"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 1 - 3
11. bis 25. Oktober 1934


1

Der Gummiknüttel - Umgängliche Schutzleute - Mein Strafmandat - Festessen der Unterwelt - Im hohen Norden - Görings Karinhall - Im Tierparadies der Schorfheide - Derb und deutlich.

Nach der großen Ferienreise landen mehrere Amerikaner und Tschechen, ein Engländer, viele Italiener und Schweizer, etliche Holländer mit mir in Deutschland. Verschiedene von ihnen machen Kulleraugen. Was ist denn los?

"Die Polizisten haben - keine - Gummiknüttel!"

Ach so. Ja, Herrschaften, da habt Ihr eben das gewalttätige, grausame Dritte Reich. Wir wissen noch alle, wie die Berliner Studenten, die "Deutschland, Deutschland über alles" sangen, von Grzesinskis Blauen die Straße Unter den Linden entlang gehetzt und geprügelt wurden. Heute sind die Knüttel aber unvermerkt verschwunden wie einst das "Damencoupé" der Eisenbahnwagen. Der Trutzmann ist wieder Schutzmann. Der ursprünglich im freien England erfundene Polizeiprügel existiert in ganz Deutschland nicht mehr.

Selbst die kleinen Kinder haben keine Angst mehr vor dem Schutzmann, sondern Vertrauen zu dem Schutzmann. Zu dem Posten vor der Volksbühne am Horst-Wessel-Platz, wo jetzt viel gebuddelt wird, also ein zeitweiliges Kinderparadies entstanden ist, kommt in der Dämmerstunde ein Dreikäsehoch.

"Herr Wachtmeester, da is een Junge, der beschmeißt mir immer mit Sand!"

Ruhig und wohlwollend schaut der Schutzmann auf den Knirps.

"Geh jetzt zu Muttern nach Hause, dann kann Dich keiner mehr mit Sand werfen!"

Gehorsam und wohl auch etwas beschämt trollt sich der kleine Beschwerdeführer.

Auch ich habe es mit einem Schutzmann zu tun gekriegt, in der Rankestraße, Ecke Tauentzienstraße. Ich beschreite die Fahrbahn noch bei gelbem Licht, aber da flammt es quer zu mir grün auf, ehe ich hinüber bin, und drüben steht mit gezückter Rechnung schon der Verkehrspolizist. "Na, gehen die Geschäfte gut?", frage ich, während ich nach einem Markstück in der Westentasche greife. "Danke, es geht so leidlich!", antwortet er höflich, während er mir den Strafzettel überreicht. Donnerwetter: Nr. 41 647! Da haben wir unbedachten Berliner Fußgänger also bald die ersten hunderttausend Mark in den großen Topf geschafft.

Das angestaute Publikum freut sich und lacht.

"Sie, das machen Sie noch ein paar Mal, im Dutzend kommt es billiger!"  "Warum so alleine, wo ist denn die werte Familie, die will doch auch ein Stammbuchblatt?"  "Ja, hättste Deinen Roller mit, denn wärste bei Gelb noch durch!"  "Zeigen Sie doch schnell Ihre Bescheinigung über Farbenblindheit vor!"  "Mensch, der hat gedacht, er wäre eine Feuerspritze und hätte freie Durchfahrt!"

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Am besten ist es, man lacht mit, wenn man zur Erheiterung aller beigetragen hat. Noch am Kaufhaus des Westens zeigen Mitläufer glücklich auf mich. "Das ist der, der eben eine Mark Strafe bezahlt hat!" Na schön. Ich habe aber mit dieser "Gebührenpflichtigen Verwarnung" etwas Neues in meiner Sammlung polizeilicher Mandate. Das allererste stammt aus der Sandgasse in Heidelberg. Da habe ich einmal als junger Flaumbart nachts "Ännchen von Tharau" auf der Trompete geblasen . . .

Also heute haben wir bei leichten Übertretungen wieder den gemütlichen alten Neckton. Nur die wirklichen Verbrecher haben nichts zu lachen, die sich in ihren Unterweltvereinen, nach Chicagoer Muster, noch vor wenigen Jahren als Herren von Berlin dünkten. es herrschte eine Art Waffenstillstand zwischen ihnen und der Polizei, wenn sie ihre offiziellen Feste feierten, zu denen sogar Behörden und Presse eingeladen wurden; natürlich unter der Verpflichtung, keine unliebsamen Folgerungen daraus zu ziehen. Einmal in meinem Leben war ich als Gast dabei, in einem Weinhaus in der Bellevuestraße. Wir Zuschauer saßen oben rundum in den Logen, vornean der "Vipoprä" Dr. Weiß, genannt Isidor, der Mann, der von den Spielklubs Trinkgelder bekam. Unten alles in Frack und Abendkleid; die schweren Jungen und ihr weiblicher Anhang. Auf den Tischen gestohlene silberne Leuchter und sonstige Pracht.

Auf einmal: großer Tusch der Musik.

Der Vorsitzende der Ringvereine begrüßt den soeben eingetroffenen Freund Soundso. Der Vizepolizeipräsident blickt erstaunt auf: der Ankömmling ist ein bekannter steckbrieflich gesuchter Einbrecher. Aber es ist ja Waffenstillstand.

Nach einer Weile: neuer Tusch.

Der Vorsitzende verkündet, daß der kürzlich erschienene Freund soeben 1000 Mark für die Vereinskasse gestiftet habe. Großer Jubel der Festversammlung, die Trompeten schmettern: Hoch soll er leben!

Schließlich: noch einmal Tusch der Musik.

Der Vorsitzende bittet, man möge sich erheben, denn Freund Soundso wolle soeben wegen dringender anderweitiger Geschäfte das Lokal verlassen. Draußen knattert ein Auto davon. Der "Vipoprä" aber bleibt mit dem dümmsten Gesicht, das man je an ihm gesehen hat, sitzen.

Hier haben im neuen Staate zwei Männer mit ungeheurer Energie durchgegriffen, der Ministerpräsident Göring und der Polizeipräsident v.Levetzow. Meinen Ausländern, die mit mir von der Fahrt aus dem höchsten Norden heimgekehrt sind, die uns bis 80 Grad 16 Minuten, noch nördlich von Spitzbergen geführt hat, erzähle ich allerlei davon. Sie haben schon auf dieser köstlichen Gesellschaftsreise des Norddeutschen Lloyd, auf dem Dampfer "General v.Steuben", Hochachtung vor deutscher Ordnung, deutschem Komfort, deutscher Organisation gelernt. Nie hätte ein Einzelreisender so viel sehen können, und dies so bequem, in Schottland, in Scapa Flow auf den Orkneys, auf den Fär Öer, auf den Westmännerinseln, auf Island, auf Spitzbergen, in Norwegen vom Nordkap bis Bergen, dazu bei so herrlichem Wetter, daß die Italiener sich über Mangel an Kälte beklagten; es sei ja überall sommerliche Temperatur.

Man hatte das Kreißen der Gletscher, die dann als Eisberge davonschwammen, unter Donnerkrachen erlebt, was einem sonst nur der Film zeigt. Man war allerdings auch von der leidigen Politik bis ins Polarmeer verfolgt worden. Die Westmänner hatten vor unserer Ankunft ein Riesenplakat "Freiheit für Thälmann!" am Strande ausgebreitet, das dann von anderen Westmännern, die in einem Boot unter blauer Hakenkreuzflagge heranruderten, zerrissen wurde. Und alles dies, auch die Geiser auf Island, auch die Kolonie der Millionen Vögel auf der Bäreninsel, auch die Renntierherden der Lappen hatte man auf behaglichsten Ausflügen kennengelernt und war immer wieder auf dem "General v.Steuben" bei einer Verpflegung, wie sie kein europäisches Hotel mehr kennt, erneut ausgeruht.

In Balholmen hatte ich ein Stündchen in dem Heim des Maler-Professors Hans Dahl verplaudert, des frischen Fünfundachtzigjährigen, des Freundes des Kaisers. In dem Stuhl, in dem am 27. Juli 1914 Wilhelm II. zum letztenmal kurz gesessen hatte.

"Ich muß mich schnell verabschieden; in einer Stunde fahren wir ab; ich habe schlimme Nachrichten aus der Heimat."

Aber während aller großen und beglückenden Eindrücke, die uns jetzt 1934 beschieden waren, hatte man immer wieder von Deutschland gesprochen. Ich habe manchem Fremden erzählen können, was Hitler, was Göring, was Frick, was Goebbels und die anderen wirklich wollen; und die ungläubigsten Gesichter wurden gespannt.

Das größte Erstaunen erregte es, daß Göring und Levetzow eine gewaltige Abwanderung der Berufsverbrecher aus Berlin fertig gebracht haben. Ihrer Ungezählte befinden sich jetzt unter den Emigranten in Paris und anderswo, weil ihnen der Boden in Deutschland zu heiß geworden ist.

Es gibt vielleicht Hunderttausende von Berlinern, die gar zu gern einmal auf Hitlers Schreibtisch wühlen oder den Reichsministern in alle Privatzimmer gucken möchten. Man muß sich des Ansturms erwehren. Ganze Autokolonnen fahren zur Schorfheide, dem riesigen, mehr als 150 000 Morgen großen Staatsforst im Norden der Mark Brandenburg, um, wenn möglich, einen Blick in Karinshall werfen zu können. Je nun, das ist ein sehr schlichtes, gediegen, aber außerordentlich einfach ausgestattetes Blockhaus. Im alten königlichen Jagdschloß Hubertusstock selbst hat nur der verflossene Ministerpräsident Braun sich parvenuhaft breitgemacht. Auch die Gruft von Karin Göring ist ganz unauffällig in einem Hügel eingeschnitten, ohne die Landschaft zu verprotzen. Der schönste Schmuck sind die uralten Waldriesen rundherum.

Von dieser Frau gilt bestimmt das Bibelwort: "Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben!" Sie hat in der schlimmsten Zeit, November 1923, an ihre Mutter in Schweden geschrieben:

"Mama, Du sollst nicht glauben, daß Hitlers Sache verloren ist. Die Energie ist stärker als je zuvor. Er wird siegen, ich fühle es, ich weiß es. Du wirst sehen, daß wir auch in unserer prosaischen Zeit Wunder erleben!"

Dieser Tage bin ich in der Schorfheide gewesen, aber nicht in Karinshall, sondern am Wisentgehege. Da standen achtzehn dieser mächtigen Urwelttiere ganz nahe und ästen. In Polen sind sie fast ausgerottet. Hier rettet man sie in neuer reiner Aufzucht. Vorher hatte ich die vom Forstassessor Siewert angelegten Gehege besucht, jenem Siewert, dem man zu wenig Ehre antut, wenn man ihn nur den deutschen Bengt Berg nennt. Ich kann hier nicht ausführlich von den Rehen und sonstigem Waldgetier erzählen, das da fast in freier Wildbahn und doch zahm heranwächst. Auch nicht von den fünf Trappen, den großen Laufvögeln, diesem Neid des Zoo-Heck, auch nicht von den übrigen vielen Studien- und Züchtungsobjekten des jungen Forschers. Aber Spaß gemacht hat mir der Uhu, der von seinem Gemäuer herniederflog und auf Siewerts Bitte "Sag' mal Uhu!" seinen Kehlsack mit den weißen Federn sofort freudig aufplusterte und "Uhu! Uhu! Uhu!" schrie. Hier wird wirklich wertvollste biologische Arbeit geleistet, zunächst aus der großen Tierliebe eines einzigen jungen Forstmannes heraus und mit seinen eigenen Mitteln. Aber nun klemmt sich auch der Staat dahinter und Görings Energie. Die Schorfheide wird unser schönster und von allerlei Kreatur belebtester Naturschutzpark werden.

Ein alter Kriegskamerad, zuletzt Generaloberstabsveterinär der Reichswehr, hat mich in seinem Auto hierher mitgenommen. Bei einem anderen Kriegskameraden, jetzt Ziegeleibesitzer an dem meilenlangen Werbellinsee, fanden wir in seinem schönen Herrensitz freundlichste Aufnahme.

Man reißt sich so schwer los. Jetzt umfängt mich wieder die steinerne Großstadtwüste. Auch da hat freilich alles sein eigenes Gesicht. Man sagt dem Bayern unter den Deutschen die größte Freude an Derbheit nach. Aber auch die Berliner haben die Eigenschaft unmißverständlicher Deutlichkeit. Auf einer Bank am Belle-Alliance-Platz sitzt in der Mittagssonne eine junge Arbeiterin und häkelt. Es kommt ein Mann von schäbiger Eleganz, Typ Heiratsschwindler, und sagt:

"Na Frollein, so alleine, janz ohne Freund? Wie wär' es mit mir; wollen Sie mich mal ankieken?"

Ein kurzer Seitenblick, dann wie Peitschenkanll die Antwort:

"Wennste mal ins Klosett fällst, denn zieh' ick sofort hinterher de Spülung!"

Und weg ist er.
11. Okt. 1934 (Donnerstag)


2

Wieviel Phon? - Tanzmusik-Durcheinander - Perfidie der Mode - Winterhilfe - Bei einer Regiekonferenz in Neubabelsberg - Presber daheim.

Auf der Straße knattert, stehend, ein Motorrad. Es ist ein fürchterlicher Lärm. Und zwar nachts! Ich lese, aber ich fange immer wieder einen Satz von vorne an, wenn der Radfahrer Gas gibt. Nein, so geht das nicht weiter. Das ist ja schon fast wie eine ganze Maschinengewehrkompanie im Gefecht da unten. Also los. Die Treppen hinunter. Höfliche Frage an den Mann, ob das Knattern sich nicht abstellen ließe. Er sieht mich nur verächtlich an:

"Hauense ab mit Rückenwind!"

Dann schiebt er freilich auch seine Knalldroschke weiter, um sie vielleicht an der nächsten Straßenecke erneut zu dressieren. Dort mögen die Leute schon fest schlafen. Jetzt verstehe ich endlich wieder, wo Ruhe eingekehrt ist, meine fesselnde Lektüre: "Führer, Schwärmer und Rebellen" von René Fülöp-Miller. Das Trommelfeuer an verschiedenen Fronten des Weltkrieges störte einen nicht so, denn da lebte man sozusagen animalisch und brauchte nicht viel zu denken. Der Großstadtlärm ist viel greulicher. Das stärkste Geräusch soll es in Kesselschmieden geben, ich kenne das von der Kieler und Wilhelmshavener Werft her: bis zu 132 Phon. Wie das Meter ein Längenmaß, so ist das Phon eine bestimmte Lautstärke. Es hat neulich einen großen Streit darum zwischen einer deutschen Weltfirma und Sowjetrußland gegeben, der durch Schiedsspruch unter Vorsitz des Geheimrats Hauchecorne vom Kammergericht in Berlin geschlichtet wurde. Die gelieferten Motoren seien zu laut, behaupteten die Moskowiter, da müßten ja die Arbeiter ertauben. Es wurde aber nachgewiesen, daß es sogar weniger Phon waren als üblich.

Und nun die überraschende Feststellung für uns Großstädter: während des Hauptverkehrs auf dem Potsdamer Platz sind dort 84 Phon gemessen worden. Da ist es denn kein Wunder, wenn man beim Überqueren des Platzes seinen besten Freund anschreien muß. Man möchte die Landbewohner um ihren ruhigen Frieden beneiden und die Stadt verfluchen. Aber der Hahn auf dem Hofe kräht sicherlich keine 84 Phon und kriegt einen doch frühmorgens wach!

Manches hat sich auch in der Stadt verbessert, seit mit dem Hereinbrechen des kühlen Herbstes die Fenster nicht mehr alle offen stehen. Bisher hörte man noch spät abends die Tanzmusiken von Berlin, Warschau, Mailand, Toulouse, London gleichzeitig aus allen Lautsprechern der umliegenden Wohnungen. Man konnte mit Genugtuung aus diesem Tohuwabohu wenigstens heraushören, daß die eigentlichen Niggertänze nur noch im Auslande gequäkt werden. Aber zu seinem Erstaunen auch feststellen, daß manche deutschen Texte sich auch nach dem Umbruch nicht geändert haben. So wenn der Frankfurter Sender in den Äther hinausträllert:

Nun kleidet sie rosig
Ins Badetrikot sich -
Da werden die Flundern
Sich wundern . . .

Die Damen lächeln, während sie ihre Badetrikots einmotten. Jetzt haben sie andere Sorgen. Die Wintergarderobe! Die Mode, von Paris diktiert, hat natürlich Seide vorgeschrieben, solange wir Seide nur im Auslande kaufen konnten. Jetzt auf einmal, wo wir aus Gründen der wirtschaftlichen Selbsterhaltung die Einfuhr von Wolle einschränken und unsere eigene Kunstseide bevorzugen müßten, lautet das Feldgeschrei: nur wollene Kleider, schlicht, einfach, hochgeschlossen! Aus Paris haben unsere Modesalons lauter solche Modelle mitgebracht. Kaum ein seidenes Abendkleid kommt auf vierzig andere, und die Schneiderfirmen erklären ihren Kundinnen:

"Wozu auch große Abendtoiletten? Man wird ja heute doch nur zu Pumpernickel eingeladen!"

Gläubig schauen die Damen zu den Propheten auf.

Unsere Staatsmänner und alle volksbewußten Deutschen halten die Mode, soweit sie nicht deutscher Ausfuhrartikel ist, für das Letzte, über das wir uns den Kopf zu zerbrechen brauchen. Viel wichtiger ist es, daß die Winterhilfe den Ärmsten der Armen auch diesmal ein behaglich-warmes Heim bereitet und ihnen die Kochtöpfe füllt. Die Ouvertüre hat ganz prachtvoll eingesetzt, man kann hoffen, daß diesmal die Gebefreudigkeit größer wird als im vorigen Jahre. Allein der erste Eintopf-Sonntag hat allein in Berlin rund 350 000 Mark eingebracht. Wir hatten unsere dicke Suppenterrine noch nicht auf dem Tisch, da wurde das nominell ersparte Geld - wir verbrauchen auch sonst nicht mehr - und das von uns zugelegte schon bei uns abgeholt, und so haben es 60 000 freiwillige Helfer in ganz Berlin getan. Die Organisation ist vorbildlich, alles klappt, und man sieht in diesem Jahre auch nicht mehr so viele sauertöpfische Gesichter, wenn der Sammler kommt. Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb, das wird allmählich auch denen klar, die bisher - auf ihrem Spartopf saßen.

Sensation hat unter den täglichen öffentlichen Quittungen der Presse die Notiz erregt: "Von Unbekannt 1 Million Mark."

Keine große Industrie- oder Handelsgesellschaft, die heute Zehntausende oder Hunderttausende von Mark auf Kosten ihrer Aktionäre für die Winterhilfe zeichnet, kann das sein. Sie alle haben ein Interesse daran, ihre Firma genannt zu sehen. Auch keine noch so starke Beamten- oder Angestelltenorganisation möchte bei einer solchen Gelegenheit ihr Licht unter den Scheffel stellen. Es gibt nur einen Mann in Deutschland, der dank seiner Einnahmen aus einem weltbekannten Buche so viel spenden und doch bei seiner notorischen Bescheidenheit im Schatten stehen kann, sagen einem mit dem Finger auf den Lippen die Kundigen . . .

Still, nur still.

Ich will lieber, nachdem ich schon so häufig bei dem Drehen eines Films in Neubabelsberg anwesend gewesen bin, von seinem ersten Entstehen etwas erzählen. Ein prachtvoller Stoff: "Der rote Tod von Riga." In der Stadt selbst im Mai 1919 die Bolschewiken und ihr Terror, draußen die Deutschen mit ihren Freikorps. Manteuffel, Schlageter, Medem preschen mit ihrem Häuflein heran, stürmen über die Dünabrücke und überrumpeln die Stadt. Viele Geiseln, namentlich auch deutschbaltische Pastoren, sind schon erschossen, immer wieder einer, wie das Los sie trifft. Da wird die übrige Gesamtheit gerettet. Wie gesagt, ein prachtvoller Stoff; nur das Drehbuch holt nicht alles heraus, was es bringt.

Da gibt es eine Regiekonferenz. Der Staatskommissar C.M.Köhn hat mich dazu eingeladen; das werde mich, der ich im Mai 1919 schon abgemustert war und in Weimar das dortige Gerede hatte mit anhören müssen, sicher fesseln. Einer unserer talentiertesten Spielleiter, Ucicky, sitzt mit mehreren anderen Herren der Ufa am Tisch, auch Freiherr v.Medem kommt hinzu. Man spricht hin, man spricht her. Niemand ist so recht zufrieden.

Nun hat der Dichter Gerhard Menzel das Wort.

Das Drehbuch stammt nicht von ihm. Aber er hat alles in der Staatsbibliothek über die Ereignisse von Riga Erreichbare im Handumdrehen durchgeackert, er ist im Bilde, jede handelnde Person auf russischer, lettischer, deutscher Seite steht greifbar deutlich vor ihm. Er sagt ein paar klare einleuchtende Sätze. In diesen wenigen Minuten wächst, riesenhaft, grauenvoll und erhebend zugleich, der Film vor uns auf, eine schöpferische Hand zaubert ihn uns hin.

Es ist schön, einmal so in geistiges Werden hineinsehen zu können. Es geht einem fast wie den meisten Frauen: nun möchte man am liebsten auch in die häusliche Werkstatt Menzels hineinschauen. Deutsche Dichter daheim, das wäre überhaupt ein trefflicher Stoff für Kurztonfilme.

Ich stelle anheim, dieser Anregung zu folgen.

Man könnte etwa den Dichter Rudolf Herzog auf seiner Burg am Rheine filmen. Oder Felix Riemkasten beim Spielen mit dem Töchterchen Mananne. Oder, wenn es nun nicht mal anders geht, Gerhart Hauptmann in Agnetendorf und an der Riviera. Oder Hans Braun-Bessin in seiner Arm-Seligkeit mit Frau Mieke in Stralsund. Oder Dr. Rudolf Presber in dem Landhaus der Kolonie Rehbrücke bei Potsdam.

Bei Presbers bin ich kürzlich gewesen, zum erstenmal, obwohl ich ihn schon seit einem Menschenalter kenne. Besucher kommen sowieso wie Heuschreckenschwärme in deutsche Dichterheime. Die Geplagten gehören nicht mehr den Ihrigen, sondern Herrn Omnes. Vor dem Gartenzaun stehen Schulmädchen und wollen ein Autogramm ergattern, womöglich mehrere, mit denen man ein Tauschgeschäft machen kann. Photographen lauern. Alle diese Quälerei könnte doch mit einem einzigen netten Kurztonfilm abgelöst werden, der den Gefeierten plaudernd und daheim zwanglos sich bewegend den Millionen zeigt. Im Zwischentext die Titel der Bücher; das läge ja auch ganz im Sinne der "Woche des Buches", die das Ministerium Goebbels eingeführt hat. Bei Presber gäbe es wirklich allerhand zu sehen und zu hören. Er ist ja nicht nur der sprudelnde Humorist vom Rheine, er hat große Romane und eine Anzahl vielgegebener Theaterstücke geschrieben, und sein Haus ist ein kulturgesättigtes Museum von Kunstwerken und Antiquitäten. Darin waltet die prächtige, tapfere, arbeitsame kleine Frau und hält die 4 Kinder davon ab, Vater zu stören. Von der verstorbenen ersten Frau hatte er auch 4 Kinder, so daß er jetzt neben einem achtjährigen Jungen schon einen zwanzigjährigen Enkel besitzt; er hat einst sehr früh geheiratet.

Das Absonderlichste in seinem Heim ist die Trinkstube im Keller. Auf den ersten Blick hin etwas karnevalistisch. Dann aber entdeckt man, daß eine ganze Wand mit echten Autogrammen aller berühmten Poeten bedeckt ist. Mit Aussprüchen nur über den Wein. Das ist Presbers Sammlerspezialität. Da fehlen natürlich nicht die Handschriften von Scheffel und Bierbaum, aber auch Goethe und noch Frühere rufen hier ihr Evoë Bacche.

Das Liebenswürdigste ist der Plauderer, der Anekdotenerzähler Presber. Nicht nur aus seinen eigenen Humoresken, aus denen er im Tonfilm ruhig etwas vorlesen könnte. In Wiesbadener und Frankfurter Geschichtchen ist er unerschöpflich. Die Leute im Kino würden Tränen lachen, wenn sie hörten und - sähen, wie er etwa die Geschichte von Rosalie erzählt.

Also der alte Nathan Veigelstock, der schwerreiche, ist erblindet. Er möchte wieder heiraten und geht zum Schadchen, dem Vermittler. Geld brauche die Schickse nicht zu haben, er selber besitze ja genug. Wie sie aussehe, sei ihm auch egal, denn er sei doch blind. Nur fühlen müsse man was.

"Nu", sagt Mosche, "bring' ich Ihne die Rosalie Goldberg, da is eppes zum Anfasse, die is mollig, die wiegt ihre ßweihundert Pfund!"

Gesagt, getan. Die beiden werden zusammengeführt. Nathan Veigelstock, der Blinde, tastet nach Rosalie. Er tastet über ihre Oberarme, er tastet weiter, um auf den Rücken zu kommen und sie umarmen zu können, er kriegt seine Hände nicht zusammen. Und da schmatzt er glückselig:

"Is dees da noch immer Rosalie?"
18. Okt. 1934 (Donnerstag)


3

O alte Burschenherrlichkeit - Hitlers Aufklarer - Dienstbotenmangel in der Großstadt - "Mit Siechenattest" - Steffi-Nossen-Schule - Treffpunkt: die Normaluhr.

Auf dem Wittenbergplatz ist Wochenmarkt. Es ist ganz so wie einst, und doch nicht ganz so, man fühlt, daß etwas in dem Bilde anders ist, aber man weiß nicht, was es ist, sagt mir eine alte Dame. Da kann ich ihr auf die Sprünge helfen: heute fehlt der Offiziersbursche mit dem Korb am Arm zwei Schritte hinter der Gnädigen.

Er stellte früher, neben der Köchin, alles übrige im Haushalt dar, nämlich Stubenmädchen, Diener, Kinderfräulein. Die Änderung in diesem Zustande begann schon etliche Jahre vor dem Kriege, weil die Burschen immer mehr zum Exerzierdienst herangezogen wurden. Den ersten Anstoß hatte der Graf Haeseler in Metz gegeben. Eines Tages sah er einen Offiziersburschen einen Kinderwagen schieben, stellte ihn und schickte den Mann nach Hause mit dem Befehl:

"Sagen Sie der Gnädigen, daß der Kommandierende General so lange ihr Baby bewacht, bis sie hier ist!"

Hei, da kam aber die Frau Hauptmann mit fliegender Pleureuse angewetzt, das lange Kleid hochgerafft, um überhaupt schnell gehen zu können; und die Burschen verschwanden zwar nicht ganz von den Metzer Straßen, aber es kam kein einziges Mal mehr vor, daß sechsjährige Offiziersgören an ihrer Hand zur Schule gingen.

Heute ist der Bursche, wo es ihn noch gibt, nur nebenamtlich für seinen Herrn und dessen Uniform, Stiefel, Sattelzeug da, in der Hauptsache Soldat wie alle anderen Kameraden. Die jungverheiratete Frau Oberleutnant von 1934 hat in neun von zehn Fällen nicht einmal ein Dienstmädchen, geschweige denn einen Burschen. Für die in Berlin beispielsweise im Reichswehrministerium tätigen Herren ist keiner mehr zuständig. Sie können ihre oft gewichtigen Mappen alleine tragen, während ihnen das vor dem Kriege verboten war, weil der Offizier in Uniform und Waffe für diese die Hand frei haben sollte.

Solange wir die allgemeine Wehrpflicht hatten, konnten wir bei unserem Menschenüberschuß ruhig schon dem Feldwebel einen Burschen gönnen. Seit Versailles aber wurde jeder Soldat kostbar, mußten wir sparsam mit den nur 100 000 umgehen, wurden auch die Schreibstuben mit zivilen, vielfach weiblichen Hilfskräften besetzt. Das ist der eigentliche Grund für die Dezimierung des Burschenstandes, womit übrigens auch allerlei Poesie und Humor nebst tausend Anekdoten ausgemerzt sind.

Was man in Österreich im Heere Offiziersdiener, bei uns Bursche nannte, (bei den berittenen Herren gab es sogar zwei, den Zivilburschen und den Pferdeburschen), das kennt man auf Kriegsschiffen gar nicht. Da heißt der Mann "Aufklarer", er hat die Kammer seines Offiziers oder seiner Offiziere (auf S.M.S. "Friedrich der Große" bestand eine Leutnantsbucht mit 5 Kojen) aufzuklaren, nämlich aufzuräumen, und die Sachen zu putzen, basta. Hat er etwa zwei junge Herren zu betreuen, so teilt er am Ende des Monats ihre getragene Wäsche und schickt jeder Mutter eine Hälfte, ohne erst festzustellen, wem das einzelne Stück gehört. So werden auch bei uns zu Hause oft fremde Taschentücher gewaschen, fremde Kragen geplättet, fremde Strümpfe gestopft. Nachher klaubt der Aufklarer wieder alles auseinander.

Er ist fast durchweg ein Prachtkerl und in den beengten Verhältnissen an Bord so gewandt und anstellig, wie es der "Fünfundachtziger", der Mann vom Landheer, gar nicht nötig hat.

Das ist sogar dem Führer und Reichskanzler wohltuend aufgefallen, als er im vorigen Jahre sich auf dem Kreuzer "Leipzig" befand. Er hat jetzt, das wissen nur wenige im großen Publikum, in seiner Dienstwohnung in der Wilhelmstraße in Berlin einen bisherigen Matrosen als Aufklarer. Je zwei bestbeleumundete von der "Leipzig" und von dem Panzerschiff "Deutschland" wurden ihm zur Auswahl vorgestellt; von diesen nahm er sich einen. Auch der preußische Ministerpräsident General Göring weiß übrigens die blauen Jungen zu schätzen. Er hat einen ehemaligen Torpedobootsmaat als Diener.

In Berlin suchen die kinderreichen und noch gut situierten Familien jetzt häufig händeringend nach tüchtigen Hausgehilfinnen. Der Staat will möglichst viele weibliche Personen so unterbringen, um den gewerblichen Arbeitsmarkt zugunsten der Männer zu entlasten, und gewährt dafür sogar eine erhebliche Steuerermäßigung. Aber viele gute Hausmädchen sind auf das Land verpflanzt, neuer Zuzug vom Lande ist in Berlin unterbunden, also haben wir Mangel an Kräften. Über all werden die kleinen Anzeigen der Zeitungen studiert: auf ein Angebot kommen zehn Anfragen nach einem Mädchen für Alles. Wir haben noch unsere langjährige Perle, die auch nicht weg will, weil sie sich wie Kind im Hause fühlt, aber für Bekannte sehe ich allsonntäglich die Blätter durch. Da kommt man denn unversehens von den gesuchten Stellen zu den angepriesenen Möbeln, von den alten Schreibmaschinen zum Kredit für Festbesoldete, von dem Sprachunterricht zu den Geschäftsverkäufen. Auf einmal hake ich fest, denn da steht:

"Milchaltexistenz mit Siechenattest zu verkaufen."

Was ist das?

Wir haben jahrelang unter Vereinsnachrichten die kleinen Anzeigen gelesen, in denen verhüllt und doch eindeutig "Partner" oder "Partnerinnen" für Sport, Theater, Reise, Wochenende gesucht wurden. Das darf in dem sauberen Dritten Reich nicht mehr sein. Ganze Spalten, ganze Seiten derartiger und ähnlicher Anzeigen sind fortgefallen, heute ist alles reinlich und zweifelsohne. Aber, wie mein Beispiel zeigt, doch nicht immer auf Anhieb klar. Das erste Wortungeheuer, die "von wegen Verbilligung" zusammengesetzte Milchaltexistenz, kann ich noch begreifen, das ist offenbar ein Milchladen, der dem Inhaber schon seit vielen Jahren ein auskömmliches Dasein sichert. Aber wozu sollte jemand ein Siechenattest mitkaufen wollen? Da gehe ich hin, das muß ich mir erklären lassen. Da treffe ich einen alten Mann, und der sagt mir zwischen seinen Kannen und Kübeln:

"Ja, sehen Sie, lieber Herr, da heißt es so oft, daß ein Geschäft krankheitshalber zu verkaufen sei. Das kriegst du billig, denkt mancher, und macht sich auf die Strümpfe. Nachher ist aber der Verkäufer kerngesund, nur die Tageseinnahme hat seit Monaten die Schwindsucht. Aber bei mir ist alles reell, ich habe ein Attest vom Arzt, daß ich wirklich siech bin!"

Nun bin ich neugierig, wann ich selber einmal anzeigen kann: Schreibaltexistenz mit Siechenattest zu verkaufen. Ich glaube nicht, daß das so einfach ist. Siechenattest später einmal, ja; aber für die Schreibaltexistenz gäbe es doch nur wenige Spezialisten als Anwärter.

Einstweilen freue ich mich an jeder Freude. Wir haben gerade den 90. Geburtstag Nietzsches hinter uns, jenes vielumkämpften Philosophen Nietzsche, den ich besonders als Sprachbildner verehre. Der hat den klassischen Gruß "chaire" - freue Dich - wieder zu Ehren gebracht, der hat den lachenden, tanzenden, dionysischen Menschen verherrlicht. Selbstverständlich meinte er nicht den Paartanz, der stilisierte Erotik ist, den Paartanz, der in der Niggerzeit seit November 1918 oft als Paarungstanz wirkte. Nein, das Gelöstsein, das Beschwingtsein. Die in der Bewegung jauchzende Freude am Dasein, die Freude an dem schöpferischen Körper.

Im vergangenen Jahre bin ich einmal in einer Filiale der Steffi-Nossen-Tanzschule in eine Übungsstunde erwerbstätiger Frauen und Mädchen hineingeplatzt. Am vorigen Sonntag versammelten sich alle Freunde und Bekannten der Schule zu deren elftem Jahresfest im Deutschen Künstlertheater. Wie eine einzige große Familie, die froh miteinander ist. Auf der großen Bühne konnten auf einmal ganze 40 Schülerinnen des Kurses für die erwerbstätige Frau Szenen aus ihrer gymnastisch-tänzerischen wöchentlichen Feierabendstunde vorführen. Keine ausgesuchten praerafaelitisch schlanken Sylphiden, nein, sondern eben wirklich arbeitende Menschen aus Laden und Kontor und Fabrik und Laboratorium, Mädchen und Frauen mit derben festen Oberschenkeln. Aber in der Gesamtheit ein einzig schönes Bild voll Leben und Anmut. Dann allerlei rein Tänzerisches der Berufsklasse, Kinder und Halberwachsene, Mädchen aus allen Schichten der Gesellschaft, die sich untereinander alle nur mit Vornamen nennen und auch so gerufen werden, ganz gleich, ob die eine eine kleine Baronesse ist und die andere eine kleine Unterbeamtentochter. Bis zu einem süß-ulkigen Fratz von 5 Jahren herunter, der noch manchmal nachklappt und allgemeine Heiterkeit erweckt.

Hinter den Kulissen Steffi Nossen, immer wieder umringt von ihren Schülerinnen, die doch ein ganz klein bißchen Lampenfieber haben. "Steffi, spuck mal!", bittet die eine, bittet die andere. Es ist ein alter Bühnenaberglaube: dreimal auf die linke Schulter spucken, dann geht alles gut! Es geht auch alles gut. Sogar bei der 13jährigen akrobatischen Tanzelevin während einer schwierigen Figur, dem Unterarmstand mit langsamem Vornübersenken der Beine bis zur Berührung des Kopfes mit den Füßen. Um ein Haar hätte es nicht geklappt. Denn gerade war der Kleinen siedendheiß der Gedanke gekommen: "Mutti hat vergessen, mir Stullen einzupacken!" Ein lustig parodierendes Tanzstückchen "Kleinbahn anno Dazumal" - auch in den Toiletten von anno Dazumal - beendet die Feier.

In dem Haupthaus der Steffi-Nossen-Schule, in einer großen Mietvilla in Berlin-Grunewald, sehe ich einmal einer Übungsstunde am Abend zu. Eine Pianistin hämmert oder wiegt den Rhythmus, die erste Assistentin der Schule leitet die Übung, es ist ein seliges Schwingen und Klingen in dem Raum. "Locker - lassen, aus-ein-ander, und - Schwung, und - Schwung, und - Schwung!", lockt mit Betonung die Leiterin, indem sie alles vor- und mitmacht. Da ist eine ganze Anzahl junger Mädchen aus dem Westen Berlins, auch eine verheiratete Frau, die nicht mager werden, aber schlank bleiben möchte - und froh.

Steffi hat getanzt, solange sie denken kann. Schon ehe sie sprechen konnte, tanzte sie unter dem Flügel, an dem ihre Mutter spielte. Der "ehrenfeste und sehr gestrenge" Herr Vater wollte keine Tochter als, pfui, Tänzerin. Durch Handarbeiten, heimlich, ersparte sich Steffi ihr erstes Tanzstundengeld. Der Vater starb. Mit 18 Jahren, fertig ausgebildet, eröffnete Steffi ihre Schule mit ihrem eigenen System. Nie hat sie etwa von irgendeinem "Gönner" auch nur einen Pfennig bekommen. Und die Anstalt wuchs und gedieh.

Heute unterrichten von ihr ausgebildete Lehrerinnen in verschiedenen Städten Deutschlands, eine sogar in London. Eine der jungen Pädagoginnen, im Sommer in Misdroy, ist jetzt in das Arbeitslager Weingarten bei Karlsruhe gegangen.

Und sofort ist eine Steffi-Nossen-Schule da!

Da sind nämlich halberwachsene Kinder, 50 Jungen, 60 Mädchen, von der NS.-Volkswohlfahrt hingeschickt. Schon hat Ceci Grundmann sie in den Fingern. Sie beglückt und sie ist beglückt. Und sie schreibt vergnügt:

"Hier stöhnen freilich alle noch vor Muskelkater; den Bauernmädchen sind Drehungen natürlich böhmische Dörfer."

Ich habe den Eindruck, daß da wirklich ein neues Geschlecht heranwächst, sich in frohgemutes starkes Leben hineintanzt. Es wird nicht gleich den "Übermenschen" Nietzsches hervorbringen, gewiß, aber es wird besser als die früheren Generationen verstehen, was er so herrlich in dem Zarathustra-Kapitel über Liebe und Ehe schreibt. Nach wie vor werden Männlein und Weiblein auch in der Großstadt natürlich ihren Treffpunkt finden, selbst wenn er ihnen einmal weggerückt sein sollte. Einstweilen reißt noch alles die Augen auf, denn - die Normaluhr am Zoo-Bahnhof ist wegen des Umbaues entfernt!

"Was machen denn nun die Pärchen?", frage ich einen dort stationierten Schutzmann.

Er antwortet unverfälscht ostpreußisch:

"Se rännen all rum wie die verschucherten Hiehner!"

Da mußte ich ebenso ostpreußisch ausrufen:

""Erbarmung!"
25. Okt. 1934 (Donnerstag)



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Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts