"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 40 - 42
14. bis 28. Juni 1934


40

Das Kalbfell brummt - Jungvolk im Zeltlager - Wiedererstandenes Spartanertum - Der heutige Student - Geld als Wertmesser - Die Mosse-Auktion - Billige Hochzeit bei Kruses.

Trumm, trumm, trumm! Das Kalbfell geht um! Wenn man die Augen schließt, könnte man glauben, es seien wirkliche Landsknechtstrommeln, deren Brummbaß lockt und wirbt, zu freiem Leben, zu Kampf und Streit, zu Beute und Gelage. Querpfeifen tirilieren darein. Die sollen es vielleicht übertönen, wenn einer aus dem verlorenen Haufen barbarisch vom Profoß geschlagen oder gar durch die Gasse der zustechenden Spieße gejagt wird. Neben dem freien Leben stand doch härteste Zucht, neben der Tonne mit dem Würfelbecher das Hochgericht.

Augen auf! Man sieht - das Tempelhofer Feld! Nicht 1434, sondern 1934! Nicht bärtige Krieger, sondern kleine Buben! Die "Pimpfe" der Hitlerjugend! Im Wanderlager!

Am vorigen Sonnabend stehen 1000 Zelte für 20 000 Jungs da, während ein Regenhusch nach dem andern herniederprasselt. Kleine Abzugskanäle und Sammelbecken werden gestochen, handspannenhoch winzige Dämme um die Zelte geschichtet. Trocken muß es da immer zum Schlafen sein, eine Wolldecke hat ja jeder Pimpf, und in manchen Zelten gibt es sogar eine Strohschütte. Noch stehen die Kleinen bebbernd davor herum und treten von einem Fuß auf den anderen, der Haarschopf trieft, die Stiefel sind verdreckt, zum Teil haben die Buben einen weiten Anmarsch hinter sich.

Da erschallen Kommandos. "Antreten, marsch marsch!"

Der Letzte eines Fähnleins kriegt seinen Knuff, weil er zu spät eingerückt ist. Statt sich gleich in Reih' und Glied zu stellen, ist er lieber vergnügt krähend noch einmal - platsch - mit beiden Beinen in eine Pfütze gesprungen. Nun das "Richt Euch!", nicht ganz militärisch, denn Augen und Köpfe wandern - "Schiel nich, Mensch!" -, aber immerhin, immerhin. Musterung der etwa Acht- und Zehnjährigen durch einen Großen, der schon den Stimmwechsel hinter sich hat und mit tiefer Stimme grollt:

"Horst Müller, kiek man bloß, Määnsch, von die Seite, wie de da aussiehst!"

Eifrig putzt der Junge sich ab. Dann geht es mit den Spielen los, da wird man bald trocken und warm.

Hier werden die Kleinen auf einer Zeltbahn, die wie ein Feuerwehr-Sprungtuch von den Größeren gehalten wird, hoch in die Lüfte geprellt. Das ist die erste Mutprobe für manchen Knirps. Dort werden "römische Wagenrennen" von je 5 Buben veranstaltet. Und da und da und da wird marschiert, während Trommler und Pfeifer dazu die Musik machen. Stolz reckt sich der Dreikäsehoch von Tambourmajor. "Spiel - ab!" Das Kommando ist, wie man heute zu sagen pflegt, zackig, und zackig klappen die Trommeln herunter, die Schlägel zur Seite.

An einer Stelle gibt es in großem Ring Blindekuh-Boxen. Drei Jungen bekommen die Augen mit dem schwarzen dreieckigen Halstuch verbunden, werden um und um gedreht, und hauen los. Meist gehen die rechten Geraden und die linken Schwinger in die Luft, manchmal landet auch ein Fauststoß ins Gesicht des Zweiten, während jener von dem Dritten einen Hieb bekommt und sich nun blitzschnell umdreht, um dem scheinbar flinkeren Zweiten, denn dafür hält er ihn, beizukommen. Es hagelt wieder Luftstöße. Die Corona quiekt vor Lust. "Det macht Laune!"

Hier und da einzelne Balgereien. Hier und da auch Gesang.

Ein Kanon:

"In dem Falle, Falle, Falle, daß
Einer unter uns is,
Der im Grundriß
Schon begriffen hat
Das Wie und Was,
Das wär' für alle, alle, alle
Schon ein Spaß!"

Überall die Fähnlein: Andreas Hofer, Scharnhorst, Emden, Die Seeräuber, Florian Geyer, Widukind, Roßbach, Götz von Berlichingen, Leuthen, und wie sie alle heißen mögen. Überall wimmelndes Leben. Vier Sonderzelte: Gebietsführer, Rotes Kreuz, Presse, Technische Bereitschaft. Fabelhaft modern! Die Technische Bereitschaft besteht aus 800 Berliner Jungs, die die geborenen Bastler sind, in der Marchstraße unter der Leitung junger Diplomingenieure ihr Werkstatt-Paradies haben und dort jedem Mikrophon und jedem Motorrad in den Bauch gucken. Sie sind es, die die ganze Telephon- und Lautsprecheranlage auf dem Tempelhofer Felde errichtet haben. Zehn- bis vierzehnjährige Buben! Und es arbeitet alles tadellos.

Am Sonntag strahlt die Sonne. Rund 100 000 Besucher kommen und bezahlen je 30 Pfennige Eintrittsgeld. Sie alle schmunzeln selig. Das Jungvolk aber überschlägt schon, wieviel "Gulaschkanonen" dafür gekauft oder wieviel Strandlager an der Ostsee dafür gebaut werden können. Unter den 100 000 sind viele Elternpaare, meist einfachen Standes. Sie stecken ihrem Jungen eine Banane, ein Butterbrot, einen Negerkuß zu. Und sie freuen sich sichtlich über die neue Zeit mit ihrer Volksgemeinschaft schon von Kindesbeinen an.

Das ist das wiedererstandene Spartanertum. Die gemeinsame Aufzucht durch das Volk für den Staat, so wird altgriechisches Ideal erneut lebendig, in wirklicher Praxis, nicht bloß in der Lektüre von Herodot und Homer und Plato für höhere Schulen. Ein leiser Zwang für alle. Denn der für diese Disziplin und dieses Zelt- und Wanderleben ausersehene Sonnabend jeder Woche ist nur für die Hitlerjugend frei. Wer ihr nicht beitritt, mag auf der Schulbank büffeln, er ist kein Spartiate, sondern Helot oder bestenfalls Periöke.

Das soll so weitergehen bis zu den Achtzehnjährigen der Arbeiterschaft, und bei den Studenten ist es schon so, denn die müssen alle einem S.A.-Sturm angehören und dürfen die Universität nicht weiter besuchen, wenn sie während der ersten 3 Semester die neue Staatsbürgerpflicht nicht erfüllen, Einzelgänger bleiben und verhocken.

Die freie Romantik der alten Zeit wird kaum mehr begriffen. Mit hartgemeißeltem Gesicht schaut der heutige Student das Leben an. Manchmal ist es für ihn gar nicht so einfach, sich den überkommenen Idealismus zu wahren. Die Erprobung ist zuweilen schärfer als einst im Dreck des Schützengrabens. Noch werden die ehedem Privilegierten vielfach eigens gedemütigt. In der Nähe von Berlin befindet sich ein Arbeitslager mit einer Belegschaft von mehreren hundert jungen Leuten. Darunter sind 5 Hochschüler. Wenn nun die Abortgrube geleert werden muß, dann heißt es regelmäßig: "Das machen die Studenten!" Selbstverständlich ist keine schmutzige Arbeit entwürdigend. Auch Grafen und Prinzen müssen als junge Fahnenjunker bei der Artillerie oder Kavallerie Stalldienst machen. Das ist schon immer so gewesen. Aber solche Tätigkeit ist nicht ausschließlich für einen Stand da.

Allmählich wird sich das abschleifen.

Allmählich werden sich nicht nur hinunter, sondern auch hinauf die Hände strecken. Allmählich wird auch der Handarbeiter begreifen, daß er dem Kopfarbeiter guter Kamerad sein muß.

Die Hauptsache ist doch nur, daß eines als Wertmesser des persönlichen Ansehens verschwindet, das Geld. Gewiß, bei den alten Germanen schon war Reichtum eine Ehre. Der war aber nicht spekulativ errafft, sondern man wußte es: Kapital ist aufgespeicherte Arbeit. Ob es in Viehherden oder in Äckern oder sonst etwas bestand, jedenfalls verdankte es sein Dasein der Tüchtigkeit des Mannes oder seiner Eltern; oft auch der Tapferkeit. Der Faule und der Leichtsinnige brachten es zu nichts. Der andere aber stapelte auf: Sparvermögen. Das ist bis ins 19. Jahrhundert hinein so gegangen. Die Schichau, Borsig, Krupp, Stinnes hatten ganz arme Vorfahren. So wie der Soldat den Feldmarschallstab im Tornister trägt, trug der Arbeiter die Million in der Faust.

Das wurde anders, als erst die Parole des Liberalismus aufkam, der Mensch sei ein zweibeiniges Wesen, dazu bestimmt, billig zu produzieren und teuer zu verkaufen.

Was produziert wurde, war egal: Wolle, Maschinen, Chemikalien, öffentliche Meinung.

Die Großen der öffentlichen Meinung von vorgestern schwinden jetzt alle dahin. Die Ullsteins haben ihre letzten Anteile verkauft. Der Zeitungskönig Mosse, heute ist es die Familie Lachmann-Mosse, hat Konkurs gemacht. Wenigstens in Deutschland; wieviel die Familie etwa über die grüne Grenze gerettet hat, das wissen nur die Götter, kein Finanzamt. Die Versteigerung des Mosseschen Kunstbesitzes ist nun auch vorüber. Das Schönste und Wertvollste, für das aber noch keine paar hundert Mark Angebot vorliegen, ist wohl der bronzene mächtige Brunnen mit den drei Tänzerinnen im Ehrenhof des Hauses in der Voßstraße; das beste Werk von Walter Schott. Die meisten Antiquitäten sind für ein Butterbrot dahingegangen. Da war ein etwa aus dem Jahre 200 stammender römischer Kindersarkophag aus Marmor mit hübschen Reliefs, Anschaffungswert 30 000 Mark. Er wurde für - 110 Mark einem Bekannten von uns zugeschlagen.

Solange der Markt mit Auktionsware überladen ist, aus der auch minderbemittelte Kunstfreunde ihren Bedarf decken können, werden die deutschen Maler und Bildhauer sich den Leibriemen noch eng schnallen müssen. Da kann ihnen auch die Regierung trotz besten Willens nicht viel helfen, denn gegen diese Inflation von den Versteigerungen her ist man vorläufig machtlos; die muß erst überstanden sein. Gelegentlich wird aber schon der Versuch gemacht, Werke lebender Künstler wieder unter das Volk zu bringen. Der Marathonläufer, die berühmte Statuette von Kruse, wird jetzt, wie schon erzählt, als kleine Bronze verkauft. Vielleicht hat sie in unserem Sportzeitalter Erfolg. Frau Käte Kruse aber, die fleißige, die neulich einem ihrer Kinder die Hochzeit auszurichten hatte, hat dies ganz neuzeitlich getan, Marke "Bediene Dich selbst". Trotzdem erschienen 48 fröhliche Gäste.

Die gedruckte Einladung an alle, auch an diejenigen Freunde, die wegen der Kosten dann doch nicht kommen konnten, lautete:

Im alten Café des Westens, jetzt Kranzler, sind für diesen Abend zwei schöne Räume reserviert. Gedeck zu 2,50 Mark. Wir und das junge Paar würden uns herzlich freuen, wenn Sie kommen möchten. Max ist wieder auf und hofft dabei sein zu können. Bitte geben Sie telefonischen Bescheid. Hochmeister 2594.

K.K.     

Dienstag, 5.6., abends 8 Uhr
Joachimsthaler Straße, Ecke Kurfürstendamm.
Bitte seien Sie nicht böse, daß wir es in dieser Form machen müssen.

14. Juni 1934 (Donnerstag)


41

Unsere alte Putzfrau kommt - Logierbesuch - Anstehen nach Saarfrauen - Die zwei Jäckchen - Seekrankheit und Luftkrankheit - In der KDDK.

"Die dreckige Arbeit paßt mir nicht mehr! Ich nähe lieber Schürzen fürs Geschäft- Mein Mann ist arbeitslos und hilft mir dabei. Wir bauen uns jetzt eine Wohnlaube!", sagt unsere neue Putzfrau.

Na denn nich, liebe Tante.

Nun hat aber unser Dienstmädchen gerad ihre zwei Wochen Urlaub, dazu ist etlicher Besuch zu herbergen, also da wäre es nichts mit einer ganz fremden Aushilfe. Unsere gute Alte muß wieder heran. Ein Brieflein fliegt hinaus in die Siedelung in Neuenhagen bei Berlin-Hoppegarten. Da verbringt die treue Seele ihren Lebensabend. Während der fünfzehn Jahre bei uns hat sie sich 3000 Mark gespart, ebensoviel konnten die Schwiegereltern ihres Sohnes hergeben, der Rest wurde aufgenommen, und dafür haben die Leutchen sich eine schöne 5-Zimmer-Bleibe geschaffen. Die Schwiegertochter liest den Brief vor. Die Alte strahlt. "Det is fein! Bei die jeh' ick jleich! Allemal!" Da feiern wir denn, nachdem wir uns im vorigen Herbst von der Siebzigjährigen haben trennen müssen, gerührtes Wiedersehen. Und sie geht sofort tüchtig ins Geschirr.

Ein solches Bild gehört in die Sammlung der Skizzen, die den Menschen draußen im Reich Berlin verlebendigen sollen.

Berlin besteht wirklich nicht nur aus Firlefanz-Mädchen.

Da kommt diese Alte, die wohl noch nie in ihrem Leben einen Hut getragen hat, mit ihrem braungebrannten Gesicht an, in dem hundert Runzelchen uns vergnügt anlachen. Schürze vor, wie sich's gehört. Kein Dienstmädchen - Verzeihung: keine Hausgehilfin - oder keine Stütze schafft mit solcher Lust, kommt beim Putzen so ins letzte Eckchen hinein, ist bis über Feierabend hinaus so hungrig nach Arbeit. "Schluß machen soll ick? Nee, Herr! Rundfunk hören soll ick? Nee, Herr! Ick will die Frau mit jewaschene Küchentücher überraschen!" Da steht sie also vor der dampfenden Bütte und walkt eifrig mit ihren mageren sehnigen Armen.

Ganz ehrfürchtig streicheln möchte man solch ein Wesen. Da freut man sich noch nachträglich über jeden Taler, den man der Braven hie und da extra zugesteckt hat. Ein Leben ohne Arbeit ist für sie kein Leben. Nur an jedem Abend, wenn alles blitzblank ist, geht sie für zwei Stunden weg. Da besucht sie alle alten Bekannten. Jedermann freut sich, denn die ganze Straße kennt sie und liebt sie. Auf sie ist immer Verlaß gewesen.

Eine Weckeruhr braucht sie nicht. Sie wacht immer von alleine eine Stunde vorher auf. Und das sei so herrlich, daß sie dann gleich aufstehen könne, sagt sie; zu Hause müsse sie ein paar Stunden mucksmäuschenstill liegen, um die Schwiegertochter nicht zu stören. Dann trippelt sie zunächst mit kahlen Füßen durch die Wohnung. Als sie vor 55 Jahren in dem damals noch kleinstädtischen Berlin junge Kuhmagd in der Wilhelmstraße Nr.3 war, hat sie im Sommer überhaupt nie Strümpfe und Schuhe getragen.

Das ist nun freilich schon lange anders geworden. Wenn unser gegenwärtige Logierbesuch an den Frühstückstisch kommt, ist die Alte schon "fein in Schale".

Da ist erstens eine Deutsche vom Kilimandscharo in Ostafrika, seit mehr als zwei Jahrzehnten dort, die jetzt ihren großen, zur Ausbildung in Deutschland weilenden Jungen besucht. Da sind zweitens zwei Saarbrückener bei uns, die die große Fahrt des Vaterländischen Frauenvereins ins Reich mitmachen, nach Berlin, nach Potsdam, nach Warnemünde.

Vor Wochen schon kam die Anfrage, ob auch wir eine Saarfrau aufnehmen wollten. Mit Vergnügen! Aber dann bitte gleich zwei.

In drei Sonderzügen rollen die 2100 heran, darunter rund 1300 Bergarbeiterfrauen, die zum Teil außer Göttelbronn oder sonst einem heimischen Nest nichts von Deutschland gesehen haben. Und doch glühen sie für Deutschland. manche von ihnen sind schon am dritten Tage in Berlin todmüde von der Herumschlepperei zu allem Schönen und Interessanten, aber trotzdem selig.

Nur ein bißchen zu viel Begrüßungsreden würden gehalten, meinen sie.

Zwischen 8 und 9 Uhr abends sollten wir freiwilligen Herberger uns im "Rheingold" in der Bellevuestraße einfinden, um unsere Gäste abzuholen, oder vorher Hausschlüssel mit genauer Wohnungsangabe hinterlegen. Natürlich gehe ich selbst hin. Wir stehen Schlange. Da kommen die Kolonnen, dreimal 700, vom Anhalter Bahnhof anmarschiert, jede Frau, bis zu der 82jährigen, trägt ihren Koffer, Musik ist dabei, Führer mit Gruppenschildern sind dabei, auf dem Bahnhof hat es schon Ansprachen gegeben, jetzt werden sie fortgesetzt, und dabei soll jede Frau auch "einen warmen Löffelstiel in den Leib" bekommen, während Reden angehört, Lieder gesungen, Quartierzettel empfangen werden.

Endlich um ½1 Uhr nachts habe ich als einer der ersten mir zwei Saarländerinnen angeln können und in eine Autodroschke verfrachtet. Die letzten haben erst gegen 4 Uhr Wohnung und Bett erreicht.

Einige Abholer müssen mit leeren Händen wieder heim, da inzwischen verschiedene Saarfrauen, für die ein privates Unterkommen bestimmt war, truppweise für Hospize und Jugendheime eingeteilt sind. Einer will mir eine meiner beiden Frauen abbetteln. Man möchte doch so gerne die Saardeutschen hegen! Rund um mich sehe ich lauter bekannte Gesichter aus unserem Viertel. Da der Bäcker, da der Studienrat, da der Kohlenhändler, da der Kürschner, da der Hauptwachtmeister, da der Fabrikant, da die Milchfrau, die waren alle stramm schwarzweißrot auch in den bösesten Jahren nach dem November.

Der erste Tag ist glühend heiß. Just am Potsdam-Tage - Abmarsch morgens um 6 vom Belle-Alliance-Platz ("Verfluchter französischer Name!", sagt eine Frau), dann Dampferfahrt - setzt aber Regen und starke Abkühlung ein. Nicht alle sind darauf gerüstet.

"Hätt' ich doch mei Jäckelche mitgebrong!", sagt eine.

"Na, e Konjäckelche han ich noch do!", sagt eine andere.

Und zieht wahrhaftig eine kleine Flasche Cognac hervor und stärkt sich und die Umsitzenden. Ihren Humor haben die Leutchen noch behalten, auch wenn sie am Zorn über ihre Franzosenzeit fast ersticken.

Die Fahrt nach Warnemünde geht morgens noch früher los, und die Sonderzüge treffen am nächsten Morgen erst um 3 Uhr wieder in Berlin ein, da hole ich unsere Gäste nicht ab, da müssen sie schon alleine herfinden. Die meisten der 2100 machen sich nur eine unklare Vorstellung davon, was Meer ist, und werden sicherlich einen gewaltigen Eindruck in ihre Berge heimnehmen. Es stehen Schiffe zu einem Ausflug bereit. Wenn das bloß keine Seekrankheit gibt, denken viele.

Ach was! bloß nicht denken! Die meiste Seekrankheit kommt nur vom vorherigen Denken daran. Manchen Menschen wird ja schon übel, wenn sie am Laden eines Haarformers das Schild lesen: "Dauerwellen!" Meine Frau war früher nie seefest, jetzt ist sie es. Weil sie an Seekrankheit nicht denkt. Weil sie nicht seekrank werden - will.

Dasselbe gilt von der Luftkrankheit. Sie beginnt ihre Schrecken zu verlieren, denn unsere dreimotorigen Flugzeuge halten ja auch bockiges Wetter steif durch. Über Berlin machen Tausende von Besuchern des Flughafens die 10-Minuten-Ausflüge und kehren sehr beruhigt und beglückt zurück. Neulich hat eine liebe Bekannte, eine 85jährige Frau v.Versen, zum erstenmal in ihrem Leben einen solchen Flug genossen. Wir raten jedermann zu. Die Militärfliegerei in den fremden Staaten, die Sportfliegerei allüberall hat noch ihre starke Gefahrenquote, aber das Verkehrsflugzeug ist das sicherste Beförderungsmittel der Welt. Das tückischste ist das Motorrad. Dann das Auto. Dann die Eisenbahn. Dann das Schiff. Am allerwenigsten Unglück gibt es bei dem Verkehr in der Luft.

Bei einem Besuch in der KDDK habe ich das dieser Tage meinem Tischnachbarn zahlenmäßig nachgewiesen.

Was KDDK ist? Bitte raten!

Ich empfinde ein boshaftes Vergnügen und eine pädagogische Aufgabe darin, gelegentlich eine solche Buchstabenreihe anzuführen. Der Minister Dr. Frick, Gott segne ihn dafür, hat neulich einen Erlaß gegen die Stummelsprache herausgegeben; sie sei höchstens im inneren Verkehr der Behörden usw. zur Abkürzung des Schreibwerks angebracht. Wenn eine Meldung von Feldwache mit "Müller, Lt. 7/18" unterzeichnet ist, nun gut. Aber ich sehe nicht ein, weshalb wir alle HJ schreiben und sprechen sollen. Ich finde "Hitlerjugend" viel schöner als "Hajot". Ich sage nie KDW, Kadewe, und gehe auch nie in das Kaufhaus des Westens. Mit Mühe hab ich mir eingeprägt, was BDF bedeutet, nämlich Bund Deutscher Faustkämpfer; dieser Bund müßte uns mal die Buchstaben aus den Zähnen schlagen, damit wir wieder allgemeinverständlich sprechen.

Also ich bin im Klubhaus des KDDK - Kameradschaft der deutschen Künstler - in der Viktoriastraße 3/4 gewesen, einem Hause, das ein würdiges Seitenstück zu dem Presseklub in der Tiergartenstraße 16 ist. Zum Sommerfest. Der erste mir begegnende ältere Herr meint verblüfft: "Hier kennt man ja beinahe keinen mehr!" Ja, mein Lieber, die - Emigranten, die früher den Klub "Bühne und Film" und ähnliche bevölkerten, sind freilich weg. Den Polizeivizepräsidenten Weiß und solche Größen sehen wir nie wieder. In der Kameradschaft der Künstler wird auch nicht gejeut, sondern geplaudert, gegessen, getrunken, getanzt, und es sind "deutsche" Kameraden. Außerdem stehen in den oberen Räumen ein Ping-Pong-Tisch und zwei russische Billards.

Alle Berliner Klubs sind im letzten Jahre erblondet.

Es ist viel neues, junges, zukunftsfreudiges Volk hineingekommen. Etliche bekannte Gesichter aber sieht man doch noch. Da kommt gerade die neuvermählte Maria Paudler mit ihrem Manne. Das sitzt Claus Clausen, da Ucicky, da Klein-Rogge, da Beckersachs, da Willi Schaeffers. Und da, wahrhaftig, Viktor de Cowa. Seine Ursula Grabley, die er auf ihrem letzten Ausflug nach Paris überwachen ließ, ist er prompt losgeworden.

Das wird sich wohl auch im Dritten Reich nicht ändern, daß die leicht aufwallenden Künstler häufig heiraten, häufig sich scheiden lassen. Ein solches Zusammenhalten wie zwischen Friedrich Kayßler und seiner Frau findet man da selten. Wer über das Sichneigen und das Sichabstoßen der Paare im Bereiche von Großberlin unterrichtet sein will, der braucht nur dauernd in der Viktoriastraße 3/4 zu verkehren.

Aber er findet da mehr das "himmelhoch jauchzend" als das "zu Tode betrübt".
21. Juni 1934 (Donnerstag)


42

Unsere Ruhmeshalle - Bei der Weihe der Ehrentafeln - Haeseler und Mackensen - Das neue Gesicht des lateinischen Viertels - Reaktionäre und Morituri - Trinkkur auf dem Dachgarten - Die Dolmetscherin im Resi.

Das Zeughaus Unter den Linden ist unser Dogenpalast. Nicht ganz so viele Jahrhunderte sprechen hier zu uns wie in Venedig, aber von der Faulen Grete an bis zu Boelckes Flugzeug ist es doch ein ungeheurer Kampf gewesen. Und dann oben die Ruhmeshalle: in Stein und Bronze und Farbe verewigte stolze Geschichte. Brandenburgische Soldaten im Schlachtgetümmel vor Turin. Der Große Kurfürst jagt mit seiner Armee über das frosterstarrte Kurische Haff gen Osten, man glaubt, das Eis und die Waffen klirren zu hören. Leuthen und Leipzig, Belle-Alliance und Sedan. Hier stehen eisengepanzerte Ritter aus dem Mittelalter, dort ist das erbeutete Türkenzelt aus der Zeit Solimans des Prächtigen aufgebaut. Im Lichthof unten eine verblichene blaue Fahne mit gelbem Kreuz. Die hat das schwedische Offizierkorps nach dem Weltkrieg als Zeichen der Bewunderung dem deutschen Heere dargebracht.

Hier pflegte jeweils am Neujahrstage der Kaiser seine Generale um sich zu versammeln und die militärisch-politische Lage mit ihnen zu besprechen. Dazu rumpelte jedesmal eine Pferdedroschke zweiter Güte heran, der der alte Feldmarschall Graf Haeseler krumm und schief entstieg. Das war der große Erzieher zu unserer letzten Leistungsprüfung. Unter den Bergarbeitern an der Ruhr, aus denen sein 16. Armeekorps sich rekrutierte, ist er noch heute in der Erinnerung eine volkstümlich lebendige Gestalt. Nicht nur aus dem Mann, sondern in erster Linie auch aus dem Offizier holte er unerbittlich alles heraus.

Wenn im Chinafeldzug am Peiho der Notruf "Deutsche an die Front!" aus englischem Munde erscholl, wenn in Südwestafrika in den Klippen der Waterberge unsere Schutztruppe dornzerrissen und halbverdurstet zu kämpfen und zu sterben wußte, wenn im Weltkriege vor Lüttich vier preußische Generale mit dem Degen in der Faust fielen und Ludendorff durch die Erstürmung der Stadt sich den Pour le mérite verdiente, ehe er auch nur das Eiserne Kreuz II. Klasse hatte, so ist dies alles Kettenglied unserer Geschichte.

"Da liegt Musike drin!", sagt er Berliner.

Das ist herrliches Orgelbrausen bis zum Jüngsten Tag. Allein Preußen hat 350 höhere Offiziere, Kommandeure selbständiger Truppenteile, in den Jahren 1914 bis 1918 vorm Feind gelassen. Ihre Namen sind jetzt in der Ruhmeshalle in Marmortafeln eingemeißelt. Am letzten Sonntag wurden sie geweiht.

Preußische Könige in Erz halten rundum Wacht bei ihren Getreuen, die Siegesgöttin aus weißem Marmor winkt den Gefallenen mit dem Kranz, im Frescobilde hoch oben an der Wand rasen apokalyptische Reiter und Kriegsfurien, denen sie standgehalten haben, gegen deutsches Land. Als Erben der großen Überlieferung stehen junge Männer im Braunhemd mit neuen Blutfahnen, unter denen unsere Ehre wieder erstritten ward, zu beiden Seiten des Altars, davor in Feldgrau Soldaten mit den alten Feldzeichen. Man hat früher nicht gewußt, daß dies der erhabenste Festraum der Reichshauptstadt ist. Während unsichtbar und gedämpft von irgendwoher die Klänge vaterländischer Weisen, der Nationalhymnen, des guten Kameraden ertönen, lauscht andächtig eine vielhundertköpfige Versammlung, unter ihr die Hinterbliebenen der Männer von den Ehrentafeln. Söhne stehen wieder im Waffenrock da, Enkel recken sich, Geschlechter folgen Geschlechtern, alle bereit zum Einsatz von Leib und Leben.

Aller Augen werden magnetisch angezogen von der ragenden Gestalt des weißhaarigen Feldmarschalls v.Mackensen, der in seiner Leibhusarenuniform so frisch und so schlank dasteht, ein Sinnbild der ewigen Jugend des waffentragenden Deutschen.

Er und der Reichswehrminister gehen nachher, von uns gefolgt, hinüber zur Neuen Wache, zum Totenmal des Unbekannten Soldaten, um auch dort Kränze niederzulegen. So ehrt der Führer den Mann, dessen Aufgabe nicht das Schlachtenleiten war, der aber marschierte, marschierte, marschierte, schoß, stürmte, starb.

Draußen Unter den Linden haben Zehntausende sich die Parade vor Blomberg und Mackensen angesehen. Rundum bekannte Gesichter, denen man als junger Soldat Kamerad war oder nachher im Kriege nahestand, v.Cochenhausen, Behnke, v.Tschischwitz, Vollmar, v.Fritsch und wie sie alle heißen mögen; den und jenen zeigt sich das Volk. Auch unter diesen Zuschauern viel Uniform: die der politischen Kämpfer. Sie ist für das Straßenbild Unter den Linden mehr und mehr bezeichnend.

Hier in der Gegend von Zeughaus und Universität hatten wir früher den Südrand des "lateinischen Viertels", das sich über die Kliniken hinaus weit in den Norden erstreckte. Heute strömt auch in diese Bildungsanstalten viel junges Volk im Braunhemd. Ganz aufgehört hat der früher sonntags übliche "Renommierbummel" der farbentragenden Korporationen Unter den Linden, wie auch der sonntägliche Frühschoppen zur Sage geworden ist. Daß Berlin im alten Sinn eine Universitätsstadt ist, tritt umso weniger in äußere Erscheinung, als die Zahl der Studenten ja erheblich zurückgedämmt ist. Wir haben rund 4000 weniger als im Vorjahr. Das liegt zum Teil an der Abiturientensperre, zum Teil an der Verpflichtung jedes Studenten zu einem Ostsemester, wovon Breslau, Danzig, Königsberg den Vorteil haben. Darob trauern natürlich die Zimmervermieterinnen, denen schon die Kameradschaftsheime viel weggenommen haben.

Die eine oder andere von ihnen sagt, ihr stiege direkt die Galle hoch. Da kann man immer wieder nur antworten, daß über dem Einzelschicksal das Ergehen des Gesamtvolkes steht. Mancher Mensch und mancher Stand fragt empört: "Bin ich denn abbruchsreif?" Wenn es notwendig ist: jawohl! Um eine belagerte Festung herum werden rücksichtslos die Gebäude niedergelegt. Wir alle müssen uns bereithalten, Steinbruch für den Neubau der kommenden Generationen zu werden. Wer dagegen murrt, der ist Rückschrittler, der ist Reaktionär; das ist der ganze Sinn dieses heute so häufig falsch ausgelegten Wortes. Wir müssen bewußt Kärrner des Reiches werden, statt melancholisch die Weise "Wir hatten gebauet ein stattliches Haus" zu singen. Wem darob die Galle hochsteigt, dem darf man vielleicht lächelnd raten, morgens um 7 Uhr sich zum Europahaus-Dachgarten hinauffahren zu lassen. Da gibt es neuerdings Trinkkuren. Mergentheimer, Marienbader, Neuenahrer Wasser sind vortrefflich gegen Gallenbeschwerden.

Wer wasserscheu ist, der mag zur Verbesserung seiner Laune etwas Stärkeres zu sich nehmen, sagen wir ruhig: geistige Getränke. Wenn auch viele teure Gaststätten in Berlin eingegangen sind und noch eingehen, gibt es doch noch "Lokale" genug, auch solche mit gewerbsmäßiger Produktion von Frohsinn.

Etwa alle zwei Jahre einmal gehe ich, um die neuesten technischen Fortschritte zu konstatieren, ins Resi in die Blumenstraße. Das liegt im Berliner Osten, in der Nähe der Untergrundbahnhaltestelle Jannowitzbrücke, ist also schon beinahe verbotene Gegend. Für Ausländer hat sie etwa den Reiz des Joshiwara von Tokio, und unter den Tanzmädchen des Resi gibt es wohl auch manche Delila. Aber ebenso auch bescheidene und anständige Töchter aus dem Volk. Auch Brautpaare und junge Ehepaare aus Bürgerkreisen gehen dahin, um mal im Flimmern der 97 000 kleinen Glühlämpchen, die in einer Art von Erntekränzen an der Decke des Hauptsaales gegen einander rotieren oder in den anderen Räumen aus Blüten und Weinlaub lugen, und im Tanze alles Unholde zu vergessen. Die Ziffer 97 000 ist wirklich kein Druckfehler, deshalb wiederhole ich sie noch einmal.

Also da sitze ich nun, werde gleich von einem entfernten Tisch antelephoniert, auch plumpst der erste Rohrpostbrief in das Netz an meinem Platz, aber ich stelle das Signal "Bitte nicht stören!" ein und kann nun beobachten. Wie immer ist viel männliche Provinz da, in deren blanker Glatze sich die Lichter spiegeln. Einer hopst gerade im Walzerschritt von 1890 an mir vorüber und summt die noch ältere Weise:

Ja, so zwei,
Wie wir zwei,
Wir sind feine Leut . . .

Zwei Unterfeldwebel von der Reichswehr und ein brauner und ein schwarzer Hitler-Manne tanzen da schon ganz anders und sind die begehrtesten Leute im Saale - für die nicht geldgierigen Mädchen und Frauen. Welche aber für ein paar Runden oder ein Plauderstündchen ein gutes Tischgeld erhofft, die schaut natürlich nach Leuten aus, die "dicke Marie" zu haben scheinen. Umgekehrt hat eine schon etwas zerknitterte und faltige Dame sich einen gelegentlichen Eintänzer gemietet. Drei Tische von mir ab haben zwei vornehme Inderinnen in goldgestickter Nationaltracht Platz genommen, die aus einem Berliner Luxushotel hierhergefahren sind, um "Europa zu lernen". Aus aller Herren Ländern kommen Besucher.

Die können natürlich nicht immer deutsch. Die brauchen einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin.

Alles da!

Eine Weile unterhalte ich mich mit einer Internationalen, die sich deutsch, holländisch, französisch, englisch verständigen kann. Am besten von den Fremdsprachen beherrscht sie das Französische. Da kennt sie auch Ausdrücke vom Montmartre, die nicht im Lexikon stehen. Sie ist im Hotel Dolder in Zürich so heimisch wie im Hotel Europe im Sultanat Johore. Sie hat trotz ihrer erst 28 Jahre unglaublich viele Länder gesehen, hat gut verdient und ist zwischen Reichtum und Armut dahergeschaukelt. In Berlin wird sie nicht allzuviel zu dolmetschen haben, denn es ist gegen früher doch viel puritanischer geworden, und der Fremdenstrom ebbt wie überall in der Welt ab. Trotzdem gilt auch hier - und besonders im Resi - immer noch die Parole:

Wer Dag for Dag sin Arbeit deit
Und immer up dem Posten steit
Und deit dat gut und deit dat gern,
De soll sick ook mal amüseern!

28. Juni 1934 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 44

© Karlheinz Everts