Die Traumdeutung.

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 23.5.1895,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 30.5.1895,
in: „New Orleans Deutsche Zeitung” vom 14.7.1895 und
in: „Meine kleine Frau und ich.”


Tante Hanna war abergläubisch, das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Diese war einst als junges Mädchen bei einer Kartenlegerin gewesen, um sich für einen Doppelschilling ihre Zukunft weissagen zu lassen. Lange und aufmerksam hatte die Alte die feinen Linien der schlanken Hand geprüft und dann, da sie gewöhnlich für ihre Bemühungen nur einen Schilling erhielt, ein glänzendes Geschick verkündet: die baldige Vermählung mit einem geliebten Manne.

Dieses prophetische Wort war wahr geworden, und von jener Stunde an hatte die Mutter auf das Wissen einer jeden Kartenlegerin geschworen.

„Was Du ererbt von Deiner Mutter hast, erwirb es, um es zu besitzen,” oder so ähnlich singt der Dichter, und Tante Hanna hatte es sich schon als junges Mädchen angelegen sein lassen, ihrer Mutter im Aberglauben „über” zu sein. Je älter sie wurde, desto mehr wuchs ihr Glaube, und mit fünfzig Jahren war ihr Unglaube auf der Höhe angekommen. Sie schwur auf Cumberland(1) und Miß Abbott, stand mit dem berühmten Hypnotiseur Hansen im vertraulichen Briefwechsel und erkannte jede Dimension, die es gab und nicht gab, an. Vergebens war es, ihr das Thörichte ihres Benehmens ausreden zu wollen.

„Glaubt Ihr wirklich, daß Alles auf dieser Welt mit rechten Dingen zugeht?” pflegte sie dann zu sagen. „Kann sein, kann auch nicht sein. Ich aber sage Euch, es giebt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt. Zwar weiß ich, daß dieses Wort schon von Hamlet herrührt, das ist ein Beweis mehr dafür, daß dieser Prinz nicht, wie man so oft annimmt, verrückt gewesen ist. Der Mann glaubte eben auch an Hypnotismus und andere Sachen, die man nicht erklären kann.”

„Denkt Euch, neulich liege ich auf meinem Sopha und halte mein Nachmittagsschläfchen; zwar hat der Arzt es mir verboten, aber bekömmlich ist es doch. Da hör' ich ganz deutlich im Schlaf Waffen klirren, erschrocken fahre ich in die Höh', aber nichts Verdächtiges war zu bemerken. Wieder leg' ich mich nieder, und wieder hör' ich ganz deutliches Säbelgerassel. Das war mir aber denn doch zu toll. Ich stand auf und notirte mir Tag und Stunde, und bald darauf las ich in meiner Zeitung, daß an jenem Tage die Japaner den Chinesen eine große Schlacht(2) geliefert hatten. Das soll ein Zufall sein?”

Das war ihr Haupttrumpf, den sie öfter bei solchen Gesprächen ausspielte, und da es unmöglich war, ihr zu beweisen, daß zwischen jenen beiden Dingen kein innerer Zusammenhang war, blieb sie bei ihrem Glauben, sie hätte nur die Schwerter rasseln hören, weil die beiden Völker in China sich schlugen, oder die Japaner hätten nur an jenem Tage einen Angriff gewagt, weil Tante Hanna von Schwertern träumte.

Eine ganz besonders hohe Bedeutung legte die Tante allen ihren Träumen bei. Jeder Mensch träumt — falls er überhaupt hierzu Anlage hat — von den Dingen, mit denen er sich am Tage hauptsächlich beschäftigt. Wenn Jemand kurz vor dem Schlafengehen — wie ich das kürzlich bei einem Herrn sah — hundertundfünfzig Austern ißt, so braucht man kein Jägerscher Normalmensch zu sein, um nicht Nachts zu träumen, man wäre selbst eine Auster und würde von einem Hering geliebt. Und das junge Mädchen, das auf der Eisbahn absichtlich viermal hinfällt in der stillen Hoffnung, er, „der Göttlichste von Allen”, möchte sie aufheben und sich mit ihr in der Zerstreutheit verloben, träumt sicherlich von einem Myrthenkranz und dem Hochzeitsdiner mit recht vielen Baisers.

Bricht dann der Morgen an, so ist der Traum entweder vergessen, oder man ärgert sich über das dumme Zeug, das uns den Schlummer störte.

Anders war es bei der Tante. Auf dem Marmornachttisch neben ihrem Bett lag ein kleines, unscheinbares Buch, das sie von ihrer seligen Mutter geerbt hatte, und das den stolzen Titel trug: „Deutung der Träume”. Kein Morgen verging, an dem sie nicht sofort nach dem Erwachen das Buch ergriff, um nachzusehen, was ihr Traum bedeute, und von der Antwort, die sie erhielt, hing ihre Laune für den ganzen Tag ab.

Eines Abends hatte sie Spickaal gegessen, und zu ihrem großen Leidwesen hatte die Köchin nicht genug eingekauft, denn sie entwickelte stets einen gesegneten Appetit. In der Nacht träumte ihr, sie äße Aal, aber jedesmal, wenn sie den Bissen zum Munde führen wollte, fiel er unter den Tisch.

Kaum war sie erwacht, als sie die „Deutung der Träume” befragte. Da stand zu lesen: „Aal essen — Wohlfahrt und Freude. Aal essen, ohne fett zu werden — man wird getäuscht und hintergangen.”

Und plötzlich gingen ihr die Augen auf, wie hatte sie es nur so lange nicht merken können! In der letzten Zeit war es ihr öfter so vorgekommen, als ob die Rechnung beim Milchhändler und Brodhändler größer wäre als sonst. Natürlich, das war ja doch kein Wunder, sie wurde getäuscht und hintergangen, belogen und betrogen an allen Ecken und Kanten. Nun wollte sie aber Obacht geben, und zu einem anderen Male sollte die Sache nicht wieder vorkommen.

Eines Tages erhielt sie einen Brief, der sie in die größte Aufregung versetzte: eine ihrer Nichten erwartete den Besuch des Klapperstorches, und eine andere Nichte hatte sich verlobt. Nichte Anna rechnete bestimmt auf das Kommen der guten Tante, die bei ihr Mutterstelle vertrat, und Nichte Bella bat und flehte so inbrünstig, daß die Tante kommen möge, um ihren Herzensschatz kennen zu lernen, daß sie nicht umhin konnte, die Wünsche zu erfüllen. Für Tante Hanna war eine Reise ein Ereigniß. Was konnte sich nicht während ihrer Abwesenheit alles ereignen? Diebe konnten einbrechen, ein Feuer ihre kleine Villa zerstören, das Wasserrohr konnte platzen und Alles überschwemmen, das Gasrohr konnte undicht werden, und Gott weiß, was sonst noch Alles. Aber selbst, wenn nichts Derartiges eintrat, wer konnte wissen, ob sie die ihr so lieben Räume wiedersehen würde? Wie leicht konnte ihr ein Unglück zustoßen, man liest ja so viel von Entgleisungen und Zusammenstößen, da wollte Alles wohl bedacht und geordnet sein, zumal sie doch daran denken mußte, längere Zeit fortzubleiben. Das Haus wurde verschlossen und dem besonderen Schutze der Polizeibehörde empfohlen, das Dienstmädchen wurde entlassen, die Tante hatte seit ihrem letzten Traum ein gewissen Mißtrauen gegen sie nicht überwinden können und war glücklich, sie bei dieser Gelegenheit los zu werden. Das Testament wurd bei Gericht niedergelegt, und von ihren eigenen Segenswünschen begleitet, trat sie ihre Reise an, die sie schon nach wenigen Stunden an das Ziel, brachte.

Mit Jubel und Geschrei wurde sie willkommen geheißen, denn der Storch hatte nicht bis zu ihrer Ankunft gewartet, ein kleiner Erdenbürger lag bereits in seiner Wiege und ließ bei ihrem Eintritt seine Stimme erschallen.

Die gute Tante übernahm die Führung des Haushaltes, ihre Nichte Bella, die bei ihrer verheiratheten Schwester wohnte, hatte, seitdem sie verlobt war, so viel zu thun, daß sie nicht wußte, wo ihr der Kopf stand. Was hat eine Braut nicht Alles zu bedenken und zu besprechen, und so saßen denn auch am ersten Abend Alle um den Ecktisch vereint und lauschten, was das Brautpaar erzählte, wo sie sich zuerst gesehen und gesprochen, wann sie gemerkt hätten, daß sie einander gut seien, wie sie schon lange auf das entscheidende Wort gewartet hätte, und wie er immer noch gezögert hätte aus Furcht, einen Korb zu erhalten, bis dann endlich sie sich doch gefunden, um sich nun nie wieder zu trennen.

Es war schon spät, als der Bräutigam mit dem Versprechen aufbrach, am nächsten Vormittag frühzeitig wiederzukommen, und bald erhob sich auch die Tante, um sich niederzulegen. Sie sah noch einmal nach der Kranken, die in festem Schlummer lag, und trat dann wieder in das Eßzimmer, wo Alfred, Anna Gatte, und Bella sie noch erwarteten. Mit einem Kuß verabschiedete sie sich von Beiden.

„Und dann träume recht was Schönes, Tante,” rief Alfred ihr nach. „Du weißt ja, was man in der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, erfüllt sich sicher.”

Dann ging die Tante auf ihr Zimmer, und Bella begleitete sie dorthin, sie hatte noch soviel auf dem Herzen, die Tante hatte noch garnicht gesagt, wie Max ihr gefiele, sie wollte noch wissen, ob er nicht ganz anders und viel netter sei als alle anderen jungen Leute.

Es war fast Morgen, als Tante Hanna endlich im Bett lag, um gleich darauf in einen festen Schlaf zu versinken, aus dem sie erst in später Stunde wieder erwachte. Sie kleidete sich schnell an und ging dann, nachdem sie die Kranke besucht hatte, in das Eßzimmer, wo sie Alfred, sowie das Brautpaar bereits beim zweiten Frühstück fand. Sie entschuldigte sich wegen ihres späten Aufstehens und nahm dann an dem Tische Platz.

„Nun, Tante, was hast Du denn diese Nacht geträumt?” fragte Alfred. Da erst sah er, wie blaß und elend sie aussah, ihr Gesicht war bleich und fahl, und tiefe Ränder lagen unter ihren Augen.

„Mein Gott, was ist Dir?” fragte er besorgt, „bist Du krank? Hat Dich die Reise so angegriffen? Wir wollen nachher gleich den Arzt Deinetwegen befragen.”

Aber die Tante wehrte ab: „Nein, nein, laß nur, mir fehlt nichts, es ist nur dieser entsetzliche Traum. Denke Dir nur, Bella, ich sah Deinen Max heute Nacht todt auf der Bahre liegen.”

Bella kreischte laut auf und warf sich schluchzend ihrem Verlobten an die Brust, der seine Fassung zu behaupten suchte: „Pfui, Tante Hanna,” rief sie, „Du bist garstig, wie magst Du nur so etwas träumen!”

Aber die Tante überhörte den Vorwurf, der in diesen Worten lag.

„Das ist noch nicht Alles,” stöhnte sie, „denkt Euch, was mir passirt ist, ich muß sofort wieder nach Hause reisen, ich habe mein Traumbuch vergessen.”

„Aber Tante,” tröstete sie Alfred, „ist denn das so schlimm, wozu brauchst Du denn das?”

„Wozu ich das brauche?” gab sie in klagendem Ton zurück. „Wer sagt mir nun, was meine Träume bedeuten, ich träume jede Nacht, und wenn ich ausnahmsweise mal eine Nacht nicht träume, so bedeutet das auch etwas. Nein, ohne das Buch kann ich nicht leben, noch heute reise ich wieder ab.”

