Lucie.

von

Freiherr von Schlicht.

aus: Das Album. Monatsschrift für Kunst und Literatur. VIII.Jahrgang, 1905, Heft 2.

Lucie, genannt die blonde Lucie, war seit Beginn der neuen Saison der Stern des Residenztheaters. Niemand wusste, woher sie kam, nie hatte man früher nur das Geringste gehört, aber eines Abends stand sie plötzlich auf den Brettern, die die Welt bedeuten, und setzte alle in Erstaunen: die gestrengen Kritiker durch ihre absolute Talentlosigkeit, die Damen durch das Raffinement ihrer Toiletten und die Herren durch das, was von keiner Toilette verhüllt war. Und das letztere war sehr viel. Aber gerade weil sie auf der Bühne so wenig anzog, zog sie in anderer Hinsicht um so mehr an. Das Theater war jeden Abend ausverkauft, alle Welt wollte die blonde Lucie in ihren waghalsigen Toiletten gesehen haben.

Natürlich gab es unter den Herren der Lebewelt nicht einen einzigen, der sich nicht um ihre Gunst bewarb, ihre Garderobe glich jeden Abend einem Blumenladen, und die Zahl der duftigen Billets und der Soupereinladungen, die sie täglich erhielt, ging in die Dutzende. Mit einem geringschätzigen Lächeln warf sie stets die Briefe, wenn sie sie durchgelesen hatte, beiseite, aber sie warf keinen einzigen derselben fort, ihre Zofe musste alle Billets gewissenhaft sammeln und aufbewahren.

Noch allerdings hatte sie für den Inhalt der Briefe keine Verwendung, denn noch liebte Graf Harald, der Gesandtschaftsattaché, sie und war ein willenloses Werkzeug in ihren Händen. Aber die Männer sind wankelmütig, fast noch mehr als die Frauen, und Lucie hatte eine furchtbare Angst vor dem Alleinsein, sie wusste, das könnte sie nie ertragen, und deshalb war es für sie ein Gefühl der Beruhigung, sich sagen zu können, dass sie ausser ihm auch noch andere Freunde hätte. Die Stunde würde schon noch kommen, wo sie derselben bedurfte. Und die Stunde kam. –

Eines Morgens erschien Graf Harald wie immer mit dem Glockenschlag ein Uhr bei ihr, aber nicht wie sonst fröhlich und ausgelassen, sondern müde und abgespannt. Nur flüchtig küsste er sie auf die Stirn, dann liess er sich in einen Sessel fallen.

„Aber Harald, was ist denn nur?” fragte sie ganz erstaunt, „so kenne ich dich ja gar nicht, bist du krank? Kann ich irgend etwas für dich tun?” Sie schmiegte sich zärtlich an ihn und nahm liebkosend seinen Kopf zwischen ihre Hände.

„Lass nur, Kind, lass nur,” wehrte er sie ab. „Mir geht es allerdings nicht gut, ich habe rasende Kopfschmerzen, ich war gestern im Klub –”

„Und hast gespielt und verloren, nicht wahr?” fragte sie ängstlich.

„Bitte, frag mich nicht,” gab er zur Antwort, „ich will und mag nichts mehr davon hören. Der kleine Baron hatte gestern ein wahnsinniges Glück, er hat wenigstens eine viertel Million, wenn nicht mehr, gewonnen.”

„Und wieviel hast du dazu beigesteuert?”

„Frag mich nicht,” bat er noch einmal, „ich schäme mich vor mir selbst. Ich bin eben bei meinem Bankier gewesen, es hat Mühe genug gekostet, die Summe flüssig zu machen, aber schliesslich ist es doch gelungen. Nun aber muss ich mich in der nächsten Zeit sehr einschränken, und auch du, mein Liebling, wirst mir zuliebe in den nächsten Monaten etwas sparsam sein.”

Die schöne Lucie, die bisher eng an ihn geschmiegt , auf seiner Stuhllehne gesessen hatte, stand jetzt auf und verbarg nur schwer ihren Unwillen: „So seid ihr Männer nun! In sinnenloser Leidenschaft verspielt ihr euer Geld, und wer muss darunter leiden? In erster Linie immer diejenige, die euch wirklich liebt, die alles für euch tut, was sie nur immer kann, die euch alles gibt, was sie hat. Und das nennt ihr dann selbstverständlich.”

„Hast du mich denn nicht lieb?” fragte er, als er ihr enttäuschtes und schmollendes Gesicht sah.

„Gewiss hab ich dich lieb,” rief sie, „aber gerade deshalb dürftest du nicht von mir verlangen, dass ich unter deinen leichtsinnigen Streichen leiden sollte. Ja, hätte ich dich nicht wirklich lieb, liebte ich dich nur deines Geldes wegen, dann brauchtest du auf mich keine Rücksichten zu nehmen, aber so begreife ich dich nicht.”

Und er begriff Lucie nicht. Ihm war so, als wenn man gerade von dem Wesen, das uns wirklich liebt, ein Opfer verlangen kann, ohne fürchten zu müssen, es dadurch gleich zu verlieren, während die erkaufte Gunst schwindet, sobald die Mittel schwinden, diese Gunst zu bezahlen. Aber er hütete sich, seiner Meinung Ausdruck zu geben, es hatte ja doch keinen Zweck, sich zu streiten. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt auch ihr das Etui hin.

„Ich danke,” lehnte sie kurz ab. „Ich bin nicht in der Stimmung.”

„Tu es mir zuliebe,” bat er. „Du weisst, ich mag es so gerne, wenn du rauchst.”

Sie zündete sich eine Zigarette an, aber missmutig legte sie sie gleich auf den Tisch. –

Er glaubte den Grund ihrer schlechten Stimmung zu erraten. „Du brauchst Geld?” fragte er. „Gerade heute?”

„Ja, gerade heute,” erwiderte sie, nicht ohne leise Ironie. „Als ich die Toiletten und den Schmuck für das neue Stück bestellte, und deren Bezahlung für heute zusagte, konnte ich doch nicht ahnen, dass du am Abend vorher in den Klub gehen und Zehntausende und mehr verspielen würdest.”

„Da hast du allerdings recht.” Und nach einer kleinen Pause fragte er zögernd: „Und wieviel brauchst du?”

„Nicht viel, fünfzehntausend Mark.”

Er fuhr erschrocken zusammen: „Die hab ich jetzt nicht.”

„Ich brauche sie aber.”

Er stöhnte schwer auf: „Ich kann sie dir in diesem Augenblick unmöglich geben.”

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ist das die Liebe, die du mir geschworen hast? Wie sagtest du damals zu mir? ,Kein Opfer wird mir je zu gross sein, um mich Ihrer Liebe würdig zu erweisen' und jetzt? Aber so sind die Männer ja alle.” Sie zuckte geringschätzig die Schultern, dann fuhr sie fort: „Das kommt davon, wenn man jemanden wirklich lieb hat, so lieb, dass man nicht imstande ist, ihn zu belügen und betrügen.”

Er hörte den Vorwurf aus ihren Worten hervor: „Ich weiss,” sagte er, „in der ganzen Zeit, seit ich dich kenne, warst du mir treu.”

„Ja,” wiederholte sie. „Ich war dir treu, aber ob ich dir auch treu bleibe? Ob ich dir noch treu bleiben kann?”

„Lucie!”

Erschrocken sprang er in die Höhe und sah sie entsetzt an: „Lucie, was sagst du da? Glaubst du, dass ich es ertragen würde, deinen Besitz mit einem anderen zu teilen? Dich und ihn würde ich zermalmen. Du weisst ja gar nicht, wie lieb ich dich habe!” Stürmisch zog er sie an sich, und sie musste sich, wenn auch widerstrebend, seine Liebkosungen gefallen lassen. „Lucie,” bat er mit flehender Stimme, „sag, dass es dir nicht ernst war mit dem, was du vorhin sprachst, nicht wahr, du bleibst mir treu? Ich will ja auch in Zukunft alles tun, was du willst, ich will dir zuliebe mir das Spielen abgewöhnen, und wenn du jetzt Geld brauchst, so sollst du es auch haben, ich werde es schon noch irgendwie aufzutreiben wissen.”

„Wirklich?” jubelte sie auf. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, „ich wusst' es ja, du bist der beste Mensch unter der Sonne!”

Abermals zog er sie leidenschaftlich an sich. „Beruhige dich, morgen hast du das Geld, aber nicht wahr, du bleibst mir treu? Deine Lippen sollen keinen andern küssen als nur mich, dein Mund soll keinem andern als nur mir diese Liebesworte sagen, deine süssen, kleinen Hände sollen keinen andern streichen und liebkosen als nur mich, versprich mir, du wirst nie einem andern angehören als mir?”

„Und wenn du mich nun einmal verlassen hast?” fragte sie.

„Die Stunde wird nie kommen,” rief er lebhaft, „aber selbst, wenn sie doch eines Tages kommen sollte, wenn ich dich doch einmal verlassen muss, ich glaube, ich würde sterben, wenn ich daran denken müsste, dass du deine Schönheit, dich selbst, einem andern hingibst.” Aber plötzlich strich er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er die törichten Gedanken verscheuchen.

„Es ist ja Unsinn, was ich da rede,” sagte er, sich gewaltsam zur Heiterkeit zwingend, „du liebst mich, ich liebe dich, was sollen wir da an etwas so Trauriges denken,” und nach einer kleinen Pause fragte er: „ Sag' mal, Lucie, was ich schon lange gerne wissen wollte, hat noch nie einer von meinen sogenannten guten Freunden es versucht, dich mir abspenstig zu machen?”

Sie lachte lustig auf: „Einer? Nein, lieber Freund, sie alle haben ihr Glück bei mir versucht. Glaubst du denn, die Männer gönnten einem einzelnen den alleinigen Besitz einer schönen Frau? Jeder hält es für seine Pflicht, den Freund zu betrügen. Ist ihm das aber gelungen, dann verlangt er, dass er der einzige bleibt, dass man ausser ihm nicht auch noch einen andern erhört. Ach, die Männer sind ja so eitel, viel eitler als wir Frauen und dabei so töricht und so dumm.”

Wieder lachte sie lustig auf, dann trat sie an ihren Schreibtisch und zog die Schubladen auf: „Sieh hier, lieber Freund, das sind lauter Briefe, in denen man mir die glänzendsten Anerbietungen macht, wenn ich dich betrügen oder dir eines Tages den Laufpass geben will. Dutzende erwarten und erhoffen diese Stunde und jeder ist fest davon überzeugt, dass gerade er derjenige sein wird, den ich erhöre.”

Ein starkes Misstrauen bemächtigte sich seiner: „Und du hast noch keinen dieser Briefe beantwortet?”

„Noch keinen.”

„Und du wirst es auch nicht tun?”

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit ihren grossen Kinderaugen verwundert an: „Warum sollte ich es wohl? Ich habe ja dich und deine Liebe.”

Aber das Misstrauen wich nicht von ihm: „Ich bitte dich, vernichte diese Briefe, warum hebst du sie noch auf?”

„Aus Eitelkeit,” sagte sie ganz gleichgültig. „Hört nicht selbst ihr Männer es gerne, wenn man euch sagt, dass man euch liebt, dass ihr schöner seid als irgend ein anderer, dass man den Wunsch hat, euch anzugehören mit Leib und Seele? Und wieviel lieber hören wir Frauen es noch, denn für uns sind solche Geständnisse ein Lebensbedürfnis. Alles kann ein Weib entbehren, nur nicht die Versicherung, dass sie schön und begehrenswert ist. Und so blättere ich manchmal in diesen Briefen und erfreue mich an den Schmeicheleien, die man meiner Jugend und meiner Schönheit zollt.”

„Ist dir nicht genug, wenn ich dir sage, dass du schöner bist als irgend ein anderes weibliches Wesen?” fragte er, von Eifersucht geplagt.

Sie schüttelte den Kopf: „Du siehst mit den Augen der Liebe. Ich habe es oft bemerkt, du liebst mich um meiner selbst willen, aber die Liebe macht blind, wie könnten sonst selbst hässliche und verwachsene Frauen so oft einen Mann oder gar einen Freund haben? Wer wie ich auf der Bühne steht, und sich den Blicken aller aussetzt, muss auch täglich Beweise dafür erhalten, dass er allen gefällt. So brauchst du dich wegen der Briefe nicht zu beunruhigen, ich war und ich bleibe dir treu, das weisst du!”

Es dauerte lange, bis es ihr endlich gelang, seine Eifersucht, die sie selbst absichtlich entflammt hatte, wieder zu verscheuchen. Aber ihren Küssen, ihren Liebkosungen und ihren Liebesbeteuerungen gegenüber wich schliesslich auch der letzte Argwohn. Es war spät, als sie sich endlich trennten, sie musste sich ībeeilen, wenn sie noch rechtzeitig ins Theater kommen wollte.

„Und nicht wahr,” bat sie zum Abschied, „ich kann mich darauf verlassen, dass du mir morgen das Geld bringst, ich brauche es dringend.”

„Gewiss,” versicherte er ihr. „Ich werde nichts unversucht lassen, deine Bitte zu erfüllen.”

Aber als sie abends nach Hause kam, stiegen doch Zweifel in ihr auf, ob es ihm möglich sein würde, sein Versprechen zu halten und selbst, wenn sie diese fünfzehntausend Mark erhielt, würde er ihr auch in Zukunft noch jedes Opfer bringen? An seiner Liebe, an seinem guten Willen zweifelte sie nicht, wohl aber an seinem Können. Sie war es nicht gewohnt, sich einzuschränken, sie war zu jung und zu schön, um sich irgend welche Entbehrungen auferlegen zu wollen, sie wollte in vollen Zügen das Leben geniessen und dazu brauchte sie Geld – Geld und nochmals Geld. Gewiss, sie liebte den Grafen Harald, aber ihre eigene Person stand ihr näher, und was dann, wenn Harald, dessen Spielleidenschaft sie kannte, eines Tages alles verloren hatte?! Sie begriff sich plötzlich selbst nicht, wie sie so leichtsinnig in den Tag hatte hineinleben können, Haralds finanzielle Verlegenheit, von der sie heute Zeuge gewesen war, machte es ihr gewissermassen zur Pflicht, ernsthaft an die Zukunft zu denken.

Fast ohne es zu wollen, hatte sie sich an ihren Schreibtisch gesetzt und blätterte nun abermals in den Briefen, sie kannte die Absender fast alle persönlich und war über jeden einzelnen genau unterrichtet. Jetzt fiel ihr ein Brief in die Hände, den ein Kommerzienrat ihr vor einigen Tagen geschrieben hatte, flüchtig las sie ihn durch: „nennen Sie mir die Summe, die ich Ihnen zur beliebigen Verwendung zur Verfügung stellen darf, bevor Sie mir gestatten, Ihnen meine Aufwartung zu machen.” Und ein anderer schrieb: „obgleich nichts davon in die Öffentlichkeit dringt, weiss ich doch, dass Sie trotz Ihrer Jugend sehr viel Gutes tun. Bestimmen Sie bitte selbst, wieviel ich Ihnen von meinem Bankier für Ihre wohltätigen Zwecke überweisen darf?”

Sie musste unwillkürlich lachen über die nach Meinung der Briefschreiber sicher überaus zarte Form, in der sie den Kaufpreis verlangten, aber schliesslich wurde sie doch sehr ernst und nachdenklich, und als sie mit dem Nachdenken fertig war, flog ihre Hand über das Papier, und sie schrieb zwei Briefe und dann noch einen dritten und einen vierten.

Als die Briefe fertig adressiert vor ihr lagen, hatte sie eigentlich ein schlechtes Gewissen, aber sie wusste es zu beschwichtigen: „Ich darf Harald nicht ruinieren,” sagte sie sich, „das könnte ich nicht verantworten, und fortschicken kann ich ihn auch nicht, das würde er nicht überleben, denn er hat mich wirklich lieb, der törichte Mensch. Ich werde ja sehen, welche von den einlaufenden Antworten mir am besten gefällt, natürlich muss ich mich den Herren gegenüber dankbar erweisen und selbstverständlich darf Harald nie und nimmer etwas davon erfahren. Nur gut, dass ich bei allen Herren Rücksendung meines Briefes zur Grundbedingung machte. Wenn Harald erführe, dass ich an einen Herrn geschrieben habe, würde er es vielleicht glauben, aber dass ich gleich an vier Herren schrieb, das traut er mir gar nicht zu, da brauche ich ihm gar nicht erst zu schwören, dass das eine ganz gemeine böswillige Verleumdung ist. Da kennt er seine kleine Lucie viel zu genau, und weiss, dass sie dessen gar nicht fähig wäre. Und schliesslich, was ich tat, tat ich doch nur Haralds wegen, ich darf ihn nicht ruinieren.”

Und mit dem frohen und seligen Bewusstsein, an Harald ein gutes Werk getan zu haben, schlief sie glücklich lächelnd ein.


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© Karlheinz Everts