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Wechsel auch der Herrenmoden - Der Schnurrbart kommt - Von Matkowsky bis Moissi - Nachnovemberliche Kulturgreuel - Das Wunder des Lebens - Ich will.
Ein wenig bedächtiger und zögernder macht die Herrenmode ihre kleinen Wendungen als die der Damen, aber jedenfalls ist auch sie nicht bleibend und starr, nicht einmal bei dem uniformierten Militär. Man braucht nur den Wandel der Mützenformen zwischen 1885 und 1935 sich zu vergegenwärtigen, Offizierbilder aus jedem dieser fünf Jahrzehnte miteinander zu vergleichen, dann weiß man das. Oder man denke an die Stiefel- und Reithosen, die ursprünglich fast geradlinig preußisch waren, dann nach französischem Vorbild, als seien Weiberschenkel vorzutäuschen, sich ballonartig blähten und heute mitunter schon als Faltensack herniederhängen wie die Pumphosen der Faschisten. An die negerartige Übertreibung beim Auswattieren der Schultern von Zivil-Herrenmänteln brauchen wir bloß erinnert zu werden, um ganz still zu werden, wenn uns eigentlich ein Spottwort über irgendeine weibliche Extravaganz auf der Zunge liegt.
Und nun hat man uns auf dem Internationalen Treffen des Bundes deutscher Friseure in den Berliner Zoosälen gezeigt, daß auch Haar und Bart der Herren jeweils nach einigen Jahren neuen Ausdruck suchen.
Also die Männerwelt kommt endlich wieder zu der Erkenntnis, daß nicht jedermann ein Goethe-Antlitz besitzt, das glattrasiert am besten seine Geistigkeit herausstellt. Der Schnurrbart wird erneut Mode! Nicht kurz gestutzt, aber auch nicht martialisch aufgedreht, sondern schmal gehalten, weich und natürlich auslaufend. Man kann ihn wieder zwirbeln, selbst wenn man nicht Menjou heißt. Bismarck "strich" ihn sich. Er zwirbelte zwar auch, aber nicht den Schnurrbart, sondern die Augenbrauen. Gelegentlich wird sogar der Balbo-Bart beliebt, Marke italienischer Luftmarschall, nur der große Vollbart - der sogenannte Fußsack - gilt nach wie vor als betont altmodisch. Als Kronprinz Friedrich ihn trug, erschien er als das Urbild männlicher Schönheit. In dem des Dichters Sudermann verfingen sich alle Frauenherzen, und ein suggestiver Svengali war auf der Bühne ohne schwarzen Vollbart undenkbar. In der alten Kaiserlichen Marine war der Schnurrbart in Alleinform, ohne Backenbart oder Kinnbart, verboten. Köster, Holtzendorff, Lans, Tirpitz, Spee, Scheer, Behnke, Strasser und ungezählte andere hatten nicht nur Haare auf den Zähnen, sondern auch im Gesicht. Wer aber heute in der Flotte mit rasierten Wangen, dagegen Bärtchen nur auf der Oberlippe auftauchte, der würde sicher gleich nach seinem Ausweis gefragt werden, da niemand ihn für einen richtigen Seemann hielte. Da gibt man noch etwas auf Tradition! Der Schnurrbart ist allenfalls etwas für die Fünfundachtziger. So gut wie sämtliche Angehörigen der Marine haben heute glatte Gesichter. Auch das Heer wird kaum sofort die Menjou-Parole aufnehmen.
Aber nach einiger Zeit: sicher.
In der Weltgeschichte wie in der Mode ist die Periodizität Gesetz. Daß ein Kuß ohne Schnurrbart so schmecke wie ein Ei ohne Salz, wird auch wieder zum geflügelten Wort unter den jungen Mädchen werden. Bis hierher ist gegen die neuen Richtlinien der deutschen Haarformer nichts einzuwenden. Bedenklich stimmt nur ein Satz darin, nämlich, daß die Frisur der Herren etwas längeres Haar zeigt, "mit angedeuteten Wellen, hierin leicht an die moderne Damenfrisur anklingend". Nein, die Brennschere dürfte nur den Theaterhelden vorbehalten bleiben. Wenn Matkowsky und Kainz künstlich gelockt herumliefen, so war das sozusagen ihre Amtstracht auch in Zivil, die sie neben der unumgänglichen Samtjacke als Künstler legitimierte; ein Mann wie Werner Krauß hat heute so etwas nicht mehr nötig.
Der letzte ständig Gelockte, Alexander Moissi, ist dieser Tage gestorben. Herkunft: Triest. Heimat: Berlin. Hier wenigstens ist dieser Dalmatiner zu einer Größe und zu einem Schwerverdiener emporgelobt worden. Jetzt wird er mit ein paar spitzen Worten abgetan. Jetzt. Die Konjunktur hat sich nämlich verändert. Vor ein paar Jahren noch wurden sein Hamlet und sein Fedja von der Presse verhimmelt. Mich wollte man steinigen, weil ich diesen gänzlich undeutschen Mimen ablehnte und seinen "nasalen Vorbeterton" lächerlich machte. Der verärgerte Bassermann will ihm den Iffland-Ring in den Sarg mitgeben und diesen Ehrenpreis damit vernichten. Mag er. Lasset die Toten ihre Toten begraben . . .
Es ist vieles, sehr vieles begrabenswert, was sich einst als Kultur bezeichnete. Was uns sogenannte Kunst und Kultur zu bieten wagten, das sieht man sich jetzt erschüttert und angewidert in der Ausstellung "Das Wunder des Lebens" an, an einer Stelle auf nur ein paar Metern Wandfläche. Da sind die scheußlichsten Malereien und die Anpreisungen pornographischer Literatur in einer kleinen Auswahl vereinigt. Dazu die entsprechenden Aufrufe der nachnovemberlichen Kulturbolschewisten.
Man kann nicht über jedes Berliner Messeereignis berichten. Über die Ausstellung Wassersport neulich, so sehr mir dieser am Herzen liegt, habe ich mich ausgeschwiegen. Auch über "Das Wunder des Lebens", das uns bis Anfang Mai leuchten soll und hoffentlich Hunderttausende auch aus dem Reiche und dem Auslande anzieht, wollte ich eigentlich nichts erzählen. Aber ich sehe ein, daß das eine Unterlassungssünde wäre. Seit vor Jahrzehnten, damals einzigartig und bahnbrechend, die "Hygiene-Ausstellung" in Dresden stattfand, ist Deutschland Spezialist für eine derartige volksbildende und ungeheure eindrucksvolle Schau geworden; die jetzige am Kaiserdamm in Berlin aber übertrifft alles Dagewesene.
Junge Ärzte übernehmen die Führung von Besuchergruppen, wofür man 30 Pfennige extra entrichten muß, und erklären einem den "Gläsernen Menschen", das Pumpwerk des Herzens, den Billionenvorrat roter Blutkörperchen, die Arbeit von Lunge und Leber und Galle und Magen und Darm und Niere, den Aufbau der Familie, des Volkes, der Rasse, die Bekämpfung von Krankheit und Unverstand, den Gleichgewichtssinn und den Geschmack, die erbliche Belastung und die erbliche Beglückung, man macht so in 1½ Stunden einen richtigen biologischen Kursus vor den wunderbarsten Anschauungsmitteln durch, man kann aber auch ganz allein die Fülle des Gebotenen studieren, denn alles ist allgemeinverständlich und handgreiflich. Es wäre gut, wenn auch Fremde sich hier ansähen, was heute geleistet wird, um unser Volk vor dem Versinken zu bewahren, das Wertvolle zu retten, das Krankhafte auszumerzen. Sie würden endlich verstehen, weshalb ein Sterilisationsgesetz bei uns nötig war. Und sie würden unsere sozialen Leistungen für vorbildlich erklären; haben wir doch, um nur zwei kleine Beispiele hervorzuheben, im vorigen Jahre allein 46 431 unbemittelten Müttern, unter gleichzeitiger Versorgung ihrer Familien, mehrwöchigen Aufenthalt in Erholungsheimen gewährt und 55 099 armen Kindern aus dem Saargebiet, die unterernährt waren, schöne Ferien im Reich bei hilfreichen Volksgenossen besorgt. Die meisten offenen Türen und Arme gab es in Sachsen. Demnächst im Rheinland, in Braunschweig, in Hessen-Nassau. Über der ganzen Ausstellung könnte, und das äußerlich wie innerlich gemeint, die Aufschrift flammen:
"Wir gesunden!"
Mit dem Eindruck, daß in Deutschland zielbewußt und systematisch und erfolgreich darauf hingearbeitet wird, geht jedermann hinaus. Sollte man dieses Bild von Sais nicht entschleiern dürfen? Der Anblick schmettert nicht nieder, sondern erhebt; und schließlich sieht man sich in der Überfülle doch nur das an, was einen fördert.
Früher drängten sich Halbwüchsige zu den anatomischen Museen auf den Rummelplätzen. Das immerhin für die große Menge etwas Geheimnisvolle reizte die Lüsternen.
Hier aber sehe ich ein Häuflein annähernd zehnjähriger Schulmädchen rein zufällig in einen Vorführraum kommen, in dem ein Film über die Befruchtung des tierischen Eies abrollt. Die Gruppe bleibt nur wenige Sekunden vor der Flimmerleinwand stehen, dann sagt eine kleine Dralle mit Hängezöpfchen: "Quatsch!", und schon sind sie alle wieder hinaus. Aber an anderen Stellen, wo das Hauswirtschaftliche eine Rolle spielt, wo einem das Kochen bekömmlicher Nahrungsmittel vorgeführt wird oder die Tätigkeit von Mädchen während des Landjahres, da bleiben sie lange. Die Buben interessieren sich am meisten für das Maschinelle im Menschen, für das Funktionieren aller Organe, erproben wohl auch ihre Lungenkraft durch Blasen in die aufgestellten Registrierapparate ("Au, dufte, ich habe beinahe 3000 Strich Puste!") oder erproben ihre Geschmacksnerven dort, wo es gratis Fleischbrühe oder Kakao oder sonst etwas gibt, obwohl eigentlich nur Hausfrauen dessen teilhaftig werden sollen.
Jung und alt, mit wenig oder viel Verständnis, lernen unter allen Umständen das stolze Gefühl, daß es vorwärts geht mit uns. Aus der tiefen Nacht der letzten Jahrzehnte wieder zu lichten Höhen empor. Ob das Stärkung der Familie heißt oder Ausmerzung der Minderwertigen, allgemeine Wehrpflicht oder Kraft durch Freude, Winterhilfe oder freiwilliger Arbeitsdienst, es ist alles planvolle Züchtung in dem bisher verwilderten Garten unseres Volkstums. Das kapiert auch der letzte Pimpf. Und von der bewegenden Kraft des Ganzen bekommen wir alle, die wir heute in der festlichen Uraufführung den "Triumph des Willens" erleben, mehr als nur eine Ahnung.
Im Herbst 1933 habe ich einmal anderthalb Stunden lang Leni Riefenstahl bei ihrer Arbeit zusehen dürfen und davon erzählt. Sie ist seither künstlerisch noch gewachsen. Man fühlt sich gleich zu Beginn des neuen Films über den Alltag buchstäblich erhoben, wenn man den zauberhaft poetischen Flug des Führers nach Nürnberg über dem Wolkenmeer mitmacht. Nun senkt sich die große Junkers über die hochgiebelige altertümliche Stadt, die bei unseren Schleifen und Runden alle ihre Reize enthüllt. Und von da ab ist alles, wenn auch gelegentlich durch idyllische und humorvolle Kleinmalerei unterbrochen, ungeheure Wucht, Wucht der marschierenden Massen, Wucht des gesprochenen Wortes, Wucht der Töne, Wucht der Symbole. Auch die an der Festaufführung teilnehmenden Vertreter des Auslandes sind von dieser geballten Energie gepackt, sehen im Gleichschritt ein Heer, ein Volk, eine Nation vor sich, die dem unbändigen Willen des Einen zujauchzen, der sie wieder zur Höhe führen will. Mit dem vom Führer gegebenen Titel, "Triumph des Willens", war auch die Idee gegeben. Ich muß an ein Wort Mussolinis zurückdenken, daß Projekte sonder Zahl seit Jahrzehnten vorgelegen hätten und daß nur die Faust nicht dagewesen sei, sie durchzuführen; er habe die Faust. Nicht der wägende Verstand, sondern der wagende Wille bringt jede große Entscheidung. Über das Kinderbett unseres Jüngsten klebten wir einst auf Pappe die Verse Bogislavs v.Selchow:
´
"Es gibt ein Wort, das Tore sprengt, |
28. März 1935 (Donnerstag)
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Der Zeppelin über uns - Von der Delag an - Man spart durch Fliegen - Beim Schwabenwirt - Schwarzbraunes Mädel - Fremdländische Gaststätten - Haus der deutschen Heimat - Wie man Autos verkauft - Vertreter an der Tür.
Nein, so schreit man nicht mehr, man wirbelt auch nicht mehr mit den Armen, schwenkt nicht mehr die Hüte, wenn der riesige Silberfisch unter dem Himmel dahergleitet und seine Propeller singen. Dieses Singen ist einem schon so vertraut, es ist ganz anders als das der kleinen und der großen Flugzeuge, und man blickt mit ruhigem Stolze empor und denkt nur: Deutschland.
Ist es nicht ein Wunder, daß keinem anderen Volke so etwas gelingt? Im Laufe von sechs Jahren hat der "Graf Zeppelin" schon 30 000 Personen befördert, ohne daß jemals ein Unfall zu verzeichnen war. Er hat die Arktis gesehen, er passiert in regelmäßiger Südamerikafahrt immer wieder den Äquator, er ist rund um die Erde geflogen. Nun zum Sommerhalbjahr der Antrittsbesuch in Berlin: herrlich, herrlich. Das Luftschiff kann sogar grüßen, nicht durch Dippen der Flagge, sondern durch eine Verbeugung, und solch eine Verbeugung macht der Koloß über Berlin vor Hitler und vor Göring. Die "Deutsche Zeppelin-Reederei" empfiehlt sich, das neubegründete Verkehrsunternehmen, das über kurz oder lang alle Erdteile umfassen wird. Auf einem alten Koffer habe ich noch eine bunte Klebemarke mit der Aufschrift "Delag". Es gab nämlich einmal eine Deutsche Luftschiff-Aktiengesellschaft, die die Zeppelinfahrten veranstaltete, und da bin ich häufig als Passagier mitgeflogen, bis ich später als Lernender selbst in der Führergondel stand. In scheuer Achtung nennen die Völker den Namen "Graf Zeppelin", und unter seinen 30 000 Beförderten gibt es Angehörige sämtlicher Rassen. Einmal nahm ein reicher Inder in Bombay ein Flugzeug, das ihn nach Friedrichshafen brachte, und von dort flog er mit dem "Zeppelin" nach Buenos Aires und zurück.
Er wurde gefragt, ob er das "for busineß" täte, aus geschäftlichen Gründen. Nein, sagte er, sondern "for curiosity", aus Erlebnisdrang und Wißbegier.
Die meisten Menschen, die mit dem Luftschiff den Atlantischen Ozean überqueren, tun es wohl nach nüchterner Berechnung. Der Zeppelinflug ist teurer als die Dampferreise. Aber Zeit ist Geld, und man spart hin und her zusammen einen vollen Monat. Wollen wir mal den Staatsschauspieler Werner Krauß fragen, was er in einem Monat verdient? Als er auf Gastspiel nach Südamerika ging, benutzte er natürlich den "Zeppelin", und das lohnte sich sicher. Es lohnt sich schon für den Ingenieur, für den Kaufmann, für den Industriellen.
Wer diesmal über Berlin oder, ganz nahe, in Staaken bei Berlin den "Grafen Zeppelin" gesehen hatte, der sagte dann vielleicht, nun müsse man wieder einmal beim Schwabenwirt einfallen. Beim Kottler in der Motzstraße. Der hat doch noch im Kurgartenhotel in Friedrichshafen als Küchenchef jahrelang den alten General Grafen Zeppelin bekocht, nachdem er vorher im Hotel Post in Berchtesgaden, noch früher im Orientexpreß und auf See gewesen war, ein richtiger Schwabe, aber nichts weniger als binnenländisch verhockt. Seine große Wirtschaft mit Zimmern und Sälen, abends immer gestopft voll, an den Wänden bedeckt mit allerlei Alt-Württemberg, enthält neben einem Schiller- auch einen Zeppelin-Raum. An der Decke hängt ein etwas verräuchertes Luftschiffmodell, an den Wänden sieht man lauter "diesbezügliche" Bilder und Photographien, aber auch Widmungen von Besuchern, u.a. vom Ozeanflieger Hauptmann Köhl und vom Prinzen August Wilhelm. Irgendwo zirpt eine Zither leise und nicht aufdringlich: "Bin i net a Bürschle." "Durchs Wiesental gang i jetzt na." "Mädele, ruck ruck ruck." "Rosestock, Holderblüt." Muß i denn zum Städtele naus." "Zu Straßburg auf der Schanz." "Maidle, laß der was verzähle." Ach, und noch vieles andere; wir machen uns selten klar, wieviel innige Volkslieder aus Schwaben kommen. Die Kellner bedienen hier in Hemdsärmeln und roter Bauernweste, man kann etwa Maultaschen in Fleischbrühe, Ripple mit Kraut und Spätzle, schwäbischen Zwiebelkuchen bestellen und dazu offenen Wein aus Württemberg trinken, Schwaigerer Riesling oder Weinsberger rot oder Ingelfinger gold oder Neipperger Schiller. Auch ein Mädele, ein Maidli, ist da, ein liebes Ding, selbstverständlich schwarzbraun in Volkstracht.
Merkwürdig: in den deutschen Soldatenliedern aus allen Jahrhunderten, wie sie jetzt in der von Hauptmann Heydemarck bei Mittler & Sohn herausgegebenen Sammlung stehen, ist immer wieder vom "schwarzbraunen Mädel" die Rede; aber heute erscheint kein Roman, keine Novelle, in dem die jugendliche Heldin nicht hellblond, weizenblond, goldblond wäre, und daher laufen die Mädel, auch wenn es gar nicht zu ihrem Gesichtstyp paßt, zum Haarbleicher und Haarfärber.
Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen. Wenn eine Römerin sich beim Kosmetik-Chirurgen ein kleines Himmelfahrtsstupsnäschen machen ließe, wäre sie sehr töricht. Ebensowenig paßt Friesenblond zu blankgeputzten Braunaugen.
Beim Schwabenwirt, dem Kottler, trifft man natürlich alles, das süddeutsch dunkel Glühende, das nordisch hell Leuchtende. Es ist alles deutsch, das ist die Hauptsache. Vor einigen Jahren, das zeigten mir ungezählte Zuschriften von Lesern aus dem Reiche, wollte man stets über das Fremdländische in Berliner Gaststätten unterrichtet sein. Da sollte ich immer wieder, damit man es sich notiere, von Tary Bary oder Medwedj oder den anderen russischen Restaurants erzählen, von den vielen italienischen Weinstuben, angefangen bei Andreoli in der Anhalter Straße, von der Bodega und Wild-West und türkischem Café im Haus Vaterland, von Roberts' inzwischen eingegangenem amerikanischem Refreshment Room, von Seetang und Bambussprossen in den chinesischen Restaurants. Heute sucht man das deutsche, das landsmannschaftliche aus allen eigenen Gauen, denn schon das ist vielgestaltig genug. In der oberen Friedrichstraße, nahe am Bahnhof, ist jetzt eine seit langen Jahren bestehende große Wirtschaft als "Das Haus der deutschen Heimat" neu hergerichtet. Schon außen ist eine Landkarte von Deutschland mit eingedruckten Speisekarten angeschlagen. Da gibt es vom Emdener Labskaus bis zum Schlesischen Himmelreich, vom Königsberger Fleck bis zum Bodensee-Blaufelchen, vom Münchener Spaten bis zum Radeberger Pilsener, vom Mainzer Handkäse bis zur Rügenwalder Spickgans, von dem Rheinischen Geröstel bis zu den Thüringer Klößen alle Spezialitäten. Jeder Deutsche, der in die Reichshauptstadt kommt, kann sich hier in irgendeinem Zimmer wie daheim bei Muttern fühlen.
Ich sitze gerade im Hansaraum, an dessen Decke die Wappen aller großen und kleinen Hansestädte prangen, unter dem gekrönten Doppelkreuz von Danzig. Da müßte man eigentlich zu Stremellachs ein Gläschen Goldwasser nehmen. Nebenan ist die Schlesische Baude, da sind alle Tische für eine große Schar von Schifreunden beiderlei Geschlechts vorbestellt, die denn auch braungebrannt alsbald sich einfinden. Auf die Ostfriesische Fischerstube, auf den Heidelberger Studentenkeller zeigt mit gestreckten Armen ein Wegweiser, und es gibt noch rund ein Dutzend anderer Säle. Es ist eine sehr vergnügliche Reise durch Deutschland, die man seinen Magen hier machen lassen kann; und wer an einem Gedenktag die Erinnerung an irgendeine Garnison, irgendeine Lehrstelle, irgendeine Universität, irgendeinen Bummel sich wachrufen will, der findet hier den gastronomischen Anknüpfungspunkt.
Man kriegt die Lust in die Ferne. Man möchte gleich ein Auto haben und zunächst mal an den Rhein. Warum hat man immer noch kein Auto? Der und der und der hat doch eins, der eigene Sohn will sich demnächst wieder eins zulegen. Tja . . . tja . . . Es ist das alte Lied: der eine hat den Beutel, der andre hat das Geld. Der eine bemüht sich, als kleiner Gehaltsempfänger bei einem Autovertreter Wagen zu verkaufen und andere kaufen sie wirklich. Und trotz des ungeheuren Aufwärts rangiert Kundenfang doch noch gleich hinter dem Kanalräumen.
Ich habe einen Blick in die Berliner Großvertretung einer weltbekannten deutschen Automarke tun können. Die Mitarbeiter haben nicht viel zu lachen. Der Generalrepräsentant obenan hat eine starke Zügelfaust.
Da sind etwa 36 ältere Verkäufer, die sogenannten Senioren, die zum Teil schon seit Jahren an dieser Stelle arbeiten, 200 Mark Monatsgehalt bekommen und 2 Prozent Provision von jedem durch sie verkauften Wagen. Da kann man, wenn man Durchschnittserfolge hat, schon an Heiraten denken. Aber nun die 24 Junioren, die freilich auch Gehalt, nämlich 100 Mark, bekommen und 1 Prozent Provision - in Aussicht haben, die werden in der Knochenmühle schnell verbraucht. Morgens um 8 Uhr wird angetreten, unbedingt pünktlich, denn sonst kann fristlose Entlassung folgen, und dann traben die Junioren los, mit Adressen von Leuten in der Hand, die sich ein Auto kaufen wollen oder wenigstens es kaufen könnten. Ein Verkauf gelingt nur selten. Die "sicheren" Sachen schnappen sich selbstverständlich die Senioren, und mancher Zahlungskräftige ist monatelang von einem Junior bekniet worden, der vielleicht schon längst ausgeschieden ist, wenn im nächsten Jahr ein Kauf erfolgt. Die Jagd nach dem Kunden, täglich, von früh bis spät, zermürbt. Dann gibt es abends noch häufig, manchmal bis 9 Uhr, Verkaufsschulung.
Zwei Junioren werden vor die Front gerufen.
"Also Sie sind der Generaldirektor Schwerreich, wollen ein Auto kaufen. Und Sie sind unser Vertreter, bieten unsere Marke an. Los!"
Nun versuchen beide ihr Bestes, der eine im Widerstand, der andere im Überreden. Da knurrt Herr Schwerreich: "Lassen Sie mich mit Ihrem popeligen Auto zufrieden, für mich kommt überhaupt nur Maybach-Zepp in Frage!" Was macht man da, was antwortet man? Es ist schwer, jemand ein fertiges Auto für vielleicht 6000 Mark anzudrehen, wenn er eines will, dessen Chassis allein rund 20 000 Mark kostet. Unserem Junior bricht der kalte Schweiß aus, er schweigt, und da erklingt messerscharf die Stimme des Verkaufsleiters:
"Ein bißchen dalli bitte, Geistesgegenwart, Verstand; wenn Sie nichts zu sagen wissen, sind Sie für uns unbrauchbar!"
Allen Menschen, die sich Vertreter nennen, gönne ich im Himmel einen besonders bequemen Großvaterstuhl; denn auf Erden sind sie die Gehetzten. Und wenn mir selber der kalte Schweiß ausbricht, weil an einem Vormittag schon zehn Vertreter da waren, die mir Wein oder Staubsauger oder ein Prachtkriegsalbum oder Rundfunkgerät anboten, und nun der elfte Unbekannte kommt, der mich "in persönlicher Angelegenheit" oder unter einem sonstigen Vorwand sprechen möchte, so kriege ich es doch nicht fertig, ihm die Tür vor der Nase zuschlagen zu lassen. Er soll wenigstens einen Händedruck, eine Zigarette und ein Wort des Bedauerns darüber bekommen, daß ich ihm wirklich nichts abkaufen könne.
Gewiß, davon "hat er nichts", aber er geht wenigstens aufrecht als Mensch und Volksgenosse und Kamerad davon, nicht als gescheuchter Hund. Wir alle sollten uns das Türschmettern abgewöhnen. Selbst wenn man etwas ablehnen muß, kann es mit einem kurzen, bestimmten, aber freundlichen Wort geschehen.
4. April 1935 (Donnerstag)
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Kränze am Ehrenmal - Der siebzigjährige Ludendorff - Vom Aufstieg der darstellenden Künstler - Moderner Bühnentanz - Bei den Proben im Marstall - Großsender Berlin-Tegel - Der gute Ton in der Untergrundbahn.
Das Ehrenmal Unter den Linden für die Gefallenen des Weltkrieges ist im Innern von einer erschreckenden Nüchternheit und Symbollosigkeit. Aber jetzt schmückt die Hinterwand wenigstens ein großes Holzkreuz, und allmählich gewöhnt man sich auch an das übrige, so wie es in ihrer pazifistischen Ängstlichkeit die Novemberrepublik gerade zuließ. Der lebendige Zusammenhang ist wieder da; denn täglich werden hier frische Kränze und Sträuße niedergelegt, so daß der Eindruck des übermäßig Kahlen dadurch gemildert wird. Nicht nur der Hergereiste, sondern auch der Berliner, der da vorüberkommt, hält es schon für selbstverständlich, mit abgezogenem Hut auf eine Weile einzutreten, "in stiller Andacht zu verweilen"; wenn je, so paßt dieser Ausdruck auf das Ehrenmal.
Die riesigen Schleifenbänder der Prachtkränze von führenden Verbänden und Personen fallen zunächst auf. Dann aber sucht man das Innige und freut sich etwa über die namenlose Inschrift auf weißer Seide: "Meinen drei fürs Vaterland gefallenen Brüdern. In stillem Gedenken ihre Schwester." Oder über die kleinen Blumensträußchen ohne Schleife, ohne Band, ohne Zettel, die irgendwer herbringt und still zwischen die lautredenden Gebilde von Lorbeer und Palmen niederlegt. Auch unter fremde Herrschaft geratene Deutsche bekennen hier ihre Liebe: "Ein elsässischer Fußartillerist seinen Kameraden." "Die sudetendeutschen Nationalsozialisten ihren Toten vom 4.März 1919." Ebenso grüßen ausländische Waffenbrüder. Auf einer Schleife mit Halbmond und Stern steht: "Ölüllermize hörmatlerle." Dieses türkische Wort - "in Ehrerbietung unseren Gefallenen" - gilt den mit der "Breslau" untergegangenen Seeleuten. Es ist nämlich gerade wieder einmal Jahrestag gewesen, und auch die früheren deutschen Angehörigen unserer Mittelmeer-Division sind mit ihrem Kranz zur Stelle. So ergänzt sich ständig der Blumenschmuck um den Gruftblock, und man hat täglich anderes zu sehen.
Auch vor der Neuen Wache, diesem ehedem klassischen Schinkel-Bau, der das Ehrenmal birgt, ist ja häufig etwas zu schauen. Bei der Hochzeit Görings, wobei Oper, Rathaus, Dom je einmal das Ziel der Auffahrt waren, stand wieder "halb Berlin" in dieser Gegend. Ein paar Wochen zuvor hatte man Mackensens ragende Figur vor der Neuen Wache gesehen, als zum erstenmal unsere Soldaten der neuen allgemeinen Wehrpflicht vorübermarschierten. Und nun ist der an Bevorzugung gewöhnte Berliner etwas erstaunt, daß nicht auch der siebzigjährige Ludendorff just hier geehrt wurde.
Aber daß er geehrt wurde, darüber freut sich jedermann.
Ich habe einmal einen Brief von ihm bekommen, den er mit "Ludendorff, der Mohr" unterschrieben hat; nämlich: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.
Eine grenzenlose Verbitterung, aus dem Jammer des verratenen Vaterlandes geboren, hat seither diesen Feldherrn beherrscht, leidenschaftlicher vielleicht noch, als es der Zorn Bismarcks nach 1890 war. Wir alle haben unter dem Zerwürfnis zwischen ihm und Hindenburg gelitten, wir haben kopfschüttelnd noch manches andere Zerwürfnis miterlebt, und so empfinden wir jetzt doppelt angenehm den Takt, mit dem bei der Feier des Siebzigjährigen mit keinem Wort von Politik und Religion die Rede war und nur die wehrhafte Nation ihren größten Soldaten ehrte. So mag es den Griechen vor Troja zumute gewesen sein, als ihr leuchtender Held Achilles, in tiefem Groll in sein Zelt vergraben, heraustrat und sich wieder ihnen schenkte; und wir brauchen Ludendorffs Rat und Tat.
Er ist übrigens nicht nur der militärische Fachmann gewesen. Gerade das Weltumfassende in seinem Wissen und Handeln war so verblüffend. Es erstreckte sich bis zu der in die Ruhequartiere der Abgekämpften zu bringenden Kunst. So wurde er sogar Maecen unserer reisenden Darsteller.
"Hängt die Wäsche weg, die Komödianten kommen!" So soll angeblich früher in Kleinstädten der Warnruf erschollen sein, wenn reisende Schauspielertrupps irgendwo eintrafen. Inzwischen haben die Mimen längst in die gute Gesellschaft Aufnahme gefunden. Ein bißchen länger hat es mit Tänzern und Tänzerinnen gedauert, die nach Justinianischem Recht nicht erben und mit freien Römern keine Ehe eingehen konnten und in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus in den Opernballetts hauptsächlich zur Ergötzung der Fürsten und ihrer Höfe da waren. Im 19. Jahrhundert aber heiratete ein Hohenzoller eine Tänzerin, der preußische Admiral Prinz Adalbert, Vetter Wilhelms I., die Therese Elßler. Das war die glänzendste Laufbahn, die je eine Tänzerin in Berlin gemacht hatte. Thereses Schwester Fanny, die berühmtere, blieb in Wien und blieb die ungeheiratete Geliebte des alten Hofrats v.Gentz. Das Ballettröckchen aus Gaze, Tütü genannt, war bis in unsere Aera hinein die hergebrachte Tracht dieser Damen, und ihre Kunst bestand eigentlich nur in einem Beintanz, so wie es in exotischen Ländern einen Handtanz oder einen Bauchtanz gibt; noch die dell'Era, die technisch hervorragend war bis in ihr Greisenalter hinein, hat darin an der Königlichen Oper in Berlin unter drei Kaisern brilliert.
Um es gleich vorwegzunehmen: heute sind Großmütter als Balletteusen nicht mehr zugelassen. An den preußischen Staatstheatern schwingt sich lauter junges Volk, auch bei den männlichen Tänzern, durch drei Dimensionen. Und alles Uniformierte, Maskenhafte, Formelgewordene ist gefallen: die Tanzszenen etwa in Tannhäusers Venusberg sind in Musik gelöste Freude und phantastisch schön.
Dazu ist der Beinzanz, der in kleinen Kabaretts noch sein artistisches Altenteil hat, hier nur Vorschule. Auf der Opernbühne ist der ganze Körper der Träger des tänzerischen Ausdrucks.
Was ist überhaupt der Tanz auf der Bühne?
Die Wiedergabe eines Gedankens oder einer Empfindung durch Bewegung.
Mary Wigman zwingt uns fast nur Ideen auf, Niddy Impekoven schwebt fast nur in Gefühlen. Der im Verbande unserer Staatsballetts angestellte Tänzer oder die Tänzerin dort aber werden durch beide Sphären geführt. Die choreographische Oberleitung der Preußischen Staatstheater, die in den Händen von Lizzie Maudrik liegt, züchtet den neuen Typ bis zur Vollendung. Der Tanz soll allen übrigen Künsten ebenbürtig werden; sein klassischer und sein moderner Ausdruck erfahren eine Synthese. Die Leistung jeder Gruppe wird gesteigert. Und die Hingabe und der Berufsernst, mit dem alles geschieht, trägt zur sozialen Hebung des Standes bei.
In dem ehemaligen Königlichen Marstall in der Breiten Straße gegenüber Rudolf Hertzog, mit zwei großen Fronten zum Schloßplatz und zur Spree, empfängt mich ein schlanker Herr, der sogar seinen Tanzdoktor gebaut hat. Seine Dissertation lautete: "Das tänzerische Erlebnis als Gestaltungsprinzip in sämtlichen Künsten." Der Herr Doktor assistiert Frau Maudrik in der Verwaltung, er ist als junger Mensch Tänzer geworden und ist stolz darauf. In einem Teil des riesigen Häuserblocks, in dem die verschiedensten Behörden und Verbände untergebracht sind, auch zahlreiche Familienwohnungen sich befinden, sind der Tanzgruppe - 30 Damen, 12 Kinder, 14 Herren - ein paar mächtige Säle eingeräumt, in denen früher die Galakutschen der fremden Botschafter und Gesandten ihren Unterstand hatten. Es kann auch sein, wenigstens ist es mir in der Erinnerung so, daß einer der Säle einst Reithalle für die Prinzessin Viktoria Luise war. Jedenfalls bin ich jetzt hingegangen, um mir anzusehen, welche Vorbereitung dazu gehört, damit wir Zuschauer nachher in der "Ägyptischen Helena" oder im "Rigoletto" oder in Rossinis "Wilhelm Tell" oder im "Tannhäuser" oder in einer anderen Oper den Rausch von Farbe, Musik, Bewegung bei den Tanzeinlagen empfinden.
Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt.
Noch niemals habe ich die Wahrheit dieses uralten Wortes so sinnfällig erlebt. Alles dampft, was hier 2½ Stunden an jedem Vormittag trainiert wird, alles hat schließlich feuchtglänzende Wangen. Ich will mich möglichst vorsichtig ausdrücken, indem ich wenigstens sage, daß die hohen Räume mit Menschendunst gesättigt sind. Das ist kein Wunder; die Tänzer und die Tänzerinnen werden scharf herangenommen. Eine Weile bin ich bei 10 jungen Männern mit fabelhaft muskulösen sehnigen Oberschenkeln, die bei der Assistentin modernes Training haben. Das Klavier hämmert, Trommeln aller Art unterhauen den Takt, die Tänzer - das ist einem sofort klar - bringen "Die Maschine" zum Ausdruck, einen dreizylindrigen Explosionsmotor, einen Kran, allerlei sonst noch. Man hört und spürt jeden Ruck, jede Spannung, jede Entladung, es ist ein onomatopoetisches tänzerisch-musikalisches Nachmalen, als Übungsstück in kraftvoller Rhythmik ganz ausgezeichnet. Die tänzerische Idee dominiert, die Musik ist nur begleitende Dienerin.
Eine halbe Stunde später bei der Tellprobe. Alles im Übungskostüm. Die etwa 20 Damen zum großen Teil nur in Büstenhalter und langem Hüftrock. Warm wird es ohnehin. Und Frau Maudrik, die selbst der Probe beiwohnt, korrigiert und läßt vielfach wiederholen. "So, nun noch mal Willi, Gerda, Rita ihre Szene!" "Und eins, zwei, drei, ba - ba - ba!" "Von Anfang an noch einmal!" "Bein einwärts drehn und auswärts, eins, zwei!" Jedermann ist mit leuchtendem Gesicht bei der Sache, jedermann arbeitet mit Hingebung, auch in der Pause pirouettiert die eine noch im Spitzentanz, übt der andere noch den Beinschwung an der Stange, macht die dritte einen Schleuderschritt oder Kreuzsprung, aber viele kauern sich auch hin und tupfen mit dem Taschentuch die nasse Stirn.
Wir Laien sehen nachher nur das scheinbar mühelose Daherflattern, Emporschnellen, Einhergleiten auf der Bühne. Wir ahnen nicht, wie unendlich viel mühsame Vorbereitung und ermüdende Muskelarbeit dem vorangeht.
Nietzsche hat gut reden vom Dionysischen Tanz. Er sollte vom Elysium herunterkommen in den Marstall.
Im Film sehen wir oft tanzen, aber es ist Gesellschaftstanz oder Variététanz, bis zu der gedrillten Masse wedelndes Bein, Girls genannt. Die getanzte Gedankenlyrik unserer modernen Bühne, von der "Josephslegende" angefangen, ist da noch nicht heimisch geworden. Vielleicht bringt das mal der Fernsehsender, für den ja auch bald ein Volksempfänger da sein wird. Der Berliner Funkturm im Westen, zwischen Kaiserdamm und Avus, hat es nur noch mit Fernsehsendung zu tun. Was wir sonst an Musik und Sprache übermittelt bekommen, das macht in Berlin der Großfunksender Tegel, dessen aus Pitchpine erbauter hölzerner Antennenturm mit seinen 165 Metern übrigens das höchste Gebäude Deutschlands ist, noch das Ulmer Münster um einige Meter überragt. Ich habe mir das technische Wunderwerk dieses Senders im Norden der Jungfernheide, der in seiner Einsamkeit von Soldaten des Postschutzes bewacht wird, angesehen, er ist mit seinen sinnverwirrenden maschinellen Anlagen rätselhaft und sauber wie ein deutsches Kriegsschiff, auf dem der Laie auch aus einem Staunen ins andere gerät und das wenigste begreift.
Also jede Großleistungsröhre hier kostet 23 000 Mark. Von der Sendekraft, bis zu 300 Kilowatt sind möglich, werden 100 Kilowatt ausgenutzt. Die Welle hat 84 100 Schwingungen in der Sekunde.
Das ist leider für mich chinesisch. Ich stehe nur vor den Wänden aus splittersicherem Glas, die alle die Maschinen umgeben - "Achtung, Hochspannung, Lebensgefahr" -, und wundere mich, wie die Töne und Worte, die vom Funkhaus in der Masurenallee in Charlottenburg telephonisch hierherkommen, auf den vom Tegeler Großsender erzeugten Wellen weiterschaukeln, im selben Moment bis nach Tokio hin. Man macht mich auf glühendes Anodenblech aufmerksam und allerlei sonst noch. Jawohl, jawohl, danke sehr.
Zurück der Weg durch das Wäldchen - aus dem Süden leuchtet der Scheinwerfer des Funkturms herüber - und dann mit der Straßenbahn 25 zur Seestraße, wo die Untergrund-Haltestelle winkt. So kommt man wieder heim. Keine andere Großstadt hat einen Riesensender so nahe, und diesen hier darf man in jedem Monat an bestimmten Tagen besuchen. Die Führung besorgt der Berliner Verkehrsverein. Aber nur sehr wenige Berliner sind wißbegierig. Mit mir zusammen waren fast lauter Auswärtige in Tegel. In der Untergrundbahn kommt ein redseliger alter Nachbar mit mir ins Gespräch, dem ich das mit Bedauern erzähle. Er meint aber nur: "Det is eemd, die Fremden missen sich belern'n, wir Bealina sin von alleene schlau!" Am Halleschen Tor bietet er mir eine Zigarette an. Ich lehne dankend ab. Aber da sagt er überzeugend: "Nu man nich so bleede, det valangt doch schon der jute bong tong!"
11. April 1935 (Donnerstag)
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