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Das neue Berlin - Hitlers Wachstum - Verfassungsfest der Studentenschaft - Eintopf-Presseball - Aber geschmackvolle Toiletten - Verdorrtes Wüstengras.
Aller Zorn krampfte sich vierzehn Jahre lang um das eine Wort: Berlin. Das war das große Babylon, wo die Schwelgenden und die Landvergessenen einander überkreischten, wo jede Mannesehre und jede Frauenehre um jeden Preis feil war. Hier wurde Deutschland, mehr noch, hier wurde die deutsche Seele verraten.
Und heute?
Heute wird man beneidet, wenn man in diesem Zentralgehirn ungeheuren neuen Geschehens ansässig ist. Heute wird man beneidet, wenn man der wirkenden Willenskraft nahesteht und am Ende gar Woche um Woche einmal dem Führer der Deutschen ins Auge sehen darf.
Ich gehöre nicht zu den "hundertzehnprozentigen" Nationalsozialisten, die durch Hitler-Byzantinismus vergessen machen wollen, daß sie noch vor wenigen Jahren sich für die Große Koalition, für die große Schachermacherei von Stresemann bis Scheidemann einspannten. Wenn mir ein Werk zugeschickt wird, in dem ein Wissenschaftler schreibt: "Unser wirtschaftliches Programm heißt: Hitler hat immer Recht!", so meine ich, man müßte dem Schreiber wegen sittlicher Unreife den Doktortitel aberkennen. Der deutsche Reichskanzler selbst denkt nicht daran, ein päpstliches Unfehlbarkeitsdogma für sich aufzustellen, sondern gesteht gern zu, daß er seine Wegrichtung manchmal geändert hat, am polarsten nach dem 1923er Münchener Putsch. Aber schon in unserer alten Felddienstordnung steht, daß ein falscher Befehl besser ist als gar kein Befehl, das heißt also, daß jede starke Entschlußkraft wertvoller ist als die klügste Schwäche.
Das reißt uns für den Mann hin, dem die deutschen Geschicke anvertraut sind. Ich weiß: ich werde von Hunderttausenden beneidet, daß ich das so von Angesicht zu Angesicht erleben darf. Und jedesmal, wenn ich Hitler sehe und reden höre, wächst mein Glaube.
Und jedesmal - ist Hitler wieder gewachsen.
Das kann ich ruhig sagen. Mir wird man glauben, denn ich habe nie den Leuten nach dem Munde geredet. Ich bin immer ein Eigener gewesen. Als ich im Februar 1924 dem Hitler-Ludendorff-Prozeß beiwohnte, schrieb ich:
"Es ist ein unerhörter Ansturm gegen seine Ankläger. Hitler spricht jetzt schon in der vierten Stunde hintereinander, und man lauscht noch immer nach jedem Satz. Er ist - das erklärt das Wunder - ein gänzlich phrasenloser Redner, bar jeder Heuchelei, ein Mann, der mit eisernem Willen die Dinge erkennt, sie packt, wie sie sind, und dann auch so darstellt. Die starke Persönlichkeit Hitlers spricht aus jedem Wort. Tier erschüttert fühlen alle Zuhörer, daß sie einem Ereignis der großen Weltgeschichte gegenüberstehen."
Von Berlin kamen hochmögende Leute mir nachgereist, um mich zurückzureißen. Ich blieb stur. Was ich schrieb, wurde gedruckt. Ich hatte die Empfindung wie der alte Landsknechtobrist Frundsberg, als er Luther vor den Reichstag zu Worms hintreten sah. Und ich gab den Hochmögenden Bescheid. Sie sollten nur stille sein. Nicht die Leute mit der weißen Weste über prallem Bauch könnten Deutschland erlösen. Die Rettung komme von unten aus dem Volke. Nur ein Mann, der von links nach rechts umgelernt habe, werde die rote Linke zertrümmern. Natürlich weiß ich, daß vieles Große von oben gekommen ist, von weisen und starken Fürsten oder von Männern wie Bismarck oder Moltke oder Goethe. Aber Martin Luther war ein Bergmannssohn, der Feldmarschall Derfflinger ein Schneidergeselle, Immanuel Kant stammte aus einer Handweberfamilie, und Reyher, der Vorgänger Moltkes als Chef des preußischen Großen Generalstabes, war ursprünglich ein mecklenburgischer Hütejunge.
Sie alle waren Berufene und wuchsen an ihrer Aufgabe.
Nun habe ich an diesem Mittwoch die Feier mitgemacht, die die Verleihung der neuen Verfassung an die deutsche Studentenschaft begleitete. Die Berichte darüber stehen in den Zeitungen, Lokalreporter haben die umrahmende Musik geschildert und den äußeren Schmuck der Philharmonie und haben mit Namen die übliche Rubrik ausgefüllt: "Unter anderen bemerkte man". Das alles ist mir ganz gleichgültig. Aber der Mann, der Mann, und jedes Wort und jeder Geistesfunke, der von ihm herübersprüht!"
Da sind Sätze darunter, Sätze . . .
"In der Vorkriegszeit wurde das Organisatorische über das Organische gestellt."
Über diese zehn Worte kann man zehn Stunden sinnen; und sie erhellen einem zehn Menschenalter. Man schämt sich fast, sie nur als büchmannreif zu bezeichnen wie Bülows "Platz an der Sonne" und hundert andere. Und dann die erzenen Worte an die Studentenschaft selbst: "Nicht höhere Genußsucht, sondern härtere Selbstzucht!" und: "Wer selbst Sklave seines Egoismus ist, kann nicht Herr sein über die geborenen Sklaven!" und : "Nur wer sich von den primitiven Menschen abhebt, kann über sie erhoben werden!" Immer wieder die Absage an materielles Wohlleben. Wer Führer werden will, der soll dankbar dafür sein, daß er mehr als andere Menschen Schätze des Geiste sammeln darf.
Vor fast fünf Viertel Jahrhunderten horchte die Berliner Studentenschaft auf Professor Fichtes Reden an die deutsche Nation. Heute schöpft die gesamtdeutsche Studentenschaft stärkste Willensweisheit aus dem Gedankenreichtum dieses Volksführers Hitler.
Es sind Rektoren aller deutschen Hochschulen da. Sie erleben ihr blaues Wunder.
Es sind fremde Diplomaten da. Sie staunen über diesen geistigen Menschen, den sie sich einst nur als Prätorianerführer vorgestellt haben.
Ich sitze ziemlich vorn, zufällig mitten zwischen diesen beiden Kategorien. Nur acht Reihen vor mir das Pult, über das hinweg ein paar stahlblaue Augen blitzen. Hinter mir, wo "das große Publikum" beginnt, eine französische Studentin. Sie kann zu Beginn das Kommen Hitlers kaum erwarten. "Ah, tout le monde s'élève!" Und auch sie erhebt sich und auch sie reckt selbstvergessen den rechten Arm.
In das Werden einer Nation, in ihr erstes Keimen aus dem Trümmerfeld eines Felssturzes, paßt Prassen schlecht. Bewußt ist diesmal sogar für den Presseball, den repräsentativsten Berlins, statt des lukullischen Diners, das früher einmal 15 Mark kostete, das Eintopfgericht dekretiert worden. Nicht jedermann kriegt ein Hühnerragout zu fassen. Es riecht überall nach Pichelsteiner Fleisch. Aber bei allem Spartanertum dürfen wir doch, das hat der Führer selbst gesagt, nicht in Primitivitätskult verfallen. Auch Luxus schafft Arbeit. Es ist nicht wahr, was man überall liest, daß die Toiletten diesmal "ungeheuer schlicht" gewesen seien. Im Gegenteil: sie waren weit eleganter und geschmackvoller als im vorigen Jahre. Nur haben die Berliner Zeitungen, deren Verlagspolitik aus Bedenklichkeiten zusammengesetzt ist, an diesem 3. Februar keine Abbildungen der Abendkleider gebracht und weder die Trägerinnen noch die Hersteller genannt. Ein Dutzend Modezeichnerinnen, denen der willkommene Verdienst entgangen ist, weint ein paar Tränchen. Wir zu Hause haben aber unser bißchen Geld unter die Leute gebracht. Seit Jahren haben wir zum erstenmal wieder unsere fidele Mickymaus, die einfallreiche und dabei nicht zu teure Erna Domke in der Nürnberger Straße aufgesucht, damit sie erneut eine Probe ihres fabelhaften Geschmacks ablege. Rums, schon liegt die kleine Person, die zwar alljährlich nach Paris reist, aber eigene Phantasie besitzt, längelang auf dem Boden und rafft und steckt. In der Hauptsache macht sie ja einfache und billige Tageskleider, aber so ein Presseballgewand ist für sie ein Hochgenuß. Eines hat sie gerade für die Prinzessin Carolath angefertigt, nun kommt fix das andere für die Königin meines Hauses.
Es ist doch schön für einen Gatten, wenn er seine Frau nicht an irgendeinem Winkeltischchen abzustellen braucht, sondern das Gefühl hat, sie freut sich, wenn sie an seinem Arme das Geschenk von ihm zeigen kann, das so viel Linie hat.
Groteskes, das ist richtig, hat man auf diesem Presseball kaum gesehen. Nur hier und da einen Rückenausschnitt bis in die Antarktis, so daß die umsitzenden Damen zischeln: "Die hat sich einfach von einem Freund ein paar Hosenträger gepumpt und einen Rock daran genäht!" Leute mit starkem Geltungstrieb und dem Auffallenwollen um jeden Preis sind nicht da. Banken, Großindustrie, Film, Theater sind nur ganz schwach vertreten, der Kurfürstendamm als Gattungsbegriff fehlt überhaupt.
In der Hauptsache Schrifttum, Presse, Behörden.
An unserem Tisch der Dichter Atz vom Rhyn, nebenan Hanns Johst, mit dem ich ein paar Worte wechseln kann, rundum bekannte Schriftleiter, hinter uns der alte liebe Sohnrey. Roda Roda, recte Rosenfeld, mit seiner roten Weste ist diesmal natürlich nicht da, sondern irgendwo bei den Emigranten. Dafür stolziert ein deutscher Herr in kakaobraunem Frack einher. Leider sieht man wieder manche derbe Schaftstiefel, die auf einem Ball eigentlich verpönt sein sollen. Dafür ist Goebbels in einem so gutsitzenden Frack erschienen, als wäre er Willy Fritsch, und Göring in Generalsuniform mit langen Hosen. Maria Paudler, in Goldcape und mit plissiertem kleinem Seidenmuff, läßt sich und ihren jungen Ehemann durch den Prinzen August Wilhelm mit seiner Schwester Viktoria Luise und dem Herzog von Braunschweig vorstellen. Die Haartrachten sind im allgemeinen sehr fraulich. Nur eine Dame versucht in - rosa Haaren zu gefallen, erntet aber Lächeln.
Der Almanach als übliche Herrenspende ist diesmal etwas krampfig auf deutsches Handwerk eingestellt und erzählt von Schlossern, Barbieren, Ziehleuten und anderen. Hier und da findet sich aber eine Perle von Geist, so die von Hermann Stehr:
"Auch mit verblühtem, dürrem Grase spielt der Wind; so kann es glauben, es lebe noch; und doch ist nur lebendig, was mit ihm spielt."
Alles Orientalische auf dem Presseball ist endgültig verdorrt und bietet nicht einmal dem leisesten Luftzuge mehr eine Widerstandsfläche. Deutscher Heideduft erfüllt das Fest, und wenn es auch nicht pomphaft war, so hat es doch seine Lebensfähigkeit gezeigt und war allen eine Freude.
Von den Draußengebliebenen höhnten Tausende: "Ohne uns Juden kriegt Ihr nichts fertig!"
Jetzt bleibt ihnen doch die Spucke weg.
8. Februar 1934 (Donnerstag)
23
Spaß muß sind - Organisierte Freude - Hofnarren und Conferenciers - Der Tanz der 35000 - Die Mädchengarde des "Deutschen Senders" - Was ist ein Kostümball ? - Bei den Kunstschülern - "Bye,bye!" - An der Wasserpumpe.
"Spaß muß sind!", lautet ein uraltes Berliner Wahrwort.
Spaß ist ebenso notwendig wie Essen und Trinken, und "Miesepetrigkeit", das Nicht-Spaß-verstehen-können, ist ebenso eine Krankheit wie Tuberkulose oder Gelenkrheumatismus.
Also "Spaß muß sind", aber er ist je nach Alter und Stand für den Berliner etwas verschiedenes. Ein Hauptspaß ist es, wenn man einem andern "dumm kommt", nachdem man sich etliche Mollen Mut angetrunken hat. Spaß ist es schon, wenn man einer Katze ein klapperndes Blechkästchen an den Schwanz bindet, was in früheren Jahrhunderten "der Katze eine Schelle umhängen" hieß. Es gehört zur Gespaßigkeit, daß man auch noch in vorgerückten Jahren einem jungen Mädchen mit den Worten "kille kille" auf irgendeine Rundlichkeit tippt. Und Spaß macht vor allem Gastfreundschaft in gedrängtestem Kreise, wo man wie eingepökelt sitzt und wo die Witze kaum mehr den "Hecht", den Rauchdunst zu durchschneiden vermögen. Wenn wir - ich meine jetzt mich und die Meinigen - abends irgendwohin gehen, und sei es zu einem Trauerspiel, so knixt das Dienstmädchen zum Abschied und sagt:
"Viel Spaß!"
So sind wir auch im Filmschaffen nach einer kurzen Periode, in der es hieß, nur das Heroische habe noch eine Berechtigung, wieder auf den Imperativ der Erkenntnis gekommen: Spaß muß sind!
Der Spaß wird neuerdings, weil man sich der Freude als einer Staatsnotwendigkeit bewußt geworden ist, sogar behördlich organisiert. Das ist nicht etwa als besondere Winterhilfe für von der Natur humorlose Berliner gedacht. Ist es denn wirklich wahr, daß der Humor nur rheinisches Eigengewächs ist? Auch dort wird er organisiert, schon monatelang vor dem Fastnachtshöhepunkt, und der Rat der Elf und die Prinzengarde und alles übrige sind ständige Einrichtungen "behufs Spaßerzeugung". Auch wirkliche Prinzen, Fürsten, Könige liebten zwar immer den Scherz, waren aber selber selten scherzhaft aufgelegt und bezahlten deshalb einen Hofnarren. Heute sind diese Genüsse nicht auf die Höfe beschränkt, denn männiglich hat heute seine Kabaretts mit ihren Conférenciers.
Das sind eben die Hofnarren des Volkes.
Wenn der Berliner sagt: "Ick amüsiere mir!", so ist das nicht etwas stillvergnügtes, wie es etwa Leberecht Hühnchen oder der Eckensteher Nante verstand, sondern meist etwas sehr lautes, und es müßte heißen: "Ick lasse mir amüsieren!" Entweder gegen Zahlung aus dem eigenen Geldbeutel oder auf Staatskosten, nicht mittätig beim Spaß, sondern als Zuschauer oder Zuhörer; so wie auch derjenige sich für einen Sportsmann hält, der sich eine Platzkarte für ein Radrennen oder für einen Boxkampf gekauft hat.
In riesenhaften Ausmaßen war am letzten Sonntag das "Spaß muß sind!" geheimes Aushängeschild für den sogenannten Tag des Rundfunks. In allen Ausstellungshallen der Messestadt am Kaiserdamm. Im Gegensatz zum Westen und Süden des Reiches gibt es auf den Straßen Berlins keinen Mummenschanz, sondern der Berliner braucht dazu ein "Lokal", eine gewisse Seßhaftigkeit. Auf dem Wege dahin verbirgt er unter langem Mantel schamhaft seine närrische Kleidung und in der Manteltasche die Kopfbedeckung, denn sonst lächelt spöttisch jeder Begegnende.
Aber nun ist man glücklich drin in Halle II, III, IV, V, VI oder VIII. Nun kann es losgehen. Selber hat man noch recht keinen Fiduz. Aber, Gott sei Dank, die Sache ist für einen organisiert.
Für 35 000 Besucher! Darunter 20 000 auf Freibillets!
Das erste und notwendigste ist der Ordnungsdienst, der durch Uniformierte aus Arbeitslagern versehen wird. Wenn alles nur in eine Halle strömte, könnte es ja ein Massenunglück geben. Und ob ein Reichsminister oder ein Metalldreher totgedrückt wird, Menschenleben ist Menschenleben. Also man wird behördlich geschleust und gelotst, man braucht den Spaß auch nicht zu suchen, sondern er kommt zu einem. Verschiedene Wanderkabaretts ziehen abwechselnd nacheinander durch alle Säle. Manch ein schlichter Berliner hat bei dieser Gelegenheit zum ersten Male eine Lotte Werkmeister oder Vicky Werkmeister oder andere Größen der zehnten Muse gesehen und laut aufgekreischt vor Vergnügen.
Im übrigen sorgen hundert kolossale Lautsprecher dafür, daß jeder Witz auch den hier glückseligen Harthörigen eingehämmert werden kann. Und in 10 000 Säle in ganz Deutschland wird dieses Berliner Massen-Spaßvergnügen drahtlos übertragen!
Es ist harmlos und anständig, es gibt kaum "aufreizende" Kostüme im Stil der Inflationszeit, dafür viel Altdeutsches, viel Biedermeier. Jugendbünde tanzen ihre Reigen. Sonst wird wie überall üblich gewalzert und gefoxtrottet. "Lehn' deine Wang' an meine Wang'!" Und, die Hauptsache nicht zu vergessen: das Glas Bier kostet nur 28 Pfennige. Man reißt sich - alles gratis, meine Herrschaften - um die Kinderballons, die Reklame für die Funkzeitschrift "Der deutsche Sender" machen. Ein paar von den zwei Dutzend Mädels des Brunnen-Verlages, die in einer Koje diese bunten Blasen prallmachen und austeilen, habe ich gesprochen. Die jungen Damen sind stark zerknittert, aber fidel. Manche Hand hat im Vorbeihaschen im Gedränge nach ihnen selbst gegriffen und ihnen etliche Schleifchen und Rüschen etwas unsanft behandelt. Aber es ist doch ein gutes Werk. Nach Durchprobieren sämtlicher Funkzeitschriften halte ja auch ich seit Jahren schon den "Deutschen Sender", der in der schwarzroten Ära das erste Kampforgan gegen diese Ära im Rundfunk war.
Kurz nach ein Uhr nachts verläuft sich schon mehr als die Hälfte der 35 000 Menschen.
So solide?
Ach, man wäre ja so gerne ein bißchen unsolide gewesen, hätte bis zu den Frühzügen durchgetanzt. Aber man kann ja nicht Blau-Montag machen! Wer morgens um acht wieder in Werkstatt oder Laden sein muß, der macht Sonntags lieber nicht "durch".
Da war es am Sonnabend zuvor auf dem Kostümball der vereinigten Berliner Kunstschulen in der Akademie in der Hardenbergstraße ganz anders. Da hatte man den Sonntag zum Ausschlafen vor sich. Da gingen die letzten erst um ½9 Uhr früh weg. Und das auch nur, weil die übermüdeten Akademiediener sämtliche Fenster aufgemacht hatten und von da ab in den Sälen im Handumdrehen die Temperatur auf 5 Grad Wärme sank. Dagegen hilft auch das engste Aneinanderlehnen und das Umschlingen nichts. Da muß man halt weg.
Und es war doch sooo schön gewesen!
Auf der Suche nach einer zutreffenden Begriffsbestimmung des Wortes Kostümball bin ich nach langjährigen Erfahrungen auf die Formel gekommen: Kostümbälle sind die für viele Damen erwünschte Gelegenheit, ihre Zweibeinigkeit durch Weglassen jeder Verhüllung zu beweisen.
Das konnte man auch diesmal an Dutzenden von Beispielen bestätigt finden. Aber man wandte sich gelangweilt ab. Das ist keine Sensation mehr, häufig sogar eine Geschmacklosigkeit. Nicht jede Frau hat die Glieder einer Venus Anadyomene, auch wenn sie es selber glaubt. Die meisten sehen in langen oder halblangen Gewändern, meinetwegen auch in Hosen, wenn sie sehr jung und schlank sind, besser aus. Das hatten denn diesmal auch die meisten begriffen.
Der Ball war viel dezenter als seine Vorgänger. Daß hier und da ein auf Treppenstufen beieinander hockendes Pärchen sich abknutschte, darüber braucht man im Fasching wirklich nicht in die Moraltrompete zu stoßen. Früher war vieles Jungvolk wie ein Denkmal der Darmverschlingung auf den breiten mannshohen Wandschränken in den langen Korridoren zu Knäueln geballt. Das gibt es nicht mehr. Ein kurzer Aushang besagt: "Das Sitzen auf den Schränken ist polizeilich verboten." Aber es gibt ja genug Spaß auch ohne dies. Sogar richtige, künstlerische Ausgelassenheit. In den Lokalnotizen wird gewöhnlich von der Ausschmückung der Räume viel Wesens gemacht, von dieser Unsumme wochenlanger Vorarbeit der Kunstschüler, aber eigentlich achtet darauf kein Mensch. Na schön, da ist ein Riesenplakat mit der Inschrift: "Der Rollmopswicklergeselle Fritz Hölzchenspießer wird hierdurch in die Zunft aufgenommen", und das ist ja sehr nett, aber so was und die "Ahnengalerie" und die überlebensgroßen Rolande aus Pappe oder Gips sind doch nicht die Hauptsache.
Hauptsache ist: man hat sich und man hat Spaß. Hauptsache ist: das Auge wird trunken vor Farbenfreude. Hauptsache ist: man verkohlt einander und man tanzt.
Und zwar nicht nur wie auf den Frack- und Smokingbällen mit Bekannten oder mit Menschen, die einem vorgestellt werden, sondern jeder mit jeder. Hast du nicht gesehen, schnappt der eine die eine dem andern weg. Und eine Minute später hat mit einem losen Scherzwort sie ein dritter. Man fliegt aus einem Arm in den andern. Und die Mädels machen es ebenso mit den Herren. Ein ermunternder Blick genügt, schon tanzt man zusammen.
Wer aber zu viel Ermunterung herauszusehen glaubt, der wird mit einem leichten "Bye, bye!" (sprich: bei, bei!) einfach stehengelassen. Das ist eine in Berlin modisch gewordene Abkürzung des englischen "Good bye!" Auf Deutsch also etwa: "'tjüs, 'tjüs!"
Erst zwischen 4 und 5 Uhr morgens bittet mich ein junges Mädchen unserer Bekanntschaft, sie nach Hause zu fahren. Jetzt fingen nämlich, sagt sie, einige Herren an, klebrig zu werden.
Bis dahin aber sei alles wunderschön gewesen. So viel sauberer als in den Jahren vorher.
Am nächsten Vormittag steht ein kleiner Bengel an einer Wasserpumpe in der Straße und spritzt sich den Anzug und die Stiefel naß. Dann wälzt er sich im Dreck und quiekt vor Lust. Ich wundere mich und sage ihm, die Mutter werde schön schimpfen, wenn er so verschmutzt nach Hause komme, aber da sagt er nur:
"Sie wer'n lachen: Spaß muß sind!"
15. Februar 1934 (Donnerstag)
24
Auf dem Türkenball - Caffè alla turca - Kamelmist - "Stoßtrupp 1917" - Die Seele des Frontkämpfers - Prinz Sigvard von Schweden - Kleine Mädchen träumen.
"Och, ist das türkisch? Kein Fes, kein Turban, nichts?", fragt mich enttäuscht die Dame, mit der ich den vom türkischen Botschafter veranstalteten Ball zugunsten der deutschen Winterhilfe besuche, wie ich früher den Chinesenabend und andere Ausländerfeste mitgemacht habe. "Woran erkennt man nun die Türken?"
Ja, meine Gnädigste, die sind unter Mustafa Kemal Pascha äußerlich vollkommen europäisiert. Es steht Todesstrafe auf Benutzung der alten Volkstracht. Es gibt auch keine Derwische mehr, keine Frauenverschleierung, kein geistliches Recht, kein Weinverbot, keine Vielweiberei, keine arabischen Buchstaben. Und den Ghasi selbst, den vergötterten und gehaßten Kemal, habe ich einmal in einer Tanzdiele in Konstantinopel in Zivil "eine saubere Sohle schleifen sehen", wie unsere Jungen sagen.
"Nicht einmal Vielweiberei?" Meine Begleiterin fällt aus allen Himmeln.
Und nun machen wir uns auf die Suche nach wirklich Türkischem. Halt: Da scheint etwas zu sein! Aber nein, das sind keine Osmanen, das sind Georgier aus dem Kaukasus, die mit Herbert Volck, dem Verfasser des prachtvollen Buches "Rebellen um Ehre", und seiner löwengelben tapferen jungen Frau zusammensitzen. Aber hier! Und hier! Mehrere Herren in türkischer Armeeuniform, olive mit goldenen Achselstücken. Und ein türkischer Seeoffizier im Frack mit Passanten und Goldknöpfen. Auch unsere Marine hat ja unter Friedrich Wilhelm IV. den Galafrack noch gehabt. Weiter! Da ist das "Türkische Zelt", ein großer Raum, in dem man auf kostbaren Teppichen und niedrigen Polsterbänken versinkt. Auf offenem Holzkohlenfeuer wird in kleinen Messingtöpfchen Mokka echt türkisch gebraut. Wenn wir 1918 während des Krieges in Mesopotamien, irgendwo zwischen Mossul und Bagdad, einmal wirklichen Kaffee hatten, hatten wir natürlich keine Holzkohlen, sondern brannten - noch echter - Kamelmist an. Den könnte man ja hier im Zoologischen Garten auch haben. Aber allzu landeskundlich genau will man auf dem Türkenball wohl nicht sein. Ein bißchen Türkisches, nicht viel, hat sich in die Tombola verirrt. Einen Tschibuk sehe ich wenigstens.
Schauen wir uns einmal die Gesichter an. Richtig von osmanischer Rasse, das erkläre ich meiner Dame, ist nur noch der Bauer im Inneren Anatoliens. Bräunliche Haut, mandelförmige Augen, straffes Schwarzhaar. Die Oberschicht in der Türkei ist stark gemischt. Die Vornehmsten und Reichsten ließen sich für ihren Harem Tscherkessenmädchen besorgen. Aber hie und da heirateten die Türken auch Französinnen, Jüdinnen, Araberinnen, Armenierinnen, Negerinnen. Einmal machte ich in Konstantinopel - heute heißt es Istanbul - noch vor dem Kriege die Beerdigung eines Großen der Krone mit. Nur Männer schritten im Trauerzuge und starrten zumeist geradeaus. Auf dem Wege nach Ortaköj hockten auf den Mauern zu beiden Seiten Frauen und schlugen, um die Pracht besser sehen zu können, den dichten Schleier zurück.
Herrgott, was war das für eine Musterkarte von Rassen!
Auch die türkischen Damen auf diesem Berliner Wohltätigkeitsball sind nicht alle von osmanischer Herkunft. Jedenfalls sind sie alle europäisch gefirnißt. Man hat etwa den Eindruck, an irgendeiner Festlichkeit in Marseille teilzunehmen.
Aber das Herz wird einem doch warm, wenn man an die heldischen Kämpfe der türkischen Nation denkt, die früher nur eine Glaubens- und Sittengemeinschaft war, bis der Führer Mustafa Kemal Pascha sie emporriß. Ein Mann von dem Kaliber Mussolinis und Hitlers, wie sie beide im Kriege großgeworden, nur er schon ein paar Jahre früher gegen die Balkanmächte; und dann 1921 der Befreier seines Vaterlandes von den in Kleinasien eingedrungenen Griechen und von dem Sèvres-Friedensvertrag der Entente. Älter als sie beide und doch ein Mann aus unserer Frontgeneration.
Diese Generation in allen Ländern versteht einander besser als die Diplomaten in Genf.
So haben wir den Film verstanden, den die Engländer als "Die andere Seite" herausbrachten. So werden diese mitfühlen, wenn sie unseren "Stoßtrupp 1917" zu sehen Gelegenheit haben sollten.
Dieser Münchner Arya-Film ist im Dachauer Moos gedreht. Eine solche Moorlandschaft kann man bequem zu jedem Gelände umbauen, vor allem ist sie die einzige, die die Darstellung der wassergefüllten Granattrichter in Flandern ermöglicht. Aber auch die Szenen an der Aisne und bei Cambrai sind landschaftlich durchaus naturgetreu. Das Thema ist selbstverständlich die Materialschlacht, der Kampf zwischen Mensch und Maschine, mehr noch: der Kampf zwischen Seele und Not. Es ist ein hohes Lied auf die Seele des deutschen Frontsoldaten, namentlich des Meldegängers im Stoßtrupp, so wie der Gefreite Adolf Hitler einer war. Im Dreck der Erdfontänen, in Stahlgewittern, im Zucken des Feuers, immer einer für alle, für die Kameraden, ja für die unverständige Heimat, für Deutschland.
Ein erschütterndes Bild, wo der eine bayrische Musketier den Brief von seiner Frau erhält: "Hier sagt man, der ganze Krieg ist Schwindel!" Nein, das war er nicht. Er war ein Läuterungsbad aller bei uns noch vorhandenen Mannheit, er bedeutete die Wehen unseres 1933 neugeborenen Vaterlandes.
Mit einem ungeheuren Aufwand an Technik - nur daß das ununterbrochene Donnern des Trommelfeuers hier natürlich gedämpft wiedergegeben werden muß - wird der Krieg leibhaftig gemacht. Wir alten Soldaten straffen uns, aber die anwesenden Frauen sind alle von Grauen geschüttelt. Viele von ihnen begreifen zum ersten Male, wie es ihnen kein Brief, keine Erzählung klarmachen konnte, was die Väter, die Männer, die Brüder, die Söhne gelitten haben und was für eine Kraft dazu gehörte, in dieser todspeienden Hölle den "inneren Schweinehund" nicht hochkommen zu lassen.
Der Text besteht aus tausend Worten Stacheldraht. Wir waren herzlich, aber rauh. Hier ist nichts versüßlicht. Wenn der aus der Front herausgezogene Mann, auf einen Tag im Ruhequartier, das freilich nur Biwak ist, sich auf die Binsen wirft und ruft: "Jatzt ko mi der ganze Kriag am Arsch lecken!", so ist das dem Leben abgelauscht. Dabei kommt doch die Weichheit des deutschen Herzens nicht zu kurz. Wie die Männer am Heiligen Abend 1917 einen schwerverwundeten Engländer (der übrigens fabelhaft englisch aussieht) in ihrem Unterstand betten, ihm leise "Stille Nacht, heilige Nacht" auf der Mundharmonika vorblasen, das Christbäumchen für ihn anzünden, in dessen Lichterglanz er selig verscheidet: das ist unnachahmliches deutsches Gemüt.
Vorn an der Brüstung der Loge sieht man die Großen von heute, die der Lokalreporter registrieren muß. Irgendwo ganz hinten, auch für die Operngläser fast unerreichbar, sitzt mit brennenden Augen der Meldegänger Adolf Hitler.
Dieser Film ist ein in der Produktion aller Völker ganz einzig dastehendes Werk. Eine Arbeit von ungeheuer eindringlicher Wahrheit. Und er ist eine unvergängliche Ehrenurkunde für uns Frontsoldaten. Alle jetzigen jungen Menschen müßten ihn sehen. Dann bliebe ihnen das Wort über uns "Verkalkte" in der Kehle stecken. Vom Kalk der Lause-Champagne waren wir freilich beschmiert. Aber das war nur äußerlich. Das Blut pulste ungehemmt in starken Stößen und tut dies noch heute.
Nicht ein einziger Zuschauer rührt zum Klatschen die Hände. Der Schauer der Weltgeschichte weht durch die ergriffene Gemeinde.
Es gibt noch heute Menschen, die über Filme überhaupt die Achseln zucken. Pah, Filme! Aber ein Film selbst kann ein Stoßtrupp sein, der Gefangene macht. Man nannte einst die Presse die siebente Großmacht. Heute ist es bestimmt in noch größerem Ausmaß der Film. Und neben dem heroischen auch der Spielfilm. Manchmal habe ich mich gegen die Serie der verlogenen Filme gewendet, in denen immer irgendein kleines Mädchen einen Prinzen, einen Milliardär, einen Herzog bekommt. Aber ich werde mich fortan wohl davor hüten müssen. Denn auch diese Filme werden Wahrheit.
Da ist der Prinz Sigvard von Schweden, der Sohn des Kronprinzen. Er hat einmal Greta Garbo heiraten wollen. Jetzt führt er sein völlig unbekanntes kleines Mädchen aus Berlin heim, Erika Patzek. Der Name weist schon auf schlesisch-tschechisches Grenzgebiet hin; da kommen die Eltern auch her. Sie sind in Berlin im Fuhrwerksgeschäft wohlhabend geworden, in der Ära Schenker reich, und können schon "ein Haus machen". Ich finde diese dunkelblonde Erika, die ich einmal in einem guten Lokal, wo er sie auch kennengelernt hat, mit dem Prinzen habe tanzen sehen, nicht einmal hübsch. Dazu hat sie eine viel zu große Nase.
Er selbst, Prinz Sigvard, hat sich so, wie sein Onkel Prinz Wilhelm, von der Reiseschriftstellerei, vom Film angezogen gefühlt. Nach Studien in Paris und in München ist er Hilfsregisseur bei der Ufa in Neubabelsberg geworden. Der erste Film, bei dem er mitwirkte, war "Ich bei Tag und Du bei Nacht". Dann kamen "Die schönen Tage von Aranjuez" und "Ich und die Kaiserin". Zuletzt ware er im vorigen Herbst bei den Vorarbeiten zu "Die Liebe des jungen Dessauers" beschäftigt. Damals besuchte ihn sein Vater, der schwedische Kronprinz, in den Tonfilmateliers.
Es ist nicht wahr, was die Zeitungen schreiben, daß Fräulein Patzek stets dabei war. Prinz Sigvard hat nie eine Dame nach Neubabelsberg mitgebracht.
Der kleine, schmale, glattrasierte, brünette Mensch war anfangs pünktlich wie jeder Angestellte früh um 9 Uhr da und arbeitete durch, je nach dem, was vorlag, bis zum Abend, bis Mitternacht, mitunter bis 2 Uhr morgens. Sein Auto, ein Buick, brachte ihn dann nach Hause in seine kleine Wohnung im Grunewald, wo ihn ein Diener betreute; vor der Wohnung ist dem Prinzen einmal auch der Wagen gestohlen worden.
Der sehr nette, gut erzogene, auch gegenüber jeder Sekretärin oder Komparsin korrekte und höfliche junge Mann war gern gesehen. Man sagte nicht Königliche Hoheit zu ihm, aber auch nicht Herr Holger, wie sein Deckname lautete, sondern einfach Prinz. "Prinz, kommen Sie bitte mal hierher!" ich dachte anfangs, er heiße Prinz, nicht, er sei Prinz. Natürlich sind sein Vater, der Kronprinz von Schweden, und sein Großvater, der König, durchaus gegen die Verbindung. Aber da kannst halt nix machen. Wenn demnächst ein Verein der "unebenbürtig" verheirateten europäischen Prinzen gegründet werden sollte, müßte man schon einen ziemlich großen Versammlungssaal mieten.
Märchen wird Wahrheit. Kein Roman ist so romanhaft wie das Leben. Millionen kleiner Mädchen träumen.
22.Februar 1934 (Donnerstag)
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