„Tante, bedenke doch, was Du sprichst!” bat Alfred, „was soll aus uns werden, wenn Du wieder fortfährst? Nein, nein, Du bleibst, und ich gehe sofort zur Buchhandlung, um Dir Dein Traumbuch zu besorgen. Wenn sie es nicht vorräthig hat, wird sie es in wenigen Tagen anschaffen. Sage mir nur, wer der Verfasser ist.”

„Welcher Verfasser?” fragte Tante Hanna verwundert.

„Nun, der Deines Buches,” gab Alfred zurück.

Fast entsetzt sah die Tante den Sprecher an: „Ein Traumbuch hat keinen Verfasser, das merke Dir ein für alle Mal. Die Deutungen, die in demselben enthalten, sind Ueberlieferungen aus alter Zeit, die sich vererbt haben von einem Geschlecht auf das andere, es sind Wahrheiten, die ewig bestanden haben und ewig sein werden, es sind Erfahrungen, die die alten Perser und Inder niedergeschrieben haben, und die auch diese schon von ihren Vorfahren geerbt. Es giebt nur ein Traumbuch.”

Alfred wußte nicht, ob er diese Worte für Ernst oder Scherz halten sollte, auf jeden Fall nahm er sich vor, nachher sofort bei dem Buchhändler vorzusprechen. Hanna rührte, in Gedanken versunken, mit dem Löffel in der Kaffeetasse, und Bella weinte noch immer an der Brust des Verlobten. Alle athmeten erleichtert auf, als die Tante endlich das Zimmer verließ.

„Du sollst nicht sterben,” machte Bella jetzt ihrem bedrängten Herzen Luft, „versprich mir, daß Du nicht sterben willst!”

„Aber liebes Kind, ich denke ja gar nicht daran,” tröstete sie lachend ihr Verlobter, der die Sache, nachdem der erste Schreck überwunden, von der komischen Seite aufzufassen suchte. „Außerdem weißt Du ja, daß ich in der Unfallversicherung bin, und das ist ja das beste Mittel gegen jede Krankheit, da verstaucht man sich nicht einmal einen Daumen.”

„Lache nicht, Max,” bat Bella, „Du kennst die Tante noch nicht, ihre Träume erfüllen sich immer!”

„Na, nun ist es aber genug,” tadelte Alfred seine Schwägerin; „daß Dein Max einmal sterben muß, wissen wir Alle, daß er aber auch nur eine Sekunde früher sterben soll, weil Tante Hanna, die, abgesehen von ihrer Verrücktheit, eine vernünftige Person ist, es geträumt hat, will mir nicht recht in den Sinn, und so etwas zu glauben, ist mehr als Dummheit.”

Aber trotz dieses Machtwortes blieben doch noch Zweifel und Betrübniß in Bellas Herzen zurück; zu groß war der Kummer, der sie bedrückte, sie mußte sich jemandem anvertrauen, der mehr Verständniß für ihr Leid hatte, als Max und Alfred. So sprach sie denn mit ihrer alten Dienerin, die vor Schreck, als sie das Entsetzliche vernommen, die ganze Kindermilch überkochen ließ; und bald war es durch sie im ganzen Hause bekannt: „Der junge Herr, was sich der Verlobte ist von das gnädige Fräulein, der stirbt sich bald, das hat die fremde Dame gesagt, die so schön träumen kann!”

Auch in der Krankenstube rief der Traum große Erregung und Bestürzung hervor. Alfred hatte auf das Strengste verboten, seiner Frau etwas von dem „unsinnigen Geschwätz”, wie er es nannte, zu sagen, aber die Tante that so geheimnißvoll, daß Anna nur zu bald merkte, daß ihre Pflegerin etwas auf dem Herzen hatte, und sie ließ mit ihren Bitten nicht nach, bis auch sie von dem Traume wußte. Die Folge blieb nicht aus, die Kranke bekam einen tödtlichen Schreck, und verwundert schüttelte der Arzt den Kopf, als er bald darauf erschien, um sich nach Mutter und Kind umzusehen. Kaum hatte dieser die Ursache des verschlechterten Befindens seiner Patientin erfahren, als er sich Tante Hanna „kaufte” und dieser eine so donnernde Strafrede hielt, daß sie von Weinkrämpfen geschüttelt halb ohnmächtig in einer Sophaecke sitzen blieb.

Aber ihre Erregtheit verwandelte sich in Wuth, als nun Mittags Alfred nach Hause kam: „Hier, Tante, sind einige Traumbücher, die sämmtlich keinen Verfasser haben, — vielleicht suchst Du Dir dasjenige aus, dessen Deutungen Dir am meisten zusagen. Sieh sie in Ruhe durch — es hat keine Eile.”

Tante Hanna war einfach empört; sie so in ihren heiligsten Empfindungen zu verletzen, ging denn doch über den Spaß. Sie sollte sich das Buch aussuchen, das ihr am meisten zusagte, — das war ja gerade, als wenn sie sich in einem Möbelwaaren­geschäft den Kleiderstoff aussuchte, der ihr am besten zu Gesicht stand!

Tante Hanna war außer sich über Alfreds „Frivolität”. Alfred war wüthend über die Grobheiten, welche die Tante ihm in ihrer Erregtheit gesagt hatte; der alte Hausarzt wollte mit der verschrobenen Schraube, wie er sie nannte, nichts zu thun haben; Bella war außer sich, daß die Tante von ihrem Verlobten so etwas auch nur im Spaße hatte träumen können; Max befand sich trotz aller Versuche, seine Unruhe durch eine erkünstelte Heiterkeit zu verbergen, in etwas gedrückter Stimmung; Anna war böse, daß Tante Hanna sie in das Geheimniß eingeweiht hatte; der Junge schrie wie ein Wilder, sobald sich Jemand seiner Wiege näherte; nur das Mädchen in der Küche war glückselig, weil es doch einmal in der Nachbarshcaft etwas von ihrer Herrschaft erzählen konnte.

Und so kam es, daß Hanna am nächsten Morgen bei dem Frühstück das große Wort sprach: „Ich reise. Ich habe mir die Sache in einer schlaf- und traumlosen Nacht nach allen Seiten hin überlegt, ich habe Alles pro und contra, wie es ja wohl heißt, erwogen, und ich bin zu der Ansicht gekommen, daß meines Bleibens hier nicht länger sein kann. Kein Mensch kann dafür verantworlich gemacht werden, daß er träumt, noch weniger für das, was er träumt. Ihr habt mir aus meinem Traumbild einen Vorwurf gemacht, — ungerechten Tadel ertrage ich von keinem Menschen, dazu bin ich zu alt. Ich reise, 4 Uhr 23 Minuten geht mein Zug. Nun will ich packen.”

Sie erhob sich mit einer stolzen Bewegung, um ihren Worten den nöthigen Nachdruck zu verleihen, und sah sich im Kreise um. Im Stillen hatte sie doch wohl gehofft, daß man sie um Verzeihung bitten, sie zu einem längeren Bleiben auffordern und versuchen würde, ihr die Reisepläne auszureden. Aber nichts derartiges geschah, Jeder schien mit seinem Frühstück beschäftigt zu sei, daß er keine Zeit fand, sich um irgend etwas Anderes zu kümmern, und so verließ die Tante stolz aufgerichtet, um ihre innere Niederlage zu vebergen, das Zimmer.

Am Nachmittag reiste sie ab, Alle begleiteten sie zur Bahn und schieden von ihr mit dem Wort: „Auf baldiges Wiedersehen, Tante Hanna.”

„Na, die kommt so bald nicht wieder,” meinte Alfred, als der Zug um die Ecke verschwunden war, „ich glaube, das verzeiht sie uns ihr Lebelang nicht.”

Alle stimmten ihm bei, aber um so größer war das Erstaunen, als sich am nächsten Tage, während die Familie bei dem Nachmittagskaffee saß, die Thür plötzlich öffnete und Tante Hanna hereintrat. Wortlos sahen sich Alle gegenseitig an, und maßloses Erstaunen sprach aus ihren Zügen.

„Tante, bist Du es wirklich, oder ist es nur Dein Geist?” stotterte Bella, die sich zuerst faßte, endlich: „Ich denke, Du bist gestern abgereist?”

„Mir ist auch so,” bestätigte die Tante, „aber nun bin ich schon wieder da. Ihr sagtet doch zu mir: ,Auf Wiedersehen.' Ist es Euch nicht recht, daß ich kam?”

„Aber natürlich, Tante! Wie kannst Du nur so etwas sagen? Selbstverständlich, und wie sich das schön paßt, das Bettzeug ist noch nicht einmal weggepackt, aber verstehen thue ich es doch noch nicht.”

„Das sollt Ihr gleich erfahren,” unterbrach Tante Hanna die Anderen, die auf sie einsprachen; „also gestern Mittag fuhr ich ab und kam gegen Abend zu Hause an, wo ich Alles fand, wie ich es verlassen, sogar das Traumbuch —”

„Bitte, laß das, Tante!” schaltete Alfred ein.

Doch mit erhobenr Stimme fuhr diese fort: „Also ich fand das Traumbuch, und sofort sah ich nach, was der Traum zu bedeuten hatte.”

„Bitte, laß das!” bat Alfred, „warum zum zweiten Mal Unfrieden stiften!?”

Aber sie ließ sich nicht stören. „Alsi ich schlug die ,Deutung der Träume' auf, und da las ich auf Seite fünfzehn, die siebente Zeile von oben Folgendes —”

Sie griff in die Tasche und holte aus derselben die „Deutung der Träume” hervor. Bella klammerte sich angstvoll an den Geliebten, als wollte sie ihn schützen und bewahren vor jeglichem Leid, das jetzt verkündet würde, und mit leiser Stimme bat sie: „Max, bleibe bei mir! Max, geh nicht fort von mir!” Zärtlich drückte Max seine Braut an sich, während Alfred nervös mit den Fingern auf dem Tisch trommelte.

„Bitte, Alfred, laß das!” bemerkte Tante Hanna, „Du weißt, das stört mich beim Lesen.”

Endlich hatte sie das vergilbte Buch aufgeschlagen und Seite fünfzehn gefunden.

„Also da las ich: ,Braut oder Bräutigam sein — Enttäuschungen. Seinen eigenen Bräutigam todt sehen — früh sterben, einen anderen Bräutigam todt sehen — der Todtgesehene bekommt ein langes, glückliches eheliches Leben.'”

Mit einem Jubelschrei stürzte Bella auf Tante Hanna los: „Ich habe es ja immer gesagt, Du bist und bleibst die Beste aller Tanten! KannstDu mir verzeihen?”

Auch Max und Alfred traten hinzu, um der Gekränkten die Hand zur Versöhnung zu reichen. „Aber Tante, warum hast Du denn das nicht gleich gesagt? Nun ist ja Alles gut.”

„Und wem verdankt Ihr das, lediglich meinem Traumbuch! Scheltet nicht mehr auf dasselbe, denn noch etwas anderes Schönes habe ich darin gelesen.”

„Und das ist?” fragte Bella neugierig.

„Vorläufig noch ein Geheimniß,” erwiderte die Tante, aber als sie den bittenden Blick ihrer Nichte gewahrte, flüsterte sie ihr leise in das Ohr: „Auf Seite zwölf in der ,Deutung der Träume' ist zu lesen: ,Jemanden auf der Bahre sehen — baldige Kindtaufe.'”

Da wandte sich Bella erröthend ab und flüchtete sich lachend zu ihrem Verlobten. —

Max und Bella sind nun schon verheirathet, und ein reizender Knabe ist der Ehe entsprossen. Tante Hanna ist in dem Hause ein häufiger und gern gesehener Gast, und stets freut sie sich über das Glück, das sie geschaffen; denn wer weiß, ob Alles so gekommen wäre, wenn ihre „Deutung der Träume” etwas Anderes verkündet hätten.


Fußnoten:

(1) Siehe auch „Cumberland” in: „Nüters Samowar” und in: „Zum ersten Male Strohwittwer”. (zurück)

(2) Erster chinesisch-japanischer Krieg: 1.8.1894 - 17.4.1895. (zurück)


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