"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 19 - 21
11. Januar bis 1. Februar 1934


19

Das drohende Abitur - Elternsorgen - Mein alter Marinefeldwebel - Wann darf man heiraten ? - In der kleinen Bank - Straßenlose - Wo sind die Juden ? - Umzüge im Januar.

"Au Backe, in drei Wochen haben wir das Schriftliche!", sagt unser junger Freund, der Oberprimaner vom Realgymnasium. So, so. Na, wird schon gehen, tröste ich ihn. "Sie sind eine komische Kruke mit Ihrem Wird-schon-gehen!", antwortet er etwas melancholisch. Von 20 Oberprimanern seien 6 von vornherein zurückgewiesen, von den restlichen 14, unter denen er sich befinde, fielen 3 bestimmt durch, und wenn 11 es schafften, kriegten bestimmungsgemäß doch nur 5 die Universitätsreife verbrieft. Er berlinert gerne, der junge Mann, so sagt er: "Und denn in Mathematik bin ich mächtig unter pari". Statt: und dann. Aber im Aufsatz ist er doch gut bis sehr gut. Auch in einzelnen anderen Fächern. Nur eben die elende Mathematik. "Seit ich einmal mitten in einer algebraischen Aufgabe von meinem Nachbar versehentlich 72 statt y2 abschrieb, habe ich eine chronische IV!"

Wie angenehm, daß unsereins diese Sorgen nicht mehr hat. Man hat alle möglichen zivilistischen und militärischen Examina zu Lande und zu Wasser und zu Luft hinter sich, aber wenn man einmal einen Angsttraum hat, dann handelt er bestimmt vom Abiturium. Jetzt haben dafür Zehntausende von Elternpaaren im Wachen die große Angst, ob ihr Junge oder ihr Mädel, mit großen Kosten durch die Schule gebracht, die Reifeprüfung besteht oder ob ihm nach bestandener Prüfung nicht trotzdem die Universitätsreife aberkannt wird.

Die Härte ist leider notwendig. Im Jahre 1900 machte jeder 249. Deutsche sein Maturum, in Jahre 1932 war es schon jeder 22. Deutsche. Wir sind ein überstudiertes Volk.

Wohin mit allen Abiturienten und Abiturientinnen ?

Sogar einer jungen ausgebildeten Lehrerin ist dieser Tage gesagt worden, sie werde "normaler Weise" wohl erst angestellt, wenn sie 42 Jahre alt sei. Man muß also schon im Gymnasium abstoppen. Da kommt gerade ein famoser, braver, lieber Obergerichtssekretär, der als Marinefeldwebel mir 1914 in Flandern unterstand, mit seinen Vatersorgen zu mir. Ich habe ihn seit dem Kriege nicht mehr gesehen, erkenne ihn aber sofort, obwohl er inzwischen weiß geworden ist. "Na, was auf dem Herzen?" Ja, er habe außer dem großen Sohn, der im 10. Semester studiere, eine zwanzigjährige Tochter, die ein Semester Zahnheilkunde hinter sich habe. Jetzt zu Ostern werde aber er, der Vater, pensioniert, und da könne er es nicht mehr schaffen. Ob ich irgendeine Stellung für das kluge, nette, stattliche Mädchen wüßte. "Kann sie stenographieren und Maschine schreiben?" Nein. "Also bloß Abiturium?" Ja. "Bei der Mutter hauswirtschaftlich ausgebildet?" Ein bißchen. Da sitze ich nun und kriege langsam Schweißtropfen auf die Stirn. Dieser weltbefahrene Marinefeldwebel a.D., der trotz seiner damals schon 46 Jahre sich kriegsfreiwillig meldete und zuletzt im Kriege an 38-Zentimeter-Geschützen Dienst tat, ein Prachtkerl von altem Soldaten und Beamten und Menschen, tut mir ja so leid. Ich schreibe an einen bekannten Zahnarzt, ob er eine Empfangsdame brauchen könne, die schon ein wenig ins Fach hineingesehen habe. Die Antwort: "Nur wenn sie Stenotypistin ist!" Ich schreibe hierhin, ich schreibe dorthin. Abiturium? Pah! Allenfalls sei da eine unter dem Titel "Haustochter" getarnte Stellung als gewöhnliches Dienstmädchen denkbar.

Da kann einem wirklich heiß und kalt werden. Da begreift man, daß unserer Überbildung mit Härte beigekommen werden muß. Jeder operative Eingriff bringt Schmerzen, eröffnet aber die Möglichkeit der Heilung. Das müssen wir alle uns jetzt sagen, wo im öffentlichen Leben so viel operiert wird: es ist ein Muß. Der Dank des ganzen Volkes gebührt Frick und den anderen Führenden, die den Mut dazu finden, als Chirurgen ihres Amtes zu walten.

