"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 25 - 27
1. bis 15. März 1934


25

Wenn man keine Zeitung liest - Der Kometenschweif vom "Kurfürstendamm" - Gerhart-Hauptmann-Zitate - Am 27. Februar vor zehn Jahren - Die vorige Flaggenwoche - Wohltätigkeit mit Lachen leicht zu lernen - Was Obertertianerinnen schmökern.

Man muß also doch Zeitungen lesen. Jüngst hatte ich es einmal nicht getan, trat aus dem Hause hinaus, sah die ganze Straße im Festschmuck und sagte mir, was sich nachher als irrig herausstellte: "Aha, Schlußfeier von Gerhart Hauptmanns 75. Geburtstag.!" Tatsächlich ist dieses monatelange festliche Leichenbegräbnis schon am 1. Januar abgebrochen worden.

Schade.

Sonst hätte ich mich mit einem Beitrag zur Zeit-, Kultur- und Geistesgeschichte des vorgestrigen Deutschlands eingestellt, nämlich mit einer Darstellung des Berliner Kometenschweifes des Dichters. Zunächst dem Kern befände sich da sein Verleger Samuel Fischer, genannt Schalom der Unzertrennliche. Dann sein Eckermann Josef Schapiro, der unsterbliche Worte des Meisters von Hiddensö zum Berliner Tageblatt zu flöten pflegte. Und dann eine unabsehbare Reihe ähnlicher Leute von ausgeglühtestem Wüstenuradel, die ihren Gerhart Hauptmann immer bis an die Riviera begleiteten, aber am Ufer stehen blieben, wenn er kühn in das Mittelmeerwasser stieg.

Mein Versäumnis beim Unterlassen dieses Nachrufes wird mir bitterlich klar, nachdem soeben im Scherlverlag ein Buch von Friedrich Hussong erschienen ist. Es heißt: "Kurfürstendamm". Bloß Kurfürstendamm. Und darin sind alle intellektuellen Kometen von Berlin W mit sämtlichen Schwänzchen konterfeit, so wie sie bis 1933 glänzten, auch die Sternheim, Mann, Kerr, Piscator, Einstein, Feuchtwanger, Pinthus bis zu dem kleinen Aas Lieschen Neumann.

Nun möchte ich aber wenigstens, wenn auch nichts eigenes, so doch ein paar Zitate dem Ablauf des Hauptmann-Jahres hinterdreinwerfen, während Hussong termingemäß des Dichters der Republik gedacht hat. Was Gerhart Hauptmann 1913 zur Jahrhundertfeier des Befreiungskrieges an Fadem, Erquältem in Breslau produzierte, habe ich schon vor Jahren erwähnt. Sein Herz war eben damals nicht bei Deutschland, sondern bei Samuel Fischer. Aber 1915 während des Krieges verlangte das Berliner Tageblatt von ihm etwas Patriotisches, und da dichtete er:

"Diesen Leib, den halt ich hin
Flintenkugeln und Granaten:
Eh' ich nicht durchlöchert bin,
Kann der Feldzug nicht geraten!"

Ha, welch ein Poet, welch ein Mann, welch ein Held . . .

Sicherlich, diese Verse sind einfach goethisch. Noch mehr als das, sie sind übergoethisch. Natürlich kann Gerhart Hauptmann es sich leisten, auch Goethe zu verbessern. Er hat, das wissen die wenigsten, ebenfalls einen "Faust" geschrieben. Hundert Jahre nach Goethe. Und zwar nicht für die Bühne, sondern für den Film, und darin befinden sich unter anderem folgende entzückenden Zeilen, die man zunächst für Abzählverse eines Kinderreigens halten könnte:

"Gretchen, Gretchen, was ist das,
Du bist ja wie ein Laken blaß?"

Daß Gerhart Hauptmann, der sich noch 1924 Seite an Seite mit Friedrich Ebert photographieren ließ, nachdem er 1918 die gesamte deutsche Geisteswelt zum Schildhalter der roten Republik aufgerufen hatte, sich heute wieder patriotisch gleichgeschaltet hat, glaube ich gerne.

Nur glaube ich schon längst nicht mehr an den Dichter, längst nicht mehr an den Menschen Hauptmann. Wir werden ein neues junges Dichtergeschlecht erleben, männlich und erdgeboren aus deutschen Landen. In diesen Tagen kommt, bis 1934 ergänzt, eine neue Auflage meines Buches "Der Schmied Roms" heraus, das 101. bis 110. Tausend. Darin mag man nachlesen, was Mussolini über den verkalkten ehemaligen Dichterfürsten Italiens, d'Annunzio, sagt. Das gibt eine hübsche Parallele zu dem, was wir an Dichtern erlebt haben und was wir von Dichtern erwarten.

Aber nun will ich wieder zum Berliner Fahnenmeer zurück, von dem ich ausging. Mal galt es Schlageter, mal der Erinnerung an die erste große Hitlerversammlung, mal den gefallenen Soldaten, mal der kameradschaftlichen S.A.-Hilfe. Ein Datum ist dabei vergessen worden. Just vor zehn Jahren, am 27. Februar 1924, hielt Hitler seine flammende Verteidigungs- und Anklagerede vor dem Münchener Gericht, vier Stunden lang ohne Nachlassen der Spannung. Ich war mit einem der Anwälte, die Hitler und die Seinigen zu verteidigen hatten, hingefahren, hatte den General Ludendorff in seinem Hause aufsuchen dürfen und saß nun mit brennenden Augen in dem Verhandlungsraum in der Infanterieschule. Das ist eine meiner größten Erinnerungen in der jetzigen Gedenkzeit. Am 27. Februar dieses Jahres nun war ich nicht daheim, sondern kurz im "Chemnitzer Hof" in Chemnitz. Ich habe kein Wort von dem erzählt, was mich in Gedanken bewegte, aber still eine halbe Flasche von extra Gutem zu einem Weiheschluck bestellt.

Den Sonntag zuvor aber war ich nicht beim Staatsakt in der Berliner Oper, wo, wie mir nachher andere Teilnehmer erzählten, im ersten Rang vornean in der Mitte Hindenburg und Hitler saßen, am rechten Flügel Göring, am linken Flügel Goebbels, dazwischen alle die übrigen Führer von heute, sondern auf der Straße, Unter den Linden und anderswo.

Das war wie schon am Sonnabend der große Karneval der Gebefreudigkeit.

Wohltätigkeit als Volksfest aufgezogen: fabelhaft. Als einst der Ablaßkrämer Tetzel mit klappernder Büchse durch die deutschen Lande zog ("Sobald das Geld im Kasten klingt - Die Seele aus dem Fegefeuer springt!"), da steckte man mit Angst und Zittern sein Lösegeld in den Schlitz. Hier aber bei der Sammlung für die S.A.-Kameraden: lauter fröhliche Gesichter. Überall hatte die Schaulust etwas davon. Da hatte ein Reitersturm ein Pferd auf die Straße gestellt, an dessen Schabracke neben der Büchse die Inschrift prangte: "Ich kann bitten!" Und siehe da, unermüdlich nickte das Rößlein mit dem Kopfe und machte bitte-bitte mit dem Vorderhuf. Und dann war zehn Stunden lang der Prinz August Wilhelm vom Schloß bis zur Kaiser-Wilhelm-Kirche überall und scherzte und wurde angelacht und bekam einen Spartopf nach dem anderen gefüllt, mit Sechsern, Groschen, Fünfzigern, Markstücken, Schecks. Und ebenso erging es dem Oberpräsidenten Kube und allen anderen uniformierten Führern-Sammlern. Das Neuartige verblüffte, man gab gern, man gab mehr als sonst für eine Papier-Marguerite oder eine Plauener Rosette.

Ich hatte ungefähr 11 Mark in der Tasche, kam natürlich nirgends ungerupft davon, steckte hier Rieck, da Arnim etwas in die Büchse und mußte schließlich in der Wilhelmstraße dem letzten Klappernden erklären: "Leider schon völlig ausgemistet!", worauf ich zur Erwiderung bekam: "Aber Herr Regierungsrat, bei Ihrem Gehalt!"

Alles war vergnügt über den schlagfertigen Sammler, ich auch. Nur ahnt der wohl nicht, wie wenig Gehalt ein Regierungsrat bezieht. Außerdem bin ich nicht einmal das.

Immerhin, es sind wohl an die 100 000 Mark zusammengekommen. Eine imponierende und eine fröhliche Sache. Man sah kaum eine sauertöpfische Miene. "Skilaufen mit Lachen leicht zu lernen" lautet der Titel eines köstlichen (und sogar sachverständigen) Büchleins von Felix Riemkasten. Auch Wohltätigkeit ist mit Lachen leicht zu lernen. Es ist gar nicht nötig, daß man dazu bis 4 Uhr morgens im Zoo tanzt und Wein trinkt.

Es gibt freilich noch immer hier und da die Spezies der Bedenklichen, die, wenn es kein Fernstehender sieht, in vertrautem Kreise das sorgenvolle Haupt schütteln, weil eine solche öffentliche Brandschatzung doch etwas unerhörtes sei.

Ja, vieles ist unerhört. Auch der erste Margueritentag, den die Dänen erfunden haben, war manchen Leuten lästig, und das ständig wiederholte Abzeichen-Kaufenmüssen ist auch heute nicht immer nur Kurzweil. Aber Abwechslung macht Spaß, heißt es schon in einem altlateinischen Sprichwort, und diesmal war's wirklich etwas Neues, etwas Anderes. Wenn Friedrich Nietzsche, der große Weltweise, noch lebte, hätten sich dabei auch seine Züge wohl erhellt, wären ihm die lieben Deutschen auf einmal so beschwingt-dionysisch vorgekommen.

Wir lachen nicht nur. Wir arbeiten auch tüchtig. Wenn wir keine andere Arbeit haben, dann an unserer eigenen inneren Umwandlung. Dieser Vorgang ist ganz unzweifelhaft. Nachweisbar vor allem an der Jugend.

"Was du liest, das bist du!", pflegte man früher zu sagen. Nun wollte ich schon längst wissen, was heute unsere heranwachsenden Mädchen aus gebildeten Kreisen, so etwa die Fünfzehnjährigen aus der Obertertia, schmökern. Was die um zehn Jahre älteren zu ihrer Zeit verschlungen haben, unter der Parole des Sichauslebens in der schwarzroten Republik, das weiß ich leider. "Kameradschaftsehe", "Lilly", "Tagebuch einer Verlorenen", "Alraune". Und noch tolleres, Bücher, die nicht einmal im Schaufenster der Leihbibliotheken standen, sondern unter der Theke hervorgeholt wurden. Die damit gefütterten Mädchen - waren auch danach. Nun habe ich mich jetzt nicht etwa an einen Lehrer oder eine Lehrerin mit der Bitte um Auskunft gewandt, weil denen doch etwas von Schiller und Lessing und Hölderlin und Raabe vorgesohlt werden könnte. Nein, eine Obertertianerin selbst, die den Zweck der Übung nicht ahnte, hat für mich bei 21 Kameradinnen herumgehorcht.

Hier die meistgelesenen Bücher:

"Uwe Karsten", "Mit Hitler in die Macht", "Ben Hur", "Volk in Wehr", "Hitlerjunge Quex", ferner, es ist erstaunlich, Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen", dann "Schlageter", "Horst Wessel", "Unter den Dolomiten", "Der Läufer von Marathon", "Volk ohne Raum", "Der Werwolf", "Mein Kampf", "Die Häuser vom Orlenhof", "Die verlorene Handschrift", "Von Meer und Heide", ja sogar, man glaubt es kaum, von der Marlitt das "Heideprinzeßchen" und "Das Geheimnis der alten Mamsell".

Hier und da stutzt man. Eines der Elternpaare scheint alles von Sudermann im Bücherschrank zu haben. Und da haben sich etliche Mädel nicht gerade das Beste herausgesucht. Aber sonst: eine vollkommene Wendung im Geschmack.

Wir gesunden wieder, Gott sei Dank.
1. März 1934 (Donnerstag)


26

Kein Raketenwagen nötig - Stucks Weltrekord auf der Avus - Internationale Automobilausstellung - Deutsche Schreibmaschinen - Der Kampf um den Urlaub - Fremdwörter - Papa Diegelmann - Der Junge mit dem Triesel.

So mag Seine Pestilenz der Satanas daherbrausen, dachte ich einst, als der junge Opel in seinem Raketenwagen losdonnerte. Er verschwand alsbald in dicken Auspuffwolken.

Inzwischen ist die Sache ein bißchen reinlicher geworden. Jetzt habe ich Stuck in seinem Rennauto gesehen, das nicht viel stärker als ein 60-Zentimeter-Torpedo ist, wie wir sie im Kriege hatten. Ein geradezu niedliches silbergraues Ding, nicht so ein Nilpferd wie das vor wenigen Jahren unerreichte Gefährt des Herrn v.Brauchitsch. Und dieser Wagen der deutschen Auto-Union hat vor unseren Augen drei Weltrekorde gebrochen, hat, die Kurve eingerechnet, eine Stundengeschwindigkeit von 217,11 Kilometern geschafft. Ohne viel Gestank, ohne viel Skandal. Nur war es wirklich phantastisch, wenn er auf der Geraden an einem vorüberknatterte, denn da konnte er ein Tempo von 274 Kilometern vorlegen.

Man hat da doch so eine Art Schwindelgefühl. Man möchte mit; oder man möchte gar über die Schranke hinunter und sich überfahren lassen. Ich glaube auch nicht, daß es Religion, sondern derselbe Schwindel ist, der früher die Inder unter die knirschenden Riesenräder des Wagens des Gottes Dschaggernaut trieb. Wir alle beginnen rot zu sehen, wenn Wucht oder Schnelligkeit uns packen. In meiner Jugend fing das schon beim Galoppchassieren durch den Tanzsaal an.

Es ist doch herrlich, daß Deutschland im Autofahren wieder Welthöchstleistungen buchen kann. Jeder kleine Ladenstift geht auf Berliner Straßen mit geschwellter Brust einher, als sei er der Sieger.

Schöner konnte die Internationale Automobilausstellung nicht eingeläutet werden.

"Au Salon 1934 Berlin" steht auf den Klebezetteln der ausländischen Wagen, die hierher verfrachtet sind. Das ist ein Pariser Ausdruck. Salon, also Saal, heißt Ausstellung. Ob es Autos oder Gemälde sind, das ist gleich. Und die Vorbesichtigung nennt man drüben - das ist aus der Malerei entlehnt - den Firnistag. Die offiziellen Eröffnungen, so heute die der Automobilausstellung, mag ich nicht, auch wenn so ausgezeichnete und klare Reden dabei gehalten werden, wie diesmal von Geheimrat Allmers und Reichskanzler Hitler. Aus den Worten des Führers wird besonders der eine Satz starken Widerhall finden, der sich wieder gegen den Primitivitätskult des Novembersystems richtete, das den Millionären das Auto mißgönnte, während wir es jedem Volksgenossen wünschen. Ich habe meine Einladung zur Eröffnungsfeier nicht benutzt, weil ich zu arbeiten hatte und auch nicht gern in ein tausendköpfiges Festpublikum eingeklemmt bin. Aber tags zuvor, am Firnistag, da machte es Spaß. Da bin ich überall herumgekrochen. Tatsächlich wurde noch überall gefirnißt, nämlich überall mußte man seine Beinkleider vor Malern hüten, die noch einmal irgendwelche Felgen überlackierten.

Am Eingang der ersten Halle, amphitheatralisch geordnet, eine Brigade von Stühlen. Da sitzen jetzt also wohl die Ehrengäste und die Pressemenschen und machen interessierte Gesichter und denken eindringlich nach, - ob sie noch rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause sein können. Front der Stühle zu einer Wand, an der eine ins Riesenhafte vergrößerte Photographie prangt, auf der man unter Hunderten von Figuren Hitler und Gefolge im Vordergrunde in Überlebensgröße sofort erkennt.

Davor liegen noch, während ich in das Tohuwabohu am Mittwoch Nachmittag komme, ganze Ballen von Flaggen, die zur Ausschmückung dienen sollen. Der Union Jack, die französische Trikolore, die italienischen Farben, die Sterne und Streifen, sonst noch allerlei.

Meine ersten Schritte zum Ausstellungsstand der Auto-Union. Da kommt Stucks Rennwagen hin. Vorläufig sind die Audi-, DKW-, Horch- und Wandererautos schon enthüllt. Der kleine Wagen dominiert. Ich schwanke, ob ich, wenn ich das Geld hätte, mir einen zu 3250 oder zu 6875 Mark zulegen würde. Aber Frontantrieb, natürlich, müßte er haben. Ich will durch die Kurven fegen, daß darob Udet in der Luft vor Neid erblaßt.

Drüben links Stoewer-Stettin. Alles Frontantrieb. Ein 2,5-Liter-Wagen, zweitürig, mit 8-Zylinder-Motor, kostet 5625 Mark. Den will ich mal vornotieren. Luftschlösser sind immer am schönsten. Aber der Motor könnte mehr leisten. Wie wäre es, wenn man am Ende Adler Trumpf . . .

Ein Riesen-Maybach, Marke Stromliniencabriolet Zeppelin, ist natürlich noch etwas ganz anderes. Aber da steht kein Preis daran. Ebenso fehlt der Preiszettel an den wunderbaren Mercedeswagen; die sind bloß was für ganz große Herren. Auf dem Stand von Daimler-Benz der erste Viktoria-Wagen von 1891, da lacht man fröhlich, das ist so etwas wie eine Dame mit Cul de Paris, etwas ganz Antiquiertes. Aber man ist doch für eines Herzschlags Dauer stolz darauf, daß das Automobil eine deutsche Erfindung ist.

An einem Stande steht: Citroën ganz deutsch. "Na, na, epheh ho basileus kai gelasas apebeh", pflegten die alten Griechen zu sagen. Das bedeutet in unserer Sprache etwa: da muß man doch mit den Augen zwinkern. Das gilt auch von NSU, alias Fiat. Oder von Opel, alias General Motors. Wir sind eben noch stark überfremdet. Die wirklich fremden Wagen sehe ich mir gar nicht erst an. Da bleibe ich lieber bei der NAG. Oder bei den steuerfreien und führerscheinfreien Kleinstwagen, die, lucus a non lucendo, Herkules oder Goliath heißen. Oder, wie gesagt, bei dem Adler-Trumpf-Sportzweisitzer für 5750 Mk., mit dem man Aufsehen erregen könnte.

Das eigene ist Trumpf.

Ich bin nicht Chauvinist, aber Nationalist. Ich gönne jeder fremden Nation die Erfolge aus ihrem Blute heraus, nur sollen wir Deutschen das unserige nicht verleugnen. Dazu gehört alles, was durch den Volkscharakter seine Prägung erhält, auch unsere deutsche Schrift. Die lateinische ist uns vier Jahrhunderte lang angequält worden, aber wir schreiben sie trotzdem nicht rund-romanisch, sondern steil, eckig, knorrig. Das Blut schlägt durch. Der Deutsche rotiert nicht und fließt nicht, sondern pulst in allen Lebensäußerungen stoßweise. Auch unsere Sprache ist ein konsonantisches Hammerwerk, das wie die Edda in Hebungen und Senkungen pocht. Im Dritten Reiche haben die Behörden endlich für das Artgeborene Verständnis. Der preußische Landwirtschaftsminister verdiente es, daß er zum Ehrendoktor aller unserer Hochschulen ernannt würde, denn er hat als Erster soeben angeordnet, daß, sobald neue Schreibmaschinen in seinem Amtsbereich nötig werden, nur solche mit deutscher Schrift angeschafft werden dürfen.

Selbstverständlich hat auch meine eigene zu Hause keine fremden Typen; und meinen Namen habe ich nie mit Entente-Buchstaben geschrieben.

Lieber mit dem Kopfe durch die Wand!

Wenn Goethe und der alte Kaiser und Bismarck - dieser wies sogar einmal ein Buch zurück, das die Stadt Berlin ihm schenkte, weil es nicht deutsch gedruckt sei - ihren Namen entgegen dem weltbürgerlichen oder militärischen Herkommen deutsch schrieben, so ist das für uns kleine Leute erst recht Gebot. Einmal ging es bei dieser grundsätzlichen Frage bei mir wirklich "um die Wurst". Ich hatte, da ich zum Urlaub heranwar, das entsprechende Gesuch an meinen Regimentskommandeur gerichtet, das vorgeschriebenermaßen, wie es die alte Zeit verlangte, mit den Worten begann: "Hochwohlgeborener Herr! Hochzuverehrender Herr Oberst! Ew. Hochwohlgeboren . . ."

Tags darauf erschien der Adjutant bei mir und sagte, so ginge das nicht, ich hätte meinen Namen ja deutsch geschrieben, so etwas nähme der Herr Kommandeur nicht an. Vorschrift sei Vorschrift, also wenn ich Urlaub haben wolle, solle ich das Gesuch noch einmal abfassen und den Namen lateinisch darunter setzen.

"Das tue ich in meinem Leben nicht! Dann verzichte ich lieber auf Euren Urlaub!"

Nun saßen die beiden Herren zusammen, besprachen diese Unbotmäßigkeit und schwitzten weidlich, denn sie waren im Grunde von Wohlwollen mir gegenüber erfüllt. Da kam die Erleuchtung. Da stand das Ei des Columbus. Mir wurde aufgegeben, ich möchte das Gesuch - telegraphisch in aller Kürze abgehen lassen, das Amt nehme natürlich Depeschen in deutscher Schrift an; es übermittele sie aber dem Adressaten in lateinischen Buchstaben.

Da war ich also glücklich mit dem Kopf durch die Wand. Die Genehmigung des Urlaubs kam umgehend. Und der veraltete Paragraph war doch noch einmal gerettet.

Gegen den Austausch von Geist unter den Völkern ist weniger einzuwenden als gegen die Gleichmacherei der Form. Gegen einen mäßigen Gebrauch von Fremdwörtern habe ich nichts. Sie verschwinden sowieso, sobald guter Ersatz da ist. So sagt kein Mensch bei uns noch "Adieu" oder "Perron". Aber der schon vor hundert Jahren gemachte Versuch, die Bezeichnung "Pianoforte" durch "Schwachstarktastenrührbrett" abzulösen, mußte natürlich mißlingen. Die Franzosen haben eine Unmenge deutscher Worte namentlich aus dem Bergbau übernommen. Sie haben ferner ihr "Bivouac" (Beiwacht), ihren "Boulevard" (Bollwerk) und drucken noch heute in ihren Zeitungen: "le Reichstag", "le Kaiser", "le Anschluß", "le Hakenkreuz", "le Gemüt".

Aber während bei uns Herrenkleidergeschäfte sich "London Style" nennen, würde man in Paris nie etwa an einem Schauspielhaus das Schild "Deutsche Kunst" anbringen. Auf die eigene Form ist jedes Volk am stolzesten. Wir Deutschen haben die größten Menschendarsteller, aber die Franzosen bleiben bei ihrem bloßen Wortgeklingel.

Sie haben wunderbare Diseusen. Aber keinen echten Humoristen.

Zur Zeit ist freilich auch Berlin arm an wirklichen Komikern auf der Bühne, und wenn mal einer aus der Zunft stirbt, so jetzt der alte Papa Diegelmann, dann gibt es aus dem Gefühl des Mangels heraus zu überschwengliche Nachrufe. Ich habe einmal gesagt: "Als Berliner Komiker muß man lang und hager wie Giampietro sein; oder kurz und dick wie Thielscher; oder - man muß was können." Unser letzter großer Komiker hieß Hans Waßmann, der aus Shakespeare-Lustspielen das Erstaunlichste hervorholte. Papa Diegelmann nun war nicht lang oder dick, sondern beides, und das war - nicht im Zeichens des Dionysos, sondern im Zeichen des Gambrinus - sein Erfolg als Falstaff oder Junker Tobias oder, in Auerbachs Keller, als Brander. Sein Talent ging nicht in die Tiefe, sondern in die Breite.

Vielleicht ersteht uns aus der heranwachsenden Generation, wenn erst der Krampf der gespielten Ernsthaftigkeit vorüber ist, wieder eine glückselig humoristische Begabung. An sich ist das ein bißchen sarkastische Berlin ein guter Nährboden dafür. Nur zur Zeit ist der Drang zum Fröhlichmachen geringer als der Drang zum Sich-dicke-tun. Es ist heute doch sozusagen Dogma aller Dreikäsehochs, daß nicht die Hennen Eier legen, sondern die Eier Hennen.

Da es auf den Frühling zugeht, treibt ein Junge auf dem Bürgersteig seinen Triesel. Der kleine Holzkegel hüpft auf mich los, der Junge knallt mir die Peitsche um die Waden. Aber nicht genug damit: weil ich vielleicht seinen Triesel gefährde, tritt er mich böse und fest gegen das Schienbein.

Da ist wirklich eine Ohrfeige fällig, die erste, die ich seit zehn Jahren wieder ausgeteilt habe. Da springt der Junge davon, nimmt jenseits in einem Torbogen Deckung und heult mich an:

"Sie verkalkter oller Doofkopp! Und for sowat hamwa jahrelang jeblutet!"
8. März 1934 (Donnerstag)


27

In der dunklen Loge - "Hanneles Himmelfahrt" verfilmt - Wirkliches Theater - Von Hebbel über Hinrichs, Kube, Graff, Götz zu Mussolini - "Hundert Tage" - Wir spielen Schützengraben.

In einer dunklen Loge eines Kleinkinos sitzt Hand in Hand ein junges Paar. Vorn auf der Leinewand gibt es gerade einen Verlobungskuß. Fester drücken die beiden sich die Hände, und das Mädchen flüstert: "Hach, Brust an Brust mit Dir, und denn durch die Wringmaschine, nich?" Man ist so weltentrückt, man denkt nicht an Stiefelkartons oder Addierapparat. Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, ist mit 60 Pfennigen wirklich nicht überbezahlt.

Mit ganz anderer Stimmung sitzt unsereins in den Uraufführungspalästen des Films. Da ist man nicht aus der Welt, da sind die Sinne auf Kritik eingestellt. Hin und wieder ist man durch Bild und Ton erhoben oder hingerissen, man flutet auf den Wogen der Begeisterung, hin und wieder ist man toll vor Lachen, aber oft doch auch sehr enttäuscht.

Die Aafa hat jetzt Hanneles Himmelfahrt von Gerhart Hauptmann in der Verfilmung durch Thea v.Harbou herausgebracht, - und es ist ein Schmarren.

Das Originalstück aus der Feder des "Dichters des Mitleids", wie wir es einst auf der Bühne sahen, hat uns in seiner Sentimentalität tief gerührt. Jetzt hat die Harbou es bis zur Unerträglichkeit verkitscht und veralbert. Schade. Es scheint, daß ihr, der phantasiereichen und phantastischen, die uns so Großes gab, just nichts eingefallen ist. Kein verprügeltes und abgezehrtes, sondern ein dralles und wohlgenährtes Hannele, das hübsche Filmkind Inge Landgut, wird uns in dieser Feerie vorgeführt, damit die Leute sagen: "Gott, wie süß!" Dazwischen immer wieder das Urälteste, der Film als Bewegungskopie: nicht weniger als elfmal taucht der Traberschlitten des Doktors, der an Hanneles Krankenbett gerufen wird, in vielen Metern Bildstreifen vor uns auf, und dieses ewige Getrappel wird durch das Stampfen und Keuchen des Boten abgelöst, der durch tiefen Schnee dem Doktor nachläuft. Zuletzt wirbeln Frau Holle und die Bremer Stadtmusikanten und alle möglichen Märchenfiguren sonst noch durcheinander, das Ganze ist vollkommen stillos, während es bei Hauptmann wenigstens einheitlich als Roheits- und Elendsdrama war.

Dann, als auf der Leinewand Hannele in den Himmel eingegangen ist, steht plötzlich als wohlbehütetes Kind aus guter Familie die kleine Inge Landgut lebendig vor dem Vorhang und macht ihren Knix.

Vor etlichen Jahren habe ich einmal einem jungen Arbeitslosen, der nur Abenteuer-, Trick-, Schauer- und Spielfilme in seinem Leben gesehen hatte, eine Eintrittskarte zum "richtigen" Theater geschenkt. Das war das größte Ereignis seines armen Lebens. Noch am nächsten Tage stand der Mann mit weit aufgerissenen Augen vor mir, und als ich ihn fragte, wie es ihm gefallen habe, konnte er nur den einen Satz stammeln:

"Jehste hin, biste hin!"

Seither habe ich immer häufiger den Versuch wiederholt, stets mit ähnlichem Erfolge. Vielleicht bekommen wir bald den farbigen, bald auch den plastischen Film. Der kann uns Dinge zeigen, die auf der "Guckkastenbühne" unmöglich sind, wie ja schon heute eine Seeschlacht oder ein Autorennen oder ein Waldbrand Domäne allein des Films sind. Aber kein photographischer Abzug ersetzt das Leben selbst. Die Kunst der Menschendarstellung im Theater steht außer Wettbewerb.

Und sie steht in Deutschland, vor allem in Berlin, auf einer Höhe, wie sie von keinem anderen Volk erreicht ist. Ob sie auf dem Kothurn im Drama daherstelzt oder auf leichtfüßiger Sohle durch ein Lustspiel eilt, ist ganz gleich.

Zur Zeit legen die kulturell Führenden im neuen Reiche großen Wert auf das Hervorholen lange verschütteten Gutes aus unserer Vorgeschichte. Der junge Achaz Duisberg, der Sohn des Industriemagnaten, hat im vorigen Jahre im "Deutschen Theater" eine Viertelmillion Mark verpulvert, ohne sein Ziel einer deutschen Renaissance auf der Bühne zu erreichen. Jetzt steht er dicht davor. Seine Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" ist eine Durchbruchsschlacht. Der Nibelungen-Film war wirklich märchenhaft schön, aber dieses Nibelungen-Drama ist von ungeheuer volkhafter Wucht. Da steht kein wunderbar gegliedertes gotisches Domportal, vor dem die Königinnen der Siegfriedsage ihren Streit beginnen, ein Domportal, das ein anderes Mal Goethes Gretchen aus dem Faust oder den Meistersingern Richard Wagners als Folie dienen mag, sondern ein zyklopischer Bau, an den Brunhilds Fäuste donnern: "Rache! Rache! Rache!"

Das ist Urzeit, das ist Vorwelt, das ist eine Kraft und eine Leidenschaft, die sich riesenhaft über alles Getue von heute erhebt und uns zivilisierte Menschlein mitsamt Schutzpolizei, Glühbirne, Verkehrsregelung, Strafgesetzbuch zu einem Zwergengelichter stempelt, das erst wieder wachsen soll.

Wenn der unbekümmerte, lachende, bärenstarke Siegfried (Herbert Dirmoser) auf die Bühne stürmt, jauchzen wir, wenn er sich leichtfertig in Schuld verstrickt und getarnt ein Schwindelgebäude von Taten errichtet, das doch einmal zusammenbrechen muß, atmen wir schwer. Mein Herz war von Kind auf immer auf Seiten Brunhilds, auch Hagen kann ich verstehen, obwohl die Schule uns das Gegenteil einprägt. Hebbel vertieft noch dieses Gefühl, jedes Wort von ihm - nur den langen Monolog des doch zu Tode getroffenen Siegfried würde ich als unglaubhaft ganz, die Szene seiner Aufbahrung in der Kirche zum größten Teil streichen - sitzt wie ein Lanzenstoß in uns, und die gesamte Aufführung ist von einer bisher unerreichten geradezu monumentalen Größe.

Aber was es auch sei, was Berliner Bühnen heute bringen, überall quillt der deutsche Genius der Kunst. Ich habe sieben Tage hintereinander in verschiedenen Theatern gesessen und bin beglückt von den Eindrücken darin.

Wir brauchen garnicht einmal immer in die romantische oder klassische Zeit zurückzugreifen, denn in unserem eigenen Menschenalter werden urwüchsige Talente geboren. Die lustigen durch und durch gesunden Schwänke "Krach um Jolanthe" und "Wenn der Hahn kräht" von Hinrichs, dem ehemaligen pommerschen Dorftischler, haben Serienerfolge; das eine, in dem Eugen Rex unnachahmlich den alten Bauern gibt, wird es bald auf 300 Aufführungen gebracht haben. Und das trotz der immer noch teuren Eintrittspreise, die im Durchschnitt etwa 8 Mark für das erste Parkett betragen.

Ein Vorkriegsleutnant der Witzblätter philosophiert einmal:

"Das Leben ist ja sehr teuer; aber auch sehr angenehm. Man kann es ja auch billiger haben; aber dann ist es nicht so angenehm."

Ganz billig ist es im Theater der Jugend, das unter Goebbels' Schirmherrschaft steht, Schillers Wallenstein, Kleists Prinzen von Homburg, Shakespeares Wintermärchen, mehrere Opern und augenblicklich täglich nachmittags - Kubes Totila bringt. Für nur 85 Pfennige einschließlich Kleiderablage und Theaterzettel. Dafür können sich unsere Jungen und Mädel also zur Zeit an der klingenden Pracht Kubes und an den heldischen Bildern aus deutscher Vergangenheit begeistern. Die Zöpfchen fliegen nur so, wenn die Mädel in die Hände klatschen, und mancher Stiftekopf der Buben reckt sich vor innerer Erregung. Aber es ist natürlich "nicht so angenehm" wie in den teuren Theatern, sondern primitiver. Nur eine gemalte Leinewand im Hintergrunde und davor Schauspieler, die eigentlich Hörspieler sind, lediglich das Wort vermitteln und aus dem Stück ein Lesedrama machen.

Wie anders "Die Heimkehr des Mathias Bruck" von Sigmund Graff im Staatlichen Schauspielhaus!

Da wird nichts gespart, da ist die Szene von einem äußersten Realismus bis zu den letzten Requisiten, und da spielen Darsteller von hohen Graden. Die Bäuerin, wiederverheiratet, nachdem der Mann im Kriege verschollen ist, wird von Lucie Höflich gegeben, der stärksten deutschen Seelenkünderin unter den Lebenden, der im neuen Reiche auch die staatliche Theaterschule anvertraut ist, die unter Jeßner völlig verunkrautet war; und der nach 17 Jahren Sibirien unerkannt heimgekehrte und bei der Bäuerin als Knecht eingetretene erste Mann ist eine erschütternde Figur, die alles deutsche Volksleid seit der großen Niederlage widerspiegelt, aber auch deutsche Kraft im Entsagen und im Opfer. Bis zu den kleinsten Rollen herab eine erstklassige Besetzung, wie man sie sich anderswo kaum leisten kann, und im Publikum Tag um Tag ein erschauerndes Mitleben und doch auch trotz des tragischen Schlusses froh keimende Hoffnung auf Erhaltung der eigenen Art.

Wer nicht zähe Probleme liebt, sondern etwas spritziges will, der geht in das ebenfalls täglich ausverkaufte Komödienhaus und sieht sich den "Dr. med. Hiob Prätorius" von Kurt Götz an, jenem Kurt Götz, der im Leben gleichzeitig Dichter, Schauspieler, Theaterdirektor ist und auch für die Bühne sich Stücke schreibt, in denen er immer wieder seinen eigenen Doppelgänger spielt, jenen Götz, der an Humor und Phantasie und Geist eine Potenzierung von Mark Twain und Conan Doyle und Bernard Shaw ist, immer prickelnd, immer verblüffend, so daß man manchmal eine Pointe, von denen es nur so blitzt, überhört, weil über die vorhergehende der Nachbar noch so laut lacht.

Auch ein ganz Großer dieser Erde bedient sich zur Zeit des Instruments der darstellenden Kunst auf einer Berliner Bühne.

Benito Mussolini: Hundert Tage.

Es sind die Tage Napoleons I. zwischen Elba und Rochefort, von wo aus er nach St. Helena mußte, über Belle-Alliance und Malmaison hinweg. Selbstverständlich geht eine ingrimmige Verachtung des Parlamentarismus, der Vielzuvielen, des Unvolks durch das Werk, aber auch eine Verachtung jeder sonstigen Schwäche. Zwei Stellen habe ich mir gemerkt. Die eine lautet: "Politische Versammlungen haben nur Mut, wenn sie Angst haben", und die andere: "Was ist ein Thron? Ein Stück Holz, mit Samt bespannt! Erst die Tat macht den Thron." Die Berliner und die Fremden füllen jeden Abend das Haus bis auf den letzten Platz, schon um Werner Krauß als Napoleon zu sehen, und dann natürlich um Mussolinis willen. Wie romanisch, ganz romanisch das Stück ist, wie sympathisch es auch der "lateinischen Schwester" Frankreich sein muß, merken die wenigsten; allenfalls für einen kurzen Moment dort, wo der Stab Blüchers dargestellt wird, wie er erbarmungslos den Frieden diktiert.

Wenn man eine Woche hindurch die Abende, manchmal auch noch Nachmittage in den Tempeln Thalias verbracht hat, nicht "um sich zu entspannen", sondern um angespannt den Kulturpegel festzustellen, freut man sich doppelt der karg bemessenen Stunden daheim.

Die schönste ist immer am Donnerstag abend. Da spielen wir nämlich Schützengraben. Das Dienstmädchen hat, nachdem es den Tisch gedeckt hat, Ausgang, wir brauchen uns nicht zu genieren. Da liegen fein säuberlich das Buttermesser, Wurstgabel und Wurstmesser, Obstmesser. Quatsch! Mit einer unbändigen Lust steche ich mit dem eigenen Messer in die Butter und säbele gleich darauf einen ordentlichen Kanten Wurst ab und beiße zuletzt ohne Zuhilfenahme eines Schälers in den Apfel oder puhle mit den Fingern die Apfelsine ab. Dazwischen, mittendrin, rauche ich. Erst nach dem Essen stopfe ich, damit das Mädchen nichts merkt, das Buttermesser in die Butter und ziehe Wurstmesser und Obstmesser mal sozusagen durch den Kakao.

Man kann die Sache auch komplizieren, indem man gefechtsmäßiges Essen übt. Mit den im Ernstfall möglichen Ausfällen. Also bei der Suppe sind alle Löffel außer Gefecht gesetzt, oder bei Königsberger Fleck sind sämtliche Tischgäste außer mir erschossen.

Schützengraben spielen ist wirklich wunderschön. Da kommen einem die liebsten Erinnerungen. Nur haben wir leider elektrisches Licht, keinen Kerzenstumpf im Flaschenhals. Und nachher haue ich mich auch nicht aufs Stroh neben meinen Telephonisten. Wir leben wieder behaglich bürgerlich.

Aber die Arbeitslager für unsere heranwachsende Jugend müssen wahrhaftig etwas Herrliches sein.
15.März 1934 (Donnerstag)



Glossen 22 - 24

Jahresinhalt

Glossen 28 - 30

© Karlheinz Everts