Marschleistungen.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Deutsches Volksblatt” vom 5.Sept. 1914,
in: „Dortmunder Zeitung”, Mußestunden, tägl. Unterhaltungsblatt, vom 7.9.1914


Nach einem alten Soldatenworte versteht man unter einem Marsche das, was los ist, bevor es losgeht, und die Marschleistungen einer Truppe sind um so anstrengender, je länger es gedauert hat, bis der Marsch angetreten wird. Zuweilen vergehen zwischen der Ankündigung zum Marsche und dem Befehl zum Antreten nur wenige Minuten, oft aber dauert es auch Stunden, in denen man marschbereit dasteht, bis endlich der Befehl „zum Antreten” erfolgt, zugleich aber auch allltäglich die strenge Ermahnung, eine Seite der Straße frei zu halten, damit auf dieser Ordonnanzen, Meldereiter, Patrouillen und Adjutanten die Verbindung zwischen den einzelnen Abteilungen aufrecht erhalten können, während auf der anderen Seite der Straße namentlich die Infanteriemassen in gleichmäßigem Schritte, wenn natürlich auch ohne Tritt, dahinziehen. Man rechnet bei der Infanterie für die Zurücklegung eines Kilometers inklusive der kleinen Rasten zwölf Minuten. Bei einem Eilmarsche wird die Zeit natürlich nach Möglichkeit verkürzt, aber auch bei einem Eilmarsche handelt es sich weniger um die Beschleunigung des Marsches durch schnelleres Marschieren, als darum, daß die Ruhepausen auf ein Minimum reduziert werden, denn wenn die Abteilung an der Spitze plötzlich schneller werden wollte, dann müßten die hinteren und nun gar die letzten Abteilungen geradezu laufen, um nur noch mitzukommen, und dadurch ginge jede Marschordnung verloren, ohne die ein Uebergang aus der Marschformation zur Gefechtsformation unmöglich wird.

Die Märsche beginnen, wenn die Truppen nach erfolgter Mobilmachung mit der Eisenbahn an die ihnen bestimmten Grenzpunke gebracht worden sind und sobald die Angriffsbewesungen beginnen. Von meinem alten Regimente, dem ich als Leutnant angehörte(1), weiß ich, daß es im Kriege 1870 nach einer Eisenbahnfahrt von sieben Tagen und sechs Nächten, als es endlich an der Grenze anlangte, sofort einen Marsch von 30 Kilometern zurücklegen mußte, um gleich in ein Gefecht eingreifen zu können. Aus vergangenen Manöverzeiten erinnere ich mich eines Marsches, den ich nach achtzehnstündiger Eisenbahnfahrt mit einer Kompagnie Landwehrleuten zurücklegen mußte. Schon wenn man achtzehn Stunden in der Eisenbahn gesessen und die Stiefeln nicht herunter gehabt hat, sind die Füße geschwollen und versagen zuerst den Dienst. Es dauert Stunden, bis jeder wieder eingelaufen ist, verausgesetzt, daß nicht mancher schon vorher schlapp macht, das heißt am Wege liegen bleibt. Wer unterwegs bleibt, wird von den nachfolgenden Wagenkolonnen aufgenommen und humpelt entweder mit dieser weiter, oder er wird auf die Wagen gelegt, wenn die Kräfte selbst zum Weiterhumpeln nicht mehr ausreichen. Die Pflicht jedes einzelnen ist es natürlich, sich baldmöglichst, sei es im Quartier oder im Biwak, seinem Truppenteil wieder anzuschließen. Wie weit auf einem Kriegsmarsche das Ziel entfernt ist, weiß natürlich kein Mensch. Es besteht lediglich die Absicht, diese oder jene Ortschaft, diesen oder jenen Geländeabschnitt zu erreichen. Aber ob während des Marsches die Dispositionen auf Grund der einlaufenden Meldungen nicht geändert werden, ob man nicht plötzlich viel früher Halt macht, als man erwartete, oder ob schließlich der Marsch nicht viel länger ausgedehnt wird, als geplant war, das wissen nur die obersten Führer. Und aus einem Manöver unter der Leitung des verstorbenen Generalfeldmarschalls Grafen von Waldersee erinnere ich mich an einen Tag, an dem ich an der Spitze einer Kompagnie auf dem Marsche durch ein Dorf ganz unerwartet den Befehl erhielt, hier Halt zu machen und Notquartier zu beziehen. Trotzdem wir geglaubt hatten, noch zahllose Kilometer vor uns zu haben, war es doch die höchste Zeit, daß wir Rast machten. Die Leute waren zum Umfallen müde und als ich mich selbst in voller Uniform in dem Hause eines Bäckers auf ein Bett geworfen hatte, merkte ich erst beim Erwachen, daß ich die ganze Nacht hindurch mein Lager mit einem Bäckergesellen geteilt hatte.(2) In einem Kaisermanöver erzielte mein altes Regiment einmal den Höchstrekord von 50 Kilometern. Das sind zehn Stunden Marschzeit ohne den Aufenthalt für die nötigen Ruhepausen. Morgens um 4 Uhr waren wir abmarschiert, nachmittags um 5 Uhr kamen wir in das Quartier. Es war eine Leistung, die selbst in einem Kaisermanöver keine andere Truppe aufweisen konnte, und die uns und unseren müden Beinen dann auch die allerhöchste Anerkennung Seiner Majestät des Kaisers eintrug. Im Kriege wird die Anforderung an die Marschleistung natürlich auf das allerhöchste angespannt, aber die Höchstgrenze wird dadurch bestimmt, daß die Truppe nach Zurücklegung des Marsches kampfbereit sein muß, denn ein Regiment, das angesichts der Feinde so übermüdet ist, daß die Füße den Dienst versagen, ist natürlich wehrlos der Vernichtung preisgegeben.

Bei den Marschleistungen der berittenen Waffen erfolgt die kriegsgemäße Durchführung unter möglichster Schonung der Pferde. Die im Frieden allgemein übliche Redensart: die Pferde müssen mehr geschont werden als die Infanterie, schon weil sie Geld kosten, ist natürlich nur ein etwas derber Witz, und in Wirklichkeit hängt es damit zusammen, daß es eben viel mehr Menschen als Pferde gibt und daß demgemäß die berittenen Waffen der Zahl nach schwächer sind als die Fußtruppen. Die Ergänzung der Infanteriemassen bereitet nicht die geringste Schwierigkeit. Wir haben es jetzt ja bei der Mobilmachung gesehen, daß sich weit mehr Leute melden, als vorläufig eingestellt werden können, aber die Zahl der für die berittenen Waffen in Frage kommenden Pferde ist bis zu einem gewissen Grade beschränkt. Schon aus diesem Grunde müssen die Pferde mehr geschont werden als die Menschen. Aber die letzteren sind auch widerstandsfähiger. Ein übermüdeter Mann erholt sich viel leichter als ein überanstrengtes Pferd und bei den letzteren geht eine Anschwellung der Sehnen viel langsamer zurück als bei den Menschen. Aber selbst bei aller Schonung der Pferde werden in einem modernen Kriege auch von den berittenen Waffen Marschleistungen verlangt, bei denen die Pferde und die Reiter nichts zu lachen haben. Größere Kavalleriemassen dürften allerdings auf die Dauer täglich nicht viel mehr als 30 Kilometer leisten, dagegen bringen es kleinere Verbände schon auf 70 Kilometer, während die Kavallerie­patrouillen pro Tag unter Umständen 100 Kilometer und mehr zurücklegen müssen. Aber wenn auf einem Marsche die Infanteristen auch voller Neid auf die Kavalleristen blicken und es im stillen und auch laut vor sich hin sagen: die haben es gut — die Kavalleristen würden oft brennend gern mit ihnen tauschen, denn zu den reinen und ungetrübten Freuden des Lebens gehört es auch nicht, tagaus, tagein stundenlang im Sattel zu sitzen, und mehr als ein Kavallerist hat dann den Wunsch, einmal vom Pferde zu steigen und sich, wie die Infanteristen, die ihn beneiden, einmal stundenlang gehörig die Beine vertreten zu können.

Die Unserigen ertrugen die härtesten Strapazen mit bewunderungswerter Zähigkeit. Einer der Verletzten berichtet: „Täglich 50 Kilometer im schlimmsten Gelände marschierend, immer Kämpfe. Vier Tage lebten wir nur von Zwieback und Wasser, vier Stunden hindurch hielten wir das Feuer von 44 Geschützen aus, dann mußten wir etwas zurückgehen; aber mit frischen Verstärkungen ging's alsbald von neuem voran, und die Kerls mußten die Flucht ergreifen. Eine Batterie von uns war im Sumpfe stecken geblieben; wir holten sie wieder heraus, mit größter Anstrengung, unter verheerendem Feuer.” — Ein anderer erzählt: „Wir hatten eine fünffache Uebermacht vor uns; es ging sehr scharf her; aber wir immer drauf. Dann jagten wir die ganze Bande in die Sümpfe und Seen; sie lernten noch auf ihre alten Tage das Schwimmen, aber es half ihnen nichts.”


Fußnoten:

(1) Zuletzt: Inf. Rgt. v.Manstein (Schleswig.) Nr. 84
(siehe: Lebensdaten) (Zurück)

(2) Vergleiche dazu die Erzählung „Das geheimnisvolle Bett”. (Zurück)


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