"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 37 - 39
20. Juni bis 4. Juli 1935


37

Kleinstadtsensation - Hochzeit bei Rothes - Der Berufs-Briefschreiber - Maskenbildner beim Film - Privatschminke.

Eine Hochzeit ist nicht nur für die Kleinstadt eine Sensation. Berlin besteht doch auch, wenn man vom Brandenburger Tor und dem Funkturm und der Tauentzienstraße und etlichem sonst noch absieht, nur aus Hunderten von Kleinstädten. Etwa immer so das Viertel um eine Kirche herum. Und wenn da eine Brautkutsche vorfährt und eine Anzahl feierlicher Wagen hinterdrein, steht schon immer lange vorher Volk vor dem Eingang, denn "man" weiß es doch schon seit Wochen. "O die Glücklichen!", haucht irgendeine späte Jungfrau. "Nun macht er den Sprung ins Dunkle!", knurrt schadenfroh irgendein Hagestolz. Immer aber befinden sich in einer solchen Berliner Menschenansammlung ein paar Schornsteinfeger. Der schwarze Mann bringt Glück. Der so vielfach angezapfte Brautvater greift dann beim Heraustreten nach der Trauung in die Frackweste und spendet verständnisinnig den Berußten ein Trinkgeld, über dessen voraussichtliche Höhe die Menge schon vorher debattiert hat.

Sitzt man nachher beim Festessen daheim, so schmettert es plötzlich im Treppenhause: "Das ist der Tag des Herrn." Auch diese Blechpuster sind nicht etwa bestellt, aber sie finden jeden Hochzeitsschmaus genau so sicher wie das Trauermagazin jedes Sterbezimmer. "Danke sehr, meine Herren, na denn Prost!" Für Onkel Theodor, der gerade nach der Suppe noch einmal still für sich seine Festrede memoriert, ist das eine willkommene Pause. Die Musikanten kommen nach Trunk und Trinkgeld in den Hausflur herein, spenden noch einen flotten Marsch, dann "Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus", - und ab zum nächsten Hochzeiterhause vier Straßen weiter.

Der größte Betrieb in diesen Branchen ist immer am Sonnabend, auch wenn die in "besseren" Familien miteingeladenen Pfarrer andere Tage lieber sähen; denn die meisten Hochzeitsgäste sind mit dem Sonnabend sehr einverstanden, weil man da am ausgiebigsten feiern kann.

Bei Berliner Alteingesessenen, die so gestellt sind, daß sie noch Pracht entfalten können, schlägt die Sensation einer Hochzeit im Publikum die weitesten Wellen. Da waren dieser Tage Rothes an der Reihe. Hermann Rothe, mit dem gewaltigen Gartengelände draußen in Zehlendorf und Marienfelde, mit den zahlreichen Läden Unter den Linden, am Potsdamer Platz, in der Tiergartenstraße und in allen Luxushotels, mit Hauptverwaltung und Nachtanruf, ist der Blumenkönig von Berlin. Als der Ministerpräsident General Göring heiratete, wurde selbstverständlich der Firma Rothe die Ausschmückung von Dom, Opernhaus, Kaiserhof übertragen. Diesmal ist bei Rothes selber Hochzeit: das einzige Töchterlein, die blonde, noch nicht zwanzigjährige Erika. Da steht Berlin vor der Matthäikirche sozusagen Kopf.

Nein, so etwas hat man denn doch noch nicht gesehen! Die ganze Kirche ist ein einziges duftendes Meer von weißem Flieder und Hortensien, der Altar ist eine Wand von weißen Winden, von der der Name Erika in rosa Rosen leuchtet. "Wer's Glück hat, der führt d i e Braut heim!", sagen mit Betonung die Leute vor der Kirche und wispern sich die romantische Geschichte zu, wie die junge Erbin des Blumenkönigs ursprünglich mit einem 29jährigen Freiherrn verlobt war, dann aber plötzlich mit ihm brach und ihrem jetzigen Manne folgte, der in dem reiferen Alter von 45 Jahren steht. Sie hat bei ihm - tanzen gelernt. Er ist eine Koryphäe in dieser Kunst, Turnierrichter, Mitglied der Kulturkammer, ein Mann voll innerer Musik in dem federnden Körper. Und seine junge Frau kann ihn nun - "ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben" - mit Blumen überschütten. Hier sind die Hagestolze draußen nicht mehr hämisch. Sie stammeln nur fassungslos: "Daß es so was noch gibt! Daß es so was noch gibt!" Der Berliner findet, von dieser Hochzeit hätte man - noch mehr hermachen können. In die Tonfilmwoche hätte sie gehört. Autogramme von dem Hochzeitspaar hätte man haben müssen. Und einen Liebesbrief in Facsimile im Blättchen, ei ja.

In Berlin gibt es sogar einen Berufs-Briefschreiber. Ich meine natürlich keinen Stenotypisten, der auf seiner Maschine herunterhackt: "Antwortlich Ihres Geehrten" oder: "Im Besitze Ihres Gestrigen" oder : "Ihren geschätzten Auftrag bestätigend". Nein, der Mann schreibt nur mit der Hand. So etwas machen berufsmäßig Leute in Ländern mit einer zum Teil noch analphabetischen Bevölkerung. So habe ich im Kriege vor der Moschee in Ortaköj am Bosporus einen hocken sehen, der Feldpostbriefe an eines alten Hamal fern an der Irakfront stehenden Sohn oder Liebesbriefe oder Mahnbriefe um wenige Piaster schrieb. Aber in Berlin handelt es sich um etwas ganz anderes. Diese Briefe hier werden gefilmt und erscheinen auf der Flimmerleinewand. Ein Kassiber des Spions Nr.791, eine Bitte des jungen Marquis um ein Stelldichein, ein Abschiedsbrief der betrogenen Braut vor dem Selbstmord, ein Zettel des geheimnisvollen XYZ, die ungelenken Schriftzüge eines Kindes.

Es ist ein junger Mann, der das schreibt. Er lebe davon. Die Ufa in Neubabelsberg besoldet seine Fingerfertigkeit.

Er schreibt hundert Handschriften.

Sie bringen Erregung und Eiseskälte, Jubel und Verstörung zu sichtbarem Ausdruck. Sie sind immer charakteristisch. Eine Randbemerkung Friedrich Wilhelms I. für den Film "Der alte und der junge König"? Bitte sehr, sofort, in fünf Minuten! Einen Brief der Fürstin Brauneck an ihre Tochter Seelchen in "Die Heilige und ihr Narr"? Gemacht, Herr Regisseur! Und der junge Mann liefert gleich mehrere Nuancen zu gefälliger Auswahl. Wie, bitte, eine noch etwas weiblichere Note in der Handschrift? Aber gern!

Der Hochzeitstrompeter, der gratulierende Schornsteinfeger, der Filmbriefschreiber, oh, es gibt in der Großstadt viele merkwürdige Berufe, die dem Flinken noch etwas einbringen. Und besonders im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, für die sprechende Leinewand, sind für jedes Fach Künstler in dem Fache nötig, die den Durchschnitt überragen.

Was ein Friseur ist, wissen wir alle, was ein Theaterfriseur ist, wissen manche. Ein Heer solcher Leute wird von der Ufa beschäftigt, aber die Führerpersönlichkeiten darin sind mehr als bloß Friseure, sie sind - Maskenbildner. Nicht jeder Bühnendarsteller ist in der Lage, sich für die überaus starke Belichtung, der man bei der Aufnahme ausgesetzt ist, kontrastreich genug zu schminken. Da müssen die Fachleute einspringen. Einer der ältesten vom Bau ist Arnold Jenßen, der seit 1907 seine Kunst beim Film ausübt.

Der erste Film, bei dem er mitarbeitete, wurde bei Meßter gedreht. Hauptdarsteller waren Albert Paulig und Bobbie Walter. Hauptsache war damals - im Stummfilm - möglichst viel lautloser Krach. Also Leute fielen die Treppe herunter oder ein Haufen Geschirr ging in die Brüche. An Maskemachen dachte man noch nicht so sehr. "Schminken, ach was, paar schwarze Striche um die Augen, Puder ins Gesicht, fertig!", sagte der Vater von Rosa und Henny Porten. Stargagen gab es damals noch nicht. Es war schon sehr nobel, daß Meßter neben der kleinen Entlohnung noch Kaffee und Kuchen und das Fahrgeld spendierte. Fast alle Darsteller jener Zeit sind von Arnold Jenßen "hergerichtet" worden, Fern Andra, die Schwestern Porten, Hanni Weiße, Erna Morena, Asta Nielsen. Von dieser, der "Unvergleichlichen", erzählt er besonders gern, von ihrer Wirkung als Hedda Gabler oder in der Schmetterlingsschlacht.

Manchmal gibt es beim Filmen wie im Kriege unerwartete Schwierigkeiten. In späteren Jahren ist der Maskenbildner der Ufa einmal in Italien, ist mit dem Filmen fertig, will nach Berlin zurück. Da meldet sich Harry Piel bei ihm und ersucht ihn um seine Mitarbeit. Draußen in Tivoli vor Rom. Gut. Paßt ausgezeichnet. Also los. Oben packt Jenßen sein Krämchen aus: o Schreck, der Koffer mit den Barthaaren ist nicht dabei, das Stück verlangt aber ganz tolle Bärte, so richtig zerzauste für Faune und Silene. Vor dem Hause wird gerade eine langhaarige Ziege geschlachtet. Könnte man nicht? Gewiß könnte man! Gesagt, getan. Also das Fell wird gekauft, das Haar abrasiert, mit Schminke gefärbt, es paßt großartig.

Aus dem sonnigen Italien zur kalten Zugspitze. Die natürlichen Eiszapfen in den Bärten samt Rauhreif glitzern prächtig. Aber im Atelier vor den Jupiterlampen tropft die Herrlichkeit alsbald dahin. Auch da weiß sich der Maskenbildner zu helfen. Er nimmt Stearin und dreht daraus bildschöne Eiszapfen in die Bärte hinein; ja, auf ihn kann man sich verlassen, seine Masken kommen scharf und naturgetreu heraus.

Das sehe ich im Bilde sehr gerne, aber nicht auf der Straße, im Café, bei einer Geselligkeit. Da macht die Maske unsere Damen unlebendig, starr, verlogen. Wenn häßlichere Rassen als die deutsche es nötig haben, sich aufreizend zu färben, so mögen sie es ruhig tun. Uns ist ein nach Sauberkeit duftendes deutsches Mädchen lieber als eine verschminkte Südländerin. Ludwig XIV. von Frankreich badete nie. Denn wozu habe man denn Parfüm und Schminke, sagte er. Noch Napoleon III. tünchte sich heldenbraun und zwirbelte den Schnurrbart mit Pomade. Und nun gar erst die Frauen in den Mittelmeerländern und im Orient, ochsenblutrote Finger- und Zehennägel, greulichste Unnatur! Es gibt dagegen nichts so Erhabenes, Verehrungswürdiges wie ein altes deutsches Mütterchen, das zu jeder Stunde das gleiche "ungemachte" friedvolle Antlitz hat.

Da kenne ich aber eine Berliner Dame von 50 Jahren, die sieht tagsüber wie 40, abends wie 30 - und morgens wie 60 Jahre alt aus; eine tägliche mühsame Zickzackwanderung durch die Jahrzehnte des dadurch nur unterstrichenen Verfalls.
20. Juni 1935 (Donnerstag)


38

Die Hitze, die Hitze - Trotzdem immer stramm - Wie in Italien - Unser junger Logierbesuch - Reisen im Autobus - Lilian Harvey wieder da.

Zuerst jammerten die Menschen und sagten, dieses Jahr gebe es wohl überhaupt keinen Sommer. Dann kam er doch, und da stöhnten sie, es sei nicht mehr zum Aushalten.

Wir sind wirklich undankbar. Wir haben ein herrlich abwechslungsreiches Klima, nicht 300 Tage kühl und naß wie in Norwegen oder 300 Tage heiß und dörrend wie auf Sizilien. Da wie dort meißelt die Natur Mißmut in die Gesichter, Steilfalten in die Stirn. Bei uns aber gibt es alle paar Tage oder allenfalls alle paar Wochen Entspannung. Man atmet auf, weil "endlich" richtiges Sommerwetter ist, man atmet auf, wenn "Gott sei Dank" Regen Kühlung bringt.

Bei Beginn der Schulferien hat Berlin diesmal freilich eine richtige Hitzewelle bis zu 36 Grad Celsius im Schatten über sich ergehen lassen müssen. Rundum sind es immer etliche Grad weniger. Aber die Großstadt mit ihren Steingebirgen und Asphaltschluchten ist eben stickig. Abend für Abend können die Schwalben hier thermisch fliegen, sich wie unsere Segelflieger von dem warmen Aufwind tragen lassen, der aus der gespeicherten Glut emporsteigt.

Der an die Erde gebannte Berliner hat trotz der klebrigen Hitze seinen elastischen Arbeitsschritt nicht verloren, er zieht nicht etwa ein Bein hinter dem andern her wie die Fliege im Honig. Wir uns unterkriegen lassen? Das wäre gelacht!

Aber da geht ein fünfjähriges kleines Mädchen, barfuß, nur mit Badeanzug bekleidet, hinter ihrem Puppenwagen daher, aus dem unter dickem Pfühl hervor ein Porzellankopf guckt.

Das ist zu viel!

Ein Herr vom Trag-den-Hut-vorm-Bauch-Verein, dessen Glatze perlt, kriegt bei diesem Anblick Schlaganfallfärbung und ruft giftig: "Jawoll, deckse man warm zu, die Puppe, sonst erfriert se sich de Neese!" Er bekommt keine Antwort. Die Kleine, zuerst etwas erschrocken über den Anpfiff, denkt nur: Komischer Onkel!

Er könnte doch auch bequemer gekleidet sein, so luftig wie die meisten Frauen. Dann würde er sich weniger ärgern. Natürlich steht nicht alles jedem. Wenn die Frau vom Erdgeschoß nebenan, die Elefantenpedale hat, mit kurzen weißen Söckchen erscheint, hält man sie nicht gerade für eine wiedererstandene Grazie. Aber das ist ja auch gar nicht nötig. Wir verargen es doch auch nicht dem Bureauvorsteher von drüben, dem faltigen alten Mann, daß er plötzlich einen kindlichen Schillerkragen trägt. Er kann nicht anders. Er hat sich nämlich am Sonntag in Wannsee seinen glucksenden großen Adamsapfel in der Sonne verbrannt, der muß jetzt gesalbt freiliegen. Auch nur die Andeutung eines Schlipses oder Kragenknopfes sticht schon wie mit glühenden Nadeln.

Ist man in der Kleidung nicht beengt, so kann man sich dafür an solchen Tagen an der Vision laben, auf einer Italienreise zu sein. Im Schatten 36 Grad ist auch dort im Sommer das höchste. Und wenn man nun abends in Berlin daherschlendert, kann man glauben, in den sangesfreudigen Süden versetzt zu sein. Aus allen geöffneten Fenstern dringt Musik. Daß es welche vom Rundfunk ist, brauchen wir uns doch nicht vorzusagen; wir wollen ruhig annehmen, es sei eine Serenata in Venedig, die vom Wasser herüberklingt. Jedes Fenster ist offen. Niemand hat mehr Geheimnisse. Und das Licht wird erst im letzten, wirklich allerletzten Augenblick des Entkleidens ausgeknipst.

Nur unser derzeitiger Logierbesuch hat nicht genug Phantasie, um sich an die Adria hinwegzuträumen.

"Man wird verrückt, nich?"

In irgendeinem andern Sinne äußert sich das junge Mädchen nicht. Dabei soll es viel in Luft und Sonne sitzen. Es "konditert" aber lieber. Mit einer Doppelportion Eis in angenehmer Begleitung. Wie wir zu diesem Besuch kommen? Je nun, da erhielt ich einen Brief von der NS.-Volkswohlfahrt. Es handele sich um eine fünfzehnjährige Haushaltsgehilfin, wegen eben überstandener Blinddarmoperation ohne Stellung, mittellos; zu Hause bei den Eltern sehr traurige Zustände; das Mädchen brauche 14 Tage Erholung bei guter Verpflegung; ob wir die Volksgenossin nicht aufnehmen wollen. Bitte sehr. Wie immer gern. Ein zweibettiges Zimmer erwachsener Söhne, die nicht mehr bei uns sind, steht frei und wird gerichtet. Unsere Martha bekommt Instruktion: wenn sie die junge Kollegin auch nur einen Handgriff machen lasse, seien wir geschiedene Leute, die Rekonvaleszentin soll es gut haben und nur verwöhnt werden. Schön. Martha lächelt und versteht, obwohl sie eben große Wäsche hat und einfach "hin" ist, wenn sie bei der Hitze aus der dampfenden Bodenkammer kommt. Da ist auch unser Gast schon einpassiert. Bitte sehr: dann und dann wird gegessen. Zweimal in der Woche bei uns Alten am Tisch, fünfmal in der Küche, da ist's wohl lustiger. Und hier bitte der Balkon und ein paar Bücher zum Lesen. Und da im roten Zimmer abends Rundfunk nach Belieben.

Wie steht es mit dem Gelde? Nur noch 15 Pfennige im Besitz? Na, mein liebes Fräulein, aber viel laufen dürfen Sie ja nicht. Hier die 2 Mark bis auf weiteres, wenn Sie mit der Straßenbahn etwa zum Tiergarten wollen. Wutsch, ist die Kleine auch schon weg, kurz vor dem Mittagbrot. "Aber Punkt 2 wir gegessen!"  "Woll, woll!" und an der nächsten Ecke kauft sie sich von dem Gelde zunächst Kirschen und ein paar illustrierte Zeitschriften. Donnerschlag ja. Mädel, wenn Du meine Tochter wärst! Aber hier bin ich ja nicht der Erziehungsberechtigte. Da kann ich mich maßlos bremsen. Es gäbe nur üble Nachrede, man wäre auf einmal nicht mehr der hilfsbereite Volksgenosse, sondern der blöde Reaktionär. Etwas tut ja die Krankenkasse. Sie dekretiert Ausgangserlaubnis nur bis 7 Uhr abends. "Zu verrückt, nich?" Aber wieso denn, Fräulein? Ordnung muß doch sein!

Am zweiten Tag ist die Kleine erst um 8 zu Hause, am dritten bleibt sie auch von 12 bis 2 weg, wo sie laut Verordnung nicht draußen sein soll. "Hören Sie mal, mein Fräulein, wenn nun ein Kontrolleur hiergewesen wäre, dann würde Ihnen das Krankengeld gestrichen!" Diese Mahnung hilft. Jetzt ist das Mädel pünktlich, denn Geld ist Geld. Ich segne im stillen die Krankenkasse.

Vorerst wird noch an uns Alten herumerzogen, weil wir - in Bauch und Bogen - angeblich zu wenig Verständnis für die neue Zeit hätten. Im Kriege für Euch gekämpft und geblutet? Pah, also alt, also verkalkt! Zum Glück habe ich eben meinen Blutdruck messen lassen, 120, keine Spur von Verkalkung. Und wenn erst die ganze junge Generation durch den Bund Deutscher Mädel und, mehr noch, durch den kommenden Pflichtarbeitsdienst passieren muß, wird auch da die Erziehung geschafft sein, die heute vielfach noch fehlt. Selbstbescheidung! Das muß doch gelernt werden. Mit dem Anspruch auf Kraft durch Freude oder auf Vanilleeis ist es nicht getan.

Natürlich ist es etwas Herrliches um diese Kraft durch Freude. Eben erst habe ich eine junge Stenotypistin gesprochen, die vorher durch Hetzarbeit, noch dazu stumpfsinnige, ganz entnervt war. Jetzt hat sie für wenig Geld eine Fahrt in die norwegischen Fjorde gemacht und ist wie ausgewechselt zurückgekommen: jetzt leuchtet jeder Tag in der Vorfreude auf die geplante noch größere Reise im nächsten Jahr.

Reisen, Reisen, Reisen!

Auf Schritt und Tritt lockt es, wirbt es. Eine Zeitlang standen in allen möglichen Straßen Berlins große Überlandautos mit phantasievollen Namen, "Silbervogel", "Wotan", Kugelblitz", "Ferienglück", "Königsadler", "Freya" und Dutzende anderer, die zwischen Berlin und Sachsen und dem Riesengebirge und dem Rhein und dem Harz den Verkehr zu lächerlich billigen Preisen vermittelten. Es mag nicht immer angenehm sein, in einem solchen Ungetüm, wenn es rappelvoll ist, allmählich geschmolzen zu werden. Aber die Berliner Untergrundbahn ist ja auch kein Höhenluftkurort. Und man "fuhr doch Auto", für viele Leute immer noch etwas Besonderes, und für die Hälfte der Kosten Eisenbahn Dritter. Die "Greyhounds" in Nordamerika, die Windhunde, wie man dort die Überlandautos nennt, die 5000 Kilometer und mehr fahren, sind allerdings komfortabler, mit fließendem Wasser, Clo, Liegesofas. Auf einmal sind nun unsere bescheidenen Artgenossen in Berlin jetzt verschwunden. Es hat - zu viel Unfälle mit ihnen gegeben, heißt es, auch mußten Reichspost und Eisenbahn der wirklich wilden Konkurrenz begegnen. Nur noch wenigen konzessionierten Unternehmungen ist der Reisebetrieb fürderhin gestattet, und der geht ja schon durch halb Europa, in die Schweiz, an die Riviera. Zu schier unglaublich geringen Preisen.

Alle Genüsse des Reisens werden nachgerade Gemeingut, nur die Luftfahrt ist noch nichts für jedermann. Für wen Zeit Geld ist, der mag fliegen. Es gibt schon Vertreter großer Firmen, die zwischen Deutschland und Südamerika regelmäßig den Luftweg benutzen. Besonders beliebt ist das Flugzeug bei Filmdiven, denn die mit Rosensträußen im Arm der Kabine entsteigende Göttliche macht sich gut bei photographischer Aufnahme. Da haben wir auch die kleine Lilian Harvey wieder, wie sie zum Berliner Flughafen niederschwebt. Es hat nichts davon vorher in den Zeitungen gestanden. Aber an die hundert Wissende sind doch da.

Also da tritt sie heraus, ein in Blumen gebettetes Kinderlächeln, und der rechte Arm ist zum deutschen Gruß erhoben.

Das mußte sein. Als sie vor ein paar Jahren nach Amerika ging, legte ihr der dortige Fox-Vertreter ein paar "passende Worte" vor, die sie zur Begrüßung ins Mikrophon sprechen sollte. Also sie las brav ab. Nachher erwiesen sich die Worte als sehr unpassend, denn sie kamen einer Verleugnung ihres deutschen Vaters und ihres deutschen Arbeitsgebietes gleich; auf ihr Betreiben wurde der Pressechef, der sie so hereingelegt hatte, denn auch entlassen. Etwas davon "blieb hängen", wie immer. Aber nun ist es abgestreift. Im übrigen kann die deutsche Filmproduktion ruhig mit der englisch aufgemachten Lilian Harvey oder der tschechisch aufgemachten Lyda Barowa arbeiten, wenn die Ausfuhr deutscher Bildstreifen dadurch gehoben wird. Lilian Harvey - ich habe sie noch vor ihrer Filmzeit als blutjunge Tänzerin gesehen - ist ein energiegeladenes Persönchen, das phantastisch viel aus dem kleinen Körper herausholt. Sie kann ununterbrochen vom frühen Morgen bis zum späten Abend filmen, viel mehr als 90 Pfund bringt sie nicht auf die Bühne, aber das sind bei aller Weichheit der Formen stählerne und unermüdliche Muskeln, und sie filmt in drei Versionen: deutsch, englisch, französisch, fertig für den Export.

Deutsch und englisch spricht sie von Kind auf. Französisch hat sie sich erst als Filmschauspielerin zugelegt. Ein Vierteljahr härtester, zielbewußter Arbeit. Ausschluß jeder deutschen Ablenkung. Rund um sie nur Franzosen, so daß sie auch deren Tonfall bekam. Dann war es geschafft. Sie spricht im Film wie eine gebürtige Pariserin.

Natürlich hat Willi Fritsch sie im Flughafen abgeholt. Als ihr früherer und jetziger Spielpartner. Oder als was meinten Sie? Nein, verheiratet sind die beiden wirklich nicht, obwohl einmal ein Ufa-Direktor es mir augenzwinkernd zugestand. Ob sie es noch einmal werden? Lilian denkt an eine Villa in Juan les Pins. Da lebt es sich auch allein gut, nur mit gelegentlichen Gästen, sagen viel. Frau Lotte Werckmeister, die populäre Berliner Vortragskünstlerin, ist da anderer Ansicht. In einer ihrer Rollen verkündet sie:

"Een Mann uffm Standesamt is ma lieba als een Breitjam uffm Monde!"
27. Juni 1935 (Donnerstag)


39

Er hat sich umgesehen - Kleinstadtgespräche - Sind wir Großstädter ? - Im Berliner Theater - Unser neues Minderheitenrecht für Juden - Das ehemalige Palais Simon - Ein Ekzem von Versen.

"Er hat sich in der Hauptstraße umgesehen!"

"Nach wem?"

"Müllers Erna kam grad aus dem Hause."

"Ach nee!"

Er ist der neue junge Lehrer in dem Ort, die Plaudernden sind zwei brave Ackerbürger. Ein Neuer kann keinen Schritt unbeobachtet tun. Außerdem sieht jedermann jedermann in den Kochtopf. Man geht vorüber und schnüffelt: "Also bei Brederecks gibt es heute Hammelkohl. Und sollten Lüdckes wirklich um diese Zeit eine Gans . . ." Auch die Akustik in der Kleinstadt ist unübertroffen. Alle Leute wissen wortwörtlich, was am vorigen Sonnabend die Frau Apotheker ihrem Mann gesagt hat, als er gegen Mitternacht heimfand. Und man debattiert darüber, ob es ein richtiges Heiratsversprechen war, das der junge Tierarzt dem Lieschen Körner gegeben hat. Man weiß doch, was Lieschen und ihre Mutter darüber gesprochen haben. Weiter: Die Frau Bürgermeister will ihren braunen Hut umpressen lassen. Und wißt Ihr schon, daß der Klempnermeister Schmidt seinem Jungen ein Motorrad kauft? Unerhört so was. Wir haben den Mann zu viel verdienen lassen, der wird noch ganz hochmütig. Frau Gericke gibt ihrer Haustochter 12 Mark monatlich, 10 wären doch allermeist genug gewesen. Und Knochenhauers Schwarzbunte hat gekalbt.

Das ist Kleinstadt, wie sie im Buche steht.

Einmal verbrachte ich als Primaner meine Ferien in solch einem Nest. Wenn zwei einander begegnen, bleiben sie stehen und plauschen, das ist selbstverständlich. Aber eines Tages sah ich fast ein Dutzend beieinander. Das war also schon ein Menschenauflauf, der auf einen Kramladen starrte, in den eben ein Mann hineingegangen war. Was denn los sei, fragte ich den Friseur, vor dessen Tür er mit den Leuten stand.

"Tja, da is eener, den kennt keener!"

Oft genug kann man feststellen, daß auch Berlin nur ein Konglomerat von tausend Kleinstädten ist. Unsereins weiß zwar so gut wie nichts von den Leuten, die unter einem oder neben einem in demselben Hause wohnen. Wir wünschen auch nicht, daß unser Mädchen uns Geschichten erzählt, da sind wir gleich abweisend. Aber immer wieder erleben wir es, daß wir in unserem Viertel mit Namen und Erlebnissen fast jedermann bekannt sind. Auch die Lebensdaten unserer Kinder. Nur eines ist anders als in der vollkommenen Kleinstadt, nämlich der Verkehr. Für zehn Pfennige ist man sozusagen in einem andern Erdteil. Am Broadway in Newyork oder auf der Via Nazionale in Rom könnte ich Leute treffen, die mich grüßen, aber wenn ich auch nur bis zur Blücherstraße fahre, bin ich schon ein ganz belangloser Fremder, auf den kein Mensch mehr achtet. Der Großstädter spaziert überdies nicht an seine Arbeitsstätte, so daß er unterwegs stehenbleiben und plaudern kann, sondern er rast hin; und er arbeitet sehr intensiv. Nachher verkapselt er sich zu Hause oder ins einem Stammlokal oder macht sich ins Freie auf oder gar ins Abenteuer, ohne daß Blicke und Reden ihm folgen.

Da lese ich eine kleine Anzeige:

"E.R.19, W.57, Freitag 8½, Exzelsiorcafé, Erkennungs-Brief."

Wenn eine solche Anzeige im Wochenblättchen einer Kleinstadt überhaupt möglich wäre, so würden am Freitagabend hundert Augenpaare im Café aufpassen, wer eigentlich der oder die E.R. ist. In Berlin lesen das vielleicht hunderttausend Menschen beim flüchtigen Durchsehen des Vermischten, aber nur E.R. zuckt zusammen oder atmet auf, allen übrigen ist die Anzeige völlig gleichgültig. Vielleicht will sich ein Liebespaar treffen, vielleicht sind es auch zwei Schieber, aber jedenfalls sind die Leutchen da so ungestört wie allein in einem kleinen Boot auf offener See. Auch ganze Völkerstämme innerhalb der 4 Millionen Berliner können sich so isolieren oder so isoliert werden.

Da gehe ich zufällig an dem Berliner Theater weiland Ferdinand Bonns in der Charlottenstraße vorüber. Was denn, was denn, da strömen ja Menschen hin? Ich denke, das Theater spielt längst nicht mehr? In den Zeitungen steht jedenfalls kein Hinweis darauf. Ich lasse mich in den Vorraum schwemmen. Sind wir hier in Galizien oder in Armenien? Es kommen zwar auch messingblonde Frauen hin, während die Männer fast durchweg ganz dunkel sind, aber das Messing ist unecht, sieh da, lauter - Juden! Allmählich gelingt es, den Betrieb zu erkennen. Das Theater ist, wie ich aus Anschlägen erfahre, vom jüdischen Kulturbund gepachtet, der nur geschlossene Vorstellungen für seine Angehörigen veranstaltet. Der einzige Arier, der da hineinkommt, ist jeweils ein überwachender Beamter der Geheimen Staatspolizei. Der hat darauf zu achten, daß nicht etwa Haßpropaganda gegen das Reich betrieben wird. Im übrigen können die verbotensten Stücke aufgeführt werden. Welche "Kultur" dort den Heranwachsenden geboten wird, die nicht unseres Stammes sind, das läßt uns kalt. Hier können auch Fritz Kortner und Elisabeth Bergner ungestört mimen. Ebenso veranstaltet der Kulturbund Konzerte und Vorträge seiner Leute für seine Leute. In völliger Freiheit! Der neue Staat hat hier ein Minderheitenrecht geschaffen, das vorbildlich ist. Wir wollen von der artfremden Kultur nicht unterjocht und infiziert werden, wir wollen aber diese Menschen auch nicht etwa germanisieren. Wir zwingen sie nicht in deutsche Schulen, wie andere Völker die Diaspora-Deutschen in ihre Schulen zwingen. Wir verordnen ihnen auch nicht deutsche Namen, oh, ganz im Gegenteil. Mögen sie sich bilden und amüsieren, wie sie wollen!

Ein Engländer, zur Zeit in Berlin, faselt mir das vor, was er im "Manchester Guardian" von Judenverfolgung in Berlin gelesen hat.

Aber ich bitte!

An den kolossalen Neubauten für militärische und Regierungszwecke in ganz Deutschland sind Firmen wie Julius Berger hervorragend beteiligt. Die Reichseisenbahn gibt nach wie vor große Aufträge an Hirsch Kupfer und andere Gesellschaften der Metallbranche. Das Libretto zu Richard Strauß' neuer Oper "Die schweigsame Frau" hat Herr Stefan Zweig geschrieben. An eine Entlassung von Professor Herxheimer und ähnlicher medizinischen Kapazitäten hat kein Mensch gedacht.

Der Dichter und Theaterintendant v.Dingelstedt, der selber aus dem liberalen Lager stammte, 1814 geboren, hatte schon in Zeiten, in denen man den Begriff Antisemitismus noch nicht kannte, die Verse in das deutsche Volk hinausgerufen:

"Wohin Ihr faßt, Ihr werdet Juden fassen,
Allüberall das Volk des Herrn;
Auf, sperrt sie wieder in die Judengassen,
Eh' sie Euch in Christenviertel sperr'n!"

Aber selbst das Dritte Reich, duldsam, wie die Deutschen nun einmal sind, schafft nicht etwa wieder Ghettos, deren Tore abends verschlossen werden, sondern beläßt den Juden Freizügigkeit, geschäftliche Betätigung, Kultur nach Belieben und schützt ihnen wie auch jedem Ausländer innerhalb unserer Grenzen Leben und Eigentum und Ehre. Es gibt schon zahlreiche unter ihnen, die die bisherigen Sünden ihrer Rasse erkennen, dankbar für die Duldung sind und ihre voreiligen Emigranten für Narren erklären. Man kann in Berlin genau so gut oder noch besser leben als in Paris oder Prag oder London oder gar Tell Awiw. Nur das ist den Herrschaften freilich klar, daß es mit ihrer Macht vorbei ist, und daß sie sehr unsanft angepackt würden, wenn sie sich wieder die Rolle im öffentlichen Leben anmaßen wollten, die sie in der Epoche Barmat-Sklarek-Kerr-Tucholski spielen konnten.

Hinter ein Geheimnis bin ich noch nicht gekommen. In der Vorhalle des Berliner Theaters klafft in der Wand rechts vor der Kasse ein Riß. Darüber ist schräg ein Stein eingemauert worden, der nur ein Datum trägt: 15.5.1935. Ich habe keine Ahnung, was dieser Tag für den jüdischen Kulturbund bedeutet.

Nur das weiß ich, daß über kurz oder lang alle Völker der Erde erkannt haben werden, daß das Minderheitenrecht, unter das der Nationalsozialismus die Juden gestellt hat, die vorläufig beste Lösung der Frage ist.

Natürlich hat mein Engländer recht, wenn er sagt, hie und da hätten die Leute ihr Vermögen verloren. Das haben aber schon längst hunderttausend Deutsche. Ein solches Auf und Ab kommt außerdem überall vor. Auch der ehedem Wiener Milliardär, jetzt naturalisierte "Italiener" Castiglioni, der nach der Novemberrevolte u.a. billig den Sonderzug Kaiser Wilhelms erstand, ist heute "nur" noch Millionär. In Berlin sind ebenso einige Paläste frei geworden, so der des früheren Zeitungskönigs Mosse, der sich selber mit genügend Millionen ins Ausland verbracht hat, die Immobilien aber in Deutschland, auch das Gutshaus Schenkendorf, zu dessen luxuriösem Ausbau allein 1 Million Mark verwendet wurde, der Konkursmasse überläßt. Im Ehrenhof seines Stadtpalastes in der Voßstraße stand der berühmte Brunnen der tanzenden drei Grazien, eine Augenweide für alle Vorübergehenden, die jetzt aber verschwunden ist. In anderen Besitz übergegangen ist auch das Heim des 1918 zum Finanzminister ernannten Spekulanten Simon. Dieser brachte nach der Revolte - die sogenannte Volksmarinedivision und der Hofmarschall Graf v.Platen waren dabei federführend - die Kabinettsweine aus dem königlichen Hofkeller an sich. In seiner mit Kunstwerken und Altertümern überladenen Villa im Tiergartenviertel gab es dann fröhliches Pokulieren. Die Kassettendecke im Treppenhause ist mit Bildern und Sprüchen altrömischer Art ausgemalt, darunter das bekannte "carpe diem" (pflücke den Tag) erweitert zu "carpe diem et noctem" (und die Nacht). Heute ist der Palazzo, aber ohne Kunstschätze, Eigentum der Karl-Schurz-Vereinigung, die dort ihre Sitzungen abhält, amerikanische Freunde empfängt und gelegentlich auch zwischen Deutschen und Amerikanern Diskussionsabende veranstaltet, so neulich über das fesselnde Thema: Pressefreiheit.

Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten, und neues Leben blüht aus den Ruinen, pflegten wir früher häufig zu zitieren. Das gilt nicht nur von Privatvillen, sondern auch von öffentlichen Gebäuden. Von der Schinkelschen Neuen Wache ist nur noch die Fassade stehengeblieben, dahinter aber die große Leere für das Ehrenmal geschaffen worden. Unter den Linden begrünt sich der Ausschachtungssand der neuen Untergrundbahn mit allerlei Gras, und da spielen richtige Vorstadtkinder wie auf Sanddünen. Auch das Gesicht unserer Läden verändert sich, und sie selber wandern aus Berlin-Mitte in den Westen und wieder zurück.

Augenblicklich sind sie alle an einer Art Flechte erkrankt. Es ist ein mit Ölfarbe aufgetragenes Ekzem von Versen.

Morgens kommt der Geschäftsinhaber und staunt sein Schaufenster an. Über Nacht hat es eine Werbe-Inschrift erhalten. "Du gehst wieder leicht und bequem - Nach meinem Fußpflegesystem."  "Ein schönes Bild ist immer - Der beste Schmuck im Zimmer."  "Blumenschönheit, Blütenpracht - Stets entzückt und Freude macht."  "Die Reparatur - An Schmuck und Uhr - Vom Fachmann nur."  "Guter Kaffee, ein Genuß, - scheucht Dir Sorgen und Verdruß."  "Freude spendet überall - Schön geschliffenes Bleikristall."  "So pikant wie keine - Sind meine Liköre und Weine."  "Ein Musikgerät für wenig Geld - Von Radio-Web ist wichtig, - Dazu ein Mädel frisch und süß: - Solch Weekend, das ist richtig."  "Für Theater, Gattin, Gäste - Sind Pralinen stets das Beste." Zu vielen Tausenden findet man solche und ähnliche Verse jetzt in ganz Berlin, und allmählich (meist wohl im Morgengrauen) kommen viele Hunderte neu hinzu. Tags darauf erscheint dann jemand und bittet um eine kleine Vergütung. "Sind 30 Pfennige zu viel?" Nun, da gibt der Chef so bescheidenen Menschen denn einen Fünfziger oder eine Mark. Bei rund zwanzig Inschriften täglich läßt sich also von diesem neuen Beruf schon ganz gut leben.

"Ein armer Werkstudent macht das!", heißt es beim Einkassieren. Glaub' ich nicht. Es sind Dutzende von handwerksmäßig ausgebildeten Schriftenmalern. Aber wenn erst jeder Laden seine Verse hat, ist es keine Werbung mehr. Dann wird Benzin der Seuche schnell ein Ende machen.
4. Juli 1935 (Donnerstag)



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts