"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 40 - 42
11. bis 25. Juli 1935


40

Nur nicht nervös bei Hitze - Die freundlichste Berlinerin - Stellt Euch gut mit Vorführdamen - Kasseler Rippespeer - Aus der Geschichte des Kreuzberges - Im Revolutionsmuseum.

Es ist wirklich alles relativ. Wer es jetzt in den Ferien an der See warm hat, der streckt sich wohlig, wer aber ebensoviel Grad Hitze in der Großstadt erlebt, der wird abgespannt und nervös und gibt spitze Antworten. Unsere gute Hilfe verbringt eben ihre 15 Tage Urlaub auf dem Lande bei ihrer Mutter und hat beim Abschied strahlend unsere Wünsche für 15 Tage Sonnenwetter entgegengenommen. Dafür schmoren wir in dem Backofen der fünfstöckigen Berliner Mietskaserne mal gern. Nur nicht den Schlips und die Haltung verlieren! Es muß doch gehen, auch bei lastender Schwüle nicht gereizt zu werden, sondern höflich und freundlich gegen jedermann und damit eine Erfrischung für seine Mitmenschen zu sein. Wir alle kennen irgend jemand, der so wirkt. Nicht nur den fröhlichen Geber hat Gott lieb, sondern auch den, der ein fröhliches Gesicht macht. Das kann ein Kind, das kann ein Greis sein. Besonders nett so in mittlerer Preislage, zwischen 20 und 25 Jahren, und dann natürlich weiblichen Geschlechts.

Die Schönheitswettbewerbe - in Abendkleid und Badeanzug - sind jetzt in Deutschland verboten, es soll keine Frau mehr als taxierte Ware auf das Podium. Wenn es aber statt dessen Freundlichkeitswettbewerbe gäbe, so hätte ich nichts dagegen und wüßte auch schon eine Kandidatin für diese Konkurrenz.

In dem stark aufblühenden Anhalter Viertel Berlins, in dem Bernhard Etté mit seiner Kapelle im Garten des Europa-Cafés spielt und das größte Hotel des Kontinents mit 550 Zimmern sich befindet, hat dieses Hotel in seinem langen Wandelgang zu den hinteren Sälen ein Warenhaus sozusagen im Auszug errichtet. Da gibt es alle Reiseeffekten zu kaufen, die jemand mitzunehmen vergessen haben sollte, da gibt es Wäsche und Kleidung jeder Art und auch eine Auswahl von Geschenken für die Daheimgebliebenen, dazu Spielzeug für die Kinder der Hotelgäste. Über allen diesen Schätzen waltet als alleinige Verkäuferin, Kassiererin, Packerin eine junge Dame, die geradezu ein Ausbund von Höflichkeit und Freundlichkeit ist, und zwar auf deutsch, englisch, italienisch perfekt und in sämtlichen anderen Sprachen allgemein menschlich durch - ihr Lächeln. Es vertrocknet selbst nicht bei den höchsten Temperaturen, es wird nie starr, es ist viel lebhafter als das der Mona Lisa, so daß sogar Luis Trenker und Gustav Fröhlich nicht umhin konnten, bei einem flüchtigen Besuch des Hotels - sie beide haben ja eigene Wohnungen in Berlin - der blonden Huldreichen, die halb Europa kennt und jedes Auto persönlich steuert, etwas abzukaufen. Daß diese fixe und freundliche Person es im übrigen mit ihrem Berufe ernst nimmt und nicht etwa zum Flirten engagiert ist, obwohl ihr Gesichtchen dazu wie geschaffen ist, versteht sich am Rande.

Sind so die jungen Damen häufig von Berufs wegen nett, so können umgekehrt die Herren der Schöpfung es sich nicht immer verkneifen, grantig gegen Damen zu sein. Der "Mann am Schalter", um nicht einen bestimmten Stand zu nennen, gibt weiblichen Wesen oft eine ungenügende, barsche, einschüchternde Antwort, während er sich das Herren gegenüber nicht herausnimmt. Aber es hilft nichts, man ist auf ihn angewiesen.

Noch mehr freilich manchmal auf die Privatsekretärinnen großer Herren, auf die "Vorführdamen", wie ich sie gern nennen höre, weil sie den Begnadeten ihrem Gebieter vorführen, dem Bürgermeister, dem Chefredakteur, dem Justizrat, dem Fabrikdirektor, während jemand, der nicht Gnade vor ihren Augen gefunden hat, warten kann, bis er schwarz wird. Auch hier tut man gut, durch Freundlichkeit sich den Weg zu ebnen. Es gibt da Menschenkenner auf den ersten Blick, die sofort wissen, ob sie am besten "Mein Fräulein" oder "Verehrtes Fräulein" oder "Liebes Fräulein" oder "Gnädiges Fräulein" oder "Kleine Dame" sagen dürfen oder sollen.

Im großen und ganzen ist das entgegenkommende, einnehmende Wesen in der Reichshauptstadt von Jahr zu Jahr mehr Mode geworden. Vielleicht gar Herzenssache. Jedenfalls ist es nicht mehr nötig, daß ein Zeitungsverlag mit großem Trara Höflichkeitswochen veranstaltet und Ritter vom Steuer ernennt.

Es kommt sogar schon vor, daß Taxilenker einander anfahren, ohne sich alsbald gegenseitig als Dussel zu bezeichnen. Sie steigen ruhig aus, untersuchen sachgemäß etwaige Schäden und tauschen ihre Karten aus. Dann ist das herumstehende Publikum enttäuscht, denn es hat eine Schimpfkanonade erwartet, die das eigene Injurienlexikon bereichert hätte. Man findet den Berliner beinahe schon als zu temperamentlos, als Kavalier erster Klasse mit Eichenlaub und Schwertern am Ringe.

Dazu gehört, daß er gar nicht mehr - wie noch in den neunziger Jahren - alles Imponierende nur Berlin zuschreibt. "Is'n Dorf!", sagt er sogar. Ja, da habe er in Dingsda in einem Hotel ein Diner vorgesetzt bekommen, das gebe es in ganz Berlin nicht. Er vergißt schon seine eigenen kulinarischen Entdeckungen und überläßt sie anderen Städten. Wie ist das mit dem Kasseler Rippespeer? In der Nähe der Kaiser-Franz-Gardegrenadier-Kaserne gab es einen gut deutschen, gut berlinischen Schlächtermeister namens Kasseler. Der machte eines Tages den Versuch, Schweinerippchen, um sie vor dem Verderben zu schützen, leicht anzuräuchern. "Schmeckt ja wunderbar!", erklärte er nachher selber überrascht, als er sich ein Paar gebraten hatte. Nun hatte der Regimentskommandeur der Franzer einmal überraschend angesagten Besuch, seine Frau schickte nach irgend etwas Gutem zum Schlächter, und der empfahl als herrlich und neu und gänzlich unbekannt: Kasseler-Rippespeer. Just so, mit Bindestrich. Generaloberst v.Hahnke aß davon, war begeistert und erzählte bei einem Ausritt dem Kaiser von dieser Erfindung. Sie sprach sich in der ganzen Hofgesellschaft herum, Meister Kasseler machte glänzende Geschäfte, auch die Bürgerschaft kam auf den Geschmack, und bald mußte jeder Schlächter Casseler Rippespeer führen. Da war der Bindestrich also schon verlorengegangen und aus dem K ein C geworden, und heute, wo die alte kurhessische Residenzstadt Cassel sich auch Kassel schreibt, gilt angeräucherter Rippespeer als ihr geistiges Eigentum, und wenn man dem Berliner die Wahrheit sagt, dann - glaubt er sie nicht.

Er vergißt überhaupt leicht das Alte, weil so viel Neues über ihn kommt. Vor etlichen Jahrhunderten war der Berliner "Templerwein" sehr geschätzt; seine Trauben wuchsen am heutigen Kreuzberg, damals Runder Weinberg genannt. Auch auf den Hügeln vor dem Schönhauser Tor, am "Weinbergsweg", reiften die Reben. Noch im Jahre 1711 ergab die Ernte - Berlin war damals noch Kleinstadt - 1184 Eimer Wein. Jetzt ist der Kreuzberg, mit dem Denkmal für die Befreiungskriege 1813/15 oben, von dem Viktoriapark bedeckt; dem Kinderparadies, dem Arbeitslosenparadies, der Pilgerstätte der Berlin-Besucher, wenn der künstliche große Wasserfall über verschiedene Stufen 30 Meter tief herunterbraust und abends farbig erleuchtet wird. Das ist erst seit jetzt wieder der Fall. Jahrelang war der Kreuzberg aus Ersparnisgründen trocken. Dann hat in diesem Frühling der Bezirksbürgermeister diejenigen Einwohner, die als Fernsprechteilnehmer oder aus sonst einem Grunde zu den sogenannten Besitzenden gerechnet werden, ein vervielfältigtes Bittschreiben um ein "namhafte" Geldspende geschickt. Einiges ist daraufhin auch eingegangen. Die Hauptsache aber kommt doch wohl aus allgemeinen Steuermitteln.

Daß der Berliner aus der Geschichte seines Kreuzberges so wenig weiß, ist nicht einmal erstaunlich. Aber er hat auch schon vergessen, was 1918/19 war. Da wird seinem Gedächtnis jetzt aufgeholfen. Dicht an der Friedrichstraße, seitlich nur 10 Schritt querab, in der Französischen Straße, steht eine abenteuerliche Gestalt, ein Rotfrontmann in voller Kriegsbemalung. Kommt man näher heran, so sieht man, daß es eine ausgestopfte Puppe ist, etwas reichlich mit Sowjetabzeichen behängt. Nebenbei dringt kräftige Marschmusik auf die Straße, sehr einladend. Da sieht man auch schon den Eingang: Revolutionsmuseum! Wurst wider Wurst. Die Kommunisten haben einst ein Antikriegsmuseum voll von grauenvollen Photographien und greulichen Karikaturen in Berlin-Mitte unterhalten, als Hetzpropaganda gegen das Soldatentum. Jetzt sind sie selber und ihre sozialdemokratischen Genossen hier Ausstellungsobjekt. Es ist nur ein einziges Zimmer, vollgestopft mit Plakaten, Bildern, Gerät, Geheimbefehlen, Uniformen, Bannern, die zumTeil Beute von SA.-Stürmen im Kampfe mit der roten Rotte Korah sind. Man kann hier gut und gern ein paar Stunden zu eingehendem Studium verweilen.

Ein kleines Meisterwerk der unterirdischen roten Blutarbeit ist darunter der Mordplan für den Überfall einer Polizeikaserne in der Wrangelstraße. Autoboxen, Scheinwerferstände, Maschinenraum, Waffenkammern, Verbindungstüren, Posten, alles ist genau eingezeichnet. Auf einer Photographie des 3.Reichstreffens des Roten Frontkämpferbundes in Berlin vom 3. bis zum 7.Juni 1927 sehen wir Massen von vielen Zehntausenden aufmarschiert, unter dem Schutze der Polizei natürlich. Aus den Straßenkämpfen in Berlin werden wir durch zahlreiche Photos unterrichtet, die Häuser mit Schußlöchern und Leichen davor aufweisen. Eine ganze kommunistische Rüstkammer hat ihren Inhalt auf einen großen Tisch ergossen. In einer Vitrine sieht man Handschriftliches von Isidor Weiß und anderen Novembergrößen, aber auch Erinnerungen an Oberleutnant Kern und Leutnant zur See Fischer, die Walter Rathenau erschossen und dann selbst auf Burg Saaleck fielen; und ebensowenig fehlen, was mancher jetzt gern ungeschehen machen möchte, die Angriffe von bürgerlich-nationaler Seite gegen Adolf Hitler, der knallrot - mit schwarzweißrotem Deckmäntelchen dargestellt ist. Die Ehrlichkeit dieser Sammlung geht aber sogar so weit, daß die harten Worte, die Hitler im Wahlkampf im September 1932 gegen Hindenburg äußerte, mit angeführt sind. Nämlich mit 1918/19 allein ist es nicht getan, schon die Vorgeschichte zu dieser Revolte ist durch einige Dokumente vertreten und dann die Nachgeschichte, das ganze Ringen der nationalen Revolution gegen den Novemberstaat bis 1933. Es sind zum Teil sehr trübe, erschütternde Dokumente aus jenem ersten Umsturz, wo schon am 25.November 1918 beispielsweise der Arbeiter- und Soldatenrat von Paderborn seinen Genossen die Todesstrafe androhen muß, da "immer wieder Einbrüche, Diebstähle, Plünderungen" vorkämen. Mitte Dezember bekommen es die Roten bereits mit der Angst. Es machten sich gegenrevolutionäre Bestrebungen bemerkbar, gegen die mit aller Schärfe vorgegangen werde, verkündet in einem Anschlag die Werft Kiel; und zur Unterschrift - ist der Admiral Behnke gezwungen.

Man verläßt die Ausstellung, von der ich hier nur ein paar Stichproben erwähnt habe, jedenfalls mit der Überzeugung, daß eine gerade Linie von der Meuterei 1917 bis zum Reichstagsbrande 1933 führt, und daß es mehr als Ahnungslosigkeit ist, wenn Ausländer behauptet haben, diese Brandstiftung sei von der siegreichen nationalen Erhebung bestellt gewesen.

Jedermann kann sich nun vorstellen, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die heute Ausgebürgerten gesiegt hätten. Wir können Gott danken, daß es anders gekommen ist. Es ist sehr heiß in Berlin, aber eiskalter Schauer überläuft einen in dem Revolutionsmuseum.
11. Juli 1935 (Donnerstag)


41

Draußen die Sonne - Haus Gatow am See - Grete Weiser - Ausgehuniform - Gibt es Pogrome bei uns ? - Julius Meier-Gräfe - Pietät vor Historischem - Das Kriegsministerium im roten November.

Man muß doch ein bißchen Sonne tanken. Aber wo? Das Strandbad Wannsee ist ein dampfender Wurstkessel mit vielen Tausenden von Menschenleibern. Lieber nicht! Da erinnert man sich, daß man beim Vorüberfahren häufig das "Haus Gatow am See" gesehen hat. In Wirklichkeit nicht am See, sondern an der Havel, die hier aber hübsch breit ist. Diesseits, in der Bucht von Schildhorn, halten die kleinen Dampfer an jedem Biergarten, drüben am Haus Gatow legen sie nicht an. "Bitte: Herrensitz!", sollen die Leute wohl denken. Also man landet entweder davor oder danach und hat dann 10 Minuten Fußweg. Oder man benutzt den Autobus Berlin-Cladow. Oder - sein eigenes Auto.

Die das können, sind augenscheinlich in der Mehrzahl. Wochenende in Gatow! Das ist eine bezaubernde Angelegenheit, wenn man schöne Sonne hat; nur hat das "Haus Gatow am See", das aus einem alten Gutshof entstanden ist, nicht mehr Fremdenzimmer, als man sie gemeinsam auf dem Lande hat. Etwa ein Dutzend Gäste haben Platz und finden da allen Komfort. Die große Menge kommt, bleibt ein paar Stunden, verschwindet wieder. Sie erlebt nicht das Köstlichste: den frühen Morgen.

In Zimmer Nr.1 - Wasserseite, nicht lärmvolle Chausseeseite - haust für längere Zeit die bekannte Schauspielerin Grete Weiser ("Kann eine Frau sich ändern?") mit ihrem jungen Mann. Hier ist es heimischer als in Westerland oder Scheveningen. Früh schon vor 8 Uhr schwimmen die beiden. Dann kommt das behagliche Kaffeestündchen auf den Terrassen oben oder auf dem Rasen unter der mächtigen Eiche am Ufer; schon fängt es auf der Havel von Seglern, Motorbooten, Kanus an zu wimmeln, es ist ein Durcheinandergleiten wie im Schwebetanz der Rheintöchter. Man kann sich kaum sattsehen, immer wieder schaut man hin. Am Nachmittag freilich gehen Grete Weiser oder sonstige Prominente in der Menge von Besuchern verloren, die in dem kleinen Park mit den hohen alten Bäumen auf den vielen Liegestühlen sich sonnen oder schatten.

Jetzt kommt auch der Kurfürstendamm heraus. Man muß mit leerem Blick darüber hinwegsehen, sonst bekommt man Beklemmungen. Da paradieren karminrot gefärbte Zehennägel. Wir waren mit unserem Jüngsten da, der ein paar Tage Urlaub zur Erholung erhalten hat, um verschiedene Rippenbrüche zu vergessen. Er ist impertinent blond. Infolgedessen wurde er vom Kurfürstendamm als nicht zugehörig empfunden und "Herr Ober" tituliert, als einer blinzelnd etwas bestellen wollte. Wer nicht bedient, sondern bedient wird, der ist schwarz. Aber das wird sich im Laufe der nächsten Jahre sehr ändern. Heute sitzen nachmittags reiche Snobs mit ihren Damen hier, essen und trinken, tanzen im Freien, baden, wellenreiten hinter dem Motorboot, schauen rundum ins Grüne und in die Bläue. In absehbarer Zeit wird das Publikum sich wohl stark aus Offizierskreisen ergänzen. Berlin selbst bleibt kleine Garnison mit nur einem Wachregiment. Aber die militärische Randbesiedlung nimmt stark zu und beeinflußt schon jetzt das Bild in einzelnen wenigen Ausflugslokalen. Ich könnte mir wohl vorstellen, daß die Damen irgendeines Truppenteils im "Haus Gatow am See" Frühsport trieben und in die Havel hinausschwämmen oder nachmittags sich dort zur Siesta träfen.

Und wenn ihre Männer nach dem Dienst hinkommen sollten: vielleicht "sogar" in Uniform. Das nimmt jetzt reißend zu. Auch die Abordnung englischer Frontkämpfer, die wir in Berlin mit großer Kameradschaftlichkeit aufgenommen haben, nachdem schon vor Jahren General v.Lettow-Vorbeck in London richtig umjubelt worden ist, war sehr erstaunt. So viele Uniformen! In England ist man das nicht gewöhnt. Da zieht der Gentleman nach dem Dienst sofort Zivil an.

Vor langen Jahren habe ich auf einem Kasernenhof in Newcastle einen Hauptmann, einen Captain, erlebt, der auch zum Appell seiner Kompanie selber im Gehrock, Zylinder auf dem Kopf, Stöckchen in der Hand, ankam, dem Feldwebel eine Zigarette anbot und nach dessen Meldung mit einem kurzen Gruß wieder verschwand.

Bei uns hieß es vor dem Kriege: Ziviltragen nur bei Krankheit oder zum Sport oder auf Reisen gestattet. Natürlich ging nun kein junger Leutnant etwa in die halbweltlichen "Amorsäle" oder auch nur in die patriotische "Hopfenblüte" in Wehr und Waffen. Aber das war dann eben sein Risiko. Wurde er in Zivil gesehen, so wurde er bestraft. Die Weimarer Republik legte auf das Zeigen der Uniform gar keinen Wert. Jetzt aber wird das Ehrenkleid der Wehrmacht wieder populär, in den Berliner Straßen trifft man namentlich viele Flieger, auch die Offiziere aller Waffen sind häufiger als bisher in zweierlei Tuch zu sehen. Nach einer neuen Verfügung bedürfen die Offiziere bis zum Hauptmann einschließlich in jedem Einzelfall besonderer Erlaubnis zum Ziviltragen. Das Heer hat einen neuen Ausgehanzug bekommen. Der Waffenrock, auf Taille gearbeitet, ohne Außentaschen, hat Litzen auf den Ärmelaufschlägen und Biesen in der Farbe der Waffengattung. Sieht schmuck aus. Läßt sich aber leider nicht, wenn er abgetragen ist, "herunterrangieren", als Dienstanzug benutzen. Er ist nur für Ausgang und Gesellschaft bestimmt.

Anders hat es die Kriegsmarine gemacht, um ihren Herren das Uniformtragen außer Dienst neu anzugewöhnen. Dort galt als Ausgehanzug nur der lange Rock mit steifem Eckenkragen. "Wozu immer so auf Draht?", fragten sich jüngere wie ältere Offiziere. Soll man, wenn man nach dem Dienst auch nur ein Schwimmbad aufsucht, sich gleich so in Pracht werfen? Dann lieber Zivil! Und nun hat der Oberbefehlshaber der Flotte vor einiger Zeit die weise Entscheidung getroffen, daß wochentags Bordjackett und weicher Umlegekragen auch an Land erlaubt sei. Da braucht man sich also gar nicht umzuziehen, das ist bequem, da geht man wieder gern in Uniform aus. Das ist nicht nur in Kiel und Wilhelmshaven zu bemerken, sondern auch in Berlin, wo sich ja auch - im Kriegsministerium - eine große Anzahl von Seeoffizieren befindet.

Gewisse Kreise giften sich, weil das Militär wieder seine alte Stelle in der Schätzung der Öffentlichkeit eingenommen hat. "Der Soldate, der Soldate, ist der schönste Mann im Staate!" Gewisse Kreise giften sich, weil jetzt sogar ein schwedischer, in Berlin gegebener Film auf die Rassenfrage eingeht, und machen Radau.

"Schnauze!" pflegten wir im Felde zu sagen, wenn einer sie unnütz aufmachte. "Halt' die Schnauze!" war schon viel zu lang. In diesem Film-Fall sind etliche Berliner, vielleicht waren Provokateure darunter, zu lang geworden. Nicht "Schnauze!", ganz knapp, sondern Kundgebungen auf der Straße, auch vor Cafés, deren eines eine eingeschlagene Fensterscheibe bei der Versicherung melden muß. "Klar: die SA. ist das!", sagt das Ausland. Mit Unrecht. Wir verbitten uns, daß der Schwedenfilm angepöbelt und unter dem Schutze der Dunkelheit ausgepfiffen wird. "Schnauze!" Aber wir hauen deswegen keine Schaufenster ein.

In Berlin sei ein Pogrom ausgebrochen, schreibt eine französische Zeitung. O diese Tugendsamen! In Französisch-Algerien sind vor wenigen Monaten Dutzende von Juden - durch die eingeborene Bevölkerung - totgeschlagen, hunderte schwer verletzt worden. Da haben wir nicht pharisäerhaft von Pogromen gesprochen. Das fromme England aber empfindet Alpdrücken wegen der - Christenverfolgungen in Deutschland. Nur immer mit der Ruhe! Man sollte in London doch wissen, wie es in Spanien und in Mexiko hergegangen ist, wo Kirchen und Klöster brannten und Geistliche ermordet wurden. Oder an das grauenhafte Märtyrertum der katholischen Iren seit Cromwell denken, denen das Erbrecht abgesprochen war und die nicht einmal ein Pferd besitzen durften, die ins Gefängnis geworfen, gefoltert, getötet wurden und schließlich nur in der Auswanderung ihre Rettung sahen. Oder man sollte in London in den eigenen Zeitungen nachlesen, wieviele Katholiken heute noch, 1935, bei den Unruhen in Belfast flüchten mußten, um Leib und Leben zu retten. Dann würde man über uns nicht mehr die Nase rümpfen. Hat es je eine unblutigere Revolution gegeben als diese deutsche? Ich glaube kaum. Der Deutsche, auch wenn er vom Bolschewismus angesteckt war, soll genesen und in die Volksgemeinschaft zurückkehren. Aber auch dem Fremden wird kein Haar gekrümmt. Er soll nur nicht anmaßend und frech sich benehmen, wie er es neuerdings, weil es ihm - auch geschäftlich - so gut geht,, in allen möglichen Gaststätten und Kinos und Tanzkabaretts wieder tut.

Es ist erstaunlich, daß auch die alte Intellektuaille sich erneut regt. Manchmal erscheint es einem als Legende, daß die Zeitungen "gleichgeschaltet" seien; denn wenn eine der Größen des vergangenen Systems stirbt, bekommt sie immer noch einen rühmlichen Nachruf, der schier untröstlich klingt.

Dem Meister Max Liebermann ist jetzt sein Prophet Julius Meier-Gräfe in die Ewigkeit gefolgt. Als Emigrant. Aber hie und da werden die Lobreden aus der Schublade geholt und gedruckt, als wenn das deutsche Volk einen Verlust erlitten hätte. Herr Meier war dabei doch nur Agent für den französischen Impressionismus. Er stand auch während des Weltkrieges in seinem Herzen nicht etwa auf deutscher Seite. Unter der Überschrift "Rettet Hellas!" schrieb er im Berliner Mosseblatt einen glühenden Artikel für die Erhaltung von Reims mit seiner Kathedrale, das in der Kampfzone lag. Zwischen den Zeilen war deutlich zu lesen, welche Barbaren - die Deutschen seien.

Dabei sind es Entente-Geschosse gewesen, die in die berühmte Kathedrale krachten; wir haben immer geschont, was wir konnten, gerettet, was kulturell wertvoll war.

Nur im Zwischenreich weiland Friedrich Eberts wurden Treibjagden auf das Historische veranstaltet. Wo man eine Krone aus der Sandsteinfront eines Gebäudes herausmeißeln konnte, da tat man es. Und nur die Angst vor den ungeheuren Kosten verhinderte es, daß das große marmorne Standbild Wilhelms I. aus der Kuppelhalle des Reichstages verschwand. Da verfahren wir jetzt wieder pfleglicher mit dem Alten. Das neue Luftfahrtministerium mit seiner Riesenfront in der Wilhelmstraße ist ein moderner Nutzbau, ohne Prunk, ohne viel Ornamentik. Aber in der Leipziger Straße werden die alten Embleme von der Fassade sorglich abgenommen und aufbewahrt. Sie kommen wieder oben auf das Dachsims. Auch die vier großen Figuren über den beiden Portalen: Husar, Kanonier, Grenadier, Kürassier.

Hier hinter diesen Fenstern haben von Roon bis Einem die tüchtigsten Kriegsminister gewirkt, die für die Feldzüge in dem halben Jahrhundert von 1864 bis 1914 uns fertig machten. Das Gebäude selbst ist weit über hundert Jahre alt und hat seine letzte Form im Ausbau 1847 durch Stüler erhalten.

Jetzt verschwinden wenigstens die Kugelspuren vom roten November. Die sind nicht des Restaurierens wert, obwohl wir solches Mahnmal brauchen könnten. "Straße frei!" Peng, peng. Deutsche schossen auf Deutsche. Ins Kriegsministerium war ein nunmehr roter Landwehrleutnant eingedrungen, an einen Fernsprecher gegangen und hatte telephonisch den "Befehl" durchgegeben, daß das Militär nicht schießen dürfe. In kopflosen Zeiten vermag ein Mundwerk viel. Auch das Kaiserreich wurde telephonisch abbestellt. Und in Berlin wurde geplündert und gemordet.

"Straße frei!" Peng, peng. Kinder fielen auf dem Schulweg, Frauen beim Einkaufen. "Hoch Moskau!" Peng, peng. Wir dürfen nie vergessen, welcher Hölle wir entronnen sind.
18. Juli 1935 (Donnerstag)


42

Nordisches-Allzunordisches - Kein Rohstoffmangel - Im Winzerkeller - "Amphitryon" - Das Deutschlandlager - Rätsel für Chauffeure.

Im Berliner Westen, zwischen Lützowplatz und Wittenbergplatz, lockt in einer Straße ein knalliges Schild:

- Nordische Großbesohlung -

Das heißt die Konjunktur ausnutzen, das ist ein Geist, der verschmitzt zu werben versteht. Auf diese Idee konnte kein biederer Deutscher verfallen, die Inhaber der Firma sind, wie ich höre, Juden, und es ist nicht daran zu zweifeln, daß ihnen ihr "nordisches" Handwerk schleunigst gelegt wird. Weltanschauliches ist ein Ding für sich. Natürlich gibt es keine evangelische und keine katholische Mathematik. Ebensowenig kann man Stiefel nordisch oder dinarisch besohlen. Aber das moderne Schlagwort soll ziehen. Leider ist es zu einem Schlagwort und Schlagetotwort geworden. Wie gern haben wir uns schon als Kinder den Helden Siegfried sechs Fuß groß und langschädelig und blauäugig vorgestellt oder von holdseligen goldblonden Märchenprinzessinnen geträumt, deshalb aber doch nicht die größtenteils dunklen Süddeutschen als fremdstämmig erklärt. Heute nun wird, obwohl nicht einmal die Mehrzahl der Reichsminister diesem Bilde entspricht, das Nordische so aufdringlich als typisch deutsch hingestellt, daß die ostischen, baltischen, westischen, fälischen und sonstigen Landsleute sozusagen Zweitklässer sind.

Also helfen sie nach, soweit sie weiblichen Geschlechts und nicht hellfarbig sind, und bleichen sich blond.

Dabei kommt es, wenn man das Haar als Rassenmerkmal wertet, tatsächlich mehr auf die Art als auf die Farbe an. Nordisches Haar ist fein und weich. Übrigens waren weder Luther noch Bismarck nordisch, und doch wird ihnen niemand ihr Deutschtum bestreiten. Es ist Unrecht, wenn wir Blonden uns brüsten und schon das Braun verächtlich abtun. Aus der Zeit, wo man Saupreuß und bayrischer Zwockel und Wackes sagte, sind wir doch wohl heraus, aber es ist erneut der alte Kartothekgeist, wenn wir statt dessen uns gegenseitig wieder nach deutschen Abarten sondern.

Meine Stiefelsohlen halten länger, wenn das Leder mit Eichenlohe statt mit Quebracho oder irgendwelchen unnennbaren Chemikalien gegerbt ist. Die Wehrmacht macht das für ihre Lederlieferanten zur Bedingung, aber sie kennt weder nordische noch bajuvarische Stiefelschäfte.

Im vorigen Jahr um diese Zeit munkelte man von der bevorstehenden Ledernot. "Hinlegen, hinlegen!", riet dieser und jener pessimistische gute Onkel, der aus angeblich bester Quelle allerlei vom Rohstoffmangel gehört haben wollte. Also legte man sich etliche paar Stiefel extra hin, und dazu noch Wollstoff, Seife, Nähgarn, Rasierklingen, was weiß ich. Heute sind aber die Läger und Läden genau so gut gefüllt wie im vorigen Jahr, kein Käufer kann sich beklagen, daß seine Wünsche unerfüllt bleiben, und das "Hinlegen, hinlegen!" hat jeden Sinn verloren: das Notwendige ist da. Wenn das Überflüssige, von der Importzigarre bis zum Kaviar, etwas knapper werden sollte, so macht das doch wirklich nichts aus.

Stetig vollzieht sich das deutsche Wunder, daß wir uns wie weiland Münchhausen am eigenen Zopfe aus dem Sumpf ziehen. Trotz ungenügender Deckung durch Gold oder Devisen, trotz aller Boykottversuche der Emigranten.

Auch die vielzitierte Neubelebung der Innenstadt Berlin wird einst Wahrheit werden, obwohl wir augenblicklich - noch nicht klar hindurchsehen können, weil ungeheure Staubschwaden von allen den Abbrüchen daherziehen.

In der eigentlichen Friedrichstadt, dem ehemaligen Zentrum des nächtlichen Bummels, ist der ganze Betrieb inzwischen schon ehrsamer geworden, ohne daß das Vergnügen darunter gelitten hätte. Verschiedene üble Stätten sind "von selbst" eingegangen oder behördlich aufgehoben. Dafür entstehen neue Lokale, in denen es recht fidel zugeht, ohne daß es wüst wird. Einst befand sich an der Ecke Jägerstraße das Café National, in dem massige Huldinnen linkische Besucher aus der Provinz erwarteten, um sie gehörig auszunehmen. Wenn ein Fremder einen Berliner Jungen fragte, wo dieses Café sei, bekam er wohl mal ein Grinsen zu sehen und die Antwort zu hören: "Det derf ick noch janich wissen, da bin ick noch ville zu kleen zu!" Schon vor Jahren zog bieder und reinlich das Wiener Dreher-Bräu hier ein, mußte dann nach der politischen Entfremdung bei schrumpfendem Besuche den Betrieb wieder aufgeben, aber nun ist der neu errichtete deutsche Winzerkeller darunter wieder allabendlich und allnächtlich gestopft voll, und die Lust brandet hoch auf.

Der Wirt war jahrelang als eleganter Kellner - er sah fast aus wie ein junger Diplomat - in der Bar des Hotels Exzelsior tätig. Er ist aus Bingen am Rhein gebürtig. Von dort her bezieht er seine guten Weine, die hier auch schoppenweise zu haben sind. Dazu einfacher Imbiß, Rührei mit Schinken, belegte Brötchen und so. Ganze fröhliche Gesellschaften, weinselige ältere Herren, junge Pärchen, auch ungefährdet wohl ein paar Damen allein, ziehen hierher, um sich der Sorgen zu entladen.

So gegen Mitternacht ist die Stimmung schon auf auf dem Höhepunkt. Eine Geige und ein Schifferklavier betsreiten die ganze Musik. Männiglich hat Studentenkappen aus buntem Papier auf dem Kopfe. Und man trinkt immer noch eins. Hier ist die alte berlinisch-rheinische Harmlosigkeit wieder auferstanden.

Der Frohsinn ist nicht totzuschlagen.

Auch in den Film geht man nicht nur, um sich heldisch zu erheben oder zeitgeschichtlich, technisch, naturwissenschaftlich zu belehren, sondern auch, um mit einem fröhlichen Abend harte Tagesarbeit zu beschließen. Parodien sind nicht gerade mein Fall. Auch dem "Amphitryon", dessen Uraufführung nach monatelangem Werken wir endlich erlebt haben, ziehe ich manche anderen Filme vor. Trotzdem: es wurde hemmungslos gelacht. Schon der Minister Goebbels konnte sich, als ihm vorher in Heiligendamm das Stück privatim vorgeführt wurde, seinem grotesken Humor nicht entziehen. Er stammt im wesentlichen aus der anachronistischen Vermischung von Gegenwart und klassischem Altertum. Der Götterbote Hermes saust im Olymp auf Rollschuhen daher, Zeus kommt in einem Fallschirm (es sind auch landschaftlich berückende Bilder) zur Erde, die Dienerin Andriea sagt "Gnädige Frau" zu der Frau Hauptmann Alkmene in Theben und ist verrückt nach einem neuen Hut aus dem Modesalon. Die ganze Fabel ist ein - mißlungener - Seitensprung des Göttervaters, den Willi Fritsch mit an ihm bisher nicht gesehenen schauspielerischen Fähigkeiten darstellt. Zeus nimmt unter ulkigen Manipulationen (die Damen feixen, sie kennen die Kosmetik) seine Verwandlung in die Gestalt des jungen Hauptmanns Amphitryon vor, so dessen Gattin Alkmene zu betören. Aber er betrinkt sich an süßem Samoswein und verschnarcht sein Glück. Am nächsten Morgen nimmt ihn seine Frau Juno - oh, das ist die alte Adele Sandrock, köstlich, ganz köstlich - beim Wickel und holt ihn heim zum OLymp. Die Moral ist gerettet.

Wir haben also wieder ein "galantes" Stück von pariserischer Leichtigkeit und dem behaglichen Grunzen Hartlebens oder Otto Julius Bierbaums, jedermann zwinkert mit den Augen, aber da schließlich "nichts passiert", hat nicht nur der klassisch Gebildete samt der großen Masse das Vergnügen, sondern auch der mäkelnde Schnüffler ist auf den Mund geschlagen. Der alte Sünder, der Göttervater, wird zwar nicht vom Teufel geholt, den die Griechen nicht kannten, aber von seiner Juno-Xanthippe, also es setzt sich zwar nicht das Gute durch, aber jedenfalls "siegt" nicht das Leichtfertige, und damit ist der sittlichen Forderung Genüge getan.

Ich kann mir wohl eine Zeit vorstellen, in der auch solche Kost, trotz der vorsichtigen Dosis von Moralinserum, der Menge nicht mehr mundet. Das ist dann, wenn das ganze Volk unserer Pimpfe und der Hitler-Jugend und des Bundes deutscher Mädel erst herangewachsen ist. Dieses kommende Geschlecht wird nicht etwa humorlos sein, aber sich an ganz anderen Humoren erfreuen, die nicht mehr Ableger von Blumauers und Offenbachs Poesie sind.

Wer von uns Alten aus der Kriegsgeneration nur gelegentlich ein Fähnlein hat vorüberziehen sehen, aber das Leben der heutigen geballten Jugend sonst nicht kennt, der sollte sich darüber wenigstens aus Büchern unterrichten. Etwa "Jungvolk im Lager" (hauptsächlich gute Aufnahmen) oder "Deutscher Jugenddienst" oder (besonders instruktiv) "Pimpf im Dienst". Wer aber einen kleinen Angehörigen oder Bekannten darunter hat, der muß sich schon die Zeit nehmen und einmal einen Tag Lagerleben mitmachen, dann schwillt ihm das Herz vor Freude.

Das geht heute weit über örtliches Jugendspiel hinaus, wie man es früher sah, ja sogar über die Reichsgrenzen hinaus. Die deutschen Kinder aller fünf Erdteile werden in diesen Organisationen ihrem Volkstum erhalten, mit ihm wieder in lebendige Berührung gebracht.