Die Handarbeit in Feld und Werkstatt wird wieder eine Ehre.

Anfangs glaubten wir, daß die akademisch Gebildeten unter dem Jungvolk dadurch Luft bekämen, daß in vielen Berufen, in denen bis zu 60 Prozent Juden saßen, ordentlich durchgeforstet wurde. Aber so sehr viel hat das nicht geholfen, denn das Überangebot, namentlich in Berlin, ist wirklich riesengroß. Es wird auch bei äußerster Beschränkung der Zulassung zum Studium noch an die zwanzig Jahre dauern, bis auf dem akademischen Arbeitsmarkt die gesunden Zustände von 1900 wiedergekehrt sind.

Also: heranwachsende Kinder haben, das ist heute eine Sorge. Aber junge Kinder kriegen, das ist heute eine Hoffnung. Die von 1933 an Geborenen haben eine Zukunft in einem geregelten Staat. Je mehr Kinder, desto besser. Die Eltern werden es einst nicht mehr nötig haben, um irgendwelcher auf dem Papier stehenden "Berechtigungen" willen ihren Nachwuchs durch eine Reihe von Examen zu hetzen.

Man wird später von einer jungen Orthopädin nicht mehr das Einjährige, von einem Buchhandlungsgehilfen nicht mehr das Maturum, von einem Kindermädchen nicht mehr englische Konversation, von einem Plafondmaler nicht mehr Kunststudium verlangen, sondern sich mit dem gut Handwerklichen begnügen.

Dies schon deshalb, um das Heiratsalter nicht immer weiter hinaufzuschrauben. Um 1900 konnten unsere meisten jungen Pfarrer mit 25 die Braut heimführen. Heute können sie vor etwa dem 30. Lebensjahre an eigenen Hausstand nicht denken. In Heer und Flotte gibt es den Heiratskonsens erst, wenn einer 27 Jahre alt ist, aber ohne schwiegerelterlichen Zuschuß geht es dann auch noch nicht. Ein langer Oberleutnant spaziert neulich mit einer jungen Dame, in deren Familie er verkehrt, durch den Tiergarten. Sie macht ihm unverkennbar Avancen. Da lächelt er und sagt: "Gnädiges Fräulein, ich werde erst 26, ich bin noch gesetzlich geschützt!" Am Traurigsten schauen zur Zeit unsere Bauerntöchter drein. Die schärfste chirurgische Maßnahme, um dem vor dem Untergang stehenden Landmann das väterliche Heim zu erhalten, war das Erbhofgesetz, das die Unteilbarkeit vorsieht und keine Neubelastung zugunsten zweiter und weiterer Kinder gestattet. Da gibt es also keine Mitgiften mehr, die aus einer dazu aufgenommenen Hypothek gedeckt werden. Jungbauern mögen heute ruhig mit 22 Jahren heiraten. Aber ihre Schwestern haben es nicht so einfach.

Berlin ist nicht nur die nivellierte Metropole, sondern besteht aus tausend kleinstädtischen Winkeln, mit denen das Land draußen noch seine Beziehungen hat. Da ist eine solide uralte Bank in der Linkstraße mit nur 3 Zimmerchen. Aber Reichsbank-Kontokorrent, alles in Butter. Manchmal muß ich hin, weil ich immer noch an zwei Bürgschaften abstottern muß, die ich für einen jungen Schriftsteller und einen alten Oberstleutnant a.D. eingegangen und mit denen ich hereingefallen bin. Ich gehe trotzdem gern in diese Bank, denn hier ist man sozusagen Familie. Der Direktor und der Kassierer strecken einem die Hand über die Theke entgegen und fragen nach dem Befinden und nach dem Gewicht und nach der letzten Urlaubsreise.

Diesmal ist gerade ein junger Bauer aus dem Nachbarkreis Teltow da. Er ist früh verwitwet, will wieder heiraten und leiht sich dazu 200 Mark. Er holt umständlich die Photographie seiner Braut heraus, als seien wir nicht in Berlin, sondern in Wriezen.

Keiner sagt: Herrgott, was für ein schönes Mädchen!

Der Direktor kommt auf die in solchen Fällen probateste Redensart, hält das Bild auf Armlänge von sich und schnalzt:

"Tja, sind Sie ein Kerl!"

Und der Kassierer klopft dem Mann auf die Schulter und erklärt:

"Besser eine ordentliche Frau als eine fabelhafte Freundin, habe ich nicht Recht?"

So Idyllisches kann man doch in jedem Viertel der tosenden Weltstadt finden. Neuerdings gibt es nur besondere Menschenstrudel dort, wo die Männer in grauem Umhang mit rotem Kragen stehen und für 50 Pfennige Lose der Straßenlotterie verkaufen. Das Lockende daran ist, daß man nicht erst auf einen Ziehungstag zu warten braucht. Man reißt den Umschlag auf, da steht es schon gedruckt, ob man "Nichts" gewonnen hat, nur freilich einem Volksgenossen mit 50 Pfennigen geholfen hat, oder ob 10 000, 5000, 100, 50 Mark usw. irgendwo gleich abzuholen sind. Daß eine Frau zweimal ein Freilos gewann, das habe ich selbst erlebt. Und fast überall sehe ich neben dem Strudel irgendeinen kleinen Jungen, der da sagt:

"Werfense die Ansichtskarte drin nich wech, schenkense se lieber mir, ick drücke ooch den Daumen, detse wat jewinnen!"

Eines wundert einen nur bei den Streifzügen namentlich in Berlin W: wohin sind denn die vielen Juden gekommen, über die man früher fast stolperte?

Das Berliner Ärzteblatt zeigt allwöchentlich an, wie viele Kollegen erneut nach Tell Aviw in Palästina ausgewandert sind, wo es nachgerade drei Ärzte auf jeden Kranken geben muß. Aber das Gros, namentlich auch der Kaufleute, ist doch in Berlin geblieben. Nur sind die Leute nicht mehr so aufdringlich. Sie füllen auch nicht alle Lokale vom Wittenbergplatz bis zur Halenseebrücke. Der Tanzpavillon im Edenhotel, wo man früher eine Christenverfolgung befürchten mußte, ist jetzt ganz europäisch geworden. Allerlei Auffallendes gibt es da freilich immer noch an einzelnen Getünchten, und selbst ich sehe dieser Tage etwas noch nie Dagewesenes: eine junge Tschechin, mit einem älteren Begleiter am Nebentisch, hat sich, wohl um pikant zu erscheinen, kein sogenanntes Schönheitspflästerchen, aber - einen Schnurrbartanflug über der Oberlippe angeschminkt. Auf der Suche nach dem Verbleib des auserwählten Volkes habe ich schließlich festgestellt, daß es sich in zwei Konditoreien massiert, der einen in der Nähe des Kaufhauses des Westens, der anderen am Kurfürstendamm. Die Adressen möchte ich nur hartgesottenen Anthropologen nennen, denn wenn ein gewöhnlicher Sterblicher da hineinsieht, "kippt er aus den Pantinen", wie der Berliner zu sagen pflegt.

Die Rassefremden massieren sich auch in den Privatwohnungen. Sie ziehen zusammen. Sie geben Zimmer an ihre Leute ab. Es ist ein neues Ghetto im Entstehen.

In manches nun leerstehende und billige Quartier kommen deutsche Familien. Auch der Mittelstand lernt jetzt zu erschwinglichen Preisen Komfort kennen. Selbst in die vornehme Kolonie Grunewald wird Hausrat kleiner Leute geschafft. Anfang Januar ist im Gegensatz zu sonst viel umgezogen worden. Und nun wird immer wieder geschoben, gestellt, probiert.

"Stell' ick den Venus uff'n Trimo un Jeethen uff de Kommode oder Jeethen uff'n Trimo und den Venus uff de Kommode?"
11. Januar 1934 (Donnerstag)


20

Unten tobt es - Unsere Sprachkurse - Jugend und Alter - Kube auf dem Reichskommers - Kaisers Geburtstag - Wilhelm Tell auf der Bühne und im Film - In der Germania-Klause - Steffi-Nossen-Schule.

"Horch, der Wilde tobt schon vor den Mauern!", sprechen wir morgens mit Schillers Andromache. Eine Treppe unter uns heult und faucht es, zischt und brüllt es. Dazwischen so etwas wie entferntes Maschinengewehrgeknatter. Dann ein paar drohende, uns unverständliche Worte einer Donnerstimme. Sie werden abgerissen, unterbrochen, irgendwoher dröhnt plötzlich Musik. Nun zischt es, als ströme der bisher gefesselte, überkomprimierte Dampf mit Getöse aus dem Sicherheitsventil einer ungeheuren Lokomotive.

Da sind wir, viel zu früh, endgültig wach. Auch die beiden Mädel in der Wohnung unter uns sind es. Sie haben, wie gewöhnlich, eine Stunde vor ihrem Gang zur Schule den Lautsprecher-Rundfunk angestellt. Während die eine sich schon wäscht, kratzt die andere jegliches Geräusch aus dem Äther über Europa und Umgegend zusammen.

Auf einmal kriegt man Sehnsucht nach einem Einfamilienhaus . . .

Aber solange man noch nicht im Ruhestande lebt, sondern nächtlicherweile am Schreibtisch arbeitet, macht man es ja ähnlich. Es ist, so paradox das klingen mag, beruhigend, Radau zu hören, auf den man nicht achtet. Das ist wie das Meeresrauschen am Strande oder wie das Klappern der Mühle, wobei man doch auch ungestört schaffen und schlafen kann. Im Felde haben wir bei Trommelfeuer herrlich gepennt, auch wenn die gerade Wachenden an Weltuntergang glaubten. "Bitte Musik!", sage ich also zu meiner Frau, während ich schreibe. Sie dreht und dreht. Bitte sehr, an unserem neuen schönen, wenn auch noch nicht ganz abgezahlten Telefunken-Apparat "Nauen". Was ist so gegen 2 Uhr nachts noch los? Hie und da quietscht es nur, aber, halt, da in Toulouse spielt ein Tanzorchester. Recht so; nicht lauter, nicht leiser.

Was, schon wieder zu Ende? Man sucht weiter nach Musik. Da poltert eilig, aus der Sowjetrepublik, russische Rede daher. Zu schnell. Da kommen wir mit unseren Sprachkenntnissen nicht mit.

Gelegentlich macht es Spaß, so halb geschenkt irgendwoher Konversationsstunde zu bekommen. Die Franzosen fallen uns durch ihre Theatralik in der Aussprache, durch das genießerische Betonen des stummen "e" etwas auf die Nerven. In richtiger, ruhiger Umgangssprache, wenn es nicht gerade ein Geistlicher der Hochkirche ist, lassen die Engländer sich vernehmen; manchmal ein bißchen lässig-verkniffen, so daß man die Zeremonie der Mundöffnung mit ihnen vornehmen möchte. Am deutlichsten, ganz prachtvoll klar, sprechen die Italiener vom Mailänder Sender; da kann man durch Zuhören sein bißchen Italienisch gut erneuern.

Das große Rundfunkwunder, das übrigens schon Bellamy in seinem "Looking backward", seinem Rückblick aus dem Jahre 2000, in diesem vor 45 Jahren erschienenen Zukunftsroman vorausgeahnt hat, ist für uns immer noch keine Selbstverständlichkeit.

Wir in Berlin genießen es als Beruhigungsmittel gegen die Großstadthast. Draußen in der Stille des Landes reißt es umgekehrt die Einsamen in das flutende Weltleben.

Uns Ältere, die wir noch die erste Glühlampe, das erste Auto, die erste Sprechwalze ("Guten Morgen, Herr Fischer!", klang es in Nasallauten heraus), das erste Telephon, das erste Flugzeug erlebt haben, erfüllt Dankbarkeit. Das heranwachsende Geschlecht aber nimmt jede neue Erfindung als natürlich hin. So seien wir, das gehöre sich so, alle vorhergegangenen Generationen seien Tranlampen gewesen, nicht nur in der Technik, sondern auch in der Politik, und den Krieg hätten sie - klar - auch noch verloren.

Da müssen wir uns also ins Mauseloch verkriechen. Die als Primaner 1914 gen Langemarck zogen und als Überlebende 1919 den Spartakismus daheim niederschlugen, kommen auch allmählich "in die Jahre". Manches junge Mädel sieht sie, schürzt die Lippen und sagt: Nu wenn schon! Einmal haben, das sind schon fast Urzeiten, preußische und sächsische Soldaten St. Privat erstürmt. Einmal, das ist kaum zu glauben, waren sogar die beiden Steinalten, Goethe und Schiller, junge Schwärmer, einmal war Martin Luther ein kleiner Schüler und sang in der Kurrende so wie heute die Hitlerjugend im Sprechchor. Sogar vor dem Jahre 1500 hat es blühendes frisches Leben gegeben. "Jugend ist keine Erfindung von 1933 oder 1934!", schmettert Kube dieser Tage bei dem Kommers zur Feier der Reichsgründung von 1871 in den Kroll-Saal. Man horcht auf, und ihm, dem ewig jungen Kämpfer, gibt man Recht. Wir alle stehen auf den Schultern unserer Vorlebenden, auf unseren Schultern recken sich die Nachlebenden. Jeder Jahrgang durchläuft einmal das Stadium der Jugend, nachdem er von dem Unterbau seiner Familie abgesprungen ist. Es ist schön, wenn man um den Zusammenhang weiß; nichts entsteht aus nichts, nie hebt Weltgeschichte unvermittelt an.

Die Vereine Deutscher Studenten, deren Reichsführer Kube ist, haben nun schon 53 Jahre Dasein hinter sich.

Einmal, ich glaube im Jahre 1907, habe ich auf ihrem Reichskommers auch gesprochen, auf Heer und Flotte. Der Kronprinz und Prinz Eitel Friedrich waren dabei, und die öffentliche Meinung der Jerusalemer Straße regte sich darüber auf, daß der Kaiser seine Söhne zu dem Fest dieser antisemitischen Studenten mit Arierprinzip geschickt hatte. Aber so dachte der Kaiser. Wer seinen Briefwechsel mit Houston Stewart Chamberlain, seinem Lieblingsschriftsteller, kennt, der weiß, daß Wilhelm II. nur aus Amtspflicht, nicht aus Freundschaft mit den Ballin und Rathenau verbunden war. Jetzt wird er, der "junge Kaiser", der seiner Umgebung immer um ein Jahrzehnt voraus war, in dieser Woche 75 Jahre alt. Mancher stille Gedanke der Abbitte wandert da nach Doorn.

Wäre der Kaiser, mit einer Tarnkappe angetan, jetzt im Reiche, so würden ihm die Augen übergehen angesichts des Nationalsozialismus. Schon daß "des Vaterlandes Hochgesang" wieder zum Leitmotiv unserer gesamten Jugend an Stelle der Internationale oder des Schlagers geworden ist, läßt das Herz lauter schlagen.

Nach langer toter Zeit reißt Wilhelm Tell uns wieder empor.

Im preußischen Theater der Jugend, dem wieder staatlichen Schillertheater, das Göring und Rust und die anderen umgeschaffen haben, jubelt man dem Erretter eines geknechteten Volkes zu. Da wird alles zum Symbol, da hat jedes Schillerwort seine Bedeutung. "Wann wird der Retter kommen diesem Lande?"  "Es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen!"  "Ans Vaterland, ans teure, schließ' Dich an, das halte fest mit Deinem ganzen Herzen, hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft!"  "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr."  "Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen."  "Fort mußt Du, Deine Uhr ist abgelaufen!" Man könnte seitenweis so zitieren. Das sind alles Dinge, die für unsere eigene Zeit gedichtet erscheinen.

Jetzt ist Wilhelm Tell auch zum ersten Male, unter Leitung von Hanns Johst, vertonfilmt, also Millionen zugänglich gemacht worden. Aber ich kann mir nicht helfen: ich bin schmerzlich enttäuscht. Gewiß, Hans Marr als Tell und Conrad Veidt als Geßler sind vortrefflich. Aber vor allem sind es die Schweizer Landschaftsbilder, so daß man eine Art Werbefilm für Reisen dorthin hat. Das übrige ist ein historisches Kriminalstück, nicht der Freiheitskampf eines Volkes. Es fehlt die allmähliche psychologische Untermalung bei Wilhelm Tell, wofür das Gedränge und das Schwertgeklapper bei der Erstürmung von Zwinguri nicht entschädigt. Photographisch ist alles mögliche herausgeholt, aber Schiller völlig entseelt.

Da kann man sich auch Heinrich VIII. oder die Kaiserin Katharina oder sonst einen geschichtlichen Prachtfilm ansehen. In diesem Wilhelm Tell der Terra sieht man den Racheakt an Verbrechern, aber nicht den Freiheitsdrang und die Vaterlandsliebe einer Nation.

Das überschlagene Abendbrot wird nach dieser Enttäuschung schnell in der Germania-Klause nachgeholt, einem winzigen Lokälchen in der Nähe des Ufapalastes, zwischen Traube und Stadt Pilsen. Da kann man schon für 70 Pfennige ein vorzügliches Stammessen bekommen. Das gesamte Bedienungspersonal besteht aus einem alten Kellner, der selbst das Bier abzapft und das Essen von hinten holt, wenn dort die Köchin stark an die Tür klopft. Immer wieder dieses laute Pochen.

"Herr Ober, wir sind aber etwas schreckhaft!", bemerkt verweisend einer der beiden Herren am Nebentisch.

"Hätten Sie doch Ihre Nerven zu Hause gelassen, mein Herr!", erwidert ruhig und schlagfertig der Alte.

Heute braucht man sie nicht einmal zu Hause zu lassen, sondern - in der Steffi-Nossen-Schule. Was das ist? Ich will mal erzählen. Also ich schlendere die Friedrichstraße entlang und höre aus einem früher lange leerstehenden Laden, dessen Schaufenster weiß angestrichen und daher undurchsichtig sind, Klavierspiel und rhythmisches Geräusch von Schritten. Die Tür ist verschlossen. Publikum versucht irgendwo eine Ritze zu entdecken, nachdem es ein Plakat gesehen hat, daß hier ein tänzerisch-gymnastischer Kursus für erwerbstätige Frauen abgehalten werde. Durch einen seitlichen Korridor finde ich hinten Eingang. Eine junge Dame, Fräulein v.Wedel, die Sekretärin der Schule, tritt mir entgegen. "Ein Herr? Zusehen? Nein!" Nun legitimiere ich mich. Ach so, das ist etwas anderes, die Leser müssen natürlich informiert werden.

An die dreißig Frauen - dicke, dünne; junge, alte; große, kleine - bewegen sich im kurzen, losen Tanzkittel. Die Arme und die Beine, diese bis ganz oben am Oberschenkel, sind frei. Eine stattliche Person hat auch nur Büstenhalter und Badehose an, was nicht vorschriftsmäßig ist und allmählich verschwindet. Zum Glück nimmt niemand von mir Notiz, so hingegeben ist alles an die Sache, an die große Entspannung nach Bureau-, Laden-, Fabrikarbeit.

Alle Stände gemischt. Neben einer Portiersfrau die Braut eines Oberleutnants. Alles sichtlich froh. Eine Gymnastik-Pädagogin kommandiert zur Musik.

"Bitte Kreisgehen!" Da wird man zunächst im Marschtempo warm, werden die Füße locker. "Arme hoch und Ziehen nach oben!"  "Schön dehnen nach oben!"  "Dehnung auch nach vorn und seitwärts!" Eine Fülle der verschiedensten Übungen, von der Musik beschwingt, wird durchgemacht. "Füße in vier Zeiten abrollen!" O, wie das wohltut, wenn Spitze, Ballen, Mittelfuß, Hacken nacheinander tätig werden. "Gegenüberstellen, beide Hände anfassen und weiterhüpfen!" Nun machen die Paare das, was wir früher im Galopp durch den Saal chassieren nannten, und sind wie tollende Kinder.

Die Steffi-Nossen-Schule, die ihr Stammheim im Grunewald hat und dort jeglichen Tanz bis zur Berufsvollendung lehrt, richtet jetzt in allen Stadtteilen diese Gymnastikkurse für Erwerbstätige ein, zum Preise von nur 3 Mark monatlich.

Da gesunden die Nerven. Sonst stürzte alles nach Bureauschluß in ein rauchiges Café. Jetzt lockert man lieber seine Glieder.
18. Januar 1934 (Donnerstag)


21

Deutschland am 30. Januar aus der Vogelschau - Erbstrom - Am Abend nach der Kanzlerrede - Internationales Reiterturnier - Von Skilehrern und Skihäschen - Ein gutes Plakat.

Auf dem Sellapaß in den Dolomiten, in Himmelsbläue und Schneegeflimmer, brennt mir die Sonne den letzten Gripperest weg. Noch ein paar Tage, ach Gott, noch ein paar Tage! Aber ein zufälliger Blick in die Zeitung zwingt zu sofortigem Aufbruch. Am 30. Januar Reichstagssitzung! Am 30. Januar Jahresfeier der deutschen Umwälzung! Nun trägt mich an diesem Tage das Flugzeug heim, damit ich rechtzeitig nachmittags eintreffe. Aus der Vogelschau kann ich als einer der Wenigen sehen, wie Deutschland an diesem Tage sich schmückt.

München ist sehr reich, Nürnberg ist überreich, manche Kleinstadt bis Berlin Haus bei Haus mit Fahnen besteckt, auch aus winzigen Dörfchen grüßen vereinzelt die Farben herauf. Nur im Gebirge, im Frankenwald, kann ich es nicht feststellen, da fliegen wir in 2200 Metern Höhe über den Wolken, über dieser blendend weißen Polarlandschaft im Lichte des strahlenden Tagesgestirns. Von Oberbayern bis ins nördliche Franken kommt meiner Schätzung nach auf je 10 deutsche Fahnen kaum eine bayrische. Das Weiß und Blau war früher fast das einzige, damals, als die Bayern sagten, sie seien schon ein Kulturvolk gewesen, als die Preußen noch auf Bäumen gehockt und sich mit Nüssen beworfen hätten.

Wer denkt heute noch an so etwas? Wir sind allzumal Deutsche.

Was am 30. Januar Gesetz wird, das einige Deutschland (der französische Botschafter François-Poncet, der noch mit dem Gedanken an die Mainlinie großgeworden ist, beißt sich während Hitlers Rede auf die Lippen), das wird landauf landab schon vorweggenommen, das kommt durch Schwarzweißrot und Hakenkreuz überall zum Ausdruck. Nach dem Gebirge geht es wieder hinunter in die Milchsuppe der Wolken und hindurch. Links Weißenfels, rechts Leipzig, links Wittenberg, rechts Jüterbog: Fahnen, Fahnen, Fahnen!

Natürlich bin ich, schon um des Zeitgewinns willen, auch schon hin geflogen. Die Aufenthaltszeit mit den Spaziergängen auf den zwei Zwischenlandeplätzen abgerechnet, nur zweieinhalb Stunden reine Flugzeit von Berlin bis München.

"Mich kriegen keene zehn Pferde in die Luft!", sagt mir am Anhalter Bahnhof der Kofferträger, als ich auf den Flugschein hin das schwere Gepäck vorausschicke. Ich kenne diesen Alten - ich suche mir immer denselben aus - sehr gut. Also kann ich schon ein Wörtchen riskieren.

"Mensch, das sagen Sie als Verkehrsfachmann? Sie sind wohl durch einen zu engen Fleischwolf gedreht? Vom Juni dieses Jahres an fliegt man in 80 Minuten von Berlin nach Frankfurt am Main! Was wollen Sie da mit Ihrer schleichenden Eisenbahnharmonika? Mit dieser zugigen, rußigen Rüttelkommode?"

Das Flugzeug ist gut geheizt. Unter dem Teppichbelag ist der Fußboden ganz warm. Frischluft kann jeder Reisende für sich, ohne ein Fenster zu öffnen, an dem Seitenschlauch anstellen. Und das Flugzeug liegt ruhig wie ein Plättbrett in der Luft. Es fliegt schnurgerade. Also es gibt keine Kurven mit dem Zerstoßen zu spitzer Schultern.

Während meiner ärztlich verordneten einwöchigen Abwesenheit ist in Berlin natürlich allerlei los gewesen. Die Leser verzeihen es mir hoffentlich, daß ich ihnen also vom Reimannball - in diesem Jahr dem einzigen, weil die "Emigranten" fehlen - und anderen sogenannten gesellschaftlichen Ereignissen nichts erzählen kann. Aber von einem Theaterstück sollen sie etwas hören, von dem die Zeitungen nicht berichten, zu dem die Kritiker nicht bemüht werden, und das doch - täglich dreimal gegeben wird. Im alten Wallnertheater im Zentrum Berlins. Es heißt "Erbstrom". Alle Berufsschüler und Berufsschülerinnen, Hunderttausende junger Menschen zwischen 15 und 18 Jahren kriegen es zu sehen und bekommen zum erstenmal eine Ahnung davon, was das Gesundungswerk des Dritten Reiches für unser Volk bedeutet. Ein Dorfidiot, ein Trinker, ein Tuberkulöser, ein Syphilitiker und mehrere gesunde Menschenkinder spielen darin. Fassungsloses Erstaunen, unwillkürliche Zurufe aus dem Publikum: das ist wirklich Volksaufklärung im besten Sinne des Wortes, da geht jedem Jüngling und jedem jungen Mädchen ein Licht über die Verantwortung bei der Eheschließung und über das Glück frischen Blutes auf.

Dann nach der Rückkehr direkt aus dem Flughafen Berlin im Auto zum Reichstag. Die unvergeßlichen zwei Stunden dieser Kanzlerrede. Nachher das viele Volk in der Wilhelmstraße. "Führer, wir rufen Dich!", ertönt es im Sprechchor. Ein paar Minuten zeigt sich Hitler auch am Fenster. Die harrenden Tausende und die neuen Tausende sind aber noch nicht zufrieden. Immer aufs neue, bis in den späten Abend hinein, macht irgendeiner aus dem Publikum ein Verschen. Findet es Anklang, dann ertönt es im Chor.

"Beim Führer brennt noch Licht,
Nach Hause gehn wir nicht!"

"1, 2, 3, 4, 6, 8, 10,
Wir wollen unsern Führer sehn!"

"Macht Ihr auch den Vorhang zu,
So geben wir doch keine Ruh!"

"Tust Du nicht bald jetzt auf die Tür,
Dann stehn wir morgen früh noch hier!"

Am nächsten Tage haben die Berliner Straßen wieder ihr Alltagsgesicht, nur hier und da hängt noch eine verschlafene Fahne über einen Balkon. Der Reichstag ist verrauscht. Wer von den Abgeordneten nicht sofort heimfährt, der geht wohl noch in die Ausstellungshallen zum internationalen Reiterturnier.

In der Hochsprungkonkurrenz haben ein paar Tage vorher drei französische Offiziere gesiegt. Diesmal im schweren Jagdspringen sind von den Ausländern wieder die Franzosen am stärksten vertreten, und das deutsche Publikum, das das täglich - einschließlich der 10-Mark-Plätze - völlig ausverkaufte Haus, die Ausstellungshalle II am Kaiserdamm, füllt, benimmt sich musterhaft. Es ist eine so ganz andere Gesellschaft als bei Radrennen oder Boxkämpfen; eine wirklich ritterliche Gesellschaft. Wenn ein Holländer oder ein Ire oder ein Schweizer oder ein Norweger oder auch ein Franzose an irgendeinem Sprung einmal versagen, erschallt ein bedauerndes "Ah!", und am Schluß gibt es immer warmen Beifall.

Aber das Herz geht natürlich in hämmernden Pulsen mit.

In windender Fahrt fegt ein junger französischer Leutnant mit Null Fehlern in der fabelhaften Zeit von 69⅖ Sekunden über alle Hindernisse. Dann aber kommt der Augenblick, wo von den 141 Genannten der deutsche Oberleutnant E. Hasse dasselbe in genau 69 Sekunden schafft.

Da ist der Beifall nicht stärker, aber vielleicht - inniger. Orkanartig wird er bei der großen Schaunummer, die von deutscher Reichswehr exekutiert wird, Infanterie, Kavallerie, Artillerie, Maschinengewehrabteilung, Motorfahrern. Das ist ungeheure gebändigte Kraft, das ist militärische Athletik, das ist der Ausdruck höchster Disziplin. Ob die Leute in langem Galopp daherrasen oder wie die Mauern stehen, ob wir Quadrillen oder Paraden oder Gefechtsbilder sehen, es ist immer gleich erhebend. Auch die Vorführung der Pferde, die den Weltkrieg mitgemacht haben, darunter ein mehrfach preisgekröntes noch heute frisch dahertänzelndes Tier von 30 Jahren, reißt empor. Jedermann weiß doch, daß wir historische Stunden durchleben, wenige Monate vor Anerkennung unserer Wehrhoheit, vor Wiedererringung unserer Freiheit zur Errichtung eines ausreichenden größeren Heeres, und da quillt die Dankbarkeit gegen diejenigen auf, die in Fesseln durchgehalten und weitergearbeitet haben.

Es ist schön, wenn man wieder mit aufnahmebereiten Sinnen, die Lungen noch von Bergluft voll, so etwas genießen kann. In den deutschen Mittelgebirgen regnete es, als ich abfuhr. Also mußte ich in das Hochgebirge. Freilich nicht ganz-ganz-hoch, wo es nur noch Hütten gibt. Da muß man unter Umständen abends seine Zahnpasta mit ins Bett nehmen, damit sie morgens nicht eingefroren ist. Dann schon lieber ins letzte Dorfgasthaus, selbst wenn es am Ende der Welt liegt und kein Telephon hat, aber wenigstens Zentralheizung.

Wir tun ein gutes Werk an den deutschen Landsleuten in den Dolomiten, wenn wir zu ihnen mit deutschem Wort und deutschem Gelde kommen.

Dann entpuppt sich auch mancher, der heute Luigi heißen muß, als Alois. Äußerlich wird ja jetzt überall der genormte Mensch Mode. Auch die Gasthöfe sind allgemach über einen Leisten geschlagen. Überall dieselben Bilder. Im Empfangsraum: der Führer, der König, die Königin. Im Speisezimmer: der Führer, der König, die Königin. In der Schwemme: der Führer, der König, die Königin. Unter den Genormten sind bloß die Skilehrer eine knorrige Ausnahme. Es ist gut, sie auf Touren vorneweg zu haben, weil sie jede gefährliche und jede ungefährliche Wegabkürzung kennen, so daß man nicht allzu plötzlich einen Baum zu umarmen oder nach einer Schußfahrt in einem Wildbach zu landen braucht.

Unterwegs habe ich den jungen Luis Trenker und einen 67jährigen Skiläufer getroffen. Dazwischen weibliche Skihäschen in Mengen. Überhaupt wird dieser Sport ja, soweit er nicht nur nach Rekorden strebt, zumeist paarweise ausgeübt. In Bayern - ich will es halbwegs hochdeutsch wiedergeben - heißt es:

"Ma braucht a Haserl fürs G'fühl,
Zwaa oder drei san schon z'vüll!"

Außerdem rutscht schon Nr. 2, sicher aber Nr. 3 bei der kleinsten Steigung nach hinten ab. Dann muß der Skilehrer aufrichten und helfen und trösten:

"Sell isch ganz oifach, bloß a Schneid missens ham!"

Ja, an der Schneid liegt alles, im Leben, im Sport, im Kriege, in der Politik. Und vielleicht auch in den Umgangsformen. Wir drücken uns alle viel zu gebildet aus. "Man bittet höflichst, die Türen leise zu schließen", lese ich so oft in Bureaus. Wie erfrischend ist es da, wenn man bei einem Berliner Sportphotographen in der Zimmerstraße das Plakat erblickt:

"Immer feste die Tür zuknallen! Lärm macht beim Arbeiten Laune."

Nirgends in Berlin wird so vorsichtig zugeklinkt wie hier.
1. Februar 1934 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts