dem Beifallsrufen der Menge, das ja fast noch mehr belohne, als die schönen, werthvollen Preise, die ausgesetzt und schon jetzt öffentlich ausgestellt seien.
So sprach Herr Reders und in Meinert's Herzen kämpften der erwachende Ehrgeiz und das Bewußtsein seiner Ohnmacht mit einander. Vier Wochen. Das sind rund dreißig Tage, die vier Sonntage, an denen er nochmal so viel wie an den Wochentagen üben konnte, doppelt gerechnet, fünfunddreißig Tage, was kann man in solch einer langen Zeit nicht Alles möglich machen. Und wie wenig er noch leistete, Das offen einzugestehen, gestattete seine Eitelkeit wieder nicht; er saß wirklich zwischen Nesseln und Dornen.
Aber Herr Reders trennte sich nicht von ihm, ehe er nicht die Erlaubniß hatte, dem Comité die feste Zusage des Gefreiten Meinert bringen zu dürfen. Nun mußte er alle seine Kräft anspannen, nun galt es, Muth und Ausdauer zu zeigen. Und die vier Wochen lagen vor ihm wie ein himmelhoher Berg; jeder Tag bedeutete eine Anhöhe, und ganz oben, auf der Kuppe des Berges stand Herr Reders mit einem wundervollen blanken Gegenstand in der Hand, den er ihm, dem Sieger entgegenhielt — also vorwärts, marsch aufs Rad!
* * *
Aus einem langen Zauberschlaf war die kleine Stadt zu einem regen Leben erwacht. Schon vom frühen Morgen her ertönten laute „All-Heil”-Rufe(1) durch die Straßen und die Einwohner drängten sich, um jetzt schon die fremden Radfahrer zu bewundern, ihre Meinungen über die Erfolge des Einzelnen und ihre freudigen Erwartungen über das bevorstehende Fest auszutauschen. Mittags war vom Marktplatz aus ein Corso, an dem sich auch der Militär-Radfahrerverein betheiligte, unter blumengeschmückten Reifen gefahren worden, und nun wanderte Alles geputzt und vergnügt zu dem am Ufer des ziemlich breiten Flusses gelegenen Festplatze hinaus. Elegante Wagen entführten die Officiersdamen des Regiments und die ersten Würdenträger der Stadt mit ihren Familien — wie ausgestorben lagen die Gassen da, selbst von den neugierigen Hunden verlassen.
Herr Reders strahlte vor Erregung und Gewichtigkeit: er nahm die vom Club geladenen Ehrengäste in Empfang, brachte sie auf den mit rothen Decken geschmückten Plätzen der Tribüne unter und beeilte sich, Alles mitzutheilen, was ihn für seine Zuhörer wissenswerth dünkte: wieviel Mühe und Kosten es erfordere, die Bahn in tadellosem Zustand zu erhalten, welche Abzeichen die verschiedenen Vereine der Nachbarstädte trügen, wie groß die Betheiligung sei und welche Chancen sich dadurch für Jedermann böten. Er vertheilte auch die Programme, auf denen Raum genug gelassen war, um den Namen des Siegers sowie die Zeitdauer der Fahrt zu verzeichnen — kurzum, Alles war so schön wie möglich eingerichtet.
Etwas abseits von den in bunten Farben glänzenden Radlern hielten sich die militärischen Concurrenten. Sie sollten zuletzt an die Reihe kommen, um den Reigen würdig abzuschließen, und Herr Reders konnte nicht genug betonen, daß er keine Mühe gescheut habe, um außer dem Gefreiten Meinert auch noch einen Sergeanten, der schwankend in seinem Entschluß gewesen sei, für das Fest zu gewinnen, so daß sich an dem Militärfahren jetzt im Ganzen drei Gefreite und zwei Unterofficiere betheiligen würden — mit Hinblick auf die kleine Garnison sei das Rennen also sehr gut besetzt. Reders selbst war ein alter Soldat, der mit Auszeichnung den letzten Feldzug mitgemacht hatte — und noch immer stand bei ihm Alles, was an jene schöne, entschwundene Zeit erinnerte, in höchstem Ansehen und die Bemühungen der Civilisten waren ihm Nichts als kurzweilige Vorbereitungen für die glanzvollen Leistungen seiner „Compagnie”, wie er scherzend meinte.
Nun ertönte die Glocke zum Beginn des ersten Rennens, ein Pistolenschuß gab das Zeichen zur Abfahrt, aber keineswegs „wie aus der Pistole geschossen”, sondern ruhig und langsam setzten sich die Fahrer in Bewegung. So oft sie den „Start” passirten, ertönte die Glocke — die vierte Runde sollte den Ausschlag geben, wie Pfeile schossen die Fahrer beim vierten Glockenzeichen durch den Start und die Spannung der Zuschauer wuchs mit dem athemlosen Eifer der Rivalen. Da — schwarz — er siegte mit einer Radumdrehung, die Musik spielte einen Tusch, die Preisrichter riefen ein „Bravo” von ihrer Tribüne herab und brausend fiel das Publicum ein und begrüßte mit einem Beifallssturm den Sieger. Die Rennen folgten dicht auf einander und boten mehr oder minder interessante Augenblicke, je nachdem man von vornherein wußte: „Weißblau” siegt, oder ob zwei gleichwerthige Fahrer bis ganz zuletzt dicht nebeneinander blieben und jeder Zuschauer den inneren Drang in sich fühlte, auf Einen der Beiden mit Leib und Seele zu schwören.
Herr Reders war der Einzige, der kühl bis ans Herz hinan dem ganzen Treiben gegenüber blieb: ein selbstbewußtes Lächeln umspielte seine Lippen, er sah aus wie ein Mann beim Skat, der seine vier Buben sicher zwischen Daumen und Zeigefinger hält, es aber noch nicht an der Zeit findet, seinen Gegner mit der Thatsache zu Boden zu schmettern.
Eine kleine Pause im Programm: Die Preisrichter erfrischten sich an einem, die Musik an zwei Glas Bier, während die abgehetzten Radler sich an dem „All Heil”-Getränk, Selterswasser mit Cognac, gütlich thaten. Das Publicum fand Zeit, sich gegenseitig zu mustern, die Befriedigung über die empfangenen Genüsse auszutauschen und für die Sieger oder Besiegten Ausdrücke der Anerkennung oder des Mitleides zu finden. In Herrn Reders' Gestalt kam Leben: er lief hin und her, trug Nachrichten von den Preisrichtern zu seiner „Compagnie”, brachte eilenden Fußes Bescheid zurück und sorgte in vortrefflicher Weise dafür, daß der Rennplatz während der Zwischenpausen nicht verödet dalag; er hielt die Communication offen. Ein dicker Sattler rief ihm zu: „Reders, Du löppst wull de Wett zwischen de Has' un de Swinegel,” und sein Nachbar, der Herr Reders von jeher abgeneigte Buchbinder Deckels verbesserte seinen Vorredner, in dem er sagte: „Nee, nee, Reders, dat stimmt nich. De Swinegel hädd ja garnich lopen, blot Vorspeegelungen makt — un Du deihst doch mehr för uns!”
Doch Reders bestrafte kleinliche Eigenschaften wie Neid und Bosheit immer nur mit Stillschweigen, was sollte ihn veranlassen, diesem vornehmen Grundsatz heute, noch dazu vor so vielen Menschen, untreu zu werden?
Aber was war Herrn Reders innere Unruhe den entsetzlichen Zweifeln gegenüber, die an des Herrn Gefreiten Meinert's Eingeweiden nagten, ihn immer von neuem schmerzhaft bissen, wenn er seine Gedanken abzuwenden versuchte, und ihn immer wieder der sicher eintretenden Blamage ins Auge schauen ließen? Wozu hatten ihm die vier Wochen genützt? Blasen hatte er an den Sohlen und den Fußspitzen, Krämpfe in den Fingern, wundgeriebene Knie und ein lahmes Kreuz, nicht zu gedenken der äußeren, mehr sichtbaren Verwundungen, die ihm der Kampf mit dem Rad eingetragen hatte. Oft stand er selbst wie vor einem Räthsel: er war ein guter Turner und Contrafechter, ein geschickter Schwimmer und hatte in der Schule stets für einen gefährlichen Gegner im Ringkampf gegolten. Er war gerade und kräftig gewachsen und machte durchaus nicht den Eindruck, als sei er besonders ungelenk. Auch daß er ein flotter Tänzer sei, hatten ihm die Mädchen mehr denn einmal versichert — woran lag es denn nur, daß es ihm entsetzlich schwer wurde, das Radfahren zu erlernen? Täglich war er voll neuen Muthes hinausgewandert, stolz erhobenen Hauptes, und immer wieder sagte er vor sich hin: „Nun thue sich so, als ob gar nichts vorgefallen sei, so, als hätte ich gar keine Ahnung, daß — und ob — und — plautz, schrrrr! Immer heftiger hatte er das Vorderrad nach den Seiten geschwenkt, dann warf es ihn nach links oder rechts in den Chausseegraben — er saß zu unruhig und machte es sich dadurch selbst unmöglich, die Balance zu halten — und was das Leben ohne die Liebe, was ein Portemonnaie ohne Geld, das ist ein Radfahren ohne Balance.
Aber auch Abfallen übt sich; allmählich gelang es ihm, rechtzeitig das richtige Bein auf die Erde zu setzen und so die Tücke seines Stahlrosses zu pariren. Dann lief er unentweg vorwärts, einen Fuß auf dem Auftritt, bis er den Moment fand, wo er das rechte Bein nachziehen und sich in den Sattel niederlassen konnte. Und endlich konnte er geradeaus fahren, eine lange, lange Weile, bis er endlich in seiner und seines Rades Kraft den todten Punct erreicht hatte, dann standen sie Beide still. Auf seiner Chaussee hatte er nun schon die passenden Gelegenheiten zu diesem erzwungenen Waffenstillstand auserspäht: einmal hielt er an dem großen Wegweiser, der die Landstraße zum nächsten Dorf anzeigte, seine nächste Station war die alte Eiche, deren weit herauspringende Wurzeln ihm eine bescheidene Anlehnung gestatteten, sein Endpunct der Haufen kleiner Chausseesteine, die von der „Wegeverbesserung” schon lange zum Verbrauch angewiesen, aber zu seinem Heil gänzlich vergessen worden waren. Die Tugend siegt, und auch er konnte an diesen drei Leidensstationen endlich halten, ohne daß er abzusteigen brauchte — nur einen Augenblick der Ruhe mußte er sich und dem Rade gönnen. Freilich, „wenden”, Das war mit vielen Schwierigkeiten verbunden und blieb immer, wenigstens mit gutem Ausgang, eine Glückssache, daher sagte er täglich den Chausseesteinen, daß er glatt um sie herumfahren könne, ohne ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu widmen, daß er jedoch gerade heute keine Lust habe, ihnen gegenüber den Hochmüthigen zu spielen. Die Chausseesteine blieben ob dieser steten Anmaßung stumm und blank liegen und standen daher in vornehmer Gesinnung mit Herrn Reders auf einer Linie. „Wenden” war ja nun heute bei dem Wettrennen überhaupt nicht nöthig. Man stieg einfach auf, fuhr los und überließ es einem gütigen Geschick, ob man gleich abfallen oder erst an der nächsten Ecke herunterpurzeln würde. Jedenfalls stand Das fest: ein Stück Weges wollte er sich große Mühe geben, denn seine vollkommene Unfähigkeit sollte Niemand auch nur ahnen; was er dann wollte, Das wußte er noch nicht bestimmt: entweder flach hinschlagen und eine Ohnmacht fingiren, mit einem sehr geschickten Tritt seinem Rad einen inneren Schaden zufügen, oder, oder — kurz und gut, irgend etwas mußte er thun, um einer Blamage vorzubeugen — den Triumph durfte er schon dem Gefreiten Brause nicht gönnen. So sann er über eine ehrenvolle Niederlage nach, während neben ihm die Herzen seiner Gefährten von den ehrgeizigsten Plänen bewegt wurden.
„Ein bescheidener Kerl!” meinte Sergeant Schmidt und deutete auf Meinert, „der hält sich ganz zurück und prahlt nicht.”
„Der hat es faustdick hinter den Ohren,” bemerkte der Gefreite Hansen, „zu mir sagte er vorhin, sein Rad sehe ihm heute so verändert aus, so krank, — Das sind Alles nur Flausen, mit denen er uns täuschen und sicher machen will — Herr Reders hält große Stücke auf ihn.”
„Ein Scheinheiliger und Heuchler? Gut, den wollen wir kriegen. Kinder, laßt ihn nicht gewinnen,” und Sergeant Schmidt glaubte Meinert's Untergang besiegelt zu haben, ohne zu ahnen, daß er damit noch einem Selbstmörder hülfreiche Hand böte.
„Klinge—linge—linge—ling.”
Nun galt es! Noch einen Blick warf der Gefreite Meinert auf seine untadeligen weißen Beinkleider, die wie Tricot anlagen, damit sie ihn nicht bei der Fahrt behinderten und die die Träger seines Ruhmes umhüllten, dann saß er schon im Sattel, er hatte sich selbst übertroffen. Langsam umkreisten auch diese Rivalen zuerst die Bahn, um bei dem erneuten Glockenzeichen davonzusausen. Meinert rechnete seine Todesstunde aus; da, an der nächsten Biegung war seine und seines Rades Kraft erschöpft, er fühlte schon ein Ermatten seiner Beine und ein leises Zittern seiner Arme. Sollte er abspringen? Sich für besiegt erklären? Nein, nein, er wollte wenigstens versuchen, eine Galgenfrist zu gewinnen. Wenn er sich nun einbildete, dort sei der Wegweiser? Dann konnte er einen Augenblick rasten, Niemand konnte ahnen, was ihm passirt und weiterrasen konnte er dann bis zu — ja, bis zur alten Eiche! Weiter dachte er noch nicht, nur alle sein Kräfte spannte er an, um die erste Station zu erreichen. Sie war ein wenig weiter als der Wegweiser, und er keuchte vorwärts, die Augen weit aufgerissen, um deutlich „Nach Vogelheide” lesen zu können. Da! — Nach Luft schnappend, hielt er inne, die Lider geschlossen, um ja an seiner Vorstellung nicht irre zu werden. Ein leises Murmeln ging durch die Reihen der Zuschauer: was fehlte dem Armen, drohte ihm ein Schwindel — war seine Maschine in Unordnung geraten —? Aber da schoß er schon wieder davon, „natürlich, um die verlorene Zeit wieder einzuholen,” in Wirklichkeit aber nur nach einer alten Eiche ausspähend. Anderthalbmal lag die Bahn nun schon hinter ihm — seine Gefährten sah er schon in weiter Ferne vor sich — und was war Das? Da lagen ein Rad und ein Mann — ein Paar weiße Beinkleider leuchteten ihm entgegen. „Gott im Himmel, wenn er noch drei Secunden liegen bleibt, bin ich da — bei der alten Eiche.
„Welch' ein ausgezeichneter Mensch! Er hält aus Mitleid mit dem Gestürzten” (es ist übrigens Sergeant Schmidt), er schließt sogar die Augen, als wenn ihm schwach würde, ja Leute mit weichem Gemüth eignen sich gar nicht zum Sport, der die Eigenliebe —”
Das Andere verklang an seinem Ohr, fort war er wieder.
Einem Gefreiten brach das Pedal — er sprang ab und lief auf den Rasen, um den Weg für die Nachkommenden frei zu machen. Meinert zählte: die Chausseesteine, denn wer dreimal die Bahn gemacht, wenn er dann ganz lange die Augen schloß, so konnte er sich einbilden, er habe schon gewendet und nur noch den Weg zurückzujagen. Er fuhr jetzt so schnell, daß ihn ein immer lauter werdendes Bravo begleitete — wo waren die Chausseesteine? Er war jetzt dicht an dem zweiten Sergeanten, sollte er ihn künstlich „klein machen”? Einerlei, irgend Etwas mußte er thun, sonst litt er jetzt unbedingt Schiffbruch. Ehe er den schwarzen Plan ausdenken konnte, gab es schon einen Krach. Die Räder stießen an einander, und wie durch ein Wunder blieb Meinert oben sitzen, dagegen sah er vor sich ein undeutliches Gemengsel: eine Mütze, eine Litewka mit abgerissenen Achselstücken, ein Beinkleid mit etwas dunkelfarbenem Sitzboden — überwältigt schloß er die Augen, dieselbe Schwäche überfiel ihn wie sonst bei der „Wegeverbesserung”.
„Ick gläuw, disse Meinert, de möt sick un sin Meschin ümmer wedder upptrecken,” sagte der Sattler und kam damit der Wahrheit sehr nahe.
„I, worümmer denn ok nich?” fragte der Buchbinder dagegen, „de löppt hier Reders' sien Swinegel-Stationen af und hett öwerall 'nen Annern sitten —”
Meinert erwachte zur Wirklichkeit, gewiß, inzwischen hatte er umgewendet, nun ging es zurück!
Wieder hielt er regelmäßig seine Ruhepause inne, das Publicum ließ sich nicht mehr täuschen und fiel mit allerlei Redensarten über ihn her: „Wat kostet 'nen Enn mit de Postkutsch?”
„Wo slöppt sick dat mit Räders ünner?” (Wie schläft es sich auf Rädern?) Und wie er wieder bei dem Wegweiser ankam, rief Buchbinder Deckels: „Meinert, nu man noch eenmal slapen, denn wakst Du im Jenseits up.” (Nur noch einmal schlafen, dann wachst Du im Jenseits auf.)
Bei diesen Worten wandte sich der Gefreite Hansen lachend um, er war eine halbe Runde seinem Rivalen voraus und konnte sich diese kleine Unterbrechung gestatten. Da — sein Rad lief an die Rasenkante, er stürzte, und wenig später jagte Meinert, eben neu erfrischt, an ihm vorüber. Das Publicum schrie auf vor Enttäuschung und Schadenfreude, und nach einigen Minuten fuhr der Gefreite Meinert unter brausendem Gelächter und jubelnden Beifallsrufen durchs Ziel — der einzig Ueberlebende aus Herrn Reders' tapferer Compagnie.
Von diesem Tage an hatte der Gefreite Meinert die Meisterschaft über sein Rad errungen und er pfeift jetzt auf alle Wegweiser, alte Eichen und Chausseesteine. Aber Herrn Reders' Eitelkeit auf seine „Compagnie” hat einen argen Stoß empfangen und an die Wettfahrt von Meinert „sien olle Postkutsch” mag er nicht gern erinnert werden.
Fußnoten des Herausgebers:
(1)„All Heil” war der Name einer Fachzeitschrift für die Interessen des Radfahrsports, des amtlichen Organs des Gaues 1 des Deutschen Radfahrerbundes.
Schlicht-Baudissin bezeichnet sich einmal auch selbst als „All-Heil-Bruder”.