"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 43 - 44
1. bis 8. August 1935


43

Man studiert neue Uniformen - Der Wetterdoktor - Im Fluge von Barcelona - Der Isonzo nach Berlin - "Komm, Karlineken, komm" - Entdeckungsreise zur Panke-Quelle.

Die Uniform, die man jetzt in Berlin am häufigsten sieht, ist die der Flieger. Oder vielleicht fällt sie einem nur am meisten auf. Der wißbegierige Zeitgenosse klassifiziert sie schon nach dem Kragenspiegel. Gelb: das sind fliegende Flieger, von denen manche sich wirklich in die Luft erheben, viele mit der Flugvorbereitung auf der Erde - Parterreakrobaten nannte man sie früher - vollbeschäftigt sind. Rot: das sind fliegerabwehrende Flieger, in Wirklichkeit also eine artilleristische Spezialtruppe. In der Reichshauptsatdt sieht man besonders viele schwarze Kragenspiegel, deren Träger dadurch als zum Luftfahrtministerium gehörig sich ausweisen. Ferner braune, grüne, weiße, blaue, am Ende gar noch mehr; Uniformkunde ist heute schon ein Studium. Nun sollen die Flieger auch noch eigene Musik bekommen, was auf entllegenen, einsamen Horsten - das ist bei der Luftwaffe der dienstliche Ausdruck für Standort, für Garnison - die Öde ein wenig vertreiben wird. Auch Heer und Kriegsmarine haben ihre Kapellen, das wäre also nichts Besonderes. Aber mit etwas anderem sind die Flieger reichlicher versehen: in jedem Fliegerhorst, und wenn er auch nur eine einzige Staffel beherbergt, sind zwei Doktoren etatmäßig.

Ein Menschendoktor. Ein Wetterdoktor.

Diesen, den Meteorologen, nannten wir im Kriege Laubfrosch. An seine Prognosen glaubt kein Mensch, obwohl sie in neun von zehn Fällen genau zutreffen. Aber er wird dafür verantwortlich gemacht, daß das kommt, was man bei ihm - bestellt hat. Gilt er doch wie bei den Negern der Medizinmann nicht nur als Wetterprophet, sondern auch - unter uns gesagt - als Wettermacher. "'n Tag, Wetterdoktor, na, Sie haben mir ja eine schöne Suppe eingebrockt, die ganze Woche Urlaub hindurch hat es wie doll geregnet!" Manchmal nimmt der Doktor solche Vorwürfe ernst, dann ist es sehr lustig. Aber wenn er irgendwo an der Nordsee frühmorgens etwa sagt, während die Sonne bei Windstille strahlt, am Nachmittag sei Starten ausgeschlossen, dann kann man sicher sein, daß spätestens um 4 Uhr eine dicke Nebelwand die Welt zumauert.

Ausflüge, Ferienfreude, Gesundheit, Ernte, Weingüte, alles hängt in unseren Breiten von dem Wetter ab. Der Berliner hat diesmal, abgesehen von der letzten Woche, einen schönen Juli mit viel Sonne gehabt, vorher ist rundum in der Kurmark die Heuernte bei Trockenheit geraten, jetzt auch das Korn gut hereingekommen. Es hätte auch ganz anders sein können; und dann beneidet man, aber nicht mit Recht, die Länder mit stabilem Wetter in den einzelnen Jahreszeiten.

Man enträtselt die jetzt neuartigen Wetterkarten in den Zeitungen. Oder man stellt sich als Berliner am Tempelhofer Felde auf dem Flugsteig an und hört aus den ersten Begrüßungsworten zwischen Ankommenden und Empfangenden heraus, was für ein Wetter überall in Europa ist. Wir holen gerade eines Nachmittags Frau Maria ab, die noch am selben Morgen in Spanien gefrühstückt hat. Es sind 16 Grad bei uns, in Barcelona waren es 39 im Schatten. Wenn man hier fröstelt, sehnt man sich nach Barcelona. Wenn man hier aber schwitzt, dankt man seinem Schöpfer, daß es wenigstens nicht eine solche Glut ist wie drüben. Ende Juli hatten wir Sturm, Windstärke 10, und Regen, Anfang August noch kühles und feuchtes Wetter. Für diese Tage paßt die Geschichte nicht, die ich jetzt erzählen will, sondern ich hatte das Erlebnis früher einmal mitten in der größten Dürre.

Zunächst die Vorgeschichte.

Mit einer leeren - man denke, einer leeren - Flasche sucht mich nach Beendigung der Offensive gegen Italien im Herbst 1917 Oberstleutnant Siegert, der Inspekteur der Fliegertruppen, in Udine auf. Wieso denn, warum denn? Ein paar Tonnen gutes Rizinusöl haben wir ja erbeutet, die tun den Flugzeugmotoren gut, aber davon will er ja wohl nichts. Er stößt ein kleines Indianergeheul aus und sagt: "Nun kommen Sie mal mit mir in meinem Auto an den Isonzo, mein Lieber, da will ich Wasser schöpfen, das ist doch 'ne Sache, aus der Panke lasse ich meinen Jüngstgeborenen nicht taufen!"

Der kleine Siegert hat dann auch nach ein paar Tagen richtiges Isonzowasser auf den Kopf bekommen. Aber weshalb dieses Naserümpfen über die Panke? Zwischen Flandern und Mesopotamien hoch in den Lüften fiel mir das Gespräch mit Siegert wiederholt wieder ein. Man müsse doch wirklich etwas Heimatkunde treiben! Käme ich lebend aus dem Kriege zurück, so wollte ich mal errötend den Spuren der Panke folgen.

In Berlin selbst kennen wir sie. Es stimmt nicht, was der Reichshauptstadt nachgesagt wird, daß sie an der Panke liege, sie liegt wirklich an der Spree. Aber sie - steht auf der Panke! Dieses Nebenflüßchen der Spree, das unsichtbar in der Gegend des Großen Schauspielhauses mündet, ist nämlich fast durchweg überbaut. Nur an einzelnen Stellen zeigt es sich als Rinnsal zwischen himmelhohen Häusermauern. Wenn man einen Zwirnsfaden mit einem Schiffstau vergleichen darf, so sei diese Panke mit irgendeinem Fleet in Hamburg in Parallele gestellt. Ein venezianischer Canal Grande ist sie gerade nicht, nur stinken tut sie manchmal ähnlich. Jedenfalls hat die Panke aber in ihren heroischen früheren Zeiten einmal Pate gestanden, Pankow ist doch nach ihr benannt, und dieser nordöstliche Berliner Stadtteil ist sogar dichterisch verewigt worden. Als wir jung waren, sang man:

Komm, Karlineken, komm,
Wir woll'n nach Pankow gehn,
Dort ist es wunderschön,
Kille kille Pankow!

Vielleicht machte man da auch kille kille, wenn man mit einem lieben Mädel über die Felder hinging, aber heute gibt es da keine Felder mehr, nur graue Mietskasernen ziehen sich ununterbrochen von Berlin-Mitte bis dorthin, so daß eine Grenze nicht bemerkbar wird. Erst im benachbarten Berlin-Niederschönhausen gibt es einen herrlichen alten Park und darin ein Schloß, in dem Friedrichs des Großen Gattin ihr Leben lang einsam hauste, den Ruhm ihres Gatten, aber kein einziges liebes Wort von ihm genoß; er war auf väterlichen Befehl mit ihr verheiratet worden, und das hatte er ihr nie vergessen. Hier in Niederschönhausen ist die Panke ein kleines Idyll, schlängelt sich unter Linden und Kastanien hindurch, "rauscht" sogar - oder murmelt - in einem kleinen Wasserfall und umfließt eine fliederumstandene Liegewiese. Etliche Wildenten tummeln sich dort, und weiter oberhalb, im Gräflich v.Voßschen Park, leuchten auch Schwäne auf der Panke auf, die hier teichartig - die Anwohner sagen: seeartig - sich verbreitert und einen romantischen "gotischen" Pavillon widerspiegelt. Den Hinweis auf ihre Reize verdanke ich dem Kaiserlich russischen Generalkonsul a.D. v.Hamm, der entzückende Bildchen von diesen Partien aufgenommen hat. Also in Berlin wird die Panke von Fabriken und Mietskasernen erdrückt und schließlich zum Münden durch ein großes Ausgußrohr gezwungen, während sie vorher in zwei historischen Parks noch eine Augenweide ist. Aber wo entspringt sie? Das will ich doch mal feststellen.

Das Kleinauto eines Bekannten bringt mich zum Vorort Bernau (nicht wahr, Sie wissen schon, Hussitenspiele), denn im Großen Meyer steht: "Die Panke, 86 Kilometer lang, entspringt bei Bernau." Sehr einfach, nicht? Herrschaften, habt Ihr eine Ahnung! Wenn das so einfach wäre, müßte doch jedes Kind in Bernau wissen, wo die Quelle des Stromes zu finden ist, aber mitnichten, nicht einmal die sichtlich ältesten Leute im Ort können mir Bescheid geben. Nun kommen braungebrannte Jungens vom Arbeitsdienstlager Bernau, die selber bei der Regulierung eines Zuflußgrabens zur Panke beschäftigt gewesen sind. Der Graben ist übrigens so schmal, daß die jüngste Balletteuse darüber Spagat machen könnte. Die Quelle? Nein, die weiß keiner. Aber am Ende des Ortes, da ist Wasser, das kommt von der Panke, die sogenannte Wasch-Spüle.

Ha! Nun sind wir Kolumbusse zwar noch nicht in Amerika, aber sozusagen schon in Westindien, die Entdeckung fängt jedenfalls an. Wir sehen eine Art Dorfteich vor uns, so verunkrautet, daß man darin weder waschen noch spülen kann, und ein paar Buben plantschen darin, weil es doch ein Vergnügen ist, sich schmutzig zu machen. Weiter hinauf ist nur ein gänzlich ausgetrockneter Graben zu sehen, rissige Erdschollen, einige Halme Schilf. Aber die Quelle, die Quelle! Die Vernehmung der Landeseinwohner von Bernau ergibt verschiedene Lesarten. Erstens: Die Panke entspringe ganz in der Nähe, in Gieses Plan. Zweitens: Sie komme von den Krähenbergen, das könnten wir davor in der Fleischvernichtungsanstalt erkunden. Drittens: Der Obersee, hinter der Bodelschwinghschen Arbeitslosenkolonie Hoffnungstal, sei der Ursprung.

Wir suchen Gieses Plan ab. Trockene Wiese. Quelle: Fehlanzeige. Das macht die Dürre. Wenn es da schon einige Tage geregnet hätte, wäre wenigstens an besonders saftigem Gras zu merken gewesen, daß die Panke hier ihre 86 Kilometer beginnt. Aber es gilt, wissenschaftlich genau zu arbeiten, alle Möglichkeiten zu erschöpfen. So umfängt uns denn bald ein beizender Geruch. Wir sind in der Berliner - bitte sehr - Fleischverwertungsanstalt, nicht Fleischvernichtungsanstalt. Da werden aus täglich rund 600 Zentner beanstandeter Ware vom Vieh- und Schlachthof, ferner aus den wenigen eingelieferten Hunden, Katzen, Pferden nützliche Dinge gemacht, vor allem Fleischfuttermehl für Schweine, hygienisch einwandfrei. Aber Panke? Panke? Nein, von der weiß auch der älteste Meister nichts. Nun gut, fahren wir nach Hoffnungstal. Da lacht uns ein Prachtkerl fröhlich ins Gesicht:

"Was, das wissen Sie nicht? Die Panke entspringt an der Schloßbrücke in Berlin!"

Der Kaffee in der Kolonie ist gut und billig, wir drei Entdecker, zwei Männer, eine Frau, bekommen eine Riesenkanne davon und einen ganzen Liter beste frische Milch für 1,30 Mark, dazu Zucker nach Belieben, wir studieren dabei noch einmal unsere Generalstabskarte und lassen uns durch den Sinn gehen, was ein Beamter der Kolonie, offenbar ehemaliger Offizier, uns gesagt hat: daß die Wasserscheide südlich liege, durch Ladeburg gehe, hier nördlich bereits alles zur Oder fließe, nicht zur Spree. Die Panke könne also nur ganz in der Nähe von Bernau entspringen.

Stimmt.

Dann hat also der Große Meyer Recht, die Panke hat ihre Quelle wirklich da, nur ist die auch mit zweitausendfacher mikroskopischer Vergrößerung nicht zu sehen. Die Rhone träufelt deutlich aus ihrem Gletscher, die Donau kommt aus einem eingefaßten Brunnen, jeder anständige Fluß hat seine klare Abstammung. Daß die Panke die ihrige so versteckt, ist einfach knickend.

Nun verstehe ich auch Oberstleutnant Siegerts Naserümpfen. Mit der Panke können wir nicht dicke tun, selbst wenn wir die berlinischsten Berliner sind. Nie wird ein Wettschwimmen auf ihr stattfinden, nie ein Schiffsunglück auf ihr sich ereignen, nie auch nur eine Dorffeuerwehr aus ihr Wasser entnehmen können. Ihr einziger Beruf wird es bleiben, daß Spötter sagen können, Berlin liege an der Panke.
1. August 1935 (Donnerstag)


44

In memoriam Hindenburg - Vom einstigen Uniformverbot - Die Muttis im Zeughaus - Fünfzehn Jahre Rumpelstilzchen - Hans Schweitzers zeichnerische Satiren - Ausstellung Berliner Kunst - Ateliergemeinschaft in der Klosterstraße - Feierabend wäre schön.

Das Zeughaus samt der Ruhmeshalle ist seit der neuen Verwaltung durch Admiral Lorey wieder zu einem Pilgerziel geworden und wird nach seiner Ausgestaltung zu einem Museum des Weltkrieges einer der stärksten Anziehungspunkte der Reichshauptstadt werden. Einstweilen gibt es da gelegentlich Sonderausstellungen. Unten im Zeughaus zur Zeit eine Gedächtnisausstellung für Hindenburg, in der man zahlreiche Bilder aus seinem Leben, ein wichtiges Aktenstück aus dem Kriege, seine Uniform, seine preußischen Orden und die letzte handschriftliche Seite aus seinen Lebenserinnerungen mit dem berühmten, in seinem Testament von 1934 wiederholten Wort von seiner Hoffnung auf das Wiedererstehen des deutschen Kaisertums sehen kann. Er schreibt noch nach alter Orthographie mit th: Kaiserthum. Oben in der Ruhmeshalle aber stehen vor dem Siegesengel seine Büste, links und rechts im Kreise die von 14 deutschen Heerführern des Weltkrieges, die hier auch nur ein Gastspiel geben und endgültig im heiligen Turm des Tannenbergdenkmals aufgestellt werden sollen.

Vor der Ludendorffs ein neuer Kranz für den Erstürmer von Lüttich zum Jahrestage, dem 6.August. Below, Morgen, Scholtz und die übrigen - ach, von jedem weiß man noch dies und das erhebende oder behagliche Geschichtchen; man ist ja noch Zeitgenosse und, an bescheidenem Platze, Mitkämpfer gewesen. Rechts von Hindenburgs Büste die von Mackensen. Als ich im vorigen Jahre wieder einmal einen Nachmittag in seinem Hause verleben durfte, zog er sich den Attila zurecht und sagte: "Mein Leben lang, 84 Jahre, bin ich immer schlank gewesen, aber jetzt, ich glaube fast, ich bekomme Speck auf den Magen!" Da mußte ich aber doch lachen; der Feldmarschall ist immer noch schlank wie eine Tanne, selbst wenn ihm der Attila etwas praller sitzen sollte. Er hat ihn nie abgelegt. Er ist uns ja nur in Uniform denkbar. Im Jahre 1920 erließ Ebert, als er vor der Marinebrigade nach Stuttgart ausgerissen war, ein Uniformverbot für alle Inaktiven, auch für die mit dem Recht auf die Uniform verabschiedeten Offiziere. Nun werden Feldmarschälle niemals verabschiedet, sondern in der Rangliste weitergeführt. Also unser Mackensen setzte sich hin und schrieb an Seeckt, er besitze überhaupt keine Zivilkleidung und werde sich auch keine anschaffen. Daraufhin erfolgte eine neue Verfügung, daß der ursprüngliche Erlaß auf Feldmarschälle keine Anwendung finde.

Jetzt, wo jedermann wieder Soldat wird, haben die Buben erneut ein brennendes Interesse für alles, was militärisch ist. Da muß, ob sie will oder nicht, sogar die Mutti mit, um zu erklären. Im Lichthof des Zeughauses steht der erste behelfsmäßige Minenwerfer aus dem Kriege, ein Holzrohr mit Draht umsponnen. "Du, Mutti, was ist das?"  "Ein furchtbares Mordinstrument, scheußlich!" Da blicke ich der Frau fest ins Gesicht. Wenn ich zu wenig Magensäure hätte, so wäre mein Bedarf jetzt so reichlich gedeckt, daß alles in mir sofort gerönne; so also sieht die Frau aus. Vielleicht drücke ich mich medizinisch falsch aus, aber jedenfalls versteht man, was ich meine.

Ich wünschte, alle deutschen Mütter, die hierher kämen, begeisterten ihre Buben vor Richthofens Flugzeug, vor Bismarcks Kürassierhelm, vor den Bildern aus Preußens Heldengeschichte, vor Hindenburgs Totenmaske, vor den eroberten Fahnen, vor den alten Geschützen.

Wenn es eine nicht kann, soll sie mich rufen.

Vielleicht habe ich demnächst mehr Zeit zu so etwas, wenn ich meine Berliner Plaudereien einstelle, die nun schon seit 15 Jahren ins Land gehen.

"Nein aber so was! Sie und nicht mehr Plaudern? Ganz unmöglich!"

Doch, meine liebe gnädige Frau, sehr wohl möglich. Man braucht doch nicht bis in spätes Alter hinein auf dem Bummel durch Berlin zu bleiben, man darf doch irgendwann einmal jüngeren Augen das Feld überlassen. Was ich mir vornahm, ist erfüllt. Ich bin im Grunde gar kein Plauderer, sondern ein Zuhörer, und wenn ich mich 1920 trotzdem dazu zwang, von da ab wöchentlich Berliner Feuilletons zu schreiben, so hatte das seine bestimmten Gründe. Der Familienvater liest die politischen Leitartikel, Frau und Kinder und Großmutter und Mädchen tun es aber nicht. An die alle mußte ich heran, um den November-Unstaat zu bekämpfen, um die Sehnsucht nach einem freien, starken Deutschland wieder zu erwecken. Das ging nur "unter dem Strich"; dort lasen es alle. Manchen Strauß hatte ich deswegen mit Behörden und republikschützenden Gerichten auszufechten. Eines Tages wurde mir die Reichstags-Pressekarte wegen der Plauderbriefe entzogen. Ich forderte sie in einem geharnischten Briefe zurück; denn was ich außerhalb des hohen Hauses täte oder ließe oder schriebe, das gehe das Präsidium "einen Dreck an". Da kriegte ich die Karte wieder. Jedenfalls habe ich fleißig miniert. Dann hatte ich, als das Reich der Scheidemann-Weiß-Grzesinski aufflog, noch eine Aufgabe in den Familien. Nämlich: ihnen das gänzlich überflüssige Meckern abzugewöhnen und ihnen das Wort Kants nahezubringen, daß man einer Revolution gehorchen müsse, wenn sie gesiegt habe. Die von 1918 hatte Pöstchen usurpiert, aber nie gesiegt, denn ihr Staat besaß keine Hoheitsrechte, war ein Gefangener von Versailles, und ihre Macher waren bezahlte Fronvögte. Jetzt ist es anders. Das habe ich nun an die drei Jahre meinen Freunden im Reiche allwöchentlich erzählt und damit eigentlich "unter dem Strich" den Rest meiner Aufgabe gelöst. Man kann heute die Welt nicht mehr satirisch verlachen. Die Satire hat ihre Arbeit getan, die Verlachten sind von der Bühne abgetreten, von draußen klingt der Marsch der Nation herein, die Tritt gefaßt hat.

Einer unserer stärksten Satiriker, nicht mit der Feder, aber mit Bleistift, Kohle, Pinsel, war der junge Hans Schweitzer, der als "S" im Scherlschen "Tag" und als "Mjölnir" in der Eherschen "Brennessel" seine Zeichnungen mit Text veröffentlichte, die wie Feuerbrände in die republikanischen Lumpenhaufen fielen.

Jetzt hat er weniger zu tun, denn die Leute nehmen sich alle selber zu ernst, haben noch keine Zeit für Humor. Aber in dem Oberstock der ehemaligen japanischen Botschaft, späteren Sezession, in dem Hause Ecke Hindersinstraße gegenüber dem Reichstag, da sehen wir eine Sammlung von Prachtstücken der Schweitzerschen Karikaturen. Man brüllt vor Vergnügen, wenn man alle diese Gesichter von 1918 bis 1932 hier gut getroffen, mit charakteristischer leiser Überbetonung, wiedersieht. Auf einem Bilde hat Schweitzer den "Paneuropäer", den Grafen Coudenhove-Calergi verewigt, der uns da unergründlich holländisch-jüdisch-österreichisch-japanisch anblinzelt. Darunter steht Coudenhoves Ausspruch von 1929: "Der kommende Mensch wird der Mischling sein; für Europa wünsche ich mir eine eurasisch-negroide Zukunftsrasse, als deren Führer uns eine gütige Vorsehung die Juden geschenkt hat." Nun hat Schweitzer vor Coudenhove diesen Zukunftsmenschen, in Badehose, hingestellt, und da kann man wirklich Lachkrämpfe kriegen. Aber nur einen Augenblick. Dann schüttelt man sich, dann bekreuzigt man sich und ist in tiefer Erschütterung dankbar dafür, daß wir heute wieder zur Reinhaltung der Rasse erzogen werden.

Die ganze "Ausstellung Berliner Kunst 1935 am Königsplatz" zeigt die Wandlung auf. Zerstoben ist der Futurismus der Nichtkönner, man sieht nichts mehr von dem früheren Geschmier, sondern wieder auch handwerklich saubere Arbeit, Zeichnungen, die an Dürer oder Menzel erinnern, Gemälde, die in ihrer Akkuratesse und Realistik an alte Italiener aus dem 15.Jahrhundert gemahnen. Von Klaus Richter, Schuster-Woldan, Wolf Willrich, Karl Storch, Margarete Schmedes, Koch-Zeuthen, Georg Ehmig, Willi Jaeckel, Christian Schad habe ich die stärksten Eindrücke mit heimgenommen. Man kann sich heute wieder malen lassen und, o Wunder über Wunder, sicher sein, daß das Bild porträtähnlich wird. Bei jedem von mir hier genannten.

Nur schade, daß, man dann, wenn es sich lohnt, gemalt zu werden, meist kein Geld dazu hat; und wenn man es gegen Ende seines Lebens etwa hat, dann lohnt es meist nicht mehr, daß man noch gemalt wird.

Seit Herrn Kahn in dem Ateliergebäude in der Prinz-Albrecht-Straße, wo auch die zuletzt berüchtigten Kostümbälle stattfanden, das Geschäft mit dem teuren Weitervermieten der staatlichen Räume gelegt ist, hat man eine neue Atelierkolonie in der Klosterstraße geschaffen. Mitten in dem alten Berlin. Das Glockenspiel der nahen Klosterkirche läßt allerlei Volkslieder erklingen, erstaunlicherweise sogar "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten". Aus dem uralten Gymnasium Zum grauen Kloster nebenan, das 1830 bis 1832 Otto v.Bismarck besuchte, stürmen Schüler hervor, wandeln Schülerinnen daher, denn eine Studienanstalt für Mädchen ist auch angeschlossen. Nur ein Teil bleibt in der "Kommunität", in dem Internat rechts hinter dem großen Säulengang. An der Ateliergemeinschaft daneben geht man meist achtlos vorüber. Und doch arbeiten hier ein halbes Hundert Künstler, darunter 8 Damen, emsig um das liebe Brot in den hohen, aber preußisch-fiskalisch nüchternen Hallen, die vor Jahrzehnten unter Martin Gropius die Königliche Kunstschule waren, zuletzt leer standen, vorher einem Beamtenkaufhaus dienten.

Die Schlüssellöcher sind zumeist mit Papier verstopft. Es soll nicht jeder in die Arbeitsräume - gewohnt wird nicht in dem Hause - hineinschielen können. Besucher sind im übrigen willkommen, wenn der gewünschte Künstler da ist. Wenn nicht, so ist ein Abreißblock mit daranhängendem Bleistift für Notizen draußen an der Tür. An einer lese ich dreimal: "Gruß. Abel." Zweimal ist die Notiz durchgestrichen, das drittemal noch nicht, also zweimal hat der Atelierinhaber von dem in seiner Abwesenheit erfolgten Besuche Kenntnis genommen; den dritten wird er noch merken und ebenso quittieren. Ein Weilchen bin ich bei der Bildhauerin Frau Koch-Kuhlemann, die hier zusammen mit ihrem Mann arbeitet und augenblicklich einen Christophorus in Holz modelliert. Bei einem andern Bildhauer klopft gerade ein blütefrisches junges Mädel an, vielleicht ein Modell für eine Quellnymphe. Gern wäre ich zu Frau Professor Käte Kollwitz gegangen, aber sie ist gerade verreist. Merkwürdig: sie, die 66jährige, ist trotz allen Umschwungs immer noch die alte geblieben, zeichnet (und modelliert neuerdings) immer noch ihre Elendstypen aus einem so in Berlin gar nicht mehr sichtbaren Proletariat, und zwar ohne den gelegentlichen etwas versöhnenden Humor, den für das gleiche Milieu Heinrich Zille aufbrachte. Er wie sie hatten sicherlich Liebe; ihre Predigt wirkt aber doch nur Haß.

In den hallenden weiten Korridoren überall kasernenmäßig Wasserhähne und Ausgüsse, darüber Plakate, daß Speisereste und Zigarrenstummel nicht hineingeworfen werden dürften. Es wirkt alles ein bißchen erkältend. Trotzdem ist es in manchem Atelier um die Teestunde herum heimlich und traut, ein Hausquartett verschönt das Leben, man ist wirklich eine Gemeinschaft.

Die Korridore und das Treppenhaus in allen Stockwerken sind mit Linoleum belegt. Das Säubern kostet für etliche Mark Öl. Und dann kommt sicher einer mit Gipstapsen daher.

Es ist eigentlich ein schöner Gedanke, einmal mit der Kunst und mit den Künstlern leben zu können, ohne immer darüber schreiben zu müssen. Ins Theater zu gehen, wenn man Lust hat, nicht wenn man muß. Nicht in jedem Menschen ein Objekt, ein Modell zu sehen, nicht in jedem Erlebnis eine Geschichte. Das Dasein einfach so zu genießen wie jeder andere Staatsbürger und Steuerzahler, der keine Verpflichtung hat, dauernd im Kopfe Sätze zu formen, wenn Feierabend ist. Das habe ich anderthalb Jahrzehnte nicht gekonnt. Und dann: man muß einen Acker auch mal brach liegen lassen. Aufsätze, Broschüren, Bücher kann ich immer noch verfassen, wenn ich auch keine Streifzüge durch Berlin mehr beschreibe.

Jedenfalls geht es zunächst wieder einmal in die Ferien. Für diese köstliche Zeit wird man von Jahr zu Jahr dankbarer. Erinnerungen aus vergangenen Jahren tauchen auf, auch an viele liebe Menschen. Manch einem möchte man in Gedanken wieder die Hand drücken. Es sind Führende der Vorkriegszeit und des Dritten Reiches darunter, aber auch schlichte, ganz unbekannte Volksgenossen.

Man ist einander etwas gewesen.

Das ist der beste Schlußsatz unter ein Kapitel Schriftsteller- und Soldatenleben.
8. August 1935 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts