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Unser Pummelchen - Studentinnen werden wenig geheiratet - Hinein ins Erwerbsleben - Registratur und statistisches Bureau - Nach der Arbeit - "Ball im Savoy" - Lilian Harveys Abschied für immer - Die Jugend der Bars - Gottfried Reinhardt - Immer noch Bonzen.
Pummelchen sitzt bei uns am Tisch und futtert so tüchtig, daß uns das Herz im Leibe lacht.
Eigentlich wollte Pummelchen in der Jugendherberge in Neukölln absteigen und uns bloß "einen Besuch machen", da ich ihren in der Provinz weit im Westen lebenden Vater noch aus seiner Studentenzeit her kenne. Jetzt ist Pummelchen, 21 Jahre alt, selber Studentin. Natürlich beherbergen wir Pummelchen die paar Tage, solange sie auf der Durchreise in Berlin ist, und stiften ihr Eintrittskarten für allerlei Schönes. Darunter den "Prinzen von Homburg" im Deutschen Theater, dessen durch ein nahezu kommunistisch-antireligiöses Stück besiegelte Pleite jetzt einen Aufschub durch das klassische Stück und seinen Hauptdarsteller Gustav Fröhlich erhalten hat.
Pummelchen - eigentlich heißt sie Clothilde, endlich mal nicht Ingeborg, wie heute fast jedes zweite Nähmädchen - läßt sich ebenso fröhlich in das Kino verfrachten, sieht sich die paar Kokoschkas im Kronprinzenpalais und das Pergamonmuseum an, ist überhaupt sehr aufnahmefähig, sehr klug. Armes Pummelchen. Deine Mutter hat noch, als sie - ziemlich lange - Braut war, eigenhändig 50 Paar Socken für den Zukünftigen gestrickt. Du, Pummelchen, brauchst das freilich nicht. Du hast neulich, noch nicht 21 Jahre alt, im Universitätsseminar auf Englisch - ein bißchen mangelhaft - einen Vortrag über Paneuropa gehalten. Pummelchen, ich glaube nicht, daß jemand Lust bekäme, dich zu ehelichen, nur weil du ihm als Philologin über bist und über Paneuropa sprechen kannst.
Die erbarmungslose deutsche Statistik sagt: 70 Prozent unserer akademisch gebildeten Mädchen bleiben unverheiratet.
Dabei sind es keineswegs häßliche Blaustrümpfe. Ich gehe durch die Korridore der Universität oder der Handelshochschule oder eines anderen Berliner akademischen Instituts und begegne in der Mehrzahl netten Gesichtern und schönen Sportfiguren; zieht den Mädels was Elegantes an, und Ihr könnt sie für ein Modejournal photographieren. Aber heiraten? Es gibt auch noch andere Gründe, die die Männer bremsen, wenn sie auf eine großstädtische Studentin stoßen. Davon sei hier nicht gesprochen. Bei den nur 30 Prozent nun, mit denen man es wagt, sind vielfach Erwerbsgründe ausschlaggebend. Man kriegt eine billige Mitarbeiterin, eine Arbeitskraft. Der Rechtsanwalt heiratet die Referendarin, der Arzt die junge Dr.med., auf Kinder verzichtet man, und von der ersten Bureau- oder Sprechstunde bis zum Bett hat man zu geringstem Preise sein zuverlässiges Mädchen für alles. Den meisten freilich, den 70 Prozent, blüht auch nicht einmal dieses Verbrauchtwerden. Man flirtet mit ihnen oder man springt mit ihnen, wenn sie jugendbewegt sind, durch das Sonnenwendfeuer, aber man geht mit ihnen nicht zum Standesamt. Dabei wächst die Berliner weibliche Studentenschaft - und die anderer Hochschulstädte - von Jahr zu Jahr. Die Väter in den Kleinstädten sind nicht klug zu kriegen.
Ein anderes Mädel, eines aus einer verarmten adeligen Familie, das ein paar Monate Freitisch bei uns hatte, hat jetzt mit 18 Jahren, noch Gymnasiastin, dem Universitätsfimmel energisch entsagt. Hinein ins Erwerbsleben, wenn man kein Zuhause mehr hat! Also hat das Mädel trotz des Namens und der Vorbildung - das ging bequem in meiner Redaktion - tippen und stenographieren gelernt und ist jetzt glücklich, eine Anfangsstellung in einer Importgesellschaft bekommen zu haben.
Nicht etwa als Sekretärin oder, wie in den Filmen, gar als Chefsekretärin. Ach nein. Aller Anfang heißt Registratur und fängt mit dem "Ablegen" der Briefe und Durchschläge und in den Großbetrieben mit der Frankiermaschine an. Oder Anfang heißt Statistisches Bureau, wo man auch keinen Chef zu sehen bekommt und die eigenen Gefühle nicht austippen kann. In kleinen Geschäften ist es ja anders, da ist oft das einzige junge Mädchen dem Chef sein Ein und Alles. Aber ich denke an die vielen Betriebe so von 100 Angestellten an, die ich gelegentlich gesehen habe, bis zu denen mit über 1000 Angestellten, die es in Berlin immer noch gibt. Auch da sitzt eine junge Schutzbefohlene unseres Hauses in solch einem großen Hause.
"Ein nichtkontrollierter Mensch leistet nichts", hat schon Haeseler gesagt, und die Kontrolle ist heute überall auf das äußerste angespannt. Es ist selbstverständlich, daß man sich als eingetroffen vor 8 Uhr an der Arbeitsstelle beim Pförtner eintragen muß und daß mehrmaliges Zuspätkommen einen Gehaltsabzug bedeutet. Es ist selbstverständlich, daß in den Warenhäusern das umständliche und für das Publikum lästige Registrierwesen wuchert: der Verkäufer schreibt mehrere Minuten lang an seinen Hieroglyphen mit Durchschlag, an der Kasse wird noch einmal die Summe für den Verkäufer eingetragen, damit man jederzeit weiß, wieviel er im Kundenfang und im Anreißen leistet.
Ich persönlich gehe daher lieber in kleine Spezialgeschäfte, weil ich da schneller bedient werde.
Aber nun mal in solch ein statistisches Bureau, wo eine Anfängerin - neben vielen anderen Mitarbeitern - auf Riesenbogen handschriftlich Ziffern, Schlußsummen des Verkaufs, eintragen und vorher - auch das macht jetzt diese eine Schutzbefohlene - die Addier-, Subtrahier-, Dividier-, Prozent-Rechenmaschine bedienen muß. Die surren erschrecklich, besonders die zum Dividieren, die nur anzeigt, während die anderen auf Papierrollen schreiben. Aber - sie irren sich nicht. Der Mensch kann sich vertippen, die Maschine kann sich nicht verrechnen. Und da sitzen denn die Damen in ihrem braunen oder blauen Satinkittel, die Herren in ihrem "Flüsterjäckchen", dem Lüsterjackett, als Arbeitskleidung, und kontrollieren die Verladeberichte und werden selber kontrolliert und entwickeln sich allmählich, falls sie nicht eine zufällige Vakanz ins Sekretariat oder die Buchhaltung oder sonstwohin bringt, zum genauesten Maschinenmenschen.
Schlag 10 Uhr bis 10,10 Uhr wird gelüftet, alle Fenster stehen auf, die Angestellten gehen hastig auf und ab. Dasselbe wiederholt sich 10 Minuten lang nachmittags um 3 Uhr. Halbe Stunde Mittagspause in der Kantine, 5 Minuten vorher Händewaschen. Und 2 Minuten vor 5(17) Uhr, nicht eine Minute früher oder später, steht alles mit der Mappe unter dem Arm bereit, und Schlag 5 reißt der erste die Ausgangstür auf.
Wie unendlich viel - menschlicher geht es da beim kleinen Handwerker oder gar beim Bauern zu; bei diesem kommandiert nicht die Uhr, die doch auch bloß eine Maschine ist, sondern der Stand der lieben Sonne. Ich kann es wohl verstehen, daß die jungen Mädel, die nicht zu Hause der Mutter helfen und bei ihr lernen, sondern solch einen "Beruf" in einem Großbetrieb haben, nachher zum Aufatmen ins Kino oder auf die Tanzdiele gehen. Wenn man an Tausenden von Tagen in vielen Jahren nur Statistik gemacht hat, die dann als Endergebnis und Prüfstein der einzelnen Konzernmitglieder oder der Angestellten oder der Konjunktur den Herren Direktoren vorgelegt wird, dann ist man selber nur noch Hebel an einer Maschine, wenn man nicht für körperliche und geistige Entspannung in der Freizeit gesorgt hat. Daher auch vielfach das Drängen in die Sportvereine, wo man wieder aufgelockert wird. So habe ich in vielen Großbetrieben trotz der "stumpfsinnigen", den Menschen einfach degradierenden Arbeit viele fröhliche und zufriedene, ja sogar stolze Gesichter gesehen.
Gerade unter diesen Angestellten der großen Firmen, die mit soldatischer Disziplin ihr Tagewerk, und möge es noch so geisttötend sein, vollenden, gibt es viele, die nach Höherem streben und schließlich trotz der Achtstundenarbeit im Bureau das werden, was man früher ein gebildetes Hausmütterchen nannte: ausgezeichnet bewandert in jeder Arbeit am Herd oder am Nähtisch, aber auch fähig, einem geistig hochstehenden Manne zu folgen. Ja, viele solche gibt es, viele. Aber natürlich noch mehr, die nach dem Hauptschlager vom "Ball im Savoy" handeln: Es ist so wunderschön, am Abend bummeln zu gehn! Wohin? Natürlich zunächst zum "Ball im Savoy", um die schlanke - eigentlich schon eher magere - Rose Barsony zu sehen, die so ihre Beinchen zu werfen weiß. Eigentlich heißt sie nicht Barsony, sondern Sonnenschein, ebenso wie Erik Jan Hanussen in Wirklichkeit der Herr Steinschneider aus Proßnitz in der Tschechei ist, aber für das Geschäft ist Barsony und Hanussen jedenfalls besser. Die Tänzerin, durch ihre Seitensprünge schon früher bekannt, gehört heute zu den Prominenten Berlins, die neben Gitta Alpar (die heißt auch ganz anders) tanzt und spielt und singt und hohe Honorare einheimst. Einmal hieß es schon, sie sei zur Nachfolgerin von Lilian Harvey bei der Ufa auserkoren; davon ist es freilich still geworden.
Lilian Harvey hat keine Nachfolgerin bei der Ufa. Es ist aber auch nicht richtig, daß wir ihr vor einer Woche auf dem Lehrter Bahnhof, als sie mit Gefolge und 47 großen Toiletten von dort nach Bremen-Hollywood fuhr, "Auf Wiedersehen!" zuriefen. Sie kommt nicht wieder nach Berlin.
Sie hat hier das letzte Angebot der Ufa, 50 000 Mark monatlich, also 600 000 Mark im Jahre Gehalt, dazu Toiletten, Reisegelder usw., abgelehnt. Sie weiß, daß es bald zu Ende geht. Ob sie die drei Vertragsjahre in Amerika durchhält oder schon vorher gezwungen ist, der Arbeit zu entsagen und an der Riviera Heilung zu suchen, ist fraglich. Für die Amerikaner gibt sie mit vollem Bewußtsein ihre "beaux restes" hin, während wir in Deutschland ihr ganzes Persönchen hatten, dieses energiegestählte, liebe, schwebende, elbische Wesen. Vielleicht ist auch der Typ Lilian Harvey bei uns schon überspielt. "Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag"; die Püppchen hören auf.
Womit nicht gesagt sei, daß der Film auf die Jugend und auf das Hübsche verzichtet. Aber es wird wohl bald nicht mehr das einzige sein. Eine wirkliche Menschendarstellerin wird uns mehr gelten als eine Schlagertänzerin.
Die Jugend von heute, die arbeitslose Jugend selbst der ehedem reichsten Familien, drängt natürlich zum Film. In jedem Filmcafé und in jeder Bar, in der angeblich Prominente der Leinewand verkehren, sieht man diese Jüngelchen und Mädelchen. Es ist wirklich außerordentlich viel Jugend da. Unsereins denkt da sofort: hätten wir doch die allgemeine Arbeitspflicht als Vorstufe des Wehrdienstes; die Freiwilligenarbeit ist und bleibt Ideologie. Sieht man diese 20-, 21-, 22jährigen jungen Leute auf einer Diele, so weiß man nicht recht, was man aus ihnen machen soll. Sie sind gut gekleidet, sie sind guten Herkommens, sie sprechen gebildet, sie kennen nebenbei jeden Cocktail so gut, wie früher, noch vor wenigen Jahren, nur viel Ältere, aber man hat das Gefühl: sie könnten ebensogut zum Film wie in die Unterwelt des Verbrechertums gehen, so einen reichlich abgebrühten Eindruck machen sie.
In mehreren Tanzlokalen in Berlin-Schöneberg war dieser Tage der starke Duft der Tischmädchen aufgefallen. Man ging der Sache nach, und siehe da, ein sogar nur 16jähriger und ein 17jähriger Bengel, die jetzt festgenommen sind, Söhne achtbarer Eltern, hatten kartonweise das teure französische Parfüm - bei einem Einbruch in der Augusta-Apotheke an der Potsdamer Brücke erbeutet.
Und vorher sind ja - das hat schon in allen Zeitungen gestanden - junge, etwas mehr als 20jährige Leute "der besten Gesellschaft" verhaftet worden, darunter ein junges Mädchen mit bekanntem baltischem Adelsnamen, heute allabendlich in einer Bar tätig, die einen Raubanfall geplant und ausgeführt hatten. Der Haupttäter, der Sohn des Kommerzialrats Bronner aus Österreich, der jetzt wohl außer seiner Villa in Berlin nicht viel mehr besitzt, einst aber auf 35 Millionen Mark Vermögen geschätzt wurde, ist flüchtig. Selbstverständlich hat er den Führerschein und fährt sein Privatauto. Selbstverständlich hatte er eine gleichalterige Freundin. Selbstverständlich wären die erbeuteten 600 Mark zum größten Teil wieder in der Bar geblieben.
Nicht jede Bar hat so gut zahlende jugendlich Schlemmer und zukünftige Zuchthäusler. Im "Tingel-Tangel" waren in der vergangenen Woche - und bis zum Ultimo ist es noch weit - nur 11 Besucher mehr als Darsteller. Und in der "Taverne", dem bekannten Künstlerrestaurant, wird viel vertilgt, aber manchmal unbar.
So hat Gottfried Reinhardt, Max Reinhardts blutjunges Jüngelchen, eines Abends dort eine Zeche von rund 100 Mark gemacht und ist, als Sohn des Millionärs und Schloßbesitzers, verklagt, fruchtlos gepfändet, zum Offenbarungseide geladen worden und dann - erster Klasse nach Amerika abgefahren, wo er nach besseren Verdienstmöglichkeiten suchen will, nachdem es ihm in Berlin nicht gelungen ist, wie sein Vater als Regisseur und Theaterdirektor (der "Komödie") zu reüssieren.
Weshalb sind solche Zustände bei uns immer noch möglich?
Weshalb dürfen Braun und Severing sich noch Minister nennen?
Weshalb