"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 4 - 6
1. bis 15. November 1934


4

Großstadtluft - In lohendem Laubwald - Was im Adlon sitzt - Die geraubte Mary aus Amerika - Eintänzer erzählen - S. Adam - Auf Lagerplätzen von Abbruchsunternehmern - Alte Wochenschauen - Neuzeitarbeit.

"Komisch, wenn ich in unserem Rotenburg an der Fulda eine Stunde spazierengehe, bin ich erfrischt, wenn ich es aber hier in Berlin tue, da bin ich ganz müde und zerschlagen!", sagt uns der Gast aus Kurhessen. "Det soll woll so sind!", würde ihm wahrscheinlich der eingesessene Großstädter antworten, nämlich: das mag schon stimmen. Und er nimmt sicherlich an, daß der Fremdling nur von der Großartigkeit alles Gesehenen benommen sei, während es in Wirklichkeit der dicke Dunst ist, der sich dem an Landluft gewöhnten Besucher auf die Lungen legt.

Geht uns auch so. Jeder, der alltäglich in der Werkstatt oder am Schreibtisch oder im Laden sitzt und seine Wohnung nicht in Berlin j. w. d. - "janz weit draußen" -, sondern in der Innenstadt zwischen Halenseer Brücke und Warschauer Brücke hat, schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Wasser. Es graut einem nur vor der Pökelfracht in der Stadt-, Vorort-, Untergrund-, Straßenbahn. Glücklich der Mann mit Kleinauto! Aber auch er muß sich erst eine halbe Ewigkeit hinter dem Auspuff anderer hindurchstinken, bis er im Grünen ist, und dann lagert immer noch der Dunst auf den Landstraßen, und die Ausflugslokale sind von Zigarren- und Zigarettenrauch, Marke Rauchdusedoch, erfüllt.

Nun hat mich einer aber in noch richtiges Märchenland entführt. Dabei ganz nahe. Nämlich in den Forst zwischen dem Wandlitzsee im Norden und dem Städtchen Bernau, wo im Sonnengold des letzten schönen Oktobertages das rote Laub der Buchen, Birken, Eichen erglüht und nur gelegentlich hohe Kiefern oder eine Tannendickung dunkel das Leuchten unterbrechen. Das sind 8200 Morgen Jagdpacht. Häufig genug habe ich die Wasserseligkeit rund um Berlin gepriesen, mit der es in ganz Europa nur noch Stockholm und Oslo aufnehmen können. Aber dieses Waldgebiet hier hat es auch in sich. Es hat geradezu thüringische Lieblichkeit und Romantik.

Den Jagdinhaber kenne ich aus Vorkriegszeit vom lieben Kommiß her. Es ist der Sohn des vor einiger Zeit im Alter von 89 Jahren verstorbenen Gericke, der in ganz Berlin unter dem Namen "Der König von Moabit" eine volkstümliche Persönlichkeit war, ein königlicher Bauherr von königlicher Freigebigkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber den Armen seines Bezirks. Also dessen Sohn und Enkel und ein befreundeter Marinegeneraloberarzt a.D. sind mit von der Partie. Alsbald umfängt uns beglückend der Zauber des deutschen Waldes. Die Romanen in Südeuropa kennen seine lohende Herbstpracht nicht; wo es keinen Frost gibt, sind die Bäume ja immergrün, brauchen sie nicht vorsorglich die Saftzufuhr abzusperren und ihr Sommerkleid zu verfärben.

Beerensammler sind in dem Forst und grüßen dankbar den Herrn, der ihnen das Pflücken erlaubt. Beeren kurz vor dem November? Das habe ich wirklich noch nicht gewußt! Aber solange es noch keinen Bodenfrost gegeben hat, schmecken diese Spätlinge unter den Heidelbeeren - Blaubeeren oder, wie der Berliner sie nennt, Besinge - zuckersüß, wie ich selber feststellen kann. Und man kann sie körbeweise heimbringen, wenn man sich fleißig bückt.

Über weltentrückte Schneisen zwischen den einzelnen Jagen hindurch gleitet lautlos unser Wagen. Sind wir in Großberlin? Man kann es kaum glauben, so märchenhaft ist alles.

Hie und da hoppelt ein Krummer, ein Hase, durch eine junge Tannenkultur zu Holze, und - ein schwacher Knall - da liegt er, und der gute Treff apportiert ihn. Soll man aus dem starken Bestande auch ein Stück Rehwild abschießen? Fast tut es einem leid. Es sieht so wundervoll aus, wenn es verhofft, sichert, dann in weiten Fluchten abgeht. Darunter ein ganz prachtvoller Sechserbock mit, merkwürdigerweise, samtschwarzem Gehörn. Ach, es ist schon herrlich, nur zu sehen, zu gehen, quellfrische Luft zu trinken! Nur wenige Tage im Jahre kann ich mir das gönnen. Und das gibt Kraft für lange Wochen.

Nun tost wieder die Weltstadt. Und abends ihr "Betrieb". Es ist wieder Leben in der Bude, bemerken auch die Ausländer. Im Hotel Adlon, wo ich manchmal nachmittags beim Kaffee meine Zeitungen durchjage, schwirren alle Erdteile um mich. Da kommen ein paar Perser in Karakulmützen. Da sitzt die alte Gräfin aus Budapest. Da erscheint das Oberhaupt von Kansas City am Missouri, der schlanke weißhaarige McElroy mit seiner erwachsenen Tochter Mary, die neulich - sie steht aber schon hochgradig im Heiratsalter - von Kidnappers, Kindesräubern, im wilden Westen entführt und erst gegen 30 000 Dollar Lösegeld freigegeben wurde. Mary möchte ihr Himmelfahrtsnäschen gern jetzt in das viel ungefährlichere "Berlin bei Nacht" stecken, ihr Daddy ist damit einverstanden, der Portier empfiehlt entweder das volkstümliche Resi im Osten oder den vom Mittelstand überfüllten Europa-Pavillon mit seinen guten Darbietungen in Berlin-Mitte oder die Barberina im Westen. Hier werde es nicht so gequetscht sein. Da gehen Vater und Tochter also hin. Vier Eintänzer stehen zu Diensten, beinkundig, sprachkundig.

Mary fragt während eines langsamen Walzers den einen, wovon er eigentlich lebe, was sein busineß sei. Je nun, er tanze; außerdem sei er Trainer für Tennisspiel und Eislauf.

Mary fragt während eines berückenden Tangos den andern, ob ihm das Tanzen eigentlich Spaß mache. Je nun, sagt er, mächtigen Spaß habe es ihm im Alter von 18 Jahren gemacht. Aber jetzt tanze er berufsmäßig mit jeder Dame, und in der Sommersaison in Marienbad mit Damen von 2 Zentnern an aufwärts.

Mary hat schon um Mitternacht ihr Wißbegier gestillt. Vorher hat sie zu ihrem Erstaunen bemerkt, daß neben den 4 Eintänzern auch 22 Eintänzerinnen hier den Vätern und Strohwitwern und Junggesellen den Abend mit Tanz und Geplauder und Schaumwein versüßen.

Mary findet, es sei hier doch netter als im Kellerverließ der Kidnappers mit gefesselten Händen. Sie versteht nur nicht, woher die Mädchen ihre fast amerikanisch kühnen Abendkleider haben.

Bei der ersten Rundfahrt durch Berlin hat auch noch manches andere sie amerikanisch angemutet. Zwar der uns schon kolossal erscheinende Autoverkehr kommt ihr im Vergleich mit ihrem heimischen noch dörflich bescheiden vor. Aber eines ist ganz wie zu Hause: überall wütet die Spitzhacke, sinken Mauern in Staub, erstehen neue große Bauten. Das Eckhaus Leipziger-Friedrichstraße ist in wenigen Tagen schon ganz abgetragen. Da befand sich einst ein Leuchtturm in der Geschäftsbrandung, das riesige Sportbekleidungshaus S.Adam. Dieser Sally oder Siegfried war Dr.h.c., Doktor honoraris causa. In der Elendszeit der deutschen Hochschulen hatte er sich den Titel durch eine kleine Schenkung erkauft. Dann zog er in ein kleines Lädchen an der Mauerstraße. Jetzt ist er verweht wie der Kalkstaub des Abbruchs. Eine Schweizer Bank, seine größte Hypothekengläubigerin, läßt an der alten Stelle ein Hochhaus errichten, das vielleicht Zentrale für Schweizer Versicherungsgesellschaften und Reisebureaus und dergleichen werden wird.

In Berlin gibt es außer kleineren ganze 34 große Abbruchunternehmer, die an der Peripherie der Stadt Läger von bisweilen mehreren Morgen Größe besitzen. Es ist ein Risikogeschäft. Der Bauherr sagt:

"Hauen Sie das Haus in Klump, zahlen tue ich nichts, aber was Sie an Verwertbarem finden, das gehört Ihnen!"

Ich kenne Abbruchfirmen, die wöchentlich an Arbeitslohn und Fuhrkosten 18 000 Mark ausgeben. Sie versuchen es, sich durch die herausgestemmten Fenster und Türen, Fußböden und Mauersteine, Holztäfelungen und Marmorstufen, Öfen und Installationen, Eisenträger und Kacheln bezahlt zu machen. Alles wird dann in Schuppen und im Freien auf ihrem Gelände gestapelt und harrt der Käufer. Da kommen mit Rucksack und Schubkarren oder Kinderwagen täglich Laubenkolonisten und schnüffeln alles ab. Der eine sucht eine Wasserpumpe. Der andere braucht eine alte Tür, die aber nur 1,70 Meter hoch und 0,80 Meter breit sein darf. Der dritte ersteht sich ein Klosett. Aber auch größere Eigenheime, für die das Material in Lastautos oder gar Schleppzügen verfrachtet wird, können hier zusammengesucht werden. Billig, billig. In Werder an der Havel weiß ich ein Landhaus, das eine im Ruhestande lebende ehemalige Studienrätin sich einst so erbaut hatte. Auf einer Glastür steht da eingraviert: "Herren". Wenn man sie aber öffnet, kommt man in die Küche. Die Veranda hat bunte Fensterscheiben verschiedener Größe und Art; Renaissance, Butzen-Romantik, Jugendstil, Biedermeier. Und die Bretterbude hinten im Garten mit dem ausgesägten Herzchen (behufs Luftzufuhr) in der Tür stammt auch vom Lager eines Abbruchunternehmers.

Manchmal, sehr selten, bringt ein Abbruch etwas Wertvolles zutage. Als das Bankhaus Krause - Herr v.Krause war Hofbankier Kaiser Wilhelms II., der sich von dem Hofbankier Cohn Kaiser Wilhelms I. sofort getrennt hatte - niedergerissen wurde, fand der Unternehmer unter dem Fußboden eine Anzahl Goldmünzen. Gelegentlich werden auch Liebhaberpreise von sonderbaren Schwärmern für ganz lächerliche Dinge bezahlt. Ich stöbere gerade in dem Lager eines Abbruchgeschäftes in der Greifswalder Straße herum, nicht als Käufer, sondern sozusagen als Geschichtsforscher, und höre, daß da auch die Überreste des Kleiderkaufhauses der Gebrüder Sklarek an den Mann gebracht worden sind. Im allgemeinen kostet eine guterhaltene Tür mit Rahmen von 2,20 Meter lichte Höhe rund 25 Mark. Für kleine rahmenlose Glastüren aber, wenn sie nur deutlich und unverletzt den geätzten Firmennamen der Sklareks aufwiesen, haben Sammler je 60 Mark entrichtet.

Der Unternehmer meint, das seien wohl Freunde der Sklareks gewesen, die viel von ihnen gehabt hätten. Aber ich weiß nicht, eine solche Sentimentalität traue ich nicht einmal Böß zu, dem verflossenen Oberbürgermeister.

Die Verflossenen haben wir am vorigen Dienstag allesamt wieder privatim im Film erlebt. Die Ufa hatte aus ihren Wochenschau-Archiven allerlei herausgekramt und es samt Vorführapparat dem Presseklub in der Tiergartenstraße zur Verfügung gestellt. Da juckte einem denn doch das Zwerchfell, wenn man Scheidemann bei einer Verfassungsfeier, "Isidor" Weiß vor einem Aufzug, Einstein hinter dem Rednerpult, den Ullstein-Bernhard im Kreise von Ministern, Marx bei einer Wahlrede sah. Nur etwas nachdenklich konnte man bei einer Art Herrenpartie des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold werden, den dicken Hörsing an der Spitze, dem Tausende Dummgemachter am Bürgersteig "in Begeisterung" zuwinkten. Gott sei Dank: vorbei, vorbei. Heute gelten andere Feldzeichen und eine ganz andere Straffheit.

Nur hat ein alter pommerscher Nationalsozialist ganz recht, wenn er schreibt, man dürfe die Mobilmachung nicht mit dem Siege verwechseln. Wir haben noch lange Jahre der Erziehung des Volkes vor uns, namentlich auch auf kulturellem Gebiete. Immer noch ziehen Wortwitze, die schon veraltet waren, als der Hauptmann von Kapernaum erst Fähnrich war; immer noch wird in populären Vorstellungen des "Sommernachtstraums" oder gar des "Faust" an den ungeeignetsten Stellen blöde gelacht; immer noch finden in der breiten Masse den größten Anklang "Dichtungen" wie:

"So etwas wie Sie, kleines Fräulein,
Das sah ich noch nie, kleines Fräulein!"

1. Nov. 1934 (Donnerstag)


5

Bei Bismarck - Ehrfurcht vor der Schule - Wo kann man Hitler sehen? - Variété auf der Straße - Hörspielaufnahme - Überall wird gereimt.

Märkisches Museum. Wer fährt da schon hin, pah! Wehe, wenn der angehende Taxilenker in Berlin in der Prüfung nicht weiß, wo der Pergamonaltar steht oder der Gloriapalast oder das Shellhaus. Aber Märkisches Museum? Mein Kutscher wird ganz unsicher, als ich ihm dies Ziel angebe. Da nenne ich ihm die Straßen dorthin, - und trotzdem hält er an falscher Stelle! Das macht: die Schulkinder, die ins Märkische Museum geführt werden, fahren nie Droschke; und die Leute in Berlin, die Droschke fahren können, wollen nie ins Märkische Museum.

Der Prophet gilt nichts im Vaterlande. Am wenigsten gilt Geschichte in der Großstadt.

Wer aus dem Reiche zu Besuch herkommt, dem rate ich zu einer Wanderung durch diese aufschlußreiche Heimatkunde. Jeder deutsche Stamm findet seine Spuren in der Berliner Historie, nebenbei die wundervolle Volkskunst versunkener Zeiten.

Gegenwärtig hat da seit Wochen das Gymnasium zum Grauen Kloster seine Erinnerungen aus vier Jahrhunderten aufgebaut. Alte Urkunden mit großen Siegeln in kunstvoller Malerei und Schrift, alte Bilder, alte Bücher, alte Lehrmittel, alte Münzen, alte Geräte. Magisch zieht einen alles an, was den größten Schüler der Anstalt betrifft, Leopold Eduard Otto v.Bismarck. Die beiden ersten Vornamen lernen die meisten von uns wohl erst bei dieser Gelegenheit kennen. Da liegt ein eigenhändiger Brief des 75jährigen Kanzlers unter Glas; und gegenüber das Reifezeugnis des Jungen, der mit 16¾ Jahren das Gymnasium verließ. Wir lesen da, daß sein Betragen "stets anständig und wohlgesittet" gewesen sei, aber - ei, ei - sein Fleiß "war zuweilen unterbrochen, auch fehlte seinem Schulbesuch die unausgesetzte Regelmäßigkeit". Trotzdem hat er als Zweitbester unter den acht bestanden. Mit "genügend" nur im Griechischen, mit "gut" in Geschichte und Latein, mit "sehr gut" im Deutschen.

Einer meines Namens war einmal Geographielehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster, hat auch im Jahre 1827 einen Abriß der Erdkunde für höhere Schulen herausgegeben. Das vergilbte Buch steht noch heute in einem Exemplar auf meinem Schragen. Als blutjunger Mensch bin ich 1894 drei Tage in Varzin gewesen und nannte einmal gesprächsweise dem Altreichskanzler den Namen dieses Professors. Jawohl, sagte Fürst Bismarck, der habe ihm zuerst so richtig beigebracht, was Deutschland sei. Ihm, dem damals noch strammen Nurpreußen.

Manche Erwachsenen schimpfen auf die "Penne" ihrer Schülerzeit. Es klingt so, als seien die Lehrer nur verknöcherte harte Pedanten gewesen, schwere Hindernisse jeder Entfaltung zum Talent. Bismarck aber hat stets mit tiefster Verehrung von seinen Lehrern gesprochen.

Wir alle müssen Ehrfurcht wieder lernen.

Der Mangel an dieser Eigenschaft ist in kritischen Perioden der deutschen Geschichte unser Volksunglück gewesen, während eifrige Klitterer uns umgekehrt einredeten, wir litten an einem Übermaß von Byzantinismus. Unsere neue Aera ist Gott sei Dank wieder auf Helden und Heldenverehrung abgestimmt, von der völligen Hingabe an Führerpersönlichkeiten erfüllt. Äußerlich kann diese Begeisterung schon lästig werden, eine Störung und Unterbrechung der notwendigen staatsmännischen Arbeit des Alltages. An der Ecke Wilhelmstraße und Wilhelmsplatz, dort, wo die alte und die neue Reichskanzlei aneinanderstoßen und heute mit dem einbezogenen Palais Borsig verbunden sind, ist durch die großen Menschenansammlungen - "Wir wollen unsern Führer sehen", erscholl es stundenlang im Chore - schließlich der ganze Verkehr behindert worden. In dem furchtbaren Gedränge bekamen Frauen hysterische Anfälle, waren Kinder gefährdet. Da mußte die Polizei eingreifen, und jetzt darf niemand mehr dort stehenbleiben. "Weitergehen, meine Herrschaften, weitergehen!"

Wo könne man denn aber Adolf Hitler einmal zu Gesicht bekommen, fragen mich Hergereiste ganz aufgelöst.

Ja, da ist guter Rat schwer. Wer die ganze Saison hindurch in der Staatsoper jede Wagner-Aufführung besucht, der wird es vielleicht einmal zusammen mit Hitler tun, ihn aber kaum entdecken, denn er sitzt unscheinbar in Zivil auf einem Hinterplatz. Manchmal ist er auch bei Goebbels in Kladow. Man kann sich auch wochenlang, täglich an jedem Nachmittag, in die Halle des Hotels Kaiserhof setzen. Bisweilen, sehr selten, geht der Reichskanzler da mit Gefolge auf ein halbes Stündchen hinüber, nimmt auf einem Ecksofa Platz und macht Kaffeepause. Sein Weg führte ihn, um mit einem Buchtitel von Goebbels zu sprechen, "Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei", und Hitler kehrt gelegentlich gern an alle Etappenstationen seines Lebens zurück. Daß man ihn an dieser Stelle, wo er Privatmann sein darf, in Ruhe läßt, dafür wird natürlich gesorgt. Aber man kann zehnmal hingehen und trifft ihn doch nicht. Ich kann den Harrenden nicht helfen.

Neben dem Brennpunkt der Politik in dieser Gegend, neben den Brennpunkten des Wagenverkehrs am Brandenburger Tor und an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, neben denen des Geschäfts und des Vergnügungsbetriebes in Berlin-Mitte und im Westen vom Wittenbergplatz an, gibt es mitten im Fluten der Großstadt hie und da noch stille Winkel, in denen plötzlich schier Dörfliches auftaucht.

Im Zuge des Hindenburgdammes in Steglitz, an dem kleinen Dreieck des Händelplatzes, hält eine Art Zigeunerwagen. Die Mähre wird ihres Geschirrs entledigt und angebunden. Nach Mann und Frau haben nun auch ein paar Tiere den Wagen verlassen, eine Wäscheleine grenzt einen improvisierten Vorführraum ab, ein Seil wird in Schulterhöhe über zwei aufgestellte Träger gespannt. Schon staut sich Publikum, viele Kinder darunter. Ein uraltes kleines Grammophon mit Schalltrichter aus der Zeit Philipps des Verstopften beginnt leise zu wimmern und zu grunzen, wozu die Frau das Tamburin schlägt. Fünf leidlich dressierte kleine Hunde, ein Affe, drei Katzen zeigen dann ihre Künste, und schließlich kommt "der unnachahmliche große Trick": die dicke, über die Jugendblüte längst hinausgediehene Frau, Brustumfang 116, Bauchumfang 143 Zentimeter, zwängt sich unter Stöhnen und Schwitzen durch einen viereckigen Stahlrohrrahmen, der nur 30x20 Zentimeter mißt. Die Kinder haben über das drollige Seiltanzen und Faßlaufen und Jockeyreiten der Tiere gelacht, jetzt aber staunen die Großen. Die Frau hat den Rahmen über den Kopf genommen. Nun verrenkt sie ihre Schultern und kommt wahrhaftig hindurch. Dann preßt und zerrt sie den Rahmen über den Oberkörper bis zur Taille. Jetzt, o Wunder über Wunder, schluckt sie ihren Bauch aufwärts, so daß er plötzlich über dem Magen sitzt, und wieder geht der Rahmen weiter. Zuletzt sogar über die umfangreiche Hüftpartie samt Gesäß.

In Hinterniedertupfenhausen würde die Bevölkerung Kulleraugen machen. In Berlin zuckt jedermann unwillkürlich mit der Hand zum Kleingeld in der Tasche. Vielleicht faßt man einen Kupferling oder gar einen Groschen.

Die Dicke sammelt mit dem Tamburin.

"Helfen Sie eine deitsche Artistin, meine Herrschaften! Geben Sie etwas Futtergeld for die Tierchens!"

Nachher erfahre ich in einem privaten Interview, daß das Ehepaar eine richtigen Gewerbeschein hat, groschenweise sein Dasein erarbeitet, früher in kleinstädtischen Kinos auftrat, denen die Frau aber jetzt zu reizlos erscheint. Das Publikum lacht über die ausgeflossene Armseligkeit und macht Klamauk. Also bleibt nur die Straße und manchmal ein Dorfkrug. Die drei Kinder des Ehepaares leben derweil bei der Oma in Hof in Bayern. Wieder klappert die Frau mit dem Tamburin reihum:

"Von die armen Kinder kann ich nichts verlangen, aber die besseren Kinder, die, wo manchmal Schokolade kaufen, mißten doch etwas Futtergeld geben!"

Gräßlich, dieser Komparativ von den besseren Kindern. Ich möchte der Frau gern eine Vorlesung darüber halten, daß man Leute mit Geld nicht immer bessere Leute nennen soll. Aber es nützt ja doch nichts.

Es ist wirklich erstaunlich, daß solch fahrendes Volk noch auf dem Großstadtasphalt seine Nahrung findet. Vor dreißig Jahren sah man sogar noch Tanzbären in Berliner Vororten, aber das ist jetzt verboten.

Im Grunde will der Berliner, der durch Kinopaläste, durch wirkliche Paläste verwöhnte Berliner, Dörfliches auch nicht mehr sehen. Er hat ganz andere Sensationen, vor allem modern-technischer Art, die sein Interesse erwecken. Da ist die Wilhelmstraße plötzlich schwarz von Menschen. Warum? An dem Hause des Brunnen-Verlages sind plötzlich mehrere merkwürdige Autos vorgefahren, blitzschnell werden Kabel zu den Fenstern hineingereicht, Berufsphotographen stürzen herzu. "Ja, wat den, wat denn?" fragt der Nachbar den Nachbarn. Aha: Rundfunkaufnahme! Wir haben die Woche des deutschen Buches, in dem Hörspiel des Arbeiterdichters Fritz Lersch "Buch und Volk" soll auch eine Szene aus dem Verlagsbetriebe vorkommen, so wie eine aus der Druckerei von Franz Eher Nachfolger und eine aus der Nicolai'schen Buchhandlung. Die Aufnehmer finden, unangemeldet eingetroffen, im Brunnen-Verlag in den beiden Vorderzimmern den Verleger vor, die Prokuristin, den Hersteller, einen Reisenden, einen Autor.

"Bitte lassen Sie sich einstweilen gar nicht stören, meine Herrschaften!"

Nun gut, die Arbeit geht also weiter; das Telephon schrillt, Frage und Antwort; die Fremden fingern inzwischen an ihren Apparaten herum. Auf einmal verabschieden sie sich. Nanu? Soll man nicht erst nach irgendeiner Anweisung Probe spielen und dann endgültig für die Aufnahme?

"Ist ja schon alles geschehen! Wir wollen gar keine gestellten Hörbilder! Diese Aufnahme aus dem Leben genügt!"

Und, husch, weg sind sie.

Die Kulturhistoriker späterer Jahrhunderte werden es leichter haben als die der Zeit vor uns. Auf Wachsplatten und Zelluloidstreifen wird ein ungeheures Urkundenmaterial gesammelt. Auch der gegenwärtig in Moabit verhandelte Funkprozeß gegen Magnus, Staatssekretär a.D. Bredow und Genossen wird so verewigt. Frühere Präsidenten hätten das im Saale nicht geduldet; das Gericht sei kein Theater. Aber heute müssen eben alle umlernen und begreifen, was der Anschauungsunterricht bedeutet. Das Buch wird immer seine Wirkung behalten, in das Tiefste im Menschen eindringen. Aber als Hilfsmittel bekommen Ton und Bild, lebendig in Bewegung erhalten, ständig wachsende Bedeutung. Auch Weltgeschichte wird demnächst wohl im Original gefilmt, nicht erst nachträglich geschauspielert werden.

Merkwürdig nur, wie sich manchmal Neuestes und Urältestes mischen. Unsere Altvorderen hatten ihre kindliche Freude an dem Reim. Im Märkischen Museum liegt ein Messer aus dem Jahre 1787. Darin eingeätzt die Worte:

Lustig und wacker
Sind die Fleischhacker.

Über einer Tür eines Gebäudes in der Steglitzer Straße steht die Inschrift:

Wer dies Haus jetzt tadeln will,
Der stehe nur ein wenig still
Und denk' in seinem Herzen frei,
Ob er wohl ohne Fehler sei.

Leider ist nur mit dem Niedergang der naiven Volkskunst auch die Verschlechterung des Reimens verbunden, das heute wie eine Seuche zu Zwecken der Reklame grassiert. Verse, wohin Du siehst, überall an den Anschlagsäulen, in den Zeitungen, an den Wänden der Untergrundbahnhöfe. Über einer Musikalienhandlung: "Von Grönland bis Südafrika - Ertönt meine Ziehharmonika." An einem Rundfunkladen: "Es sei Dir ins Gehirn gehämmert - Radio gibt es nur bei Lemmert." Manchmal, nur sehr selten, kommt man freilich auch ins Schmunzeln. In der unteren Friedrichstraße steht vor einer Gastwirtschaft die Pappfigur eines dicken Kochs: "So wie mein Bauch - Wird Deiner auch!" Darunter : Ich empfehle Rindsrouladen 70 Pfg., Königsberger Klops 70 Pfg., Schweinekotelett 1 Mk. usw. Über dieses Attentat auf die schlanke Linie muß man wirklich lachen. Übrigens -

"Wissen Sie, wie man schlank wird?"

"Nun, wie denn?"

"Nur durch das FdH.-Entfettungsmittel!"

"Was heißt das, FdH.?"

"Friß die Hälfte!"
8. Nov. 1934 (Donnerstag)


6

Nicht immer befehlen - In der Woche des Buches - "Bist Du Rumpelstilzchen ?" - Bei Hiller Unter den Linden - Wie Ausländer denken - Boy oder Bub ?

Befreiung vom Imperativ, Rückkehr zum Präsens!

Das wäre so etwas wie ein kultureller Schlachtruf. Hoffentlich wirbt er Hunderttausende. Schon vor dem Kriege wurden wir überall aus grellen Plakaten angeschrien. "Koche mit Gas!"  "Schlafe patent!"  "Reise mit Storm!" Das nützte gar nichts, die Befehlsform empörte nur, man sagte sich: nun gerade nicht! Ganz anders wirkte die Feststellungsform, etwa: "Kaffee Hag schont das Herz." Das war so milde überzeugend, daß die Importeure von richtig koffeinhaltigem Kaffee heute schon in Flugblättern in Millionenauflage sich wehren müssen, was ich, der ich nie nikotinfreie Zigarren geraucht, nie alkoholfreien Wein getrunken habe, ihnen lebhaft nachfühlen kann. Jetzt lesen wir links und rechts: "Kauft deutsche Waren!" Der geärgerte Laie antwortet innerlich: wieso denn, warum denn? Die Engländer sind da viel klüger, sie brauchen nicht den Imperativ, sondern das Präsens: british goods are the best, "britische Waren sind die besten"; so steht es schon auf ihren Poststempeln.

Sicherlich haben auch viele Leute bei uns dieser Tage in der Woche des Buches gegen den Befehl rebelliert: "Halte fest am deutschen Buche!" Wie kommt der Buchfritze zu diesem Kommando? Als ob ich nicht eine neue Unterhose viel nötiger hätte! Oder, sagt sich die angestellte Lehrerin, habt Ihr schon darüber nachgedacht, wie ich vom nächsten Jahre ab bei der neuen Ledigensteuer meine Miete bezahlen soll? Ihr habt gut reden! Jawohl, so ist es. Wie anders klänge es, wenn das Plakat feststellte: "Bücher sind liebe stille Freunde!" oder "Bücher geben die besten Zinsen!" oder "Bücher machen gesund und froh."

Einerlei: jedenfalls haben wir also die Woche hinter uns.

Sicherlich hat sie ein wenig Leben in die Bude gebracht, Hoffnung den Buchhändlern, denen das in unseren harten Zeiten zu gönnen ist, Freude den Käufern, die nun keine Einzelwesen mehr waren, sondern Glieder einer Bewegung. Der Erfolg? Wollen sehen! Eine Großbuchhandlung mitten in Berlin hat 6000 Einladungskarten an ihre Kunden verschickt: dann und dann sei der und der Schriftsteller da und gebe Autogramme. Nun "strömt" es. An einem Nachmittag erscheinen 2, an einem 14, an einem 5 Liebhaber. Ich bin schon sehr getröstet, weil ich der Vierzehnender bin. Aber das ist doch so gut wie nichts für die Großstadt.

Am nächsten Tage bin ich in einer verhältnismäßig kleinen Bücherstube draußen in Steglitz, wo vor mir über Mittag schon Franz Schauwecker ("Aufbruch der Nation") seine Inschriften gemacht hat. Da ist es ganz anders. Vor der geöffneten Ladentür ist der Bürgersteig voll, die Leute gucken herein, als stünden sie an einem Gitter im Zoologischen Garten, und drinnen muß ich am laufenden Bande insgesamt 46 Autogramme herunterhauen, natürlich immer mit ein paar persönlichen Zeilen davor. Zu diesem Zweck muß man sich mit jedermann erst kurz unterhalten, damit man über das Wer und Woher und Wozu Bescheid weiß. Der verwitweten Frau Geheimrat v.Hansemann kann ich mitteilen, daß ich noch ihren Schwiegervater gekannt habe, und der Spruch, den ich ihr einschreibe, ist zufällig das Lieblingswort ihres heimgegangenen Gatten, des berühmten Professors der Medizin. Ein Studiengenosse unseres Ältesten findet sich ein, ein Vorgesetzter unseres Jüngsten. Irgendeine Beziehung ist schnell mit jedem hergestellt, der den neuen Rumpelstilzchenband oder das Bülow-Kaiser-Buch oder den Schmied Roms heranbringt.

Aber das Netteste erlebe ich doch mit zwei kleinen Mädchen von 7 und 8 Jahren. Ihre Mutti kauft noch gerade am Ladentisch das Buch. Da kommen sie zu mir nach hinten in die Ecke:

"Bist Du Rumpelstilzchen? Kannst Du aus dem Fenster springen? Heißt Du am Ende Rippenbiest? Spinnst Du Gold aus Stroh?"

Nein, sage ich, aber ich kann was anderes. Dann gehen wir in den Bonbonladen nebenan, da gibt es ein paar Lutschstangen und Zuckerkugeln. Nun glauben die Kleinen doch ein bißchen an meine Zauberkraft. Während ihre Mäulchen nachher Beschäftigung haben, kann ich in Ruhe der Mutti etwas einschreiben.

Eine Dame will ihrem Manne - morgen sei sein Geburtstag - ein Buch schenken. Ich frage: "Gnädige Frau, bitte verraten Sie mir ganz leise, mit welchem Abkürzungs- oder Kosenamen Ihr Herr Gemahl Sie nennt!" Sie antwortet: "Das kann ich eigentlich gar nicht sagen, Sie werden es komisch finden, er nennt mich Schnups!" Na schön. Es kommt ein Sprüchlein in das Buch und darunter:

"Von Deiner Schnups und - da staunste - Deinem Rumpelstilzchen."

Macht Spaß.

Und ist vielleicht doch eine kleine Belebung des Buchhandels; denn die Autogramme werden herumgezeigt, reisen in der Welt umher, werben neue Käufer. Wahrscheinlich geht es auch anderen Autoren so wie mir, daß jetzt von überallher Bücher (mit beigefügtem Rückporto natürlich) ankommen, über die Adresse des Verlages, damit man irgend etwas hineinschreibe. Wir unbeamteten Kleinen vom Federvolk können das natürlich. Aber der Reichspressechef Dr. Dietrich etwa ("Mit Hitler in die Macht"), dessen Buch ich für das auch künstlerisch schönste aus diesen Jahren der Erhebung halte, hat für so etwas wohl keine Zeit, um von dem Führer und Reichskanzler selber ("Mein Kampf") nicht erst zu reden. Peter Beckmanns ganz wundervoller Roman "Straße nach Tralf" hinwiederum oder der "Sturm des Herrn" aus der Burschenschafterzeit 1818 von Rudolf Stratz oder alle Marinebücher von Korvettenkapitän a.D. Busch oder Wichterichs "Dr. Carl Peters" oder das für besinnliche, gebildete Leser außerordentlich aufschlußreiche "Führer, Schwärmer und Rebellen" von Fülöp-Miller hätten doch wohl Aussicht, Autogramme zu erhalten. Die Kollegen in Apoll werden mir für diesen Hinweis nicht Dank wissen. Es kommen sowieso schon zu viele Briefe und Drucksachen an unsereins, man kann gar nicht alles beantworten. Aber das ist doch sozusagen Frontdienst am deutschen Buch . . .

Auch die Literatur hat ihre Wellenbewegungen. Heute gibt es kaum ein Buch, in dem nicht mindestens zehnmal das Wort "nordisch" vorkommt. Ich meine nicht nur den spezifisch nordisch-rassenkundlichen Verlag Lehmann-München mit seinen trefflichen Erzeugnissen, sondern jeden beliebigen Roman. Und so gab es einige Jahre vor dem Kriege keine Erzählung aus der Berliner Gesellschaft, in der nicht "Dressel" oder "Hiller" der unumgängliche Schauplatz für etliche Szenen war, eines der mondänen Weinrestaurants Unter den Linden.

Dressel ist verschwunden, das Lokal existiert nicht mehr. Auch Dressels ehemaliger Kellner Traube, dem der Alte "aus zwingenden Gründen" die Tochter gab, ist während des Krieges im Schützengraben, solcher Anstrengungen ungewohnt, gestorben, und ein Weinhaus seines Namens gibt es jetzt nur im Westen, nicht mehr in der Leipziger Straße. Aber Hiller ist noch da, immer noch Unter den Linden.

Nur: mit Mittagessen zu 2 Mark. Nur: mit Schoppenwein und sogar Bier.

Es ist nicht mehr "das" Schlemmerlokal, in dem noch Erzberger täglich Cercle abhielt, und wird bald ganz verschwinden, weil eine Einsteigstelle zur neuen Untergrundbahn Anhalter-Stettiner Bahnhof hierherkommt. Die ehemalige Pracht - vergoldete Ledertapeten - ist noch erhalten, es riecht ein bißchen nach verstaubter Renaissance. Abends kann man da, meist sehr einsam, auch noch eine gute Flasche und etwas von hoher Kochkunst erleben. Wenn man Glück hat, bedient einen der alte Ganymed, der seit 36 Jahren im Hause ist. Der hat hier schon hinter den Stühlen gestanden, wenn der Großherzog von Hessen oder der König von Sachsen oder der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch oder der Prinz Heinrich der Niederlande bei Hiller saßen.

Gelegentlich taucht noch heute dieser oder jener aus fürstlichem Hause hier auf. Plötzlich ist eines Abends der deutsche Kronprinz mit seinem Freunde v.Zobeltitz und dem Adjutanten Major v.Müldner da. Müldner hat noch zu arbeiten und muß bald aufbrechen.

"Ist er richtig weg? Kommen Sie, Zobeltitz! Schluß mit dem offiziellen Teil! Jetzt beginnt die Fidelität!"

Einst war Hiller stets gepfropft voll von zweierlei Tuch der Garderegimenter, dazu von Verwandten aus dem Lande; auch Handelsherren und Industriekapitäne kamen her. Die Rickmers und Wätjen aus Bremen und ihre Kameraden hatten als Einjährig-Freiwillige der Gardekavallerie an großen Tagen ihren Tisch. Kommt da plötzlich ein Offizier herein. Sie springen auf, um stramm Honneur zu machen, der Tisch geht mit hoch, volle Teller und Gläser purzeln durcheinander. "Tableau!", pflegte man damals zu sagen. Einmal habe ich es erlebt, daß in dem überfüllten Lokal der Erbprinz von Waldeck-Pyrmont in Leutnantsuniform saß. Da kam ein Hauptmann, irgendein bürgerlicher Herr, ein Konzessionsschulze, wie man es nannte, und suchte nach einem Platz. Da stand der Prinz, denn er war nur Leutnant, auf und sagte:

"Gestatten Herr Hauptmann, daß ich Herrn Hauptmann meinen Stuhl anbiete?"

Ich glaube mit dem Berliner sagen zu dürfen: da liegt Musike drin.

Allmählich hebt sich der Fremdenverkehr wieder etwas. Man hört selbst um diese stille Jahreszeit Unter den Linden englisch-amerikanisch sprechen. Es gibt manche alte Freunde Berlins, so die Remingtons, - der Mann hat in Bonn seinen Doktor gemacht, seine Frau den ihren in Heidelberg - von der großen Schreibmaschinenfabrik, die heute nichts mehr von uns wissen wollen. Sie sind über das angebliche Versinken der Deutschen in das Heidentum entsetzt. Sie kolportieren Worte irgendwelcher politischer Volksredner wie: "Die Abendmahlsfeiern der christlichen Kirchen sind nur die Fortsetzung der jüdischen Ritualmorde!" Eine gerissene Propaganda der Emigranten bestärkt noch das Entsetzen. Andere Ausländer aber, die sich persönlich das neue Deutschland ansehen, sind bekehrt, ergriffen, ja begeistert. Nur eines höre ich stets:

"Warum äffen Sie immer noch das Ausland nach, warum ist ausländische Herkunft immer noch eine Empfehlung bei Ihnen?"

Ich weiß schon, die "echt" englischen Stoffe! Ist deutscher nicht genau so echt? Werden deutsche Spielwaren, Maschinen, Chemikalien nicht überall kopiert? Hat schon jemand unsere Zeppeline "echt" und sicher nachbauen können? Wir sollten ein bißchen mehr Stolz auf das Eigene zeigen!

In unseren Gasthöfen gibt es "Boys". Heißt Boy nicht Bub? Aber Bub ist wohl nicht fein genug. Und ganz fein sind die "Boys" erst in englischer Aufmachung. Bei Kempinski stehen sie - bitte, in den Innenräumen - mit englischem Käppi auf dem Kopf und Kinnriemen herum, so wie man früher die Messenger-Boys, die Botenjungen, auf Londoner Straßen daherflitzen sah. Das ist bei uns innerhalb eines Lokals sinnlos, aber es gilt eben - als englisch. Zum Glück nennen wenigstens die Hitlerjungen sich nicht "Boy Scouts".

Ein kleiner Blondschopf mit glattgebürstetem Haar springt im Hotel Fürstenhof - dort gibt es keine englischen Affenkappen - herzu und gibt mir Feuer für die Zigarre. "Danke, mein Bub!", sage ich und gebe ihm einen Groschen. Er strahlt. Aber ich fürchte, er würde - wenigstens heute noch - sich viel gehobener vorkommen, wenn ich ihm nichts gegeben, aber gesagt hätte: "Thank you, boy!"
15. Nov. 1934 (Donnerstag)



Glossen 1 - 3

Jahresinhalt

Glossen 7 - 9

© Karlheinz Everts