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Paketseligkeit - Achtung, Fußgänger! - Aus dem Dasein der Taxichauffeure - Spachunterricht in Kutscherkneipen - Auf dem Müggelsee - Wintersportausstellung - Ein fleißiger Winterhilfssammler - Fliegerball im Zoo.
Das bekannte Verschen auf Lebkuchenherzen "Mensch, sei helle - Bleib' Junggeselle!" konnte nur ein Minderbegabter erfinden. Freilich gibt es Leute, die sich in der Ehe-Tombola einen unausstehlichen Partner greifen, weiblichen oder männlichen Geschlechts, einen solchen Satan, wie es nach ihrer Meinung alle Jahrtausende bloß einen geben kann. Aber das sind Ausnahmen. Das Glück zu zweien und dann in der Vielheit der Kinder ist doch etwas Herrliches und das einsamer Altern die trostloseste Sache der Welt. Also: "Mensch, sei tüchtig - Und heirate richtig!" Leid tun einem die Junggesellen besonders kurz vor Weihnachten. Dann stolpern sie meist freudlos in die Läden, um Geschenke für den oder jenen zu erstehen, dem gegenüber sie sogenannte Verpflichtungen haben.
Wir anderen aber, die wir in einer starken Familie verwurzelt sind, schweben in diesen Tagen trotzdem selig daher. Man ist mit Paketen beladen, aber das sind ja gerade die Flügel, die einen tragen. Ein jeder lächelt still vor sich hin und in sich hinein, sieht nichts Irdisches mehr und prallt womöglich achtlos mit anderen Seligen zusammen.
Die Lenker der Autodroschken haben mehr als sonst zu tun und bekommen mehr als sonst Trinkgeld. Von den Menschen, von den Fahrgästen? Nein, diese Worte kennt der Berliner Taxichauffeur nicht. In seiner Sprache sind es "Figuren", die er "greift", indem er, statt vorschriftsmäßig auf schnellstem Wege den nächsten Standplatz aufzusuchen, langsam am Bürgersteig entlangfährt und die "Figuren" hypnotisch ansieht. Wenn sie nur nicht so begriffsstutzig und vor allem vor Weihnachten so tolpatschig wären! Der Berliner Droschkenlenker hat schon seinen Ärger mit diesen Leuten, die ganz versonnen auch beim Signal Rot eine Straßenkreuzung passieren, so daß er im letzten Moment hart bremsen muß.
Dann schrecken sie zusammen und rufen wohl gar:
"Warum hupen Sie nicht?"
Worauf der richtige Berliner Bockinsasse natürlich nur antworten kann:
"Wennste Musike hören willst, Mensch, denn jeh' in de Staatsoper!"
Zu dämlich, diese Fußlatscher. Sie müßten mal einen Tag und eine Nacht die Taxe führen! Dann wüßten sie über das Gelichter ihresgleichen Bescheid. Kommt da ein Paketbeladener an das erste Auto einer langen Reihe heran und nennt das Ziel, nur drei Querstraßen weiter. Er ist sehr erstaunt, als der Chauffeur vernehmlich murmelt: "Sone vafluchtige Schweinerei, vafluchtige! Fimf Stunden wart' ick schon un ricke langsam vor uffn Standplatz. Nu man bloß sone kleene Fuhre! Nachher kann ick mir wieda for fimf Stun'n anstellen." Wer nicht Bescheid weiß, sich in den Mann nicht hineinfühlen kann, der sagt nun wohl, seinetwegen könne er doch nicht bis Wannsee fahren. Oder: er verbitte sich die patzigen Redensarten, er werde das melden. Wirklich, zu dämlich. Der verständige Mensch nimmt sich zu ganz kurzen Fahrten die letzte Droschke. Und wenn er in die erste einer Reihe einsteigt, so sucht er wenigstens durch ein dickes Trinkgeld Kummer zu lindern.
Der Droschkenkutscher ganz alten Stils, der nur Berlinisch kann, dieses aber saugrob, wird übrigens vielleicht aus dem Straßenbild ganz verschwinden. Seit russische Oberstleutnants, mongolische Häuptlinge, österreichische Barone am Volant sitzen und die Zahl der Autolenker sich mehrt, die dem Fahrgast französisch oder englisch Bescheid geben können, wie ja auch in Spanien und Italien häufig Mehrsprachige zu finden sind, ist das Bildungsbedürfnis über unsere Taxichauffeure gekommen. In verschiedenen kleinen Kneipen an Standplätzen halten arme Studenten, die dafür ihr Essen und eine Molle Bier bekommen, mittags und abends kurze Sprachkurse ab, in denen die notwendigsten Redensarten gedrillt werden.
"Voila le Reichstag, édifié en mille huit cent quatre vingt quatorze!" oder "That is a five mark piece, I retourn to you one mark twenty!"
Manchmal sieht man auf der Haltestelle, wie dieser oder jener einen Zettel hervorzieht und eifrig auswendig lernt. Die Altmodischen aber spotten:
"Blas' dir man nich künstlich uff, davon krichste doch keene Fijuren!"
Wenn ich je ein eigenes Auto besäße, würde mir alsbald die Freude fehlen, diese geplagten Allwettermenschen etwas verdienen zu lassen. Das ist wirklich eine beiderseitige Freude. Da bin ich in dieser Woche am letzten harten Frosttag nicht mit der Straßenbahn, sondern mit einer Autodroschke vom Müggelsee heimgefahren. Der Lenker strahlte mich an wie ein Kind vor dem Christbaum. Daß es so große Fuhren noch gebe, schien er stammeln zu wollen.
Er hatte schon stundenlang in Köpenick beschäftigungslos gefroren, während ich durch den Tunnel unter der Spree hindurch und dann auf den See gegangen war, wo mehrere große Segelschlitten und auch ein kleiner "Eisfloh", mit nur 3 Quadratmetern Leinewand, einhersausten. Man wird ja sehr bald selber zum Eiszapfen, wenn man, auf dem Bauche liegend, mit den Füßen das Steuer dieses kleinen Renners und mit den Händen das Segel bedient, aber es ist doch herrlich, mit einer Geschwindigkeit bis zu 1500 Metern in der Minute über die Fläche zu stürmen. So ein Ding kostet dabei nur 60 Mark!
Auf der Wintersportausstellung in der Wilhelmstraße in Berlin (Eintritt gratis) ist es im Original zu sehen. Die ganz großen Eisjachten, mit deren einer ich vor langen Jahren einmal über den zugefrorenen finnischen Meerbusen - "Ree, ree, ree - scheun is dat op See!" - geflitzt bin, haben in der Ausstellung natürlich keinen Platz. In solch einem dreieckigen flachen Riesenkasten saßen wir zu fünft in Stroh und Pelzen, hatten noch etliche Zentner Steine als Ballast und flogen trotzdem wie der Wind - nein, schneller noch - daher. In der sehr lehrreichen Ausstellung haben mich besonders ein paar Knochenschlittschuhe aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts und die aus der Steinzeit stammende Abbildung eines Skiläufers angezogen. Es ist Schwung und es ist Werbung in dem ganzen Aufbau, der auch das notwendigste und lockendste über alle unser Gebirgsorte enthält. Der Reichssportführer v.Tschammmer und Osten packt tüchtig zu, seine Unterführer auf den verschiedenen Gebieten ebenso, und es hat den Anschein, als ob die Olympia-Ernte 1936, im Sommer wie im Winter, gut ausfallen müßte.
Schnee, Schnee! Jetzt regnet es wieder einmal zur Abwechslung. Hier unten. In Oberbayern aber gleitet der beschwingte Mensch, nur daß seine Flügel Bretter unter den Füßen sind, noch wie ein Adler daher und stößt gelegentlich jäh zu Tal. Die Sehnsucht der Städter darnach ist groß. Einstweilen aber gibt es Wichtigeres. Christfreude!
Noch nie war das deutsche Volk so angespannt tätig, um den Armen, den Verarmten, den Erwerbslosen das Weihnachtsfest licht zu machen. Der junge Oberprimaner von denen unter uns, der uns und 20 anderen Familien immer wieder die Tür einrennt, um für irgendwen irgendwas zu erbitten, hofft übrigens, daß seine Parteitätigkeit ihm bei der Reifeprüfung zu Ostern angerechnet wird. Sonst säh es mies aus, gesteht er offen. Am Tage läßt man sich solche Besuche gern gefallen. Aber daß der lange Bursche vorgestern um ½4 Uhr morgens (ich hatte bis 2 Uhr nachts am Schreibtisch gesessen) vielmal bei uns Sturm läutet und dann, als wir alle zusammenliefen und öffneten, bloß zu sagen wußte: "Och, ich glaube, ich bin eine Treppe zu hoch!", das ist, glaube ich, nicht ganz angebracht. Solche Überstunden würde ich bei der Reifeprüfung jedenfalls nicht positiv bewerten.
Im übrigen wird "Wohltätigkeit" nach wie vor am liebsten im Tanzschritt ausgeführt.
Wenn man dazu Platz hat.
Wohl zum erstenmal seit Bestehen der verschiedenen Zoo-Bälle, von denen der Presseball es einmal auf 8000 Besucher brachte, die Höchstzahl, für die Sitzgelegenheiten zur Verfügung stehen, reichten am letzten Sonnabend die Räumlichkeiten nicht aus, denn rund 10 000 Menschen waren zum Fest der Luftsportler, das die erste Berliner Motorfliegerstaffel veranstaltete, erschienen. Im Marmorsaal stand die Menge Kopf an Kopf, in dem Geschiebe der übrigen Säle konnte etwa eine Modeberichterstatterin auch kaum mehr als Schultern sehen, auf Spitzenschleppen gaben Schaftstiefel sich ein Stelldichein, und eine Lehrerin der Letteschule, die sozusagen zu Unterrichtszwecken mit ihrer Schar junger Mädchen hergekommen war, mußte sich darauf beschränken, durch Ansässigkeit die Stühle vor dem Verschwinden zu schützen.
Aber eingebracht hat der Ball, obwohl oder weil der Eintritt nur 2 Mark kostete, eine ganze Menge. Und es war vom Monteur bis zum deutschen Kronprinzen, vom Dienstmädchen bis zum Staatssekretär Milch alles da, was entweder für Fliegerei oder für Wohltätigkeit oder für Tanzen eine Schwäche hat. Der Luftfahrtminister Göring selbst konnte nicht kommen, aber ein plakatmäßiges Kolossalbild von ihm hing wenigstens da.
Was er in wirklich gewaltigem Maße dafür tut, um aus uns eine Nation von Sportfliegern und Luftschutzverständigen zu machen, das spricht sich allmählich herum. Wenn er seine Schultern gegen etwas stemmt, dann mag es noch so festgeklemmt sein, es kommt in Bewegung.
Nachdem ich meinen Stuhl zur Sicherung mit meinen zwei Begleiterinnen "belegt" und einen netten Studenten, mit der S.S.-Rune im Smoking-Aufschlag, der auch mit einer Dame an unserem Tisch saß, als Oberwächter installiert hatte, konnte ich es wagen, mich bis zur Tombola hindurchzuzwängen, wo 2500 Gewinne winkten, an der Spitze ein Kleinauto. Nach einer halben Stunde hatte ich 12 Lose buchstäblich erstanden. Von hinten her wurde ein Mädchen an mich gequetscht, das mit Mühe die rechte Hand freibekam, dreimal auf die darin befindlichen 75 Pfennige für ein Tombolalos spuckte, um es nietenfest zu machen, und dazu flötete:
"Führerschein ha' ick schon lange, bloß keen Auto nich, det will ick jetzt jewinn', nur ha'ck fast nie Jlück in de Lottrie, bloß in de Liebe, aba ooch da keene Pinke zum Heiraten!"
Ich habe 2 Tages-Eintrittskarten für den Zoologischen Garten gewonnen, die, da wir eine Familienjahreskarte besitzen, ein arbeitsloser Bäckergeselle und seine Braut von mir bekommen; und eine Anweisung auf zwei freie Mittagessen zu je 1,50 Mark in einem Restaurant in Wilmersdorf, die einem arbeitslosen Kollegen von der Schriftstellerzunft und seiner Frau zum Weihnachtsessen verhelfen werden; und schließlich einen Kasten Weißbier, der einer alten Malerin munden soll, die dieses Berliner Getränk selbst einer Flasche 1915er Niersteiner Auflangen Spätlese vorzieht.
So ein Spaßvergnügen als Masse Mensch habe ich noch kaum erlebt.
21. Dezember 1933 (Donnerstag)
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Sind Frauen neugierig ? - Die auswechselbare Nichte - Am bunten Teller - Meckerer wider die Winterhilfe - Weihnachten im Brunnen-Verlag - Bummel ins "Vaterland".
Wer wagt noch die Behauptung, daß alle Frauen neugierig seien?
Da ist ein junges Ding aus der Familie eines lieben Bekannten in Sollér auf Mallorca, das zur Zeit einen halbjährigen Kursus in Haushaltführung in der Berliner Letteschule durchmacht und sozusagen als Probearbeit meiner Frau ein großes Stück selbstgemachten Marzipans mitbringt, zum Christabend bei uns eingeladen. Aber bitte: das heimische Postpaket nicht vorher öffnen! Und wahrhaftig, das Mädel kommt mit dem wohlverschnürten und wohlversiegelten Weihnachtskrämchen an, ohne, wie ich bestimmt erwartet hatte, vorher auch nur durch ein freigemachtes Schlupfloch den Zeigefinger gebohrt zu haben. Die gerade erst mündig gewordene junge Dame ist zwar schon um ganz Afrika und tief nach Afrika hinein, bis zu den Sambesifällen, gekommen, ihr Wissensdurst ist also schon reichlicher als bei uns Durchschnittsmenschen gestillt worden. Aber tagelang vor Weihnachten ein Paket in Händen haben und nicht öffnen, - alle Achtung!
Es ist tatsächlich so schön, überrascht zu werden, nichts von seinen Geschenken zu ahnen, ehe der Christbaum erstrahlt. Auf den meinigen lag diesmal zuoberst ein Kärtchen, auf dem englisch in Balkenschrift zu lesen stand:
"Von Ihrer derzeitigen Nichte McLeod; sie kann am Halleschen Tor umgetauscht werden."
Die junge Engländerin, die noch zu Besuch bei uns weilt, ahnt nicht, was für einen Witz sie unfreiwillig gemacht hat. "Sie" ist in Wirklichkeit die Kiste Zigarren, auf dem das Kärtchen lag, also nicht die Miß aus London. Aber einen Augenblick lang haben wir sie doch, ehe wir das heraushatten, erstaunt angesehen. Wir konnten uns nicht gut vorstellen, daß es am Halleschen Tor eine Auswahl von Nichten gäbe.
Im übrigen ist es der merkwürdigste Christabend in unserem Hause seit Jahrzehnten gewesen. Man denke: kein einziger der "bunten Teller" wurde an diesem Tage leer. So etwas ist noch nicht dagewesen.
Sonst hielt immer jedermann mit einer Hand ein Schmökerbuch, während die andere wie ein Greifbagger regelmäßig in Sekundenabstand in den Teller fuhr. Aber jetzt sind wir so schrecklich erwachsen, daß unsere beiden Jüngsten den großen Christbaum fast verdecken, wenn sie davor photographiert werden. Die Pfeffernüsse und Äpfel und Printen und Feigen und Traubrosinen und alles Übrige, einst Hauptmahlzeit am Heiligen Abend, sind jetzt nur noch Nachtisch. Selbst die Jungens knabbern nur noch gelegentlich daran. Dafür haben wir in anderen Familien, wo es noch kleinere Kinder gibt, durch unsere "bunten Teller" helle Freude erweckt. Hie und da konnten wir auch etwas bar aushelfen, und daß es mehr wurde als nur aus eigenen Beständen, dazu hat eine gütige alte Dame aus dem Rheinland, eine treue Leserin, gründlich beigetragen.
Überwältigend ist die Gesamtleistung der Nation zu diesem Weihnachtsfest.
Noch niemals, weder vor dem Kriege noch während der 1929er Scheinblüte, haben so viele Christbäume in Deutschland gestrahlt. Allein in Berlin sind 180 000 kostenlos an Arme gegeben worden. Dazu Lebensmittel, Kohlen, Kleider, Schuhwerk, Spielsachen in einem bisher nicht erreichten Ausmaß.
Allerdings kann man nicht immer auf Dank rechnen, was übrigens auch nicht der Zweck der Übung ist. Eine Frau sagt: "Da habe ich von der Winterhilfe einen Zentner Kartoffeln gekriegt, aber die darf ich nicht essen, weil ich zuckerkrank bin, das müßten die Leute doch wissen!" Mein Gott, da soll sie den Sack eben gegen ein paar Liter Milch bei Nachbarn umtauschen. Oder ein Verarmter aus gebildeten Kreisen seufzt: "Ein 3 Meter hoher Christbaum ist zu groß für uns! Und weiße Bohnen liegen mir schwer im Magen! Und Malzkaffee habe ich noch nie im Leben getrunken!" Mensch, man sollte Dir alles wieder wegnehmen . . . Oder eine alte Dame schreibt mir: " Man bekommt ja Lebensmittel, aber vor Bargeld wird man geschützt wie vor Pestbazillen, und vom Zahnpulver bis zum Stopfgarn, vom Gummiband bis zur Tinte braucht man doch noch allerhand außer dem Essen!" Nun, hier haben wir die kleine Lücke füllen können.
Gegen Weihnachtsfeiern der Vereine, das habe ich schon neulich gesagt, habe ich einen gewissen Widerwillen. Wenn aber die Belegschaft eines Unternehmens sich sozusagen als große Familie zusammenfindet, dann ist es etwas anderes.
Es mag ein gutes Dutzend Jahre her sein, als der schon damals straff nationalistische, heute nationalsozialistische Brunnen-Verlag mit, glaube ich, nur 5 Angestellten und mir als erstem vom Dom-Verlag übernommenen Autor, dazu ein paar Nahestehenden, Weihnachten feierte. Man war froh und guter Dinge, hielt Reden, aß und trank und tanzte. Ob man sich einen Klavierspieler und einen Geiger dazu leisten könne, war eine schwierige Frage der Kalkulation, die in der Jahresbilanz als letztes Tröpfchen den Schuldentopf zum Überlaufen bringen konnte. Heute hat der Brunnen-Verlag 56 Angestellte, hat als "gängige" Autoren Riemkasten, Frhrn. v.Kapherr, Busch-Cornelissen, Schniewind, Peter Purzelbaum, Presber, Oberpräsident Kube, Oberst Reinhard, Rolf Brandt, Schreiber, Hoinkis und viele andere, bringt dem Ladenbuchhandel stärksten Absatz und hat sich gut durchgepaukt. Dabei war der Inhaber, Willi Bischoff, noch vor wenigen Jahren unter dem Republikschutzgesetz angeklagt, zu Zeiten einer der "beschlagnahmtesten" Verleger und trotzdem kein Moratoriumssucher. Jetzt kann er mit den Seinen so strahlen wie der große Christbaum an der riesigen Hufeisentafel.
Es gibt nach den Weihnachtsliedern ein fröhliches Kabarett, das selbst dem männlich-ernsten jungen Programmredakteur Dr. Weiß vom "Deutschen Sender", der Funkzeitschrift des Brunnen-Verlags, immer wieder ein Lächeln entlockt. Es gibt vergnügte Aufführungen mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, und es gibt allerlei Singsongs von stimmbegabten jungen Sekretärinnen unter Leitung einer pudellustigen Kleinen mit unaussprechlichem Namen, der mit "Krcz" anfängt und mit "iessa" endet; bequemlichkeitshalber sage ich einfach Principessa.
Aber nun die Höhe. Auf der Höhe des Festes erhebt sich Bischoff, wirklich unvorbereitet, auch rechnerisch unvorbereitet, und sagt in einer plötzlichen Aufwallung:
"Kinder, vom 1.Januar ab bekommt jeder meiner Angestellten 10 Prozent Gehaltszulage!"
So mußte es der Pechmarie zumute sein, als der Goldregen herniederkam: es ist ein Jubel sondergleichen. Der eine oder andere junge Familienvater blüht sichtlich auf. Und die zumeist schon lange verlobten Mädels möchten ihrem Chef am liebsten um den Hals fallen. Man liest doch immer nur von Gehaltsabbau. Jedermann weiß, daß es sicher in ganz Deutschland sonst nicht einen einzigen Verlag gibt, der da noch zulegt.
Da wird man übermütig. Da sprudeln die Scherze. Ich tanze gerade mit der Unaussprechlichen.
"Mein Herr, Sie gehen zu weit!"
"Iiiich?"
"Jawohl, kommen Sie dichter ran!"
Das war am 23. Dezember. Noch vor Mitternacht saß ich wieder zu Hause am Schreibtisch, dem Vernehmen nach soll aber das Fest gedauert haben, bis frühmorgens wieder die ersten Straßenbahnen gingen. Der eine oder die andere der Teilnehmer sagte nachher: "Das war mal ein praktischer Kursus in Nationalsozialismus!"
Der 24. Dezember gehörte dann überall der Familie. In Hunderttausende verhärmter Berliner Häuser kam diesmal unerwartet die Freude, wenn man auch zugeben muß, daß in Zehntausenden die Sorge blieb. Am 25. Dezember sitzt man zu Hause und verspeist, wenn man sie hat, eine Gans oder einen Puter oder wenigstens ein Kotelettstück. Der zweite Weihnachtsfeiertag aber ist traditionell der des Ausgehens in der Reichshauptstadt. Mittags hat man Besuch oder man macht Besuch, zündet nach dem Kaffee bei Dunkelwerden noch einmal die Kerzen an, um am 26. Dezember abends, man könnte sagen, zur Entspannung des Magens, einen tüchtigen Spaziergang zu machen und die Festtage in irgendeinem öffentlichen Lokal zu beenden.
Wir waren ausnahmsweise schon vormittags auf dem gefrorenen Schlachtensee und abends - im Haus-Vaterland-Betrieb am Potsdamer Platz. Zunächst zu kurzem Abendessen auf der "Rheinterrasse" ob St. Goar, diesem Diorama von technisch verblüffenden Effekten mit fahrenden Dampfern und Schleppzügen, mit Sonnenschein und Gewitter und Regenbogen. Davor defilierte sozusagen halb Deutschland, untermischt mit kleinen Gruppen von Ausländern, die schon daheim in den Reisebureaus auf diese Sehenswürdigkeit aufmerksam gemacht werden. Als wir abends nach einem Schlendergang auch durch Grinzing, Oberbayern, Wild-West, Türkencafé, Palmensaal, Teltower Rübchen und die übrigen Räume das Haus verließen, wurden keine Eintrittskarten mehr ausgegeben, weil das Haus pfropfenvoll war: 8923 Personen haben es an diesem Tage aufgesucht! Eine phantastische Zahl, wenn man sie von der Kleinstadtperspektive aus betrachtet.
Diese Vergnügungszentrale am Potsdamer Platz ist das, was an Stelle von Panoptikum und Lunapark getreten ist. Die Schaulust vor allem, dann aber auch die Eß-, Trink- und Tanzlust wird überall befriedigt.
Am zweiten Weihnachtsfeiertage, wo alle Minnas und Karlines Ausgang haben, kann man natürlich nicht darauf rechnen, im Haus-Vaterland-Betrieb lauter Leute von akademischer Bildung zu treffen oder auch nur solche, die Deutschland im Bilde kennen. Die meisten Menschen aus dem kleinen Mittelstande bei uns haben aus zahlreichen Film-Wochenschauen doch nur das Deutsche Eck und das Niederwalddenkmal im Kopf, allenfalls die Loreley, aber kaum St. Goar mit den Burgen Rheinfels und Katz. Das machts nichts, man fühlt sich in der allgemeinen Brüderlichkeit, Wein- oder Bierseligkeit quietschwohl und gibt gern einer etwas Enttäuschten Auskunft, die angesichts dieses Rhein-Dioramas ausruft:
"Wat soll 'n det vorstellen? Is ja keen Koblenz un keen jarnischt!"
Ohne kleine Enttäuschung geht nichts ab, jede musikalische Auflösung in Akkorde wäre ohne irgendeine gelegentliche Dissonanz vorher langweilig, beides muß sich ergänzen. Einige photographische Geschäft berichten, daß anscheinend nur noch Rundfunkapparate zu Weihnachten gekauft werden. So hört man hie und da Klagen, aber auch viel Äußerungen der Zufriedenheit über guten Geschäftsgang. Am besten war es diesmal mit Aussteuersachen, denn "man heiratet wieder", und 1933 schließt als das Jahr der großen Hoffnung.
28. Dezember 1933 (Donnerstag)
18
Friedlicher Januarmorgen - Silvestertrubel neuer Art - Im Mäntelberg - Die "Wilhelma" und Isidor Weiß - Auf der "Leipzig" - Der neue Marinefilm - Statt Gaga Kämpfer!
Wie es köstliche Dorfstille, sogar ohne Gebell oder Schnattern oder Krähen, in der Großstadt geben kann, das wissen die seltenen Menschen, die am Neujahrstag frühmorgens mit klarem Kopfe aufstehen.
Kein Wagen rasselt daher. Kaum ein lebendes Wesen ist auf der Straße zu sehen. Alles schläft.
Es ist schier eine Verzauberung, man glaubt sich in Dornröschens Schloß versetzt. Ich gehöre sehr selten zu den genannten seltenen Menschen, weil doch der Beruf zum Mitmachen zwingt, aber diesmal haben wir wirklich, unentschlossen bis zum letzten Augenblick, zu Silvester still daheim gesessen. Vielleicht war es die mit Frösteln sich ankündende Grippe, die den Auftrieb hemmte. Item: wir zündeten, nachdem der Christbaum erloschen war, zwölf im ganzen Zimmer verteilte große Kerzen aus reinem gelbem Wachs an, dachten an Geibels Wort "Des Flammenstoßes Geleucht facht an, der Herr hat Großes an uns getan" und freuten uns still und innig, dieses Deutschland von 1934 noch erleben zu dürfen. Bis hierher hat man sich seit der Revolte nach dem Kriege glücklich durchgekämpft. Fast hat man nun ein bißchen Sehnsucht nach Ruhequartier. Die Umwelt knallt auch nicht mehr aus sinnloser Angst, um sich zu betäuben. Der Lärm des üblichen Feuerwerks auf der Straße verstummt schnell. Es ist kein rohes Gebrüll zu hören.
Im vorigen Jahre hat es bei kommunistischen Überfällen noch 2 Tote und 9 Schwerverletzte in Berlin gegeben, diesmal gar keine. Im vorigen Jahr mußten in der Neujahrsnacht 230, diesmal nur 29 Personen ins Polizeipräsidium gebracht werden.
Die auf Urlaub zu Hause weilende junge Generation haben wir dafür in den Trubel geschickt. Natürlich mit Ergänzung zu Paaren. Nicht in den freudlos riesigen Sportpalast, nicht in eine schwüle Bar, sondern zum frohsinnigen rheinischen "Alaaf" in die Festräume des Zoo. Fünf Tanzkapellen. Dazu die Ehrengarde der sogenannten Funken, der roten und der blauen, in ihrer Grenadieruniform aus dem 18. Jahrhundert. Den Jungens hatten wir schon vorher zu Hause durch ein Glas Wein den inneren Motor vorgewärmt, so knatterten sie fröhlich los. Dann saßen sie im Bankettsaal mit ihrer Clique und tranken und tanzten sich in die goldene Zukunft hinein.
Ein anständiger Ball, dabei ein aus allen Ständen zusammengewürfeltes Publikum. Neben dem Frack der Straßenanzug. Hier ein Oberschütze, dort ein Kapitänleutnant. Da eine Gräfin, dort ein Kindermädchen.
Schluß in der Morgenfrühe bei Roesch am Kurfürstendamm, dem bekannten Treffpunkt der nach Berlin kommandierten Offiziere und ihrer Damen. Nur gab es in dieser Nacht keine Weinkarte mit einer auch noch für den Fähnrich erschwingbaren Flasche Surius, auch kein Bier, sondern nur Schaumwein, um - den Ansturm einzudämmen. Trotzdem war er da. Der Tanz war eigentlich nur ein Auf-der-Stelle-getreten. Und die Garderobehaken reichten sehr bald nicht aus. Die Mäntel, Pelzjacken, Hüte, Überschuhe wurden einfach auf einen Haufen getürmt, aus dem trotz halbstündigen Suchens nachher nicht alles herauszufinden war. Die Hüterin des Ganzen sammelte die Vermißten-Anzeigen ein, klaubte am Vormittag alles auseinander, reiste in der Stadt herum und lieferte ab. Die Crew aus unserem Hause bekam so einen Herrenpaletot und ein Damencape zugestellt. Es ist nichts verlorengegangen, nichts vertauscht worden. Und so ordentlich ist es beim Jahreswechsel diesmal überall in Berlin gewesen.
Sauber, sauber. Gott sei Dank.
Und noch eins: es ist seit langen Jahren der erste Silvesterabend in der Reichshauptstadt, der bei niemand das Gefühl aufkommen läßt, er werde durch irgend jemand provoziert. Noch glaubt nicht jedermann an das Glück, denn es ist noch viel Elend da. Aber es gibt doch wieder eine leise glimmende gemeinsame Hoffnung.
In der alten "Wilhelma" an der Kaiser-Wilhelm-Kirche, die heute kein Restaurant mehr ist, sondern ein Laden, klebte früher folgender Anschlag:
"Unser verehrtes Publikum wird hiermit höflichst gebeten, von jeder Provokation andersdenkender und sitzenbleibender Gäste beim Spielen patriotischer Lieder abzusehen; eine Nötigung zum Aufstehen oder sonstige Belästigung zieht polizeiliche Ahndung nach sich."
Das war eines der wenigen Lokale, in dem die Nationalgesinnten unter sich sein wollten, bis der Polizeivizepräsident Weiß, der sogenannte Isidor, es durchdrückte, daß dem Wirt die Konzession entzogen wurde. Vermutlich hatte er selber Provokateure hingeschickt, die "Aufstehen! Aufstehen!" brüllen mußten, wenn das Deutschlandlied gespielt wurde, oder die ruppige Bemerkungen zu machen hatten, wenn sie einen betrübend mangelhaft getauften Mitbürger erblickten, der sein blaurasiertes Gesicht auch auf höheren Befehl hierhergebracht hatte. Das gibt es nun nicht mehr. Die Regierung selbst hat das ewige Herunterdudeln von Nationalhymnen in Kneipen verboten, kann umgekehrt aber auch sicher sein, daß nirgends die Internationale gespielt wird, die nach zehn Jahren kaum ein Mensch mehr in Deutschland überhaupt noch kennen wird. "Wir stehen fest und treu zusammen", das ist es, was den Menschen aller Stände allmählich in Fleisch und Blut übergeht, und aus der Volksgemeinschaft entwickelt sich auch der Nationalstolz.
Der klammert sich vor allem an das Wehrrecht des freien Mannes, das das neubegonnene Jahr uns Deutschen wiederbringen soll. Wir wollen mit derselben Freude, mit der die Amerikaner ihren Himmelsstürmer-Film bejubeln, uns als ein Volk in Waffen fühlen. Nicht weil wir kriegslustig wären, sondern weil wir aus eigener Kraft den Frieden schützen mögen.
Im vorigen Hochsommer, so um Ende August herum, kommen zwei junge Seeoffiziere auf dem Kreuzer "Leipzig" aus der Messe. Der Tender "Frauenlob" liegt längsseits. Darauf kommandiert ein Oberleutnant zur See. "Wer is'n das, den kennen wir ja gar nicht?" Er gibt klare, straffe Befehle. Auch mit der Batteriepfeife zwischen den Lippen ist alles in Ordnung. Einmal lang: Klar zum Manöver. Lang, kurz, kurz: Anlegen an Backbord. Leiser Triller: Leinen an Land. Zweimal kurz: Ankerflagge nieder, Manöver ist beendet. Der Oberleutnant zur See steht in der Brückennock, während er pfeift. Da entdecken die beiden aus der Messe kommenden Herren - einen verborgenen aktiven Souffleur, der das "lang, kurz, kurz" oder ein anderes Signal vorzischt. Nun ist ihnen die Sache klar; hier wird gefilmt, und der unbekannte Oberleutnant ist der Schauspieler Carl Ludwig Diehl.
"Aber famos ist der Kerl, ganz lausig echt!"
"Volldampf voraus", so heißt dieser Marinefilm, dessen Entwurf von dem alten U-Böter Kapitänleutnant a.D. Frhr. v.Spiegel stammt. Die Regie hat der bildnerisch-poetisch begabte Carl Froelich geführt. Zusammenstellung und Schnitt hat ein im Programm nicht genannter Seeoffizier besorgt, der in der Pressestelle der Marineleitung in Berlin wirkt. Es ist nur eine kleine Flotte, auf der die hinreißende und stellenweise soldatisch-humorvolle Handlung spielt, aber bei der Uraufführung in Berlin ist alles Volk begeistert.
Unter den "Zivilisten" des Films befindet sich zwar eine reichlich possenhafte Figur, eine in Deutschland unmögliche, allenfalls für Amerikaner ulkige junge Reporterin, aber sonst ist alles wirklich "lausig echt". Bei den grandiosen Gefechtsbildern hält man den Atem an, die Szenen an Bord und in der Turbinenfabrik und im Bad Swinemünde sind spannend oder lustig, der ostpreußische Obermatrose Renken (Max Koske) ist zum Piepen, und die Fabrikantentochter Jutta - Margot Wagner, ein neues Gesicht - ist ein prächtiges Sportmädel, das ihren Oberleutnant bei der Beförderung zum Kapitänleutnant richtig kriegt, obwohl ihr eigentlich der leitende Ingenieur und Teilhaber der väterlichen Turbinenwerke zugedacht ist. An seine Stelle in der Fabrik soll der junge Seeoffizier treten. Aber er verzichtet auf das Millionärsdasein, er will seiner Waffe und der See treu bleiben, und bekommt trotzdem die Braut.
Also auch die Idee des Stückes ist männlich und schön. Vom Ufa-Palast am Zoo tritt es nun seinen Weg durch Deutschland an. Man sollte es jedem deutschen Jungen einmal gönnen. Aber auch uns Älteren pocht freudig das Herz. Zum Auftakt spielte auf der Bühne die Wilhelmshavener Matrosenkapelle. Ruck-Zuck, mit Kesselpauken und Fanfaren. Zwei packende Lieder, die sich durchsetzen werden, hat der Komponist Harald Böhmelt beigesteuert. Besonders anheimelnd das "Irgendwo in weiter Ferne fährt mein Liebster übers Meer".
Seefahrt ist not, sagt Gorch Fock. Da ist Leben, da ist Kampf.
Die Zahl der Nichtkämpfer in jedem auch übertragenen Sinne wird bei uns kleiner und kleiner. In Italien nennt man einen jungen Conte, der seine langen Beine unter einen Kaffeehaustisch streckt, zur Zigarette einen Vermouth nimmt und auf die amerikanische Millionärin wartet, die seinen verschuldeten Namen heiratet, einen Gaga. Das weibliche Gegenstück heißt Gagarella. Beide warten heute, bei einem Dollarkurs von 2½ Mark, vergeblich. Auch in Berlin lungern in einigen Bars immer noch Gagas herum, aber sie sind im Aussterben, weil sie, naturwissenschaftlich gesprochen, nur auf Symbiose eingerichtet sind.
Parole für 1934: Leben heißt ein Kämpfer sein!
Das Schmarotzen hat ein Ende.
4. Januar 1934 (Donnerstag)
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