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Schluß mit dem "Wunder des Lebens" - Gardetreffen - Mackensen auf Hermannswerder - Die Engländer in Berlin feiern - "Gott sei Dank Auwi" - Antilärmwoche.
Die große biologische Ausstellung auf dem Berliner Messegelände, "Das Wunder des Lebens", hat ihre Pforten geschlossen, nachdem viele Hunderttausende sie besucht haben. Als einer der Letzten war noch der Feldmarschall v.Mackensen da. Mehr als drei Stunden ging der Fünfundachtzigjährige zwischen den Wundern einher und war unermüdlich im Schauen und Fragen.
Dann ein strahlender Maisonntag, und Mackensen wieder in Berlin. Er hat, bolzengerade und frisch, am großen Gardetreffen der 20 000 teilgenommen. Es wimmelt von strammen Kerls, die eines Hauptes länger sind denn alles Volk; die neuen Mützen des Kyffhäuserverbandes, die den unmöglichen Kriegervereinszylinder der Vorkriegszeit abgelöst haben, beherrschen das Straßenbild. Tagung, Feldgottesdienst, Ansprachen, Vorbeimarsch, Erbssuppe: das ist, auf eine kurze Formel gebracht, bei den Angehörigen der feiernden Regimenter ungefähr das Programm. Mit den Elisabethern und den Gardefüsilieren ("Maikäfern"), mit dem 4.Garderegiment zu Fuß und den Potsdamer 3.Garde-Ulanen ("Stoobigen") verbinden mich besonders viele persönliche Beziehungen. Oberst Reinhard, der letzte Kommandeur der vierten Gardisten, hat noch am Waffenstillstandsmorgen im November 1918 die Franzosen angegriffen und dann im Januar 1919 die Reichshauptstadt gegen den roten Mob gehalten; über beides kann man das Nähere in seinem herrlichen Buche "1918-19, Die Wehen der Republik" nachlesen. Die Garde war standfest, auch noch nachher im Baltikum. Bei ihr wird dem alten Mackensen das Soldatenherz ganz warm.
Und nun kommt nicht etwa das Nachmittagsschläfchen. Nein, das kennt er nicht. Von den alten Gardisten geht es zu den jüngsten Mädchen, zu den Schülerinnen der Hoffbauer-Stiftung auf Hermannswerder bei Potsdam. Seit 55 Jahren ist der greise Heerführer an dem Ergehen der mächtigen Bildungsanstalt interessiert, mit deren Begründern er als junger Offizier befreundet war. Diesmal soll er ein neues Boot der Ruderriege taufen.
Man hat lange auf ihn gewartet, denn die Garde hat in Berlin den Generalfeldmarschall nicht so leicht losgelassen, dann ist er auf Hermannswerder zur Kaffeetafel ins Feierabendhaus geladen. Draußen stehen die Mädel wie die Mauern, vornean die Ruderriege unter der Oberprimanerin Barbara Stosch. "Lassen Sie die Mädel doch wegtreten, die halten das nicht aus, die kippen!", sagt väterlich-mitleidig ein Schutzmann vom Absperrkommando zur Protektorin der Riege.. "Nein, die halten aus!", erwidert kurz und energisch die Oberstudienrätin Balan.
Natürlich halten sie aus. Und da - Heil, Hurra, Heil - Mackensen! Alles ist wieder begeistert.
Er schreitet die Front ab, stutzt aber vorher schon vor dem rechten Flügelmann. Oder soll man Flügelmädchen sagen? Diese "Kleine", die schon ihr Abiturium hinter sich hat, mißt über 1,90 Meter und schaut auf den Feldmarschall herab. "Potztausend!", sagt er, "der ist ja annähernd zwei Meter groß!" Jawohl, ist er. Oder vielmehr: ist sie. Aber es ist bereits öffentliches Geheimnis, daß sie trotzdem verlobt ist und demnächst heiraten wird. Aus frischen Mädchenlippen klingt es in den Frühling hinein: "O Deutschland, hoch in Ehren!" Das kann man heute wieder voll Freude singen. Als Mackensen vor fünf Jahren Hermannswerder besucht hatte, bekam der Anstaltsleiter, Oberstudiendirektor Kühne, einen Rüffel von oben: "Was hat ein kaiserlicher General in Uniform in einer Schule, noch dazu einer Mädchenschule, zu suchen?" Der Königlich preußische Generalfeldmarschall v.Mackensen lächelt versonnen. Und dann gibt er dem neuen Boot auf Wunsch der Schülerinnen seinen Namen. Aber in seiner bescheidenen Art: "Meine lieben jungen Damen, was ich für mein Vaterland habe leisten können, das danke ich allein der Gnade Gottes." Das Boot wird von acht kräftigen Mädelarmen zu Wasser gebracht, die stille Havelbucht belebt sich mit den Fahrzeugen anderer Potsdamer Vereine, es gibt eine schöne Auffahrt.
Inzwischen haben die Kleinen, die noch nicht zur Ruderriege gehören, alle Scheu verloren. Eine Untertertianerin rückt Mackensen mit ihrem Photokästlein ganz nahe auf den Leib. "Meinst Du mich oder die schöne Natur hier auf der großen Insel?", sagt ihr der Feldmarschall. "Wenn Du mich meinst, so steck' mal weg!"
Ob Exzellenz sich auch die Aufführung im Freilufttheater der Anstalt ansehen wolle. Aber gewiß doch. Mackensen hält erst recht aus. Und nun wird Lienhards "Wieland der Schmied" gegeben. Zum Fürchten echt. Ein richtiges Feuer brennt, und als Zwerge krabbeln die Kleinen des Kindergartens herum. Man ist ganz im Banne und vergißt fast, daß Laien - Oberprimanerinnen - die Darsteller sind. Dann kommt der unumgängliche Abschied, die Potsdamer SA., die das Spalier zum Absperren gestellt hat, steht stramm, Oberbürgermeister Generalmajor a.D. Friedrich ist schon vorweggefahren, jetzt besteigt Mackensen seinen Wagen. Er erwehrt sich der ihn Umdrängenden und wird von Radfahrerinnen zur Stadt eskortiert.
Wieder Stille und Blütenduft über der Insel. Die Mädel aber sind um eine beglückende Erinnerung reicher. Sie haben dem ruhmreichen Feldherrn des Zweiten Reiches ins Auge gesehen, das so hell in das verheißungsvolle Dritte Reich hineinstrahlt. Wir haben wieder ein Vaterland der Ehre. Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, denken die Mädel beim Einschlafen. Die Havel rauscht. Die schmale Mondsichel kommt silbern über den samtdunklen Himmel.
An diesem selben Abend wird es in der englischen Kolonie in Berlin lebendig. "Silver Jubilee!" Vor 25 Jahren hat König Georg V. die Regierung angetreten, das feiern gleichzeitig fünf Erdteile. In ihnen allen werden die britischen Länder durch die Monarchie zusammengehalten, in einer Art Personalunion, auch wenn Canada und Südafrika und andere Länder starke Sonderinteressen haben. Nehmt den Engländern ihr Königshaus, dann bricht das Empire zusammen. Das weiß auch der Letzte im Reich. Daher seine Ehrfurcht vor dem Hause, auch wenn einzelne Mitglieder nicht durch Tugend oder Talente glänzen. Eduard VIII. war wahrhaftig kein Ideal. Von seiner Mutter, der alten Queen, erzählte man sich gleichfalls allerhand, aber das tat der Liebe keinen Abbruch. Um die Jahrhundertwende saß ich in einem Londoner Omnibus neben zwei Arbeitern, von denen der eine schmunzelnd sagte, daß die Königin wohl gern einen hinter die Binde gieße. Darauf der andere: "Das liebe alte Mädchen, warum sollte es nicht?" (The dear old girl, why should'nt she?) Auch dem heutigen Prince of Wales werden seine Eskapaden nicht vorgeworfen. In der englischen Kolonie in Berlin jedenfalls herrscht Herzeinigkeit. Sie spielt zum Fest Lonsdales Komödie "The last of Mrs. Cheyney", ein echt englisches Konversationsstück, eine Persiflage auf die Gesellschaft mit eingeschlichenen Hochstaplern. Wirklich ganz englisch. Am besten unter den Laiendarstellern Cecil E. King als Lord Elton. Schließlich wird die bekehrte Hauptdiebin noch von einem Lord geheiratet. Ende gut, alles gut. Freut Euch, liebe Leute!
Die Aufführung wird zugunsten des deutschen Hilfswerkes für Mutter und Kind im Kurfürstendammtheater wiederholt. Meines Wissens ist kein deutscher Verwandter von dem Königshaus Sachsen-Koburg in London, das seit dem Kriege den Familiennamen Windsor angenommen hat, eingeladen. Aber zu dieser Aufführung in Berlin erscheint, da man nicht Gleiches mit Gleichem vergelten soll, in seiner Uniform als Gruppenführer der SA. der Prinz August Wilhelm von Preußen, der den englischen König doch Onkel nennt. Von "Auwi" hört man in letzter Zeit verhältnismäßig wenig. Er ist sehr schmal geworden und ähnelt, wie mir scheint, jetzt sehr seinem ältesten Bruder, dem Kronprinzen. Daß er immer noch guten Humor hat, beweist eine Geschichte, die er im vorigen Jahre einmal im Kameradenkreise zum besten gab:
"Gott sei Dank werde ich Auwi genannt, weil ich August Wilhelm getauft bin. Eigentlich sollte ich den Rufnamen meines Onkels Leopold erhalten, dann hieße ich jetzt Lewi."
Die Lautstärke des fröhlichen Gelächters, das sich allda erhob, konnte man vielleicht auf 30 Phon bemessen. Vor Monate habe ich erzählt, was ein Phon als Maß bedeutet. Damals ahnte ich nicht, daß wir in diesem Mai schon in ganz Deutschland eine Lärmbekämpfungswoche bekämen. Sehr einverstanden! Ich weiß zufällig ein Lied davon zu singen, denn in unserer Mietskaserne hat sich, im ersten Stock an der Straßenfront und rund um den Hof, Industrie in den ehemaligen "herrschaftlichen Wohnräumen" angesiedelt, wir haben also Fabriklärm, und zwar in Tag- und Nachtschicht. Das behindert stark den Schlaf und die geistige Tätigkeit. Anderswo mag die Schädigung noch viel größer sein: wer etwa ständig die 120 Phon des Flugzeuggeknatters hören muß, der ertaubt sicher vorzeitig und wird dann arbeitsunfähig. Also Fehde dem Lärm überall!
Ob in der Großstadt er das schlimmste ist oder die ständige Reizung der Geruchs- und Atmungsorgane, das weiß ich nicht. Jedenfalls hat schon Schopenhauer gesagt, und ihn ärgerte doch erst das Peitschenknallen der Fuhrleute: "Der Lärm ist der wahre Mörder aller Gedanken!" Er hätte mal neben einem Motorrad stehen müssen, das 105 Phon durch den Auspuff knallt. Jetzt geht man diesen Sündern zu Leibe, denn, wie der Gauamtsleiter Spiewok in einer Ansprache vor dem Bezirksverein Deutscher Ingenieure im großen Hörsaal des Physikalischen Instituts der Hochschule in Charlottenburg erklärte: "Lärmbekämpfung bedeutet Hebung der Arbeitsfähigkeit!" Wir haben allein in Berlin 136 000 Arbeitsunfähige, die vom schaffenden Volk miterhalten werden müssen, und diesen Leuten sind vielfach durch Lärm die Nerven ruiniert.
Wenn man ein Büro betritt, in dem gleichzeitig 20 Schreibmaschinen klappern, kann man schon gelinde wahnsinnig werden.
Und nun habe ich in diesem Physikalischen Institut, wo Professor Dr. Wagner den Haupt-Experimentalvortrag hielt, eine Schreibmaschine nur gesehen, auch die auf der Tastatur herumtanzenden Finger der Stenotypistin, aber auf Ehre nichts gehört. Die Maschine war buchstäblich lautlos! Es ist fabelhaft, was die Wissenschaft der Schallforscher da schon geleistet hat, wie sie - den Schluckgrad der schalldämpfenden Stoffe, etwa Glaswolle, messen kann, wie sie ganze Fahrstuhlschächte mit Dämpfung umkleidet, Auspuffrohre vom Brüllen wenigstens zum Brummen bringt, Wasseranschlüsse vom Rauschen zum Murmeln. Die praktische Lösung für jedes Lärmproblem ist schon da, ist keine Frage der Technik mehr, die die Antwort fertig vorliegen hat, sondern nur noch des Willens. Da ist ein wichtiges Arbeitsgebiet des Amtes für Volkswohlfahrt. Wir haben einst das Nieten verflucht und dafür das bessere und ruhigere Schweißen bekommen, unser aller Gehör wird jetzt noch auf den Straßen durch die schweren 18-Tonner-Lastzüge und durch die "eisernen Pferde" gemartert, die Straßenbahn quietscht entsetzlich in den Kurven, aber ich hoffe es noch zu erleben, daß man in einem Café-Vorgarten am Potsdamer Platz bei wattiertem Verkehr ruhig einnicken kann.
Bei Trommelfeuer im Felde, dem tollsten Höllenkonzert von 135 Phon, habe ich gut geschlafen. Wenn aber mein Bursche mich leise zur Ablösung weckte, war ich sofort hoch.
9. Mai 1935 (Donnerstag)
32
Der Kurfürstendamm macht sich mausig - Katakomben-Schluß - Nach dem Muttertag - Eine neue Stadt bei Döberitz - Die Berlinerin und die Fremdrassigen - Erlebnis im Tiergarten.
Exoten wollen Gepfeffertes. Das konnte der Kurfürstendamm früher - vom Charlott-Kasino bis zum Komiker-Kabarett - reichlich haben. Man spielte irgendeinen "Sketch" als Sittenstück in schamloser Eindeutigkeit, man zerwitzelte in Vorträgen und Liedern alles Reine, Hohe, alles Deutsche, Christliche. Im Publikum hundertfach die bekannte Zusammenstellung: der fette Schwarze und die schlanke Blonde. Diese möglichst jung. Ein einziger Abend genügte, um ihr den Schmelz von der Seele zu zerfressen. Sie wurde für den Nihilismus der moralischen und Weltauffassung fertiggemacht.
Vor drei Jahren fingen den Unternehmern doch die Rockschöße etwas zu flattern an. Nicht auszudenken, wenn eine neue Regierung einem das Handwerk legte! Aber man tröstete sich noch. "Wenn das Dritte Reich wirklich kommt, gemacht, stelle ich einfach eine blonde Diseuse auf die Bühne", erklärte als Ansager einer dieser Direktoren. Nur war das nachher nicht so einfach. Gut, man stellte sich auf die Staatsbejahung um, aber da blieb der Kurfürstendamm weg und das Geschäft ging nicht mehr. Ein Kabarett ließ seinen Conferencier, der eine einwandfreie Großmutter hatte, sogar Mitglied der nationalsozialistischen Partei werden. Heute sitzt er mit zwei anderen in Numero Sicher. Denn: seine Kleinkunstbühne hat sich seit Monaten wieder ganz in den Dienst des Kurfürstendamms gestellt, was einen Begriff bedeutet, nämlich den der politisch-moralischen Fäulnis und Zersetzung.
Die Premièren für Presse und Behörden waren sanft und zahm. Aber schon am ersten Tage nach diesem Täuschungsversuch ging es los mit Bosheit und mit Schmierigkeit. Der Zuschauerraum war mit feixenden Libanontirolern gestopft voll, ständig ausverkauft; ein glänzendes Geschäft. Jetzt ist das Kabarett "Katakombe" und noch ein zweites ähnliches Unternehmen geschlossen worden. Als es während des Weimarer Zwischenreiches noch nicht im goldenen Westen Berlins spielte, sondern im Künstlerhaus dicht am Potsdamer Platz, leistete es manchmal sehr witzig-spritziges, so in einer Parodie auf Richard Tauber, aber auch schon Verruchtes. Das habe ich öffentlich angenagelt. Dafür wurde ich als nationaler Banause beschimpft, ohne daß die Angriffe meine Gesundheit geschädigt hätten.
Und nun ist auch die Genugtuung da. Es wird wirklich ernst mit dem Großreinemachen, von den Leihbüchereien bis zu den Kabaretts. Das Ungeziefer wird überall ausgeschwefelt. Auch von Schaufenstern und Zeitungsständen braucht man die Kinder nicht mehr wegzuziehen. Sie wachsen in einer gesünderen Umwelt auf.
Fast möchte man meinen, daß seither auch der Schritt der Mütter beschwingter und froher geworden ist. Sie brauchen sich nicht mehr so um die Entwicklung der heranwachsenden Töchter zu ängstigen. Frechheit gilt nicht mehr als das Schickste, Schamhaftigkeit und manche andere Tugend werden wieder gut notiert. Und manches Mädchen dankt es ihrer Mutter, daß es durch sie vor dem Höllenbreugel der vergangenen Jahre bewahrt worden ist. Dieser Dank bedarf keiner Unterstreichung durch irgendwelche Geschenke. Ein Blick, ein Händedruck und, mehr noch, ein kleiner Liebesdienst sind besser. Nun liegt ja der öffentlich begangene Muttertag dieses Jahres schon eine Weile hinter uns, aber ich möchte gern noch eine kleine Notiz anhängen. Sprechen wir doch nicht nur von den Kindermüttern, sondern auch einmal von unseren mütterlich uns umsorgenden Gattinnen! Die Frau kann viel jünger sein und wird doch Mutter für ihren Mann, wenn sie ihren Beruf recht versteht, denn der Mann hat das nötig. Einen Menschen, der für jedes seiner Wehwehchen (ach, er bleibt doch immer der Bub!) Verständnis hat, bei jeder Beichte Nachsicht, für alles äußerlich oder innerlich Zerrissene die bessernde Hand. Einen Menschen, der das Schicksal des Mannes wirklich teilt, klaglos alles mitmacht, selber todmüde den Müden womöglich noch aufrichtet. Es ist nicht so von ohngefähr, daß der Berliner von "Muttern" spricht, wenn er seine Frau meint. Da ist der Hafen, da ist die Sicherheit, da kann man nach schweren Stürmen einmal auch seine Grundreparatur bekommen, und jedenfalls ist es Heim und Heimat. Wollen wir Männer alle uns das nicht einmal gegenseitig gestehen? Komme ich da - ich hatte noch den letzten Zug, den Lumpensammler, erwischt - dieser Tage kurz vor 2 Uhr morgens nach Hause und blicke hinauf zum obersten Stock: wahrhaftig, da ist noch Licht, da sitzt noch mit klappernden Augendeckeln, mühsam durch Silbenrätsel wachgehalten, gegen die Eisheiligen durch eine Decke geschützt, die Gattin, ach, die teure, und wartet auf ihren Bub . . .
Draußen in Döberitz bin ich gewesen, den ganzen Tag. Was ich da an neuem militärischem Leben sah, das ist meine Privatfreude, aber wie dort das Olympische Dorf entsteht, das müssen meine Leser erfahren. Zum erstenmal hat Los Angeles 1932 eine solche Wohnkolonie für die Wettkämpfer errichtet, aber, das ist in der sommerlichen Regenlosigkeit in Kalifornien möglich, aus ganz leichtem vergänglichem Material, sozusagen aus Pappe. In Döberitz dagegen wächst eine solide kleine Gartenstadt festgebaut empor. Für 4200 Wettkämpfer aus 48 Nationen auf einer Bodenfläche von 540 000 Quadratmetern nördlich der Bahnstrecke Berlin-Hamburg. Carlyle hat einmal gesagt, die Organisation sei ein deutscher Gedanke. Dieser im Olympischen Dorf tatgewordene Gedanke wird allen Völkern baß gefallen. Die Wehrmacht ist auf Antrag Dr. Diems, auf Befürwortung durch Reichenau und Blomberg, auf Entscheidung durch den Reichskanzler die Schöpferin und Verwalterin der neuen Stadt. Hauptmann Fürstner vom Reichswehrministerium ist ihr Kommandant und beaufsichtigt schon heute ihr Werden.
Soldaten sind praktische Leute. Die Wohnhäuser, für je 26 Sportler eines mit gemeinsamen Räumen und 13 Schlafzimmern, sind im Cottagesystem zwischen Hügel und Bäume und Sträucher gebettet, werden an kalten Tagen durch ein Fernheizwerk erwärmt und enthalten jede hygienische Bequemlichkeit. Für das Essen nach dem Geschmack der 48 verschiedenen Völker sorgt der Norddeutsche Lloyd. Der Italiener wird Polenta, der Argentinier Mate, der Inder Nassigoreng, der Russe Borschtsch, der Chinese Bambussprossen, der Bulgare Joghurt nicht zu vermissen brauchen, und 16 Sorten Kaugummi stehen zwischen den Mahlzeiten zur Verfügung. In der Schwimmhalle warten 17 Friseure, im Lazarett 3 Stabsärzte und ein Zahnarzt aller Wünsche, und 350 Hitlerjungen (alle im Olympischen Dorf Beschäftigten müssen mindestens je eine Fremdsprache beherrschen) stehen für kleine Dienste zur Verfügung. Für Ruhe und die nötige Absperrung sorgen Angehörige der Wehrmacht, die auch die Arbeit in den verschiedenen Bureaus der Kolonie übernehmen. Selbstverständlich finden die Finnländer hier ihre "Sauna" vor, ihr Dampfbad, aus dem sie krebsrot sich gleich ins kalte Wasser stürzen können. Da wird ein gewundener See "gebaut", über den mehrere Brücken führen. Nun stelle man sich nur noch Wald und Gesträuch - viel schleswiger Ginster - und Gondeln und Stelzvögel und Nachtigallen und Vollmond dazu vor: selbst im Lande der Kirschblüte kann es nichts Poetischeres geben. Nur werden den Japanern keine Geishas gestellt. Es ist ein Männerdorf, in dem nicht einmal Kartoffelschälfrauen zugelassen werden, selbst wenn sie 60 Lebensjahre nachweisen.
Und das ist gut so. Manche Berlinerin "fliegt" auf alles Exotische, hat selbst heute noch nicht genügend rassisches Selbstbewußtsein. Während der Gewerbeausstellung 1896 war es im Araberdorf ganz schlimm. Und die Umerziehung ist noch nicht vollendet. Neulich sprach ich über diese Dinge mit dem Oberkellner eines hiesigen Weinrestaurants, der traurig mir gestand:
"Ach, mein Herr, Sie ahnen nicht, wieviel Briefchen wir zur unauffälligen Besorgung bekommen, wenn irgendein Farbiger bei uns speist, von Damen, ja, von deutschen Damen!"
Wenn das wahr ist, da würde Anprangern vielleicht schnell helfen. Eine schlesische Zeitung hat damit angefangen, die Namen von Mädchen zu veröffentlichen, die mit fremdem Blut sich einlassen. Schon während der Rheinlandbesetzung hätte man das machen müssen. In Döberitz können solche Mädchen sich am Drahtzaun Muster in die Nase drücken, aber in die eigentliche Wohnsiedlung kommen sie nicht. Für Verwandtenbesuche und dergleichen ist das offizielle Empfangsgebäude da.
Fast alle großen Neubauten über und unter der Erde, die gegenwärtig Berlin mit noch größerem Getöse erfüllen, als man es sowieso gewöhnt ist, werden im kommenden Olympiajahr fertig sein. Auch das neue Luftfahrtministerium, das imposanteste künftige Gebäude der Reichshauptstadt mit 280 Metern Front. Vorläufig erfüllt noch der Abbruchsstaub die ganze Gegend an der Kreuzung Leipziger und Wilhelmstraße, und wenn man die passiert hat, ist man froh über das Untertauchen im Tiergarten. Der ist und bleibt doch die Lunge der Innenstadt.
Ich kenne ihn gut, habe aber den Baum noch nie gesehen, in dessen Rinde angeblich "Hanna, 1813" geschnitzt sein soll. Ich setze einige Zweifel in diese Notiz aus dem Befreiungskriege. Schon eingekerbte Buchstaben aus der Zeit um 1900 sind doch fast unleserlich. Heute wird diese "poetische Sitte" früherer Menschenalter zum Glück als Unfug empfunden, und man verwundet die Bäume nicht mehr.
Der Tiergarten, in den man sich während der ersten Jahre der Novemberrepublik abends kaum wagen durfte, da Räuber und Erpresser ihn unsicher machten, ist heute ein wirklich solider Volkspark. Die sogenannten lichtscheuen Elemente sind durch das Licht der vielen Bogenlampen und, selbstverständlich, durch die Polizeistreifen hier heimatlos gemacht worden. Es kommt auch nur noch selten vor, daß irgendein sonst harmloser Penner eine Bank im Tiergarten als Tages- oder Nachtquartier, wenigstens auf Stunden, benutzt. Trotzdem begegnet man zuweilen noch den absonderlichsten Gestalten. Da setzt sich neben mich ein etwa achtjähriger kleiner Junge, Gesicht und Hände braun, Augen kullerschwarz, der Anzug reichlich geflickt und wieder durchlöchert. Er ist mit einem älteren Mann gekommen, offenbar seinem Vater. "Na, du kleiner Zigeuner, wo kommst Du denn her?", sage ich dem Jungen, der mich stumm, aber irgendwie begehrlich ansieht. "Nich Zigeuner, bittäh, Vatter un ich sind Rumänen von Kronstadt!" Na, na. Da mischt sich der Vater ins Gespräch und holt seinen Paß hervor. Also Joan Maturar, Kaufmann in Kronstadt, rumänischer Staatsangehöriger. Kaufmann, kann aber nicht lesen und schreiben, hat sich nur drei unbeholfene Kreuze im Paß als Handzeichen bescheinigen lassen. Wir würden wahrscheinlich sagen: Hausierer. Er ist, während die Frau mit den anderen drei Kindern daheimgeblieben ist, mit diesem Jungen, dessen Photographie der Paß auch enthält, seit Jahr und Tag in Deutschland unterwegs, hat aber jetzt angeblich Schwierigkeiten mit der Erneuerung des Wandergewerbescheins.
"Habe nich Geld schlaffen, muß Tiergarten etwas bißchen schlaffen. Oderberg weit, Prag weiter, Budapest noch weiter, Kronstadt ganz weit. Kein Geld schlaffen, kein Geld Hause fahren, nich gutt."
Aber eine Zigarette wickelt er sich doch. Man möchte dieses Doppelhäufchen Elend, obdachlos und hungrig in der Fremde, gern für einen Tag der Sorgen entheben. Doch dann steigt der dunkle Zorn in einem hoch, wenn man an die Tausende schreib- und lesekundiger tüchtiger Deutscher in allen fremden Erdteilen denkt, die dort dank der Emigrantenpropaganda auf die Straße gesetzt worden sind. Wir brauchen keine zerlumpten Halbzigeuner als Kostgänger bei uns und als Wildweststaffage auf den Bänken des Tiergartens. Das ist der gute Bürgerpark von Berlin!
17. Mai 1935 (Freitag)
33
Die Tanten nehmen übel - Wie es einst war - Vom Gewerbe des Straßenhändlers - Interview mit einem "Ambulanten" - Einmal "vor" dem Reichstag - Mancher versteht keinen Spaß mehr - Lieschen Krauses Anfangsbuchstaben.
Wie vergessen wir doch so schnell!
Den alten Tanten beiderlei Geschlechts täte es gut, wenn ihr Gedächtnis etwa durch Filme, die Berlin während des goldenen Zeitalters der Novemberrepublik wiedergäben, etwas aufgefrischt werden könnte. "Tante sitzt auf dem Sofa und nimmt übel." Diese Tanten finden sich in unserer reformatorischen Zeit nicht zurecht und klagen, weil hie und da - Irren ist menschlich - Fehler gemacht werden, und nicht jedermann bis zu dem kleinsten Führenden ihrem Ideal entspricht.
Wie wäre es also mit einem Blick in die Jahre zurück, wo der von Judko Barmat ausgehaltene Genosse Bauer Reichskanzler war, der von den Spielhöllen bezahlte Bernhard Weiß Polizeipräsident, der Bolschewik Leow Herr des Weddings, die kommunalen Größen bestochene Schlemmergäste der Sklareks?
Begeben wir uns mal in Gedanken zurück, in die Innenstadt Berlin von damals, als es fast so viel Banken wie Promenadenbänke gab. Kronenstraße. Mitten auf dem Fahrdamm ein gemauertes Häuschen, eine Wechselstube, davor eine Menschenschlange in langsamem Vorrücken. Daran entlang sich schiebend östlich-allzuöstliche Gestalten, Menschenfreunde, die den Leuten das Warten ersparen möchten. "Hamse Dollar? Wieviel wollense?" Einer möchte Pfunde verkaufen, einer möchte Francs haben. Man sieht gequälte Gesichter, Augen schauen wie irr darein. Weiter. Grenadierstraße. Ein quirlendes, schmutziges, stinkendes Ghetto, offenes Stelldichein aller Hehler. "Brillantring gefällig? Sachwerte?" Gestohlene Pelze, gestohlene Fahrräder, gestohlene Silberbestecke in jedem Hausflur zu haben. Königgrätzer Straße. Zwischen Potsdamer und Anhalter Bahnhof nahezu Arm in Arm 182 Straßenhändler mit Kiosken, kleinen Karren, Bauchläden. Das ist nicht mehr Berlin, das ist schon Tschenstochau. Alles zu haben, Seife, Bananen, Schlipse, Likör, Büstenhalter, Zigarren, Wurst, Spielzeug, Taschenlampen, Kuchen, Strümpfe, Aktentaschen, Parfüms, Messer, Bücher, Schmuck, natürlich auch sogenannte Pariser Photos. Aus den Schaufenstern der ansässigen Kaufleute aber grinst die Not.
Plötzlich wird im Handumdrehen alles zusammengepackt. Vom Leipziger Platz her kommt verworrener Lärm. Menschenhaufen flüchten unter Geschrei. Im Hintergrunde sieht man attackierende Schutzleute mit Gummiknütteln.
Na? Genügt's? Gefällt's? Wiederkehr erwünscht?
Auf den Straßen ist seither Zucht und Ordnung eingekehrt, es gibt noch hie und da "ambulante Händler", weil man den ehrenwerten unter ihnen nicht das Brot nehmen will, aber sie haben ihren festen Stand. Sie dürfen sich nicht vor Läden gleicher Branche aufbauen. Je nach der Stärke des Verkehrs ist ein Abstand von 50, von 100 oder mehr Metern erforderlich. Die Kioske sollen auch nicht mit Reklame überpappt, nicht schreiend angestrichen sein, damit sie das Straßenbild nicht verunzieren. Wer unter dem festgesetzten Ladenpreise verkauft, also Schleuderkonkurrenz betreibt, der fliegt. Niemand unter 25 Jahren darf "ambulanter Händler" werden. Und wenn ein Nichtkaufmann, etwa ein Bäcker, ein Schlosser, ein Fleischer, es damit versuchen will, so gibt man sich Mühe, die Leute lieber in ihrem richtigen Berufe unterzubringen. Es ist verboten, daß Mann und Frau gleichzeitig je einen Kiosk an verschiedenen Stelle innehaben. Geht ein Stand aus irgendwelchen Gründen ein, so wird kaum eine neue Genehmigung erteilt. Also auch der nicht mehr wilde, sondern gezähmte Straßenhandel wird in einigen Jahren auf ein Minimum geschrumpft sein, Berlin wieder das Vorkriegsaussehen haben.
Beiläufig bemerkt, verlangt der Reichsverband ambulanter Händler Deutschlands von seinen Mitgliedern - und Nichtverbändler gibt es nicht mehr - den Nachweis arischer Herkunft, so daß keine neue Grenadierstraße entstehen kann.
In der Nähe meiner Wohnung steht am Rande des Bürgersteiges solch winziges fahrbares Häuschen, in dem es Zigarren und Zigaretten gibt. Der Mann darin ist ebenso sauber wie das ganze Gelaß. Von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends hockt er da und hat seine laufende Einnahme von jedesmal höchstens ein paar Groschen. Als Nettoertrag kann er je nach der Preisklasse 16½ bis 23 Prozent buchen, was ihm, da er noch bei seinen alten Eltern wohnen kann, die Existenz sichert und sogar den Anfang mit kleinen Ersparnissen ermöglicht. Ich unterhalte mich gern mit ihm, er spricht ein durchaus gutes Deutsch und hat gute Formen. Als ich das erstemal bei ihm stehenblieb, begrüßte er mich mit meinem Namen. "Nanu, woher kennen Sie mich denn?" "Ach, ich kenne allmählich viele von denen, die täglich achtlos bei mir vorübergehen. Ich sitze ja schon drei Jahre hier, zwei Großstadthäuser von Ihnen entfernt. Außerdem, wenn ich mal austreten muß, tue ich das bei Ihnen auf dem Hinterhof. Dann schließe ich so lange meine Bude. Und einer Ihrer Söhne, der Oberleutnant, hat schon einmal ein Schächtelchen R6 bei mir gekauft. Solche Kunden merkt man sich. Die meisten nehmen nur das Allerbilligste."
Der Mann hat nach Beendigung seiner kaufmännischen Lehre allerhand versucht. Er war auch Reisender und hat viele Städte gesehen. Um 1930 warf ihn die steigende Arbeitslosigkeit aufs Pflaster. Ein eigenes kleines Konfektionsgeschäft ging in die Binsen. Um nicht als Erwerbsloser der Allgemeinheit zur Last zu fallen, hat er sich dann mit Verwandtenhilfe diese Existenz am Bürgersteig geschaffen. Gewerbeschein und Genehmigung der Straßenbaupolizei waren zu erlangen. Der Wagen - heute wäre er schon billiger - kostete vor drei Jahren 180 Mark, das anfängliche Warenlager - jetzt hat er erheblich mehr - 70, die monatliche Nachtmiete für den Wagen in einer geheizten Autogarage 5, das städtische Standgeld für seinen Quadratmeter 3 Mark monatlich. Nur mußte man anfangs die Zähne zusammenbeißen, denn man kam sich, sagt er, doch deklassiert vor, die Einnahme war außerdem gering, der Spott billig zu haben. Dazu in Kälte und Nässe während zwölf Tagesstunden nur die Thermosflasche mit Kaffee und ein paar Stullen zum Aufrechterhalten.
Jetzt hat er schon ein Öfchen. Es wird mit geruchloser Buchenholzkohle geheizt. Das schadet der Ware nichts.
"Und die Leute sind viel gesitteter geworden!"
Man sieht einen Menschen, der sich ehrlich sein Dasein verdient, nicht mehr über die Achsel an. Arbeit adelt, Müßiggang verunehrt, das hat jedermann zu begreifen gelernt. "Kiek' bloß den Zijarettenmaxe in seine Blechschachtel!", rufen die Buben nicht mehr. Abgesehen von Arbeitern, die in der Gegend zu tun haben, gibt es fast nur Kleinstkunden. Manchmal kommt einer "fein in Schale", und es sieht nach einer größeren Einnahme aus. "Was haben Sie an guten Zigarren, aber wirklich prima?" Ein Kistchen nach dem andern wird geöffnet. Schließlich wählt der Käufer eine - eine - Zigarre zu 10 Pfennigen. "Zigarrenabschneider?" "Bitte sehr!" "Feuer?" "Bitte sehr!" Ein Streichholz, zwei Streichhölzer, drei Streichhölzer, nun brennt sie, und danklos entfernt sich der scheinbare Gentleman. Er hat sich geniert, in seinen alten Zigarrenladen zugehen, weil er an Ultimo-Ebbe leidet.
"Sind Sie eigentlich Parteigenosse, daß man deshalb Ihnen diesen guten Platz eingeräumt hat?", frage ich meinen Ambulanten. Aber der Mann läßt sich nicht aufs Glatteis führen. Er antwortet mit einem Aufleuchten der Augen: "Wer regelrecht seine Steuern bezahlt und arbeitet, der ist der beste Nationalsozialist!"
Ich kann nur sagen, daß diese Erkundung am Straßenrand mir mehr gegeben hat, als es eine volkswirtschaftliche Vorlesung vermöchte.
Die Beobachtungen am Rande sind häufig die lehrreichsten. Seit 1919 habe ich in Weimar und Berlin alle Parlamentssitzungen mitgemacht, also im Zuschauerraum der Weltbühne gesessen. Im letzten Moment gekommen, die Pressekarte vorgezeigt, geht in Ordnung. Diesmal habe ich - vor der großen Hitlerrede zur Befriedung der Welt und zur nochmaligen Begründung der Wehrfreiheit - schon zwei Stunden vor Beginn den Königsplatz zwischen Kroll und Siegessäule aufgesucht. Man sieht keine zuchtlosen Haufen von Lungerern und Demonstranten mehr, sondern den allmählichen Zustrom von Menschen mit gläubigen und festlichen Gesichtern. Sie möchten den Führer und seine Mitarbeiter vorfahren sehen, sie möchten aus dem am Moltkedenkmal aufgefahrenen Lautsprecherwagen die Rede in unmittelbarer Nähe der historischen Stätte hören. Die übrigen Straßen veröden. In den Wohnungen und in den Gaststätten und in den Kinos wartet alles. Wieder packt einen dieser technische Fortschritt, daß heute einer gleichzeitig zu Millionen sprechen kann. In dem zur Zeit unbenutzten Reichstagsgebäude, denn die Sitzung findet noch in der Krolloper statt, ist eine fliegende Rettungsstelle eingerichtet. Krankenträger mit ihren Bahren verschwinden in Portal V, davor treten 20 Schwestern an, von denen 17 im zuschauenden Publikum bei etwaigen Ohnmachten und dergleichen einspringen, 3 innen in der Rettungsstelle bleiben sollen. "Wer will hierbleiben?" Nicht eine meldet sich. Selbst die älteste will draußen miterleben, auch wenn es nicht so schönes Wetter wäre, sondern taubeneigroß Schloßen hagelten.
Nun marschiert das Schwarze Korps auf, das von der Reichskanzlei bis hierher absperren und Spalier bilden soll, darunter die Leibstandarte Adolf Hitler im Stahlhelm. Das ist doch etwas ganz anderes als einst Rotfront oder die Frei-Heils-Armee Schwarz-Rot-Gold. Wir sind wieder Soldaten. In meiner Begleitung - eigens um dieses Eindrucks willen habe ich sie mitgenommen - befindet sich eine von jenen Tanten, die übelnehmen und mäkeln, weil es manchem von uns noch nicht zum besten geht. Aber nun fangen auch ihr die Augen vor freudiger Erregung zu zittern an, als der Aufmarsch sich vollzieht.
"Abteilung - Halt!" Ein Krach, ein Schlag. "Rührt Euch!" Unsere mannbare Jugend in Zucht und Disziplin. "Zu Sechsen abzählen!" Ruck, zuck. Die Zahlen wirft Mund zu Mund, jeder sechste Arm fliegt hoch. "Stillgestanden!" Eine Mauer steht. Einige Evolutionen, der Rahmen für die Auffahrt ist fertig.
Nach der Sitzung schnell zurück zum Brandenburger Tor. Unter die Linden. Hie und da ein paar Schutzleute, die den Verkehr ableiten. Man braucht wenig Polizei. Das Publikum, auch in der Wilhelmstraße, hält musterhaft Ordnung. Also das mögen die Völker da draußen ruhig deutschen Militarismus nennen. Fünfzehn Jahre lang hatten wir nur die prachtvolle kleine Reichswehr, aber ein verludertes Volk. Jetzt ist für alle wieder die nationale Wehrschule da, die Erzieherin zu Fühlung und Richtung auch in geistigem Sinne.
Die Tanten begreifen noch nicht alles.
Neulich war ich einmal beim Exerzieren eines Infanterieregiments und gab meiner Freude über das neue Leben Ausdruck. Ich schrieb in einer Berliner Zeitung, wie schön es sei, daß wir auch wieder dank der Heeresvermehrung blutjunge Hauptleute hätten, die nicht eine Trittleiter und zwei Mann Hilfestellung zum Besteigen ihres Schlachtrosses brauchten. Aus dieser bekannten scherzhaften Wendung lesen einige wie ich verabschiedete höhere Semester heraus, ich hätte - die alte Armee beschimpft! Mit solchen Tanten hat man es wirklich schwer. Wenn kein Mensch mehr Spaß versteht, sondern gleich übelnimmt, macht es doch keinen Spaß mehr, auch von dem Spaß im Leben zu schreiben. Wir sind viel zu ernst, viel zu geladen, viel zu krampfig.
Ich hoffe immer noch, daß das Gelöstsein wiederkommt, daß auch der Schalk erneut sein Recht bekommt, daß man mit den Augen zwinkern darf.
Häufig genug zwinkere ich jetzt nur zu meinem Privatvergnügen. Der oder jener würde mich doch sicher mißverstehen, wenn ich eine gewisse Uniformierungssucht, wo sie zu weit geht, verulkte. Nach dem Kriege machte fast jeder Mann, auch der "unabkömmliche" Reklamierte, die Mode des trench coat, des Schützengrabenmantels mit Gürtel und Achselklappen mit. Heute will fast jeder Berliner unter allen Umständen irgendein Abzeichen in der Rockklappe tragen, damit jeder ihm Begegnende sofort weiß, wohin man in der Menschenkartothek gehört. Das läßt die Damen nicht ruhen, unter denen der Gebrauch einreißt, nicht nur auf der Handtasche, sondern auch auf der Herzseite der Blusen die großen Initialen ihres Namens zu tragen. Gebannt starre ich in der Untergrundbahn meinem hochgradig erblondeten Gegenüber auf das flammend rote L.K. auf ihrem Busen, bemüht, zu ergründen, ob das nun Lieschen Krause heißen soll oder etwas anderes.
Ich glaube beinahe, es ist nur das Erkennungszeichen für das Stelldichein an der Normaluhr am Zoo. Dann will ich auf jede Satire verzichten und die neue Mode für etwas ungemein Praktisches erklären.
Aber sie muß noch ausgebaut werden. Ich vermisse noch einige Hieroglyphen. Irgendein Zeichen muß bedeuten: "Getrennte Kasse!" Ein anderes "Paddelkamerad erwünscht." Ein drittes: "Bei Heirat 100 Mark monatlich Zuschuß von den Eltern." Wieder ein anderes: "Perfekt Steno." Oder: "Achtung, mein Bruder ist Boxer!" Damit kann man doch etwas anfangen. Das müßte organisiert werden.
23. Mai 1935 (Donnerstag)
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