In schönster märkischer Landschaft - Hügel, Wälder, Seen, Heide - bei Dranse noch weit hinter Rheinsberg - noch genauer: Kuhlmühle am Baalsee - befindet sich das Deutschlandlager.

Dort hausen in Spitzzelten, in denen es auch an den wenigen regnerisch-kühlen Tagen sehr mollig war, rund 1400 Hitlerjungen, darunter 900 kleine Auslandsdeutsche, die zum Teil gar nicht organisiert sind, auch wohl fremde Staatsangehörigkeit besitzen und redlich ihrem neuen Vaterlande dienen werden, aber durch Abstammung und Sprache mit uns verbunden sind. Viele von ihnen erleben zum erstenmal der Väter Heimat und empfinden tief das Glück der völkischen Gemeinschaft. Ich glaube, es sind 51 Staaten, aus denen sie zusammengeströmt sind.

Es sind wohlhabender Leute Kinder darunter, gewiß, so unser kleiner Bekannter Karlheinz, der von rund 1800 Kilometer weit herkommt und dessen Eltern ihn dieser Tage auf dem Luftwege aufsuchen wollen, oder das Kerlchen aus Argentinien, dessen Vater ihm soeben 2000 Mark hat überweisen lassen, aber auch ganz arme, die von deutschen Schiffahrtsgesellschaften freie Überfahrt erhalten haben und von denen einer mit nur 65 Pfennigen in der Tasche hier ankam. Es gibt im Lager keinen Standes- und keinen Geldbeutelunterschied, es sind allzumal Kameraden und Deutsche, Deutsche, Deutsche. Hei, wie das fröhlich durcheinanderpurzelt, wenn frühmorgens geweckt wird! Morgenturnen, Waschen, Zeltordnen, Flaggenhissen, Frühstück, Zeltbesichtigung, Befehlsausgabe, Abmarsch. Dann ist der ganze Tag mit Geländesport und deutscher Kunde ausgefüllt, und abends am Lagerfeuer hören die reichsdeutschen Jungen ihr blaues Wunder aus Brasilien und China, aus der Türkei und Australien, vom Mississippi und Kilimandscharo, und die kleinen Auslandsdeutschen allerlei Herrliches vom neuen deutschen Reiche.

Jüngst war der Arbeiterdichter Lersch da. Gebannt und begeistert hörte man ihm zu, als er Verse vortrug und dann aus seiner harten Kinderzeit, aus seinem Beruf, aus dem Kriege, von seinem Erwachen schließlich zur Nation erzählte. Frick war da, Heß und Schirach sind demnächst da. Es ist ein herrliches Dasein für die Buben, wie es ihnen erst jetzt geboten wird, nachdem andere Nationen uns längst vorangegangen sind. In England war es der aus dem Burenkriege bekannte General Baden-Powell, der die boy scouts organisierte, die ersten großen Lager hat in Italien Mussolini errichten lassen, in Dänemark, in Frankreich, in Belgien, überall haben sich die Jungen unter der nationalen Fahne gesammelt.

Vom 14. bis zum 31.Juli steht das Deutschlandlager. Nach dessen Auflösung werden die Insassen sich in Döberitz Manöver ansehen. Eine vierwöchige Autobusreise durch Deutschland schließt sich daran.

Das Lager erstreckt sich über ein Gelände von Kilometern. Jede kleine Zeltstadt darin hat eigens gelegte Wasserleitung. Eine Lautsprecheranlage, die jeden Befehl - und Gesang und Musik - überallhin weitergibt, haben die Jungen selber gebaut. Der Bund Deutscher Mädel hat abseits ein kleines Lager, in dem eifrig Jungenhosen geflickt und Strümpfe gestopft werden. Für die gute, kräftige Verpflegung und für die sanitäre Versorgung ist der Hilfszug Bayern da. "Essen, Essen!", das ist natürlich ein Jubelruf. Die großen Krankenautobusse, die je 9 Betten enthalten, sind auch nicht unbenutzt. Ein kleiner Junge aus Columbien in Südamerika und andere deutsche Buben aus äquatorialen Gegenden bekommen hier doch mal Schnupfenfieber oder Halsentzündung. Gelegentlich hat einer auch Zahnschmerzen. Arzt, Apotheker, Feldscher, alles da. Irgend etwas Ernstliches hat es nicht gegeben, das Lagerleben ist gesund.

Wenn man von einem solchen Ausflug heimkehrt, möchte man sich am liebsten als Wanderprediger an die nächste Straßenecke stellen.

Aber Berlin ist Ende Juli verhältnismäßig still und tot. Vom Deutschlandlager hat man eine Überschrift in der Zeitung gelesen, nun ja. Viele dösen. Die Reihen der untätig wartenden Autodroschken sind viel länger als sonst, die Chauffeure stehen zusammen und lösen Rätsel. Es ist ganz kleinstädtisch traumumsponnen. "Sie, Herr, wissense veleicht 'n Vakehrsmittel, det in unsa Rätsel paßt?"  "Na, Auto!", sage ich auf Anhieb. "So schlau sin wa alleene, nee, een langet Wort!" Flugzeug, Eisenbahn, Luftschiff, Schienenzepp, Draisine, Fahrrad, Motorboot, Dampfer? Nichts paßt. Fünfzehn Chauffeure drucksen daran herum.

Was paßte denn? Autotaxe!
25. Juli 1935 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 44

© Karlheinz Everts