"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 22 - 24
7. bis 21. März 1935


22

Der ernsthafte Norddeutsche - Fasching im Rundfunk - Geistige Getränke oder Geist ? - Auf dem Maskenfest der Presse - "Barcarole" - Der Schwedenschwank in der Volksbühne.

"'n bißken anjebufft!", sagt der Berliner, wenn er in der Fastnachtszeit eine vermummte Gestalt zur nächsten Droschke eilen sieht. Er meint: etwas verrückt. Ein normaler Mensch macht solche Faxen nicht, nicht wahr?

Zeigen sich die Kostümierten oder Maskierten schon abends nur verschämt auf dem Wege zum Auto, so ist es ganz ausgeschlossen, daß jemand am Tage sich so hinauswagte. Berlin ist nüchtern und sauber. Auch am Morgen des Aschermittwochs hängen keine Papierschlangen von den Lichtmasten und den Balkons herunter. Etwas karnevalistische Ausgelassenheit gibt es hierzulande nur am Silvesterabend. Sonst ist man korrekt. Und wenn eine Berliner große Zeitung diesmal am Faschingsausgang schrieb: "Man schied mit der Überzeugung, daß der echte, volksverbundene Karneval auch in Berlin eine bleibende Stätte gefunden hat", so ist das eine hohle Phrase, keine gewissenhafte Erkundung. Das Volk im Norden kennt nicht die Entfesselung der Lust auf der Straße und von Lokal zu Lokal zwischen Wildfremden. "Erlau'm Se mal!", würde der Berliner drohend sagen, wenn ihn jemand auch nur duzte oder gar seinem Mädel oder seiner Frau ein fröhliches Wort zuriefe.

Als junger Mensch wurde ich aus Ostpreußen in den Südwesten des Reiches versetzt. Ich kam am Rosenmontag an und ging in eine große Bierwirtschaft. Da saß am Vormittag in voller Uniform die Kapelle eines Bataillons des Grenadierregiments 110 [Garnison Heidelberg] auf der Bühne, machte höllischen Spektakel und hatte - Narrenkappen auf den Köpfen! Es fehlte nicht viel, so hätte ich den Musikmeister festgestellt, um ihn zu melden. In wenigen Stunden hatte ich freilich schon umgelernt. Unter Verrückten muß man verrückt sein, sonst verliert man seinen Verstand, also saß ich schon am nächsten Tage kostümiert auf dem Pferd einer gemieteten Droschke, während der Kutscher im Wagen sein Pfeifchen schmauchte und sich behaglich durch die Hauptstraße fahren ließ.

Das ist in Berlin ganz undenkbar. Der nächste Schutzmann würde einen herunterholen. Wegen groben Unfugs, wegen Verkehrsgefährdung, was weiß ich! Volksverbundenheit ist nicht Narrenverbrüderung. Das ist für den Berliner eine ganz fremde Welt.

Am Rundfunk lauscht er in sich hinein, so wie man zu seiner Belehrung sich einen Kulturfilm aus Abessinien oder von der Südsee vorführen läßt. Komische Sache das da in Köln oder Mainz oder München. Verrückt. Eine Weile kann man sich das ja gefallen lassen, es ist ganz ulkig, aber schließlich sagt Vater: "Stellt das Zeug doch ab, sucht mal, vielleicht gibt es irgendwo anständige Tanzmusik!" Nur den Töchtern kribbelt es. So etwas möchten sie mal miterleben, und am Ende wird im Familienrat beschlossen, daß man doch irgendein Maskenvergnügen aufsucht. Aber nur nicht in Verkleidung über die Straße, denn was sollten da die Nachbarn sagen, also Minna holt eine Autodroschke bis vor die Haustür heran. Husch, husch!

Und dann sitzt man in irgendeinem Verein, denn jeder Verein hat natürlich in geschlossenem Raume sein Fastnachtsvergnügen, und man studiert ernsthaft die Weinkarte und man kritisiert ernsthaft die Kostüme.

So fängt das an. Manchmal wird es lustig. Oder man mopst sich.

Es fehlt im Norden an dem inneren Gelöstsein; es gehört da schon eine Menge Alkohol dazu, um die Hemmungen des Alltags wegzuspülen, wo der Süddeutsche oder der Rheinländer schon aufgekratzt ist, ehe er auch nur einen Tropfen Wein genossen hat. Nicht geistige Getränke, sondern Geist und Laune schaffen es. Betrinken kann man sich ja außerdem, aber nötig ist das nicht, um faschingstrunken zu sein. An einer Stelle in Berlin, im Haus der deutschen Presse in der Tiergartenstraße, gab es freilich am Fastnachtsdienstag diese Beschwingtheit. Der Führer des Landesverbandes, Chefredakteur Karoly Kampmann, hat den Berlinern einmal gezeigt, wie man so etwas aufmacht, und er fand eifrige, tatendurstige, humorgeladene Mitarbeiter. Viele Tage und zuletzt auch Nächte hatten die vereinigten Berliner Pressezeichner an der grotesken Ausschmückung der Säle, vor allem mit Riesenmasken, die von innen her erleuchtet waren, gewirkt; und C.M.Köhn hatte ein geistsprühendes, unerhört kurzweiliges Kurzspiel - einen Sketch nennt man das - beigesteuert, "Der Kritiker", das unter tosendem Beifall über die Bühne ging. Er und sie (der Kritiker und seine Frau) und das Telephon daheim nach der Première. Darsteller: Günther Ballier und Anneliese Impekoven. Unter welchen Bedingtheiten, unter welchen Rücksichten, unter welchen Eingriffen, unter welchen Wehen heute eine Nachtkritik geboren wird, das wird bis zu schonungsloser Selbstverspottung hier dargestellt; und der Schluß ist so verblüffend, so überraschend, daß das kundige Publikum vor Lachen schreit.

Es hatte sich schon vorher herumgesprochen, wie es hier - auch ohne Schaumwein, denn man trank meist sein Bier - überschäumen würde. Nur 840 Personen, die sich rechtzeitig die Karten zu 3 Mark gesichert hatten, fanden Einlaß; am Abend selbst mußten alle übrigen zurückgewiesen werden, obwohl einzelne bis zu 50 Mark für den Eintritt boten. Auch wenn sie erst später kommen dürften, auch wenn sie nur in der Kaschemme ein Plätzchen bei Buletten und Salzgurken fänden. Nichts zu machen. Wer aber glücklich innen gelandet war und beispielsweise den ersten deutschen Stummfilm, "Weihnachten", mit Henny Porten in der Hauptrolle - aus unvordenklichen Vorkriegszeiten, zum Wälzen komisch - aus dem Archiv der Ufa sich angesehen hatte, der blieb innerlich der Lust verhaftet und ging nicht vor 7 Uhr früh.

Der eigentliche Mummenschanz? Je nun, es gab auch einen altgriechischen Krieger mit mächtiger Raupe auf dem Goldhelm, aus der "Schönen Helena" wie ausgeschnitten, aber im übrigen ist historisches zur Zeit wenig gefragt. Das Biedermeierkostüm von Frau Kapellmeister Kermbach, ja, das erregt freudiges Aufblicken. Ganz entzückend eine junge Frau als Eton Boy, mit dem Zylinder auf dem Kopf, der einst für Renate Müller in einer ihrer Filmrollen angefertigt war. Die Frau des Hauptmanns a.D. Weiß, des Präsidenten der deutschen Schriftleiter, in einem modernen Phantasiekostüm in Schwarz und Grün, geladen mit Münchener Lustigkeit. Tatsächlich nicht zu erkennen auch nach Demaskierung der Chefredakteur der Berliner Illustrierten Nachtausgabe, Lucke, der sich als Italiener mit schwarzem Schnurrbart eingefunden hat.

Überall tauchen anfangs unkenntliche Bekannte auf. Da geht Professor Straumer, der Erbauer des Funkturms, mit Prinz und Prinzessin Bentheim einher. Da stürzen sich, einheitlich in Brigantentracht mit Pistolen, die Redakteure des Völkischen Beobachters auf ihren Hauptmann Weiß. Ihm hülfe keine Tarnkappe, ihn als Schwerkriegsbeschädigten mit dem Stock rekognosziert man sofort, also begnügt er sich mit einem Juhuhütchen. Auch einige erfrischend kecke Kostüme sieht man. Der selige Frauenkenner Recznizek könnte sie entworfen haben.

Diesen ganzen Trubel hätte man filmen sollen. Als Nachweis dafür, daß auch in Preußisch-Berlin, wenn auch nicht auf offener Straße, so etwas wie Stimmung sein kann. Im Kino sehen wir ja doch nur gestellte Bilder.

Sehr schön gestellt sind sie in der "Barcarole", deren Drehbuch der große und echte Dichter Gerhard Menzel verfaßt hat und deren Gondel-Poesie die Ufaleute gut eingefangen haben. Ich bin auch leicht davon zu überzeugen, daß dieser Film mit dem Schauplatz Venedig ein starker Publikumserfolg werden wird, aber ich kann mir nicht helfen: er ist so gräßlich unwahrscheinlich.

Vielleicht wird er gerade deshalb ein Bombengeschäft. Nicht photographierte Wirklichkeit, sondern Einbildung und Wunschtraum sollen über die Leinewand gleiten. Jedes Ladenfräulein wird sagen: ja, so geht es bei feinen Leuten zu.

Im Spielklub eines alten Palazzos in Venedig verkehrt eine internationale Gesellschaft, ein reicher Mexikaner darunter, der mit einer engelgleichen Venezianerin verheiratet ist, und ein junger österreichischer Graf, der, ein moderner Casanova, unerhörtes Glück bei den Frauen hat. Überhaupt Glück. Auch im Spiel. Er ist seines Glücks so sicher, daß er in die Trommel eines sechsläufigen Revolvers ein Geschoß laden läßt, die Trommel dann in ungezählte Umdrehungen versetzt, den Revolver an die Schläfe setzt und abdrückt: selbstverständlich knackt es blind, das Geschoß sitzt erst in der nächsten Kammer. Selbstverständlich wird er auch Glück bei der Tugendreichen haben, noch in dieser Faschingsnacht. Wetten? Jedermann setzt 1000 Lire! Der mexikanische Gatte erscheint in diesem Augenblick, hört es, und wettet mit, um des Grafen Leben: verliere dieser die Wette, so habe am nächsten Morgen der Gatte den ersten Schuß auf ihn. Diese ganze ungeheuerliche Frivolität schlägt aber, das "läßt sich machen", plötzlich in zarteste Romantik um. Die beiden jungen Leute, die sich in dieser Nacht, mitten im berauschenden Fasching, erst kennenlernen, bekommen es mit der Liebe auf den ersten Blick, die Venezianerin ist fast schon des Grafen, aber dessen Liebe ist so groß, daß er sich opfert, die Frau unberührt läßt und am nächsten Morgen als Verlierer die tödliche Kugel im Duell erhält.

Ob so viel Edelmut bubbern alle Herzchen im Parkett.

Das "Duell" findet im Spielsaal statt, vor allen internationalen Jeuratten, aber ohne Zuziehung eines Arztes. Der junge Graf, der noch seine Motive erklären kann, verblutet in den Armen eines Freundes, ohne daß überhaupt jemand nach der Wunde sieht. Nein, das ist eine solche Häufung von Unmöglichkeiten, daß ich da einfach nicht mehr mitkann.

Da lobe ich mir denn schon mehr die saftige Realistik des Schweden Hjalmar Bergman - er ist vor einigen Jahren in Deutschland gestorben - in seiner Komödie (es ist eigentlich ein Schwank) "Seiner Gnaden Testament", das jetzt in der Volksbühne mit Eugen Klöpfer, Lucie Höflich, Jakob Tiedtke, Alexander Golling und anderen großen Darstellern gegeben wird. Ablösung für "Krach um Jolanthe"! Auch Bergmans Komödie könnte es auf 500 Aufführungen allein in Berlin und auf Hunderttausende von Lachern bringen. Es ist nordische Art - man denke nur an der Undset "Kristin Lavranstochter" oder an der Lagerlöf "Gösta Berling" -, die Dinge beim Namen zu nennen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps und ein "lediges" Kind ist ein lediges Kind, und wenn der Vater, Seine Gnaden der Herr Oberst a.D. und Kammerherr, es zur Alleinerbin machen will, so kann seine Schwester, die verwitwete Dompröpstin, halt nichts machen.

Es ist fabelhaft, was für - auch szenisch - kostbare Aufführungen es heute zu billigsten Eintrittspreisen gibt. Der Parkettplatz zu 4 Mark kostet im Abonnement nur 1,40 Mark. Mit einem Behagen sondergleichen wird das genossen. Das nötige "zum Präpeln" bringt man sich mit; ohne Fütterung kein Vergnügen. Belegte Brote, Stullen, wie der Berliner es nennt. Links von mir hat eine Dame Schinken mit reichlich Speck, den sie durch die Zähne zieht, aber dann nimmt sie ihr Taschentuch und reibt sich so lange die Finger, bis sie nicht mehr glänzen. Und vor mir unterhalten zwei Frauen sich eindringlich und bedeutsam:

"Da ha'ck zu ihn' jesaacht, Herr Neumann, ha'ck jesaacht . . ."
7. März 1935 (Donnerstag)


23

Die "Traviata" auf neu - Frühere Cameliendamen - Das Erlebnis Schmeling-Hamas am Rundfunk - Ein Angsttraum - Fünfhundert Westend-Mädels singen und mimen - Vom Referendarlager - Frühjahrsmodenschau im Kaiserhof - Die zwei im Pschorrbräu.

Noch sechs Minuten Zeit. Noch drei. Noch zwei. Herrgott, eigentlich müßte ich schon weg, die Autodroschke wartet unten, die Neuinszenierung von Verdis "Traviata" im Deutschen Opernhaus in Charlottenburg soll ich doch besprechen. Das ist Dumas' Cameliendame in Musik gesetzt. Ohne Musik habe ich außer vielen deutschen Schauspielerinnen die Duse und die Bernhardt in der Rolle gesehen. Eleonora Duse, mit ein paar ergrauten Strähnen in ihrem schwarzen Haar, ohne ein Tröpfchen Schminke oder ein Stäubchen Puder, sah sicher nicht aus wie eine junge Pariser Kurtisane, wirkte aber ergreifend durch ihre unvergleichliche Menschendarstellung, durch ihr - anders vermag ich es nicht auszudrücken - offen zuckendes Herz. Sarah Bernhardt dagegen, in voller Kriegsbemalung, gab das Mädchen in der gewohnten Aufmachung, eine getünchte Leiche, so daß man lieber die Augen schloß und nur dem Wohllaut der Sprache lauschte. Beide Künstlerinnen spielten in Kostümen, die der Entstehungszeit des Stückes angemessen waren. Also der Zeit um 1852 herum. So kann man es vertragen, daß eine Dame der Halbwelt sozusagen Hof hält, daß sogenannte gute Gesellschaft bei ihr verkehrt, denn man kennt doch die verlogen sentimentale Literatur von damals, die den wohltätigen Räuber, die edle Dirne, den weichherzigen Mörder auf das Piedestal erhob. Das Deutsche Opernhaus dagegen bringt die Moden von heute auf die Bühne. Das befremdet. Dafür entschädigt der 3.Akt wenigstens mit einem unerhört bunten Maskenball und Tänzen im Revuestil, so daß das Auge reichlich gesättigt wird.

Also ich bin wirklich rechtzeitig dagewesen. Es hielt schwer. Denn ich saß, fern vom Speisezimmer, daheim am Rundfunk, Butterbrot und Tasse Tee auf dem Schoß, und konnte mich nicht losreißen. "Sechste Runde . . . Schmeling eisern ruhig . . . wieder eine Serie rechts-links . . . Hamas wird weich in den Knien . . . er hängt an den Seilen . . . erlösender Gongschlag." Das zieht magnetisch an. Ganz Berlin hat, die übrige Welt wohl auch, an jenem Sonntag vor Lautsprechern gefiebert. Ich habe mein Lebtag "den" Faust "der" Faust vorgezogen, obwohl ich allerlei Sport eifrig betrieben habe, aber hier kommt man nicht los. Der stärkste Schläger vielleicht aller Völker ein Deutscher: Sache! Wenn das wirklich nur viehisch wäre, hätten die alten Griechen den Faustkampf nicht in den olympischen Spielen geduldet, nicht in den Gymnasien gepflegt.

Und jedermann gönnt Maxe die 83 000 Mark für diesen neuen Boxsieg. Wenn Schmidts eine kleine Gehaltszulage bekommen, sind Müllers neidisch, aber niemand wirft Schmeling seine Millionen vor. Er hat ein Schloß in der Mark, er will sich ein neues in der böhmischen Heimat seiner jungen Frau kaufen, bitte sehr. Und wenn es 240 000 Mark kosten sollte! Hat jemand etwas dagegen?

Nur wandelt niemand ungestraft unter Palmen, wird mancher für sein Mitfiebern bei der Weltmeisterauslese gepönt. Auch ich. Und zwar in der Nacht darauf durch einen wirren, bösen Angsttraum.

Also ich stand vor meiner Habilitation als Privatdozent der Philosophie an der Universität Berlin und überhörte mich im Traum, daß ich die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde gut erklären konnte. Auch fiel mir dabei angenehm auf, daß seit Nietzsche eigentlich niemand ein klareres Deutsch gesprochen hätte. Aber nun kam das Sonderbare. Erstens hatte ich zwar meinen Frack an, aber darunter bloß ein Sporthose. Zweitens bildete sich, aus irgendeinem Urnebel heraus, ein Halbkreis von Examinatoren vor mir, die schweigend, mit "Hüften fest", Kniebeugen machten, zuerst langsam, dann immer schneller und schneller, daß mir die Augen zu flimmern begannen. Auf einmal erstarrte die Reihe der Professoren. Der längste von ihnen - seine Stimme klang, wie ausgelassenes Fett riecht - fragte mich: "Wieviel Runden haben Sie gegen Heuser durchgestanden?" Qualvolle Pause. Dann: "Können Sie nach der Riesenwelle mit Doppelsalto abgehen?" Ich war wie vernichtet, ich wollte gerade stottern, daß ich einst auf der Eisbahn gegen Norweger und Engländer 1000 Meter in fast Weltrekordzeit gewonnen hätte, den Ehrenpreis hätte ich noch, aber da packte mich der Lange am Bein und schlang ein Bandmaß herum. "Nur 41 Zentimeter Wadenumfang!", rief er gellend. "Und der will Philosoph werden?", kicherten die anderen höhnisch. "Aber es ist kein Lot Fett daran!", keuchte ich erregt. Niemand hörte darauf. Die Herren gingen erneut in tiefe Kniebeuge, schnellten empor, sanken zusammen, es wurde wieder ein Wirbel von Auf und Nieder, alles wortlos und verbissen. Allmählich wurde es wieder nebelhaft. Von meinen Frackschößen tropfte schmerzhaft der Schweiß, der direkt aus dem Gehirnschmalz da herunterrann.

Einfach scheußlich. Ich habe zwei Tage Ablenkung gebraucht, um mich von dem Traum zu erholen. Zuerst in einer Aufführung der Westendschule, dann auf der Modenschau im Kaiserhof. Nun bin ich frisch.

Am westlichsten Rande der Stadt, nicht mehr allzuweit von der bisherigen Rennbahn Grunewald, der kommenden Olympiastätte, steht die große Mädchenschule, die von den Kindern aus den Villen der Heerstraße und der Gegend um den Adolf-Hitler-Platz herum besucht wird; es mögen wohl über 500 Töchter sein. Im Treppenhaus fällt mir mein Traum wieder ein, denn da prangen Ehrenpreise und Urkunden über Sportsiege der Westend-Mädels, meist im Staffellauf. Aber ich bin ja wach. Jetzt empfinde ich nur Freude über dieses blühende, sprühende Leben. Und die Kinder - von den ganz lütten bis zu den ganz grooten - wollen uns hier auch nichts Sportliches zeigen, sondern etwas ungeheuer diszipliniertes auf künstlerischem Gebiete. Musik aus großer Zeit: Chöre, Orchester und Tanzpantomimen. In Ton und Bild zuerst die Epoche Friedrichs des Großen, dann die der Befreiungskriege, zuletzt die der heutigen nationalen Revolution, alles sehr sinnvoll, sehr farbenprächtig, außerordentlich gewollt und gut gekonnt. Alle Achtung vor allem vor der stämmigen Musiklehrerin Margarete Funk, zu deren dirigierendem Arm Hunderte gläubiger Kinderaugen emporsehen; sie hat die einzelnen, die Gruppen, die Massen wirklich großartig einexerziert.

"Was für ein Heidengeld müssen aber allein, wenn es auch nur Leihgebühr sein sollte, die historischen Kostüme und die modernen Landestrachten gekostet haben, dazu Kulissen, Fahnen, Ausschmückung?"

"Natürlich ein Heidengeld, aber das war schon am ersten Tage durch die Eintrittskarten herein, denn die Aula faßt 1200 Personen, und den Ertrag des dritten Tages bekommt ungekürzt die Winterhilfe."

Die Leistung ist ganz erstaunlich. Mir hat am meisten der Teil aus den Befreiungskriegen gefallen. Noch nie hörte ich von Mädchenlippen so hinreißend, so voll Freude am Heroischen das "Du Schwert an meiner Linken" im Chore singen, selten sah ich so viel Anmut im Tänzerischen auf der Liebhaberbühne. Aber es ist klar, daß eine Ausnahmeleistung auf einem Sondergebiet nur durch Opfer erkauft werden kann. Manche reguläre Schulstunde ist der Frau Funk zum Opfer gefallen, es hat ganze schulfreie Tage gegeben, die der Vorbereitung dieser Aufführung galten, und seit einem halben Jahre hat man daran gearbeitet. Man muß sich auf ein Ziel konzentrieren. Max Schmeling mag neben seinem Boxen auch noch ein bißchen filmen, aber man kann von ihm nicht verlangen, daß er etwa ein musiktheoretisches Werk verfaßt. Professor Mommsen war Jurist, nicht Historiker, und hat trotzdem fast die beste Geschichte Roms geschrieben, aber er hätte es nicht gekonnt, wenn er sich als Tennis-Trainer beschäftigt hätte.

Wir wollen in einem gesunden Körper, der nicht vernachlässigt werden darf, einen gesunden Geist. Das Geistige in geistigen Berufen hintanzusetzen, wäre hinwiederum Übertreibung. Daß darin eine Gefahr für unsere Kultur läge, wird hie und da erkannt. Im Referendarlager in Jüterbog hausten die jungen Herren bisher die letzten Wochen vor der Assessorprüfung, ohne daß sie Bücher dahin mitnehmen durften. Jetzt hat der Reichsjustizminister den Termin vorverlegt, auch das Verbot wissenschaftlicher Beschäftigung wieder aufgehoben.

Die Sportpflege in den Schulen, die vormilitärische Erziehung der Jugend, die hoffentlich bald kommende allgemeine Wehrpflicht müssen genügen, um uns körperlich für den Lebenskampf zu ertüchtigen.

Auch der Student muß wirklich studieren können.

Über das Nur-Intellektuelle, über das Gezierte, über das Affige, über die Muskelverachtung sind wir sowieso endgültig hinaus. Die zwei Jahre neuer Weltanschauung haben uns gelehrt, wieviel Wert die vollkommene körperlich-geistige Durchbildung hat. Sie haben uns auch an schlichtere Formen in der Geselligkeit, ja selbst in der Mode gewöhnt. Man sieht auf den Straßen immer weniger maskenhafte, grell übermalte Gesichter, und auch in Figur und Kleidung wird die Fraulichkeit geschätzt. Die zum Plättbrett schmalgehungerte Dame ist nicht mehr das Ideal. Unter den 14 Mannequins, die auf der Michels-Frühjahrs-Modenschau im Hotel Kaiserhof 141 Vormittags-, Sport-, Nachmittags-, Abendkleider vorführen, also sich zehnmal umkleiden und über die Brücken in den Sälen daherwandeln müssen, eine achtbare Leistung, sehe ich eine, die hat sogar ein Doppelkinn und sonstige Rundungen, die darauf schließen lassen, daß Schlagsahne wieder erlaubt ist. Auch die übrigen Vorführdamen erfreuen sich fast durchweg eines nahezu in Vergessenheit geratenen Körperteils, den die Dichter einen Busen zu nennen pflegen, und sie schwänzeln nicht mehr schlenkrig daher, sondern sie schreiten daher. Es steckt nicht mehr nur Angebot, sondern Selbstbewußtsein in diesem Gang.

Im übrigen ist die Mode sehr farbenfreudig geworden, manchmal möchte man sie schon fast papageienhaft bunt nennen. Die absolute Vorherrschaft des Schwarz-Weiß ist gebrochen, auch wenn es noch manche, namentlich Gesellschaftskleider dieser Art gibt. In den verschiedensten Formen zeigt sich zu jedem Anzug das Cape, kurz oder lang. Und, o Wunder über Wunder, das Fiffihütchen wird von dem breitrandigen Hut bei gewählter Kleidung glatt aus dem Felde geschlagen.

Berlin ist in diesen Dingen nicht so tonangebend wie Paris oder Wien, aber es kann es werden. Wer im kommenden Frühling die Reichshauptstadt besucht, der wird vielleicht schon so etwas wie eine deutsche Note bei der Berlinerin feststellen.

Manchmal stellt er auch etwas anderes bei ihr fest. Da hat ein sonst ganz gewitzter Herr aus der Provinz, der neben mir im Hotel Kaiserhof seinen Kaffee trinkt, abends ein absonderliches Erlebnis gehabt. Er geht ins Pschorrbräu am Potsdamer Platz, zu gleicher Zeit mit ihm betritt eine fremde Dame das Lokal. Er erspäht den einzigen noch freien Tisch und setzt sich daran, sie nimmt gegenüber Platz. Beide verneigen sich als höfliche Menschen und nehmen im übrigen keine Notiz voneinander. Der Kellner kommt, sie bestellt ihr Essen, der Herr aus der Provinz das seinige. Als sie fertig ist, steht sie auf und geht. Auch der Herr ist so weit. "Ober, zahlen!"  "Bitte sehr." Der Kellner überreicht die Rechnung - für beide.

"Wie komme ich dazu?", fragt der Gast.

"Ja, die Dame gehört doch zu Ihnen!"

"Keine Spur, haben sie nicht bemerkt, daß ich kein Wort mit der Dame gesprochen habe?"

"Das schon, aber ich dachte eben, die Herrschaften sind verheiratet."
14. März 1935 (Donnerstag)


24

Es staubt von Neubauten - Haverlands Festsäle - Etwas vom Rauchen - Wehrfrühling und Heldengedenktag - Während der Verdunkelung - Minna von Barnhelm.

Ein bißchen staubig wird es vielleicht in diesem Sommer werden. Überall in Berlin stößt man auf Baugruben, überall wird geschachtet, gebuddelt, überall ersteht neues.

Zum Olympia 1936 wird es, wie ich schon erzählte, Unter den Linden das altberühmte Weinrestaurant Hiller nicht mehr geben, sondern an seiner Stelle einen Zugang zu der geplanten Untergrundstation, die dann schon fertig sein soll. In der Wilhelmstraße hinter der langgestreckten Front des ehemaligen Kriegsministeriums gähnen dort, wo bisher alte Bäume standen, unter denen ich einst mit General v.Einem und seinem damals noch kleinen Sohn daherspaziert bin, tief aufgerissene Schlünde. Weiter: das Wasser des Landwehrkanals muß einen Hopser machen, wird in mächtigen Röhren aufgesaugt und ein Stück weiter wieder ausgespien, weil dazwischen eine trockene Stelle für den Bau eines Tieftunnels gebraucht wird, durch den stündlich 48 Vorortzüge sausen sollen. Rund um Berlin liegen Berge von Schotter für den Straßenbau, wachsen Randsiedelungen empor, in der Stadt selbst klafft eine Riesenwunde im Erdreich an der Spree, wo die Fundamente für die neue Reichsbank gelegt werden.

Und mitten im Zentrum, dicht an der Zentralmarkthalle, sollen in diesem April Haverlands Festsäle verschwinden, um Raum für einen Platz zu schaffen, auf dem die Lieferautos auffahren können, die heute die Gegend verstopfen.

Buggenhagen am Moritzplatz, Haverland an der Markthalle, es gibt noch so einige Lokale, die für den Urberliner etwas bedeuten.

Haverlands Festsäle sind in demselben Jahre geboren wie der alte Kaiser, 1797, als Berlin noch eine Kleinstadt war und diese Säle als Palast erschienen. Ein Gesellschaftshaus, so nannte man das damals. "Hia ha' ick dunnemals jeden Sonntach jedanzt!", erzählt mir versonnen lächelnd eine Achtzigjährige aus ihrer Zeit als Achtzehnjährige. Mit dem öffentlichen Tanz ist es schon seit langen Jahren zu Ende, die Säle sind täglich von Vereinen für geschlossene Veranstaltungen besetzt. Hier hat der jetzige Oberpräsident Kube vor ehemaligen Bismarckbündlern gesprochen, hier hat die Nationalsozialistische Partei ihre erste große Versammlung in der Reichshauptstadt abgehalten. Studentische Verbindungen hatten bei Haverland in größeren oder kleineren Zimmern ihr Heim, ehe sie eigene Häuser erwarben, und noch heute stehen im Keller zuhauf verlassene, vergessene, nicht mitgenommene, treulich aufbewahrte Schoppen, Krüge, Gläser mit Wappen und Zirkel. Pünktlich am 1.April muß das Gebäude, weil dann der Abbruch beginnt, geräumt sein, aber noch am 31.März feiert hier ein großer Gesangverein.

Ich gehe unten durch die Wirtschaft, durch die Vereinszimmer mit ihren hundert Andenken, ich stehe dann oben im Hauptsaal, in dem alles gerade mit frischen Blumen und mit Fahnen dekoriert wird, denn am Abend soll hier das Kameradschaftstreffen der Markthallenarbeiter und Standinhaber stattfinden. Soll auch ich eine Träne der historischen Rührung zerdrücken? "Komm', Karlineken, komm', wir woll'n nach Pankow gehn . . ."

In der sogenannten guten alten Zeit, in der das Rauchen auf der Straße in Berlin noch verboten war, so vor hundert Jahren, hatten verschiedene ehrsame Bürger bei Haverland - der heutige letzte Inhaber heißt Pohl - ihre eigenen Stammpfeifen in Wandschränkchen. Es hatte ja damals jedermann viele; noch bei Bismarck in Varzin habe ich nicht weniger als acht um den Tabaksbeutel herum im Ständer gesehen. Da stopfte man also seinen Varinas oder Vincent oder Domingo oder Maracaibo aus dem schönen Porzellantopf bedächtig in die Pfeife, unten locker, oben fest, denn auch das war eine Kunst, weil man sonst zu schnell das köstliche Kraut verpaffte. In den Erinnerungen des Alten Mannes, des Malers v.Kügelgen, kann man nachlesen, wie er seinen ersten Rauchunterricht von dem Pastor Roller bekam. Die Lust dazu liege in der männlichen Natur, soweit sie unverderbt sei: "Nur Weichlinge und Schwachköpfe verleugnen sie!"

Diese Pfarrerworte sind sicherlich nicht ex kathedra gesprochen, haben nicht den Charakter der Unfehlbarkeit. Ich gebe gern zu, daß das Rauchen nur eine Ablenkung für den ist, der ihrer bedarf. "Das schwache Geschlecht muß immer einen Lutsch im Munde haben!", sagte mir einmal verachtungsvoll die Abgeordnete Dr. Käte Schirmacher, und da steckte ich mir die Zigarre wieder in die Tasche und rauchte ausnahmsweise mal nicht. Sonst lasse ich es nur während des Schlafens bleiben oder in der Kirche oder im Theater oder, voll Ungeduld, während eines Besuchsessens.

Jetzt am ersten herrlichen Frühlingstag sitze ich, angesichts von frischen Schneeglöckchen, einmal eine Viertelstunde im Tiergarten, auf der Bank gegenüber eine Dame mit ihrem Töchterchen. Die Luft ist so würzig, die Zigarre erst recht.

Plötzlich kommt die Kleine herübergesprungen.

"Du, Onkel, streck mal bitte die Zunge lang raus!"

"Aber warum denn?"

"Mutti sagt, da kann man eine Räucherzunge sehen!"

Ich muß laut lachen. Die Dame drüben ahnt den Grund, wird rot, ruft ihr Kind barsch zurück. Ich grüße sehr höflich.

Es wird Frühling in Berlin, Frühling in Deutschland, Frühling in unserem Gemüt. Die Menschen machen alle wieder fröhliche Gesichter. Das Bändchen des Ehrenkreuzes der Frontkämpfer oder auch das der Hinterbliebenen wird mit Stolz getragen; ich habe schon Frauen mit diesem lindernden schwarzweißroten Pflaster über dem wunden Herzen gesehen. Jedermann ist glücklich, daß wir uns unsere Ehre und unsere Wehrfreiheit wiedergeholt haben. Nun darf man wieder mit der Waffe dem Vaterlande dienen. Immer wieder rufen Bekannte, die während des Krieges noch Kinder waren und nachher die allgemeine Wehrpflicht nicht mehr vorfanden, mich an, ob sie trotz ihrer 30 oder 34 Jahre nicht doch noch in die Reichswehr eintreten könnten. Der Stahlhelm legt den Flor von seinen Fahnen ab. Am Heldengedenktag hat alles gestrahlt. In der Staatsoper und nachher vor der Neuen Wache Unter den Linden prägt man sich das Bild ein: Hitler zwischen Mackensen und Blomberg, alle drei von tiefem Glück durchloht. Es ist geschafft, wir sind wieder gleichberechtigt unter den Nationen, und wer uns das wehren will, der kommt zu spät.

Nun gebe Gott uns langen Frieden . . .

Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor, sagt ein Sprichwort der Römer. Wir bereiten nur die Abwehr im Kriege vor. Wir wissen, daß die Übermacht jenseits steht und immer stehen wird. Wir wollen uns nur nicht eines Tages waffenlos abschlachten lassen, wir wollen uns verteidigen und den Angriff für die Gegner riskant machen.

Ein Angriff aus der Luft, aus bis vor kurzem undenkbaren Höhen, mit bis vor kurzem undenkbaren Massen, das werde der plötzliche Beginn künftiger Kriege sein, heißt es. Und womöglich das schnelle Ende. Wie dem zu begegnen sei, das will der Luftfahrtminister General Göring mit dem deutschen Volke exerzieren, das muß "im Schlafe sitzen", dazu hat Berlin die erste große Verdunkelungsübung erlebt. Wir kennen dieses Verstecken jeglicher Beleuchtung aus dem Kriege. Wenn man von der Front einmal auf einen Tag zum Armeeoberkommando in irgendein Städtchen mußte, stolperte man im Düstern daher und suchte sich mit dem schwachen elektrischen Taschenlaternchen die richtige Haustür. Bei Fliegeralarm aber verödeten die Straßen, sauste alles in die Heldenkeller. Nur einmal habe ich meine Lagerstatt nicht verlassen, obwohl die Bomben krachten und die Abwehr bellte. Ich war zu Besuch bei Richthofen, in der Bibliothek des Schlößchens war ein Feldbett für mich aufgeschlagen worden, ich hatte aus einer kostbar eingebundenen Bücherreihe über das Leben der Heiligen in französischer Sprache gerade einen Band herausgenommen und las über die Heilige Katharina.

Sie hat mich denn auch glücklich beschützt, keine Bombe traf das Dach über meinem Haupte. Wären die Fenster aber nicht vollkommen abgeblendet gewesen, hätte auch die Heilige Katharina nicht viel helfen können.

Auch die Verdunkelung allein genügt nicht immer. Wasserflächen schimmern doch matt. Über London konnte man sich immer orientieren. Da die Themse mit dem Knick, da der Serpentine River. In großartiger Disziplin ist der Berliner den Anweisungen des Luftschutzes gefolgt. Auch den fremden Militärattachés hat die im Dunkel schier erstorbene Stadt imponiert. Aber den Wannsee kann man nicht wegrasieren. Außerdem griente der Vollmond in die Straßenschluchten.

"Sie, Herr Wachtmeister, können Sie den nicht ausknipsen?"

An jeder Straßenecke steht ein Schutzmann und dirigiert leise die in Zeitlupentempo sich bewegenden Gefährte und die Fußgänger. Viele sehen sich dieses "Theater" an. Manche paarweis sortierten Menschenkinder sind aber gar nicht neugierig, sondern stehen im Kernschatten irgendeines Toreinganges und finden, eine Verdunkelungsübung sollte man jeden Abend machen.

"Du Süße!"

"Du Lieber!"

Niemand stört. Niemand achtet darauf. Man starrt nur zum Himmel, wo Motoren donnern. Da, da! Man hat die Positionslaterne eines Flugzeugs entdeckt, das in vielleicht 2000 Metern Höhe einherschnellt. Nein, kein feindliches. Von da oben regnet es nicht Sprengbomben, Brandbomben, Gasbomben. Nur ein Bericht durch den Rundfunk. Alles tadellos. Göring kann zufrieden sein.

Noch eine Stunde vorher hat seine künftige Gattin, Frau Emmy Sonnemann, als Minna von Barnhelm auf der Bühne des Staatstheaters gestanden und nach ihrem Tellheim gejubelt. "Freund und Feind sagen, daß er der tapferste Mann von der Welt ist. Aber wer hat ihn von Tapferkeit jemals reden hören? Er hat das rechtschaffenste Herz, aber Rechtschaffenheit und Edelmut sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt." Man lächelt verständnisinnig im Parkett, das wohl nur deshalb so gefüllt ist, weil in diesen Wochen jedermann noch die Frau sehen will, die demnächst dem preußischen Ministerpräsidenten angetraut sein wird. Man denkt an die lange glückliche Ehe, die den Herzog von Sachsen-Meiningen mit einer Schauspielerin, der Freifrau von Heldburg, verband. Man denkt auch wohl an frühere Aufführungen der Minna in Berlin. Herrlich in alten Zeiten einst Agnes Straub! Sie schwebte, sie flatterte, sie flog über die Bühne, beseligt und beseligend. Und dann Hans Waßmann als Wirt! Lessings Lustspiel, das er einst an der Spree in Berlin im Gasthof "König von Portugal" geschrieben, der noch heute besteht, ist ewig, war aber nie so aktuell wie heute, wo unser Volksheer mit seinem ehrenfesten Offizierkorps wiedererstanden ist.

Auch solche Prachtkerle wie der Bursche Just oder der Wachtmeister Werner werden wieder überall auftauchen.

Nur in Paris sinnt Riccaut de la Marlinière darüber nach, wie er die fortune korrigieren könne.
21. März 1935 (Donnerstag)



Glossen 19 - 21

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Glossen 25 - 27

© Karlheinz Everts