"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 43 - 44
5. bis 12. Juli 1934


43

Tiefster Friede in der Reichshauptstadt - Die vereitelte Revolte - Schleicher und Ernst - Hitlers Zupacken, Goebbels Rede - Ausländische Blätter - Erinnerung an den Prinzen der Niederlande - Vergnügtes von Werner Krauß.

So ganz beiläufig ist alles erledigt. So ganz ohne Berufsstörung. Busineß as usual, um den Minister Churchill zu zitieren. Von Auslandsdeutschen werde ich sicherlich wieder gefragt werden, wie die "furchtbaren Ereignisse" am Sonnabend in Berlin sich abgespielt hätten. Aber wir haben ja gar nichts davon bemerkt! Gewiß: man sah Schutzleute mit Karabinern als Doppelposten; und im Tiergarten schimmerten Maschinengewehre der Landespolizei aus den Büschen. Nur denkt man sich halt nichts weiter dabei, als daß Sicherheit und Ordnung bei uns gewährleistet sind. Nirgends wurde der flutende Großstadtverkehr abgeriegelt.

Also wir fahren ahnungslos zu unseren lieben Bekannten in Berlin-Westend, die - das ist schon traditionell - alljährlich einmal ein Krebsessen (Krebse und sonst nichts, aber zum Sattessen, als wohnte man noch auf dem Lande) veranstalten. Die Extrablätter mit der Nachricht von der Niederschlagung der Revolte werden uns da gebracht. Als nachher der Rundfunk angestellt wird und wir 18 - nein, 17, ein Student ist schon abberufen, ist alarmiert worden - die Namen der Erschossenen hören, gibt es nicht lähmendes Entsetzen, sondern Genugtuung über das rettende Zupacken. Die offene Wahrheit hat immer etwas Erlösendes. Wochenlang ist allerlei Dumpfes von den Umtrieben der Reaktionäre erzählt worden. Wer denn, wer denn? Und nun ist die Wahrheit da: es handelt sich nicht um ganze Stände, sondern um eine auf ein Grüppchen beschränkte Meuterei von Praetorianern. Schon in Mommsens Geschichte kann man alles Nötige darüber nachlesen. Es ist immer derselbe Vorgang. Eine schwache Regierung wird durch so etwas über den Haufen geworfen, aber ein starker Gegner - von der römischen Kaiserzeit bis zur deutschen Hitlerzeit - springt dem Empörer an die Gurgel. Auch die Begleiterscheinung der Sittenverderbnis ist damals wie heute die gleiche.

Am nächsten Morgen sind die Gerüchtemacher an der Arbeit. Lauter Irrsinn. Die "obskure Persönlichkeit" sei Papen. Major v.Müldner sei erschossen, Prinz August Wilhelm sei erschossen. Der Kronprinz geflüchtet. Am Telephon werde ich wütend. Laßt mich mit dem Quatsch zufrieden!

Ich will nur über die beiden gerichteten Berliner etwas sagen.

Wegen Beleidigung des Generals v.Schleicher, des damaligen Reichskanzlers, sollte ich vor anderthalb Jahren in Anklagezustand versetzt werden. Dieser Schleicher ist immer Erbschleicher gewesen, seit seinen Hauptmannsjahren nie mehr Frontsoldat, sondern Bureaumensch, der sich über mehr als hundert Vorderleute, Kameraden, hinüberintrigierte und noch im Januar 1933 Wallenstein kopieren wollte. Man hätte ihm schon damals den Kopf vor die Füße legen können, als er den Plan gefaßt hatte, sich zum Diktator zu machen und Hindenburg als Staatsgefangenen in Neudeck festzusetzen. Aber das Dritte Reich durfte nicht mit blutiger Vergeltung anfangen; das hätte alles gefährdet.

Rechte Hand des andern Möchtegerndiktators, Röhms, war in Berlin der Gruppenführer Karl Ernst. Der wollte Chef des Wehramts mit dem Range eines Generalleutnants werden, obwohl er nie eine militärische Ausbildung genossen und auf die Frage, wie lang eine Divisionskolonne sei, geantwortet hatte: "Das braucht ein General nicht zu wissen!" Nur alte Leute, und wenn sie den Pour le mérite trugen, sehr von oben herab behandeln, das konnte er. Schon am 27. Februar hatte Hitler in einer dreistündigen Rede vor 120 obersten Vertretern beider Lager, Generalen und Gruppenführern, die Reichswehr als "den" Waffenträger der Nation bezeichnet und hier, hinter verschlossenen Türen, vor Phantastereien gewarnt.

Die Wirrköpfe nahmen keine Vernunft an. Die Krankhaften hatten kein Verständnis für das Gesunde. Die Gewissenlosen suchten um fremdes Eingreifen nach.

Da riß ihnen Hitler jetzt eigenhändig die Achselstücke ab, verhaftete persönlich die Hauptjämmerlinge. Dann wurden aus dem Notwehrrecht des Staates heraus die Verbrecher niedergeschossen. So wird von Männern Geschichte gemacht. So greift man dem Rad des Unheils selber in die Speichen. Der Reichsminister Röhm, dem man es überlassen hatte, sich selbst zu richten, war zu weich und zu feige dazu.

Praetorianer sollen gehorchen. Das alte Rom ging daran zugrunde, daß sie immer wieder neue Leute zur Macht erhoben, darunter perverse Lüstlinge. Deutschland aber muß leben. Deshalb ist es in solchen Augenblicken auch um etliche Dutzend Niedergemachter nicht schade.

Jetzt preist man die Kraft und die Größe des Führers. Denkt jemand auch an seinen Schmerz? Die er erhob, die wollten ihn und das Reich zerschlagen. Welche Seelenqual spricht aus Hitlers Worten: "Ich möchte insbesondere, daß jede Mutter ihren Sohn in S.A., Partei und Hitlerjugend geben kann, ohne Furcht, er könnte dort sittlich oder moralisch verdorben werden." Die ihm diesen Schrei ausgepreßt haben, sind des zehnfachen Todes schuldig. Aus Sammelgroschen der Ärmsten hat sich Röhm ein Lotterbad für Tausende von Mark herrichten lassen.

In seiner Rundfunkrede über die Geschehnisse vom 30. Juni hat Minister Dr. Goebbels ausdrücklich festgestellt, daß es sich nur um eine "kleine Gilde dingfest gemachter Verbrecher", um eine "kleine Clique gewerbsmäßiger Saboteure" handelt. Also es sind nicht große Schichten des Volkes daran beteiligt, und das ist für die Zweifelnden im In- und Auslande sehr beruhigend.

Das Vertrauen zu Hitler ist gefestigt. Umgekehrt haben die Führenden Vertrauen zu uns. Keine allgemeine Verdächtigung wird mehr laut. Goebbels sagt:

"Jede Hand, die sich uns entgegenstreckt, soll unsere Freundeshand empfangen; wir wünschen die Mitarbeit des ganzen Volkes!"

Das macht Eindruck auf die Fremden.

In diesen Tagen habe ich eine Unzahl ausländischer Zeitungen, zum Teil in Sprachen, die ich nur notdürftig radebrechen kann, von den "News of the World" über den "Messagero" und den "Nieuwe Rotterdamsche Courant" bis zur Belgrader "Wremje", gelesen. Hie und da stößt man auf wilde Gerüchte. Aber im ganzen, das kann ich bestätigen, kommt rückhaltlose Anerkennung für Hitlers Zugreifen zum Ausdruck.

Einer hat das noch freudig mitempfunden, der drei Tage nachher gestorben ist, ein unbedingter Bewunderer des neuen Deutschlands, ein so treuer Sohn des alten er auch war, der Prinz der Niederlande, Herzog Heinrich zu Mecklenburg.

Das ist der am wenigsten förmliche hohe Herr, den ich je kennengelernt habe, ganz gleich, ob wir bei ihm zum Tee in Heiligendamm oder er bei uns in unserer Berliner Mietswohnung war. Ein Mensch von tiefem Gemüt, abhold jedem Prunk und jeder Aufmachung. So war er schon als lustiger junger Leutnant im Gardejägerbataillon in Potsdam, und so ist er als holländischer Prinzgemahl es geblieben. Ja, bis zum Tode: in seinem letzten Willen lehnt er "Hoftrauer" und jeden Pomp ab, wünscht den Leichenwagen weiß, nicht schwarz dekoriert, und erbittet Straßenanzug vom Gefolge. Was er über den Aufbruch der deutschen Nation gesagt hat, das habe ich im vorigen Winter, als er auf dem Skagerrakball bei uns saß, wiedererzählt. Damals klopfte er mich auf das Knie und legte los:

"Klar, ich gehöre auf den Skagerrakball! Mensch, ich bin doch Vizeadmiral! Allerdings, nur honoris causa in Holland!"

Dabei lachte er wie ein fröhlicher Lausbub; das war er, wie er leibte und lebte; froh, herzensgut, und vielen ein Tröster in jeglicher Not.

Er war nicht amusisch, wie er bescheiden sich gab. Bei seinen häufigen Besuchen in Berlin, das ihn als Wohltäter kannte, so knapp auch sein eigenes Taschengeld war, suchte er stets die Kunst und die Künstler auf. Dazwischen zischte er immer eine Molle Bier in irgendeinem Kindl-Bräu. Nur wenn es mit der Musik in irgendeiner Oper mal zu anstrengend war, verschwand er gelegentlich auf eine Zigaretttenlänge aus der Loge, aber das Schauspiel hielt ihn von der ersten bis zur letzten Szene gefangen.

Wenn er nicht vielleicht schon zu krank war, hat er in diesen Tagen sicherlich auch Werner Krauß zum 50. Geburtstag gratuliert.

Ich möchte unserem größten lebenden Menschendarsteller hier nicht eine Lobrede halten, die wie ein Nekrolog klingen könnte. Die Zehner-Geburtstage vom 50. an sind sowieso keine sehr erfreuliche Sache. Aber von dem humorgeladenen Krauß sei einiges bisher Ungedruckte hier wiedergegeben.

Krauß hat mit Klöpfer in den Rüdersdorfer Kalkbergen bei Berlin gefilmt, ist sehr animiert und beschließt auf dem Heimweg zum Bahnhof, sich noch einen Jux zu leisten. Er klopft also bei einem Bauernhaus an und sagt der Frau, er sei ein unglücklicher Vater, der seinen geistesschwachen Sohn - er zeigt auf Klöpfer - bei guten Leuten auf dem Lande gegen anständige Bezahlung unterbringen wolle. Die Bauersfrau und Krauß sind schon so gut wie handelseins. Plötzlich, es ist Futterzeit, fangen die Schweine im Stall an mächtig zu grunzen. Da sagt Klöpfer: "Hör' doch mal, Pappi, wie schön die Vögelchen heute singen!" Der Frau bricht der kalte Schweiß aus. Sie ruft:

"Lieber Herr, nee, nee, nicht für 1000 Taler, machen Sie, daß Sie wegkommen mit dem furchtbaren Jungen!"

Wieder einmal die beiden, bei Max Reinhardt im Deutschen Theater. Ein abgerissener alter Schmierenkomödiant macht Kollekte in Krauß' Garderobe. Dieser verspricht ihm 50 Mark, wenn er zu Edmund Reinhardt, Maxens Finanzbruder, schnorren gehe und sich dort als Klöpfers von dem Sohne verlassener armer Vater vorstelle. Das geschieht, Edmund Reinhardt, der geizige, lockert sogar eine größere Summe, rast dann in Klöpfers Garderobe und macht ihm heftige Vorwürfe darüber, daß er seinen Vater so verkommen lasse. Klöpfers Vater ist aber schon seit zehn Jahren tot! Wutentbrannt stürzen Reinhardt und Klöpfer dem Palmarumbruder nach. Der ist schon über alle Berge.

Werner Krauß aber lacht und lacht und lacht . . .
5. Juli 1934 (Donnerstag)


44

Es herbstelt schon - Die Reisebureaus Unter den Linden - Ich möchte mit Rumpeln aufhören - Auf zur Polarfahrt! - Im Lastauto durch Europa - Sonnenbräune oder nicht? - Freibad Müggelsee - Geschichten von Adele Sandrock - "Imma dejenichte welcha".

Unter den Linden rieseln schon gelbe Blätter. Die Dürre reicht in diesem merkwürdigen Sommer von der Mongolei über Mitteleuropa und England bis in die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Wir Städter machen uns die Sorgen des Landmannes nicht klar, wir empfangen nur dankbar jeden Sonnenstrahl; Wasser haben wir genug in der Leitung, es braucht nicht wie in London rationiert zu werden. Drei Wochen früher als sonst bekamen wir in diesem Jahre jegliches reife Obst. Nun aber überschleicht uns die Angst, daß der Sommer uns dafür auch zu früh verrinnt. Unter den Linden rascheln nicht nur Blätter, sondern auch Prospekte aller Dampferlinien, aller Bäder und Berge. Mit dem Norddeutschen Lloyd an der Adlon-Ecke des Pariser Platzes fängt es an, italienische, holländische, englische, amerikanische, französische, schwedische, norwegische, dänische Schiffahrtsgesellschaften haben schöne Schaufenster, die Sowjetrepublik verspricht Elch- und Bärenjagden für Touristen, die Weltausstellung in Chicago preist ihre Vorzüge, das Kreuz von Oberammergau zieht magisch an, selbst Danzig hat Unter den Linden ein eigenes Reisebureau.

Reisen! Reisen!

Je kürzer die Frist wird, die den eigenen Lebenssommer beendet, desto größer wird die Lust, noch dies und jenes und allerlei sonst noch zu sehen. Jedesmal, wenn ich wie heute den letzten Plauderbrief vor meinen Ferien schreibe, regt sich leises Wünschen, daß es überhaupt der allerletzte sein möge. Nur noch Zuschauer sein! Nicht mehr für andere beobachten, nicht mehr Sätze formen! Kein Sender, nur noch Empfänger! Und wenn dann der eine oder andere mich bäte, ich solle doch noch immer weiter erzählen, mit welcher Wonne würde ich da antworten:

"Sie wer'n lachen: nischt zu machen!"

Und dann stelle ich mir mit einiger Genugtuung vor, daß der eine seufzt: "Et war doch schnieke!", und der andere seufzt: "Nu is a stieke!" Und dann tut es mir wieder leid und ich denke: setzest dich nach den Ferien halt wieder an den Schreibtisch.

Wenn Unter den Linden vorzeitig das Laub sich verfärbt, kommt man natürlich auf dergleichen. Man möchte noch schnell, ehe es zu spät ist, die ganze unbekannte Welt in sich aufnehmen. Jeden Taler habe ich, statt ihn vielleicht zu sparen, auf den Kopf geschlagen, wenn es galt, sich draußen umzusehen; für jeden solchen Taler habe ich freilich auch immer zwei Taler hergegeben, damit ein ärmerer Volksgenosse etwas dafür habe, - das ist schon so feststehender Satz bei jeder eigenen Freude gewesen, immer 1:2. Außer einzig und allein Andorra bin ich in jedem Staate Europas und an mancher Stelle in Afrika und Asien gewesen, habe gelernt und verglichen und dann stets Deutschland als das Herrlichste empfunden. Mittelmeer, Schwarzes Meer, Kaspisches Meer sind auf meinem Atlas voll von roten Kreuz- und Querstrichen der schönen Reisen. Nun soll es in diesem Jahre zum erstenmal in den höchsten Norden gehen; auf Spitzbergen und an der Grenze des ewigen Polareises bin ich noch nie gewesen.

Da brennt einem jeder Tag auf den Nägeln, wenn man neuen Wundern entgegengehen soll.

Man lechzt beim Anblick anderer Reisender in Berlin.

Langsam scheint der Verkehr sich zu heben, es sind rund 15 Prozent mehr Ausländer in der Reichshauptstadt, als wir im vorigen Jahre um diese Zeit zählten. Nur bringen sie nicht mehr so viel Geld hierher. Das Reisen wird primitiver, fast feldmäßig. Im letzten Herbst ratterte ein Lastauto voll Menschenfracht unter Führung eines Barons Ungern-Sternberg aus Fellin in Estland nach Berlin herein und wurde auf einem Fabrikhof untergestellt; die deutschlandhungrigen, selig dareinschauenden Balten, Männer, auch junge Frauen, konnten sich ein Hotel nicht leisten, kampierten während ihrer wochenlangen Fahrt auch nachts, in Decken gehüllt, auf dem großen Planwagen und wuschen sich morgens an irgendeiner Pumpe. Ähnlich verfährt jetzt eine Gruppe von Amerikanern, die ihr Lastauto zu Schiff herübergebracht haben, um darauf eine "Industrial Tour of Europe" zu machen. Das feldgrau gestrichene stählerne Ungetüm mit harten Bänken hat darunter Verließe, die - wie ein Tornister sorgfältig gepackt - Decken und Kochkessel und Zelte und Lebensmittel enthalten. Ich sehe den Wagen in der Luisenstraße, im Klinikviertel, wo es für Fremde, die nicht Baedeker-Reisende sind, sehr viel lehrreiches gibt, was keine Menschen- und Tierheilkunde in anderen Ländern ihnen bieten kann. Die fahrt ist über London, Birmingham, Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen, Brüssel, Köln, Hamburg, Kopenhagen hierher gegangen und geht über Dresden, Prag, Pilsen, München, Zürich, Genf, Paris, Lille wieder zurück. Und sie ist lächerlich billig. Die Insassen des Wagens sind frisch und gebräunt; "camping" ist gesund.

Sieht man überhaupt noch Blaßgesichter? In Südeuropa, wo die Sonne als der erbarmungslose Feind gilt und die Leute in ohnmächtigem Trotz gegen sie Steilfalten über der Nasenwurzel bekommen, schützen die Damen noch vielfach ihren "Teint" gegen das Braunwerden, da sie sowieso dunkelhäutiger als wir sind und uns um unsere Milch-und-Blut-Gesichter beneiden. Aber in Berlin ist der Sonnenschirm nur noch eine historische Erinnerung. Auch die Mädchen und Frauen lassen sich, so oft es nur geht, im Freien schmoren. Am letzten Sonntag bin ich einmal nicht im Westen, sondern im Osten gewesen, im Strandbad am Müggelsee. Es waren rund 28 000 Menschen da und wurden langsam gar. Man legt hier nicht so viel Wert auf Toilette wie am Wannsee, nicht jedes weibliche Wesen hat seinen Bade- oder Luft- oder Strandanzug; der Unterrock oder das Hemd tut's auch, honny soit qui mal y pense.

In der Stadt lockt nichts mehr. Die staatlich angestellten Schauspieler und Sänger haben schon ihren großen Urlaub, die wenigen noch geöffneten Privattheater können durch Fremdenbesuch sich gerade über Wasser halten, die Kinos sind trotz Entlüftungsanlage und Duftzerstäuber halb leer. Da tanzt man lieber abends im Freien.

Nur die Filmoperette von Franz Léhar, dem alten schmissigen k.u.k. Militärkapellmeister, "Gern hab' ich die Frau'n geküßt", ist so leichtsinnig-goldig-österreichisch, daß sie volle Häuser macht. Kein Mensch glaubt natürlich, daß es einen solchen abenteuerlichen Frauenpflücker gegeben haben könne, zumal da der Paganini des Films, Ivan Petrovich, doch schon ein sehr reifer Künstler ist, nicht der lodernde Jüngling von erst 23 Jahren, als der Paganini einst wirklich an den Hof von Lucca gekommen ist. Das Ding ist ein Seitenstück zu Frank Wedekinds "Kammersänger", auf den auch hinter jeder Tür und hinter jedem Vorhang ein Mädel wartet, um ihm - aus Kunstbegeisterung, versteht sich - um den Hals zu fallen. Aber Franz Léhars Filmoperette, von der Majestic-Gesellschaft gedreht, stellt in einer an sich kleinen Rolle wieder Adele Sandrock, die gut und gern ihre 75 Jahre zählt, als Zeremonienmeisterin der Herzogin von Lucca heraus, und das ist für den Kunstkenner der eigentliche Genuß.

Noch vor ein paar Jahren waren die Berliner entzückt und befriedigt, wenn die Leinewand ein hübsches junges Gesichtchen und wohlgeformte Beine zeigte.

Heute sind sie anspruchsvoller. Heute wollen sie Kunst.

Adele ist eine große Künstlerin in ihrer drohenden Grandezza und in ihrem trockenen Humor. Und genau so ist sie als Mensch.

Einmal fällt ihr beim Filmen ein hübscher junger Mann mit prachtvollen Zähnen auf. "Schöne Zähne haben Sie", sagt sie anerkennend, "lachen Sie mal!" Natürlich muß er auf diese Aufforderung hin herzlich lachen. "Junger Mann", funkelt sie ihn nun an, "wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, hätte ich Sie zum Abendessen eingeladen, da - hätten Sie nichts zu lachen gehabt!"

In einer befreundeten Familie ist ein Baby angekommen. Adele erscheint zum Glückwünschen, als das Kindchen gerade aus dem Bade gehoben wird, und bemerkt sinnend: "Wenn ich mich recht erinnere, ist es ein Knäblein!"

Adele sieht am Kurfürstendamm einen kriegsblinden Bettler. "Nehmen Sie, armer Mann!", sagt sie mit ihrer tiefen Baßstimme und reicht ihm 10 Pfennige. "Gehorsamsten Dank, Herr Oberst!", schmettert der Arme und legt die Hand an die Mütze.

Die Sandrock lebt mit ihrer Schwester Wilhelmine zusammen, die ihr den Haushalt führt, aber sonst den Mund nicht auftun darf. Einmal feiert Adele mit Kollegen bis in die Nacht hinein. Am nächsten Morgen wird sie gefragt, wie es ihr bekommen sei. Finster erwidert sie: "Wilhelmine hat gesagt: wenn das noch einmal vorkommt, nehme ich dich weg vom Theater!"

Mit echten und wahren Sandrock-Anekdoten könnte man einen dicken Band füllen. Gott sei Dank, daß in den nächsten Wochen kein Verleger das von mir verlangen kann. Ich habe jetzt auch dringenderes zu tun. Liegen die Photoplatten 13:18 bereit? Wo sind die Gelbscheiben? Braucht man Bergstiefel, wenn es zum Hekla und Krabla und zu den Geisern geht? Auch muß ich noch schnell einem Manne mit langem Vollbart schreiben, daß er ja nicht vergessen soll, ihn zum Winter einzumotten. Die Reisevorfreude macht einen zum übermütigen Kinde. Hoffentlich lassen mich nur unterwegs alle Mitreisenden mit Konversation ungeschoren. Wenn einer mich nach meinem Namen fragen sollte, antworte ich bestimmt:

"Sie wer'n lachen: Imma dejenichte welcha!"
12. Juli 1934 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts