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Eine Perle fünf Jahre - Der Ausflug - Start der 154 Maschinen in die Lüfte - Das Avusrennen Volkssache - Immer Pokale - Die praktische Frau v. Schlichting - Von Babelsberg zum Anhalter Bahnhof.
Eine Perle muß man gut fassen und mit achtungsvolle Sorgfalt behandeln. Unsere heißt Martha. Wir haben diese tüchtige Hausgehilfin justament fünf Jahr, aus Achtung ist schon Liebe geworden, und daß der Jahrestag wieder gefeiert würde, das stand natürlich fest. Aber wie? Das übliche Geldgeschenk versteht sich am Rande, das kann außerdem gänzlich lieblos gegeben werden. Nein, eine besondere Nettigkeit! Martha soll staunen. Der Gedanke, mit ihr zusammen im Festtagsgewand in einer guten Gaststätte zu speisen, wird verworfen, denn das haben wir schon einmal mit unserer Hausschneiderin getan. Ein Ausflug zu Wasser wäre auch nichts Außergewöhnliches. Aber da fällt uns das Rechte noch rechtzeitig ein: sie soll in die Lüfte mitgenommen werden, einmal Berlin von oben sich ansehen.
Wir haben nur von einem Kaffeebummel an diesem ihrem Ehrentag gesprochen. Da sitzen wir denn auf der Dachterrasse des Flughafengebäudes, ausnahmsweise sogar bei Schlagsahne, und erklären unserer Martha alles. Den Windmesser mit seinen elektrisch beleuchteten Sekundenmetern, das Heinkel-Blitzflugzeug, das Wesen des Explosionsmotors, den Gleitflug zur Landung, alles, alles.
Da kommt ein Flugzeug aus Paris, da eines aus Athen, aus Moskau, aus Amsterdam. Da sind Fremde aus Dänemark, Holland, Italien, Belgien.
Herrlichstes Theater.
Dann platzt die Bombe, die vom Fünfjahrestag; unsere Martha erfährt, daß sie einen Rundflug mitmachen soll. In solchen Momenten prägt man nicht geistvolle Sätze, sondern man ist überrascht. "Och nee!", sagt die Martha bloß. Fliegen, denkt sie wohl, ist nur etwas für hohe Beamte oder für reiche Großkaufleute. Aber es geht wirklich los, und selig starrt sie neben mir aus 800 Metern Höhe auf die unter uns weggleitende Riesenstadt. "Da, da, Karstadt!" "Ach, der Müggelsee!" "Der Funkturm, der Funkturm!" "Richtig, der Belle-Alliance-Platz!" Alles so lächerlich klein im einzelnen, nur die ganze Stadtfläche ungeheuer. Nachher, unten, spitze ich die Ohren. Ich möchte doch gern wissen, was für einen Eindruck unsere junge Jubilarin gehabt hat. Und da sagt sie nur:
"Ich habe im Flugzeug so geschwitzt, wie ich noch nie bei der Arbeit geschwitzt habe!"
Nun ja, es war ja warm, und solch ein erstes Erlebnis macht wohl auch warm. Wir sind 16 Minuten oben gewesen. "Länger hätte es auch nicht dauern dürfen, mir ist so komisch im Magen." Ach was. Das kommt bloß von der Schlagsahne. Zu Hause in der Küche findet unsere Martha ihre Schwester und ihren Schwager vor. Jetzt ist sie schon ganz auf der Höhe. Sie fragt ihn: "Bist Du schon mal in Deinem Leben geflogen? Nicht? Pöh!" Wirklich, mit Leuten, die noch nicht mal geflogen sind, lohnt es kaum, sich zu unterhalten. Wo heute doch jeder, nicht wahr, meint Martha. Überhaupt, das gehört doch zur Bildung, auch wenn man schon einiges los hat, weil man täglich seine "Berliner Nachtausgabe" liest. Die kriegt Martha immer zuerst in die Hände, weil sie hinten an der Küchentür abgegeben wird. Und da warte ich selber ohne Murren ein Stündchen darauf. Ich kann ja derweil anderes lesen.
Vorher das große Schauspiel des Morgenstarts der 154 Maschinen zum Deutschlandflug habe ich mir in aller Herrgottsfrühe allein angesehen. Es steckt ein fabelhafter Elan dahinter, aber es ist gebändigte Kraft, zuchtvolle Kameradschaft. Hier werden keine Rekorde einzelner prämiiert, sondern die Gemeinschaftsleistung von Sportfliegergruppen, die eine Kette oder einen Schwarm oder eine Staffel zum Wettbewerb stellen, bei dem auch den Ortern - früher nannte man sie "Beobachter" oder familiär einfach "Franz" - besondere Aufgaben gestellt sind.
Das ist die vormilitärische Erziehung der Flieger; das ist die nachmilitärische Erholung der Flieger.
Bruno Loerzer, der alte Kamerad von Richthofen und Göring aus deren Jagdgeschwader, heute zum Oberst ernannt, hat in der trübsten Zeit, als die rote Bonzenrepublik vor der Entente kuschte, der Sportfliegerei neuen Auftrieb gegeben, ist der Preisträger des ersten Deutschlandfluges geworden. Jetzt steht Bruno Loerzer, mit der Startflagge in der Hand, am Westrande des Flugplatzes und entläßt die fliegenden Verbände, mal sind es 3, mal 5, mal 7, mal 9 Flugzeuge in ausgerichteter Keilformation, zu ihrem Fluge rund um den Innenrand des deutschen Vaterlandes; er, der Präsident des Flugsportverbandes.
Lieber Leser, treibst Du Luftsport oder Luftschutz? Mindestens eines von beiden muß der anständige Zeitgenosse unterstützen. Bist Du über 60, so ist nur noch der Luftschutz für Dich möglich, vorher, bitte, der Luftsport; oder am besten beides.
Jahrzehntelang waren die Fahrradrennen bei uns das Populärste, weil jeder ein Fahrrad hatte und als "Fachmann" jeden Pedaltritt in der Bahn kritisierte. Heute ist der Motor sozusagen Allgemeingut geworden. Irgendeine Muckepicke hat bisweilen selbst ein ganz schlichter Volksgenosse ohne großen Mammon. In Heiratsgesuchen darf das "sportliebend" nicht fehlen, und diese Liebe bezieht sich meist auf irgend etwas Motorisiertes, seltener auf ein Paddelboot ohne Außenborder. So ist es denn kein Wunder, daß Hunderttausende bei jedem Avusrennen dabei sein wollen. Der ganze Wald längs der rund 10 Kilometer langen Strecke ist ein einziger Rad- und Autopark. Ungezählte Zaungäste hängen in ganzen Trauben an den Bäumen. Jede Benzinbraut ist mobil gemacht, kein Soziasitz leer gewesen. Noch nie sind so viele Großmütter angeblich beerdigt, so viele Eltern angeblich in Berlin eingetroffen als an diesem Tage, an dem auch die letzte Hausgehilfin ihren "Carratsch" oder sonst einen Lieblingshelden von der Knalldroschke unbedingt beim Vorbeidonnern erleben will.
Löwengebrüll im Grunewald!
Wenn die Wagen vorbeirasen, Stuck mit 249 Stundenkilometern, klingt es genau so. Nur manchmal nicht so tierisch, sondern mehr maschinell wie "wurr" oder "wiuh". Nach den vorjährigen Erfahrungen meide ich diesmal die Tribünen. Mir ist da das weniger anmaßende Volk in der Südschleife lieber. Es hat sich für den ganzen Tag und für jedes Wetter ausgerüstet, es hat sein Stehstühlchen für 1 Mark und seinen "Kiebitz", alias Sehrohr, alias Spiegelreflexkieker, ebenfalls für 1 Mark gekauft, und füllt die Pausen sachverständiger Gespräche mit Bockwürsten, Bier, Kaffee, Eskimoschoko, Cakes, Negerküssen aus. Ein Dicker hat sich Decken, Kissen, Wachstuch, Futterkiste mitgebracht. Er liegt da auf dem Rasen an einem Gebüsch inmitten der Südschleife und hört auf den Lautsprecher. Etwas auch zu sehen, mögen die anderen sich anstrengen. Wer sich sonntags anstrengt, der ist ein Narr, denkt der Dicke.
Bei allen sportlichen Wettbewerben gibt es Preise, Geld- und Ehrenpreise. Letztere meist aus Silber und in Pokalform. Ich habe einmal ein junges Mädchen, die deutsche Meisterin auf dem Motorrad, besucht. Noch vor ihrer abenteuerlichen Tour von Indien über Persien nach Deutschland. Sie zeigte mir etliche Vitrinen, die mit Pokalen so angefüllt waren, daß es für König Artus' Tafelrunde genügt hätte.
Weshalb immer diese Pokale, diese Cups? Darf es nicht mal etwas Praktisches sein?
Es gab einmal einen General v.Schlichting, dessen Sohn, der Oberstleutnant von den Elisabethern, in türkische Dienste trat und von einem Albanesen erschossen wurde, weil Schlichting diesen "angefaßt" hatte. Der alte Schlichting nun, Kommandeur eines Armeekorps, bekam eines Tages seinen Abschied. Vorsichtig erkundigten sich die Damen des Stabes bei Ihrer Exzellenz, der Frau v.Schlichting, was für ein Geschenk sie am liebsten hätte.
Eine Bronze? Einen Tafelaufsatz?
"Nein!", sagte Frau v.Schlichting.
Sie zöge jetzt mit ihrem Manne in ein Landhaus, in dem man etwas anderes viel besser brauchen könne. Eine Badewanne! Die sei da noch nicht vorhanden. Und also bekam Exzellenz v.Schlichting als Abschiedsgeschenk der Offiziere des Armeekorps eine Badewanne.
Der Mann hat eine ausgezeichnete militärische Arbeit hinterlassen. Drei schmale Bände. In braunrotem Leinen zieren sie mein Büchergestell. Da sei ihm die Wanne gegönnt. Nun ist er übrigens schon lange tot. Fast alle Leute, von denen ich gelernt habe, sind heimgegangen.
Eine andere Welt tut sich auf, und die ist nicht mehr so bedächtig, die arbeitet mit Kompressor, die hat es eilig, aber auch die wird einem lieb.
Bisweilen bin ich gern in Neubabelsberg, nicht einmal am Palais des alten Kaisers, sondern in dem Filmdorado. Da ist jetzt ein Lustspiel gedreht worden, das spätestens im Herbst herauskommen soll, ein Lustspiel, in dem eine Dresdener Schauspielerin eine Hauptrolle hat. Die hat früher noch nie gefilmt. Am ersten Tage ist sie in begreiflicher Aufregung, denn erstens - etwas ihr ganz Neues - ist sie bis zur Unkenntlichkeit verschminkt, zweitens hat sie Angst, den Zug zu versäumen, der sie wieder zu ihrem abendlichen Auftreten in Dresden befördern soll, und drittens will nichts klappen, muß jedes kleinste Szenchen von wenigen Worten, übrigens nicht um ihretwillen, dauernd wiederholt werden.
"Nochmal!" Klapp. "Aufnahme!" Klapp.
Es nimmt und nimmt kein Ende. Da erscheint im Tonfilmatelier der Ufa-Chauffeur, der die Aufgabe hat, zwei Wochen lang die Dresdener Dame morgens am Anhalter Bahnhof abzuholen und nachmittags wieder dort hinzubringen. "Höchste Eisenbahn!", sagt er. Wenn man nicht sofort lossause, mit vierter Geschwindigkeit, kriege man den Zug nicht mehr. "Na, dann los!", sagt der Regisseur, hängt der Schauspielerin eine beliebige Regenhaut um und schiebt sie hinaus. Hinein ins Auto! Die Garderobiere reicht noch schnell den Abschminktopf nach, aus dem die Dresdenerin während der Fahrt, von einer Seite zur anderen geworfen, Gebrauch macht. Ohne Spiegel. Das eine Augenlid bleibt hellblau, auch der Schatten unter dem Auge. Im letzten Moment: Knirschen, Bremse, Halt, Anhalter Bahnhof. Im Gewande aus Goldbrokat, zwei Meter Schleppe hinterdrein, hinaufgerast, der Kartenknipser ist starr, dem Bahnhofsvorsteher fällt vor Erstaunen fast der Winkerstab aus der Rechten.
Ah!
Glücklich in einem Abteil zweiter Klasse. Die Fahrkarte hat der Chauffeur besorgt, der Dame auch noch 5 Mark geliehen. Denn ihre Handtasche liegt - in Neubabelsberg.
In dem Abteil sitzt ein Herr. Er erhebt sich scheu und drückt sich.
Vor dem Abteil steht ein Schaffner. Als die Schauspielerin, um Luft zu bekommen, am Fenster sich zu schaffen macht, kommt er herein und begütigt sie. Sie möchte das Fenster doch lieber zulassen. Er hat Angst, daß die offenbar geistesgestörte Person am Ende sich hinausstürzt. Und sie versteht alles nicht, hat keine Ahnung, wie sie, am lichten Tage in einem Abendkleid vergangener Zeiten und nur halb abgeschminkt, auf die Umgebung wirkt.
Zum Glück hat die Garderobiere ihr ein Läppchen mit in den Wagen gereicht. Da kann man die Finger vom Fett befreien. In Dresden dann der erste Spiegel und das große Entsetzen.
Nein, diese Berliner! Sie sind wirklich von einer ganz unchristlichen Unrast. In Dresden hetzt man nicht so. Da ist es gemütlicher.
29. Mai 1935 (Mittwoch)
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Woher die Reiselustigsten stammen - Am Skagerraktage im Vorort Stettin - Was man im Flugzeug erleben kann - Edle Geselligkeit mit Hausmusik - Frau Luna im Theater des Volkes.
Unstreitig sind die Sachsen das reiselustigste Volk der Erde. Ich habe sie im glutheißen Arabien und im Eismeer unter dem 81.Grad, jenseits des Kaspisees und vor den Schätzen Tut-anch-Amons getroffen, fast immer scharenweise, und selbstverständlich in allen europäischen Ländern. An zweiter Stelle sind die Holländer zu nennen, die im Sommer den Harz kolonisieren und den relativ stärksten Teil der Besucher der Schweiz und Italiens stellen, hier im Wettbewerb mit den Tschechen. Nummer Drei aber sind heute die Berliner, die sich früher durch ihre sogenannte große Schnauze so bemerkbar zu machen pflegten, daß man sie überall in der Mehrzahl wähnte, inzwischen aber wunderbarerweise nachdenklich-stille Beobachter geworden sind, die durchaus nicht mehr auffallen und auch nicht auffallen wollen.
Man macht es dem Berliner ja so bequem. Berlin ist das große Drehkreuz in dem westöstlichen und nordsüdlichen europäischen Verkehr, hier muß alles durch, hier gibt es die besten Schnellverbindungen, und die übrige Welt wird allmählich Vorort von Berlin. Sagt wenigstens der Berliner.
Daß er Boxkampf und Derby in Hamburg sich ansieht, das auf dem Luftwege nur 55 Minuten entfernt ist, versteht man ohne weiteres.
Und während der Skagerraktage stellte er natürlich das Hauptkontingent in Stettin, wo diesmal eine besonders große Feier in Anwesenheit von einem Panzerschiff, einem Segelschulschiff, einem Flottentender und acht Torpedobooten der Kriegsmarine stattfand. An der nahen Ostsee ist Heringsdorf ja schon früher weiter nichts als eine Filiale des Kurfürstendammes gewesen, Swinemünde eine Domäne der älteren Berliner Familien von Tradition, Zinnowitz der bevorzugte Badeplatz für geistig schaffende Reichshauptstädter freier Berufe. In Stettin ist die Hakenterrasse an der Oder, das geben mir freimütig sogar die zahlreichen Sachsen unter den Zehntausenden von Menschen vor den dort liegenden Kriegsschiffen zu, noch imposanter als die Brühlsche Terrasse in Dresden an der Elbe. Man sieht von dort aus weit, weit ins Land hinein, bis grüne Berge in Hinterpommern den Horizont abschließen. Gorch-Fock-Blick heißt dieses Plätzchen seit dem 31.Mai, das hochragende Halbrund vor dem mächtigen Museum; die Serpentinen zu beiden Seiten sind nach den Admiralen Scheer und Graf Spee genannt, das freie Riesenviereck dahinter ist Skagerrakplatz getauft worden.
In Berlin haben wir ja auch einen. Aber da hilft keine große Schnauze: der unserige - um den Rolandbrunnen am Südende der Siegesallee herum - ist doch eigentlich weiter nichts als ein kleines Rondell für den Autoverkehr. Da könnten nicht wie in Stettin der Flottenchef Vizeadmiral Förster und der Generalfeldmarschall v.Mackensen eine Parade über mehrere tausend Blaujacken und Feldgraue und Flieger und Polizisten und Angehörige verschiedener Verbände abhalten.
Gorch Fock heißt das Segelschulschiff unserer Kriegsmarine nach dem Schriftsteller, der uns so eindringlich gelehrt hat, daß Seefahrt not tue. Er ist als "einfacher Matrose" in der Skagerrakschlacht gefallen. Aber sein Ölporträt hängt in der Offiziersmesse. Noch nie ist ein Mann der Feder, der nebenbei auch ein braver Soldat war, zuerst in Feldgrau unter Mackensen auf dem Balkan, in Deutschland so geehrt worden.
An Bord des Schiffes, das seinen Namen trägt, wird unser junger Nachwuchs zu Stahl gehärtet. Eine bessere Schule als auf einem solchen großen Segler gibt es nicht. Da zeigt es sich, wer ein Kerl ist, da kann man wohl sagen: früh reckt sich, was ein Speerschaft werden will. Was es an modernen Instrumenten gibt, bis zum Echographen, ist hier natürlich vorhanden. Aber geprüft wird vor allem die primitive Mannestugend des tapferen Zupackens. Es ist nicht so einfach, bei grober See und eisigem Nordost hoch oben ein regennasses, steifgefrorenes Marssegel zu bergen. Das kostet Fingernägel und Kniescheiben.
Am Abend im Parkhaus sitze ich bei dem großen Willkommen der Angehörigen der alten Kaiserlichen Marine und der heutigen Flottengeneration an einem Tischchen mit einem Berliner zusammen. Mit einem Bindestrich-Berliner: er ist nämlich aus Berlin-Königswusterhausen. Ein Matrosengefreiter, Gefechtsrudergänger - oha - von einem Torpedoboot, famoser Kerl. Es findet sich ein zweiter Kamerad hinzu, dessen Elternhaus in Bregenz am Bodensee steht. Dann kommt noch ein Kapitänleutnant und ein Korvettenkapitän zum Abrunden, wir kippen etliches hinter die Binde. Der Matrosengefreite wollte seinen Kapitänleutnant zu einem Glas Bier einladen, so fing das zu meinem hellsten Vorkriegsstaunen an, aber nun war ich froh über die Entwicklung der Dinge, erlebte ungeahnte, wirklich herzliche Kameradschaft und trotzdem eine jeder Belastung gewachsene Disziplin. Ich glaube nicht, daß es in irgendeiner Marine der Welt Ähnliches gibt.
Unsere neueste Waffe, die in der Luft, hat sich bei dieser Gelegenheit nicht gezeigt. Sie arbeitet in der Stille auf ihren Land- und Seeflugplätzen. Mir ist sie seit den letzten Kriegsjahren besonders vertraut, ich höre gern davon erzählen. Vor einiger Zeit tummelte sich ein neues Flugzeug, in dessen Raum - oder Kabine - noch kein nach unten schießendes Maschinengewehr einmontiert ist, zur Probe in den Lüften. Im Raum sitzt auf einem Feldstühlchen ein Admiral und macht sich an dem kleinen Fenster zu schaffen. Plötzlich reicht ihm der Bordfunker einen Zettel: "Bitte äußerste Vorsicht! Wenn Sie an dem Vorstecker ziehen, öffnet sich die Bodenklappe, neben der Sie sitzen!"
Da schießt dem Empfänger doch das Blut ins Gesicht. In einer Maschinenfabrik zu ebener Erde gibt es genaueste Unfallverhütung. Aber die Luft hat immer noch keine Balken.
Nichtfliegern ist das Gebrumm in den Lüften etwas unsympathisch. Über Berlin hört man das Dröhnen bei Tag und bei Nacht, besonders wenn man in der Nähe des Flughafens wohnt. Nach einigen Jahren wird man sicher Sommerfrischen angepriesen bekommen, die garantiert nicht überflogen werden. Ich liebe die Motorenmusik, nur muß man die Fenster dicht machen, wenn man andere Musik hören will. Wir verstehen schon den Rundfunk kaum, wenn spät abends und nachts schwere Traktoren mit zwei Anhängern voll Abbruchmaterial über die Straße donnern. Um so größer ist der Genuß, wenn in der idyllischen Ruhe eines Gartenvororts, in der Villa einer alten Patrizierfamilie, gute Hausmusik geboten wird.
In der Zeit Krügers und Menzels war Louis Friedrich Sachse - in der weiblichen Linie hat die Familie lauter Hugenottenblut - der Begründer des Berliner Kunsthandels. Mit Lithographien hatte der 1798 Geborene angefangen und 1834 die ersten Federzeichnungen des von ihm entdeckten siebzehnjährigen Adolph Menzel veröffentlicht. Bei dem Enkel dieses Sachse sind wir zu Gast, nicht zu der sonst üblichen Abfütterung, sondern ausschließlich zu Kunstgenuß. Die ganze Familie ist seit Menschenaltern hochmusikalisch, der Sohn des Hauses, Dr. Sachse, begleitet die Koloratursängerin Kießling vom Stadttheater Heidelberg und spielt in einem Trio mit den Brüdern Schrader. Der junge Staatspreis-Dichter Eberhard Möller, dessen "Douaumont" wir auf der Bühne gesehen haben, liest eine Idylle aus seinen Werken vor. Acht Herren vom Professor-Felix-Schmidt-Quartett erfreuen durch Lieder und Zugaben.
So etwas gibt es noch in Berlin!
Man hat gedacht, die Patrizier seien ausgestorben, die Salons existierten nicht mehr, die Musen seien von Pluto verscheucht. Und nun erlebt man doch das Wunder, daß auf irgendeiner Menscheninsel die alten gesellschaftlichen Ideale gepflegt werden. Fräulein Kießling ist im Aufstieg begriffen, am 13.Juni läßt sie sich wieder im Berliner Rundfunk hören, aber es hat Zeiten gegeben, wo die junge Dame sich ihre musikalische Weiterbildung nur dadurch ertrotzen konnte, daß sie tagsüber in einem Ladengeschäft Grammophonplatten verkaufte. Eine besondere Freude ist es mir, mit der sprühenden, quicklebendigen Witwe des Professors Felix Schmidt zusammenzutreffen, die noch heute, mit 81 Jahren, wertvollsten Gesangunterricht erteilt und jede Gesellschaft durch ihr Wesen elektrisiert.
Zwei Zimmer des Hauses sind gedrängt voll. Wir sind 93 Personen! Aus Nachbarvillen hat man Stühle geliehen.
Daß es so etwas noch gibt!
Wer sonst Sehnsucht nach Musik hat, sie selber nicht ausführt, auch nicht durch Freunde ausführen lassen kann, am Grammophon oder Rundfunk aber kein Genügen findet, in schwere Konzerte nicht gehen mag, weil er Entspannung braucht, der sucht die Operette auf.
Sie ist, damit auch das Auge schmausen kann, in Berlin längst zur Revue geworden. Selbst die schon klassische Wiener "Fledermaus" ist davor nicht bewahrt geblieben. In der roten Systemzeit führten die Direktoren Charell und Klein alljährlich je zwei neue Revue-Operetten ein, die stellenweise in Schamlosigkeit ausarteten, nicht nur "Tausend süße Beinchen" zeigten, sondern sogenannte Nacktkultur pflegten, dazu mit anstößigstem Text. Es ist klar, daß das "Theater des Volkes" im Jahre 1935 so etwas nicht macht. Es hat die uralte Berliner Operette Paul Linckes "Frau Luna" modernisiert und verrevuet, und siehe da, die Tausende von Plätzen sind wochenlang täglich ausverkauft, und ein gelöstes, von allen Sorgen befreites Publikum lacht schallend drei Stunden lang. Technisch und in der Ausstattung ist die Aufführung ein Wunderwerk. Für 50 Pfennige Eintrittsgeld - Programm frei, Kleiderablage frei - kann das kein Theaterdirektor leisten, sondern nur ein Volk. Hinter dem Unternehmer, "Kraft durch Freude", stehen eben alle arbeitenden Stände, aber es wird sich auf die Dauer wohl nicht umgehen lassen, daß auch der Theaterbesucher selbst einen angemessenen Preis entrichtet; eine Zubuße von täglich Tausenden von Mark ist auf die Dauer unmöglich.
Linckes Musik ist bekannt schmissig, außerdem hat er den Vorzug, zu den wenigen Schlagerkomponisten zu gehören, die rein deutscher Herkunft sind. Der Text in 9 Bildern von Bolten-Baeckers ist nicht lüstern, aber sehr volkstümlich derb. Wenn Lotte Werckmeister, diese Berliner Urtype, nur den Mund verzieht oder durch die Nase schnauft oder die Stimme umklappen läßt, sind die Zuschauer schon in fröhlichster Laune, wenn sie aber gar sagt: "Wat, als Jungfrau soll ick mir verkleiden? Mensch, det jloobt doch keener!", dann kreischt das gesamte Publikum. Es summt mit, wenn der bekannte Schlager erklingt: "Schenk' mir doch ein kleines bißchen Liebe . . . Liebe . . .", es reißt die Augen weit auf ob der Lichtwunder in Frau Lunas Mondgarten, ob des Luftballetts, ob der nicht wie sonst 16, sondern 64 prachtvoll exerzierten Tanzgirls, ob der männlichen Tänzer, des Chors, der Farben, der Melodien - und der koddrigen Berliner Redensarten.
Neben Lotte Werckmeister geben Hans Brausewetter, den die meisten von uns nur als Filmstar kennen, und Max Hiller das meiste dazu her. Friedel Pisettas Beine bilden das Ziel von tausend Operngläsern, ganz gleich, ob ein Mann oder eine Frau es in den Händen hält, die Girls werden mit rasendem Applaus bedacht, bei dem zum Monde aufsteigenden Stratosphärenluftschiff Fritz Steppkes hält alles den Atem an. Stimmung: "Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt", nämlich mit seiner Auffassung über die beste Art einer Abenderholung im Theater. Und alsbald gehört es zum Berliner Sprachschatz, wenn es von der Bühne her ertönt:
"Eine Frau im Zorn |
6. Juni 1935 (Donnerstag)
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Beim Propheten der Einheitsreligion - Keine Freizeit ohne Reisen - Schiffshebewerk Niederfinow - Mitten mang uns Berliner - Der horror vacui.
Religionsstiften scheint ebenso ein Sport werden zu wollen wie Vereinsgründen. Manche von den Stiftern habe ich mir im Laufe langer Jahre in Berlin angehört, nicht nur Gauner wie Häußer oder Weißenberg, sondern auch wirkliche Wahrheitssucher, aber ich fand noch keinen, dem ich mein Seelenheil anvertraut hätte.
Nun klebt da an sämtliche Anschlagsäulen Berlins ein Plakat: "Deutscher Bund für Einheitsreligion E.V. Vortrag: Dem Deutschen die deutsche Religion."
Da strömen die Massen nur so hin, denkt man, denn Berlin ist doch Mehrmillionenstadt. Und Einheitsreligion, das muß, weil es absonderlich ist, ebenso locken wie eine Einheitszeitung oder eine Einheitsstiefelgröße. Das ist etwas für Evangelische wie Katholische, für Bekenntniskirche wie Deutsche Christen, für die deutsche Glaubensbewegung des Professors Hauer wie die Deutschgott-Gläubigkeit des Generals Ludendorff. Jeder, der mit Ernst um Religion ringt, würde da aufgestöbert.
Aber nur 53 Berliner sind dem Ruf in den Blauen Saal des Lehrervereinshauses am Alexanderplatz gefolgt.
Multipliziert mit den 50 Pfennigen Eintrittsgeld ergibt das noch kein Vermögen. Aber was nicht ist, kann noch werden. Wir haben eben einen Verein mehr, aber nicht eine neue Religion; denn für eine Religion muß man nicht nur Vorträge halten, sondern auch sterben können. Märtyrerblut ist ihr Kitt. Der Führer des "Bundes für Einheitsreligion" macht es sich freilich sehr leicht. Er sagt, so wie das Klima die Rasse hervorbringe, so bringe jede Rasse ihre Religion hervor. Religion sei Stellungnahme zur Umwelt. Wenn der Mensch erst im Sarge liege, sei es also aus mit der Religion. Er, der Vortragende, predige eine deutsche Religion, glaube aber nicht an ein künftiges Walhall mit Met trinkenden Helden. Das Trinken müßten wir im Diesseits besorgen.
Na dann Prost.
Viel anders hat das der sozialdemokratische Zehn-Gebote-Hoffmann auch nicht gesagt. "Das Diesseits macht nur gut und schön, kein Jenseits gibt's, kein Wiedersehn!" Mit der Erziehung zu solchen Anschauungen nimmt man schon den Kindern jedes Verantwortungsgefühl.
Natürlich ist der Vortrag voll Hohn und Haß, die den "drei semitischen Religionsstiftern" gelten: Moses, Jesus, Mohammed. Der neudeutsche Vereinsgründer vom Alexanderplatz, der mitunter Sätze spricht, die uns gotteslästerlich dünken, wird jedenfalls kaum am Kreuze für seine Ideen bürgen. Er benutzt nur die Konjunktur für seine Sekte E.V., um ihr Mitglieder zu werben. Selbst ein vollkommener Wirrkopf verläßt sich darauf, daß das Wort "Deutsche Religion" heute ziehen muß.
Das also wurde an geistiger Anregung vor Pfingsten uns Wißbegierigen geboten.
Pfingsten! Moment mal!
Jedermann fragt, wohin denn diesmal die Pfingstreise gegangen sei. Als wenn es gar nicht anders sein könnte. Als unsereins Kind war, kannte man nur die Sommerfrische im Gebirge oder an der See. Wirklich große Reisen machten karierte Engländer und junge Hochzeitspaare. Inzwischen ist der Wintersport aufgekommen, fahren schon Verlobte in der Welt herum, wird jeder Urlaub zum Reisen ausgenutzt. Aber daß man auch Pfingstreisen für etwas Selbstverständliches hält, wußte ich nicht. Wir haben uns an einem Tagesausflug genügen lassen. Der war schon herrlich genug und ist allen sommerlichen Berlinbesuchern zu empfehlen. Er ist etwas ganz Ausgesuchtes, fern vom Gedränge der Wannseebahn und von dem Staub der Landstraße. In 9 Stunden Wasserfahrt kommt man ans Ziel, und hin und zurück - auf dem Rückweg benutzt man zur Beschleunigung für den Rest des Weges einen Autobus - kostet die Fahrt insgesamt nur 4½ Mark.
Der Dampfer, der einen zum Schiffshebewerk Niederfinow bringen soll, wartet auf der Spree am Bahnhof Friedrichstraße. Sitzplatz für jedermann garantiert. Restauration an Bord. Nur an einem gewissen, übrigens hochmodern sauberen und hygienischen Ort ist schwer Anschluß zu finden. Ein Berliner auf dem Vordeck erzählt mit Genugtuung:
"Meine Schwiejamutta is 'n bisken zu jenau mit's Jeld. Jestan Aamd is de Tüte mit Karlsbader Salz hinjefallen, da hat die Olle det uffjelöffelt, damit nischt umkommt. Nu muß se eejal loofen."
Nach dieser Offenherzigkeit - der Mann hat aber vielleicht gar keine Schwiegermutter - ist die gute Stimmung sofort da, man ist doch für einen ganzen Tag auf seine Nachbarn angewiesen, die Stände und Berufe sind durcheinandergemischt, aber es herrscht allgemein ein herzlicher Ton. Auf hochdeutsch wird natürlich mehr geschwiegen, auf berlinisch mehr geredet. Ein kleiner Junge, der mit seinem Vater im Schiffssalon sitzt, während die Mutter vorn auf der Back in die Ferne träumt, quetscht sich immer wieder zu ihr durch, bis sie ihm sagt: "Nu jehste endlich bei Pappan, sonst kleb' ick Dir eene!", und da schiebt er zu seinem Pappa ab, wo es erheblich weniger Aussicht gibt. Am Lehrter Bahnhof macht der Dampfer plötzlich rechtsum und kommt in eine Gegend, die vom Wasser aus noch nicht jeder hundertste Berliner kennt, zum Westhafen und dem ganzen Großschiffahrtsweg, der Breslau, Stettin, Hamburg, Dresden mit Berlin verbindet und gewaltige Mengen Ein- und Ausfuhrgut umschlägt. Die Reederei stellt einen Reisemarschall auf solchen Fahrten, der alles recht gut erklärt. Nur als eine dicke Berlinerin zu viel aus ihm herausfragen will, sagt er:
"Det Strafjefängnis Plötzensee, wo hoffentlich niemand aus Ihre werte Familie is, hab' ich Ihnen eemt jezeicht, alles andere ooch, jetzt jeh' ick am Buffeh, aber det will ick noch erklären, wat Sie da auf'm Wasser sehen, det is nämlich 'n Paddelboot, un die wo drinsitzen, die nennt man Paddler!"
Weg ist er. Bums, setzt sich die Frau auf ihr mitgebrachtes Kissen. Gestickt. Wenn die Frau ein bißchen rutscht, kann ich die Buchstaben entziffern. So, sie lüftet rechts ihre Sitzfläche, da ist der Anfang. Nun links. Da habe ich die ganze Inschrift heraus. "Du bist mein Morgen- und mein Abendgebetchen", steht auf dem Kissen. Es ist wohl ein Kinderkissen. Darauf hat Bubi seinen Lockenkopf gelegt, wenn die Mutter ihm Gutenacht gesagt hatte. Nun wird die Erinnerung daran noch gehegt. Rührend.
Wir sind auf der Havel, wir gleiten über Seen, eine unendliche Drehbühne führt uns Laubwälder, Lerchen, Rehe, Sportboote, Angler, Ausflugsrestaurants, mit Maien geschmückte Zillen, Hitler-Jugend, Jagdwagen, Gendarmen, Zeltpärchen, Dörfer, Kirchen an den Augen vorüber, und der Hohenzollernkanal, den wir dann befahren, erhebt sich immer höher über das umliegende Land, so daß man zuletzt gerade nur noch die Wipfel der Bäume sieht.
Er ist 1913 als Verbindung zwischen Havel und Oder fertig geworden. Unter ihm hindurch fährt die Eisenbahn Berlin-Stettin! Unter ihm quer hindurch fließt ein Bach! Er ist aber so gut betoniert, daß nichts hindurchsickert.
Ursprünglich führten an seinem Ende mehrere Stufenschleusen zum Odertal, was sehr zeitraubend war; bei großem Andrang brauchte man Tage. Seit 1933, wo das Schiffshebewerk der Benutzung übergeben wurde, schafft man es aber in einer Viertelstunde. Das letzte Stück ruht der Kanal schon als mächtiger Aquädukt auf hohen Pfeilern, ist er gar nicht mehr von Erdreich umgeben. Dann fährt man in ein 85 Meter langes Wasserbecken hinein, eine Art Badewanne, die hinter einem durch ein Tor tropfensicher abgedichtet wird, und sieht tief vor sich, von bewaldeten Bergen umkränzt, das Odertal liegen. Es ist, als stünde man auf einem Aussichtsturm. Nun drückt der Hebewerksbeamte auf irgendeinen Knopf, die Riesenwanne mit Schiffen und Booten und Menschen darin senkt sich mit Fahrstuhlgeschwindigkeit, während Gegengewichte aufwärts gleiten, und wenige Sekunden später ist man 36 Meter tiefer angelangt und kann durch das "abgebrochene Ende Kanal" in die Oder fahren. Andere Schiffe warten hier unten und werden nach uns ebenso schnell hinaufbefördert. Es ist ein dauerndes Auf und Ab in diesem ungeheuren Stahlgerüst.
"Det is alles Stahl jenietet, und nu soll'n Se ooch den Ortswitz dazu hören: det Hebewerk wird abjebrochn, denn man braucht de Nieten für de nächste Lotterie!"
Ein tüchtiger Reisemarschall. Er ist noch bei der Ausschiffung an einer romantischen Stelle, an einem Floß im Schilf, die Besorgnis selbst: "Vorsicht mit die Pfingststiebeln, jestern jekooft, heit verdorben, det wär' nich det Richtije!", und hält alsdann einen technisch einwandfreien Schlußvortrag über den Hohenzollernkanal, die Schleusen, das Schiffshebewerk; nur im Berliner Jargon.
Einige Leute stecken ihm heimlich und dankbar ein Trinkgeld zu. Auf den Terrassen der Hebewerk-Gaststätte, um die herum eine Unmasse von Autos parkt, denn Niederfinow ist ja auch zu Lande erreichbar, wird gevespert. "Der Kaffee is nich stark, aber die Tassen sind stark!", sagt unser Nachbar vom Vordeck in seiner trockenen Berliner Art. Ach was. Der Kaffee ist gut, wie fast überall in Berlin und Umgegend. Wenn es so einen in einem Ausflugslokal in der Nähe von London gäbe, würden die englischen Zeitungen Sonderberichterstatter hinschicken. Auch das Mittagessen auf dem Schiff - die meisten Passagiere lebten freilich von Mitgebrachtem - ist ausgezeichnet gewesen. Wir sind von dem Ausflug tief befriedigt, als wir sonnverbrannt und sauerstoffgefüllt abends wieder in Berlin eintreffen. Auch die Dicke mit dem gestickten Kissen hat ihr blaues Wunder erlebt. Den imponierenden Eindruck des Schiffshebewerks hat sie überwältigt mit den Worten quittiert:
"Et jibt übahaupt nischt, wat et nich jibt!"
Das ist wirklich das Höchstmögliche an Anerkennung. Und wenn die angeblich blasierten und überheblichen Berliner so urteilen, freut man sich. Wie man überhaupt einen solchen Ausflug mit ihnen genießen lernt, wenn man erst kürzlich in einem sogenannten ersten Hotel am Waschtisch an der Wand eine Zelluloidklemme mit der Aufschrift gesehen hat: "Abschminkpapier zur Entfernung von Puder und Lippenrot! Bitte dazu nicht die Handtücher benutzen!" Auf unserem Schiff war das nicht nötig, da gab es nur natürliche Farben, natürliche Menschen. Nur hatten etliche einen fast übernatürlichen Durst.
Die alten Philosophen sprechen von dem horror vacui, dem Abscheu der Natur vor leeren Räumen. Überall dränge füllend die Flüssigkeit nach, stellten sie, ohne über das Gesetz der Schwerkraft unterrichtet zu sein, fest. Diesen horror vacui empfindet sehr stark der Berliner am Himmelfahrtstag bei der Herrenpartie und zu Pfingsten, wenn die Sonne hübsch warm scheint.
Dann müssen die leeren Innenwände des Körpers ausgefüllt werden. Eine große Weiße mit'm Schuß ist zum Anfang ganz gut. Dann aber muß der Berliner etliche Mollen Bier zu sich nehmen. Und dazwischen immer einen Korn, denn sonst wird einem zu labbrig. Doch man erlebt trotz allem wirkliche Trunkenheit immer seltener und seltener, abgesehen von der herkömmlichen und unausrottbaren am ersten Blütensonntag in Werder. Noch vor dreißig Jahren sah man in der nächtlichen Friedrichstraße alle paar Schritt einen Taumelnden. Der Berliner von heute steht auf festeren Beinen, auch wenn er "einen sitzen hat".
Vielleicht hat der Sport das Gleichgewichtsgefühl so gestärkt.
13. Juni 1935 (Donnerstag)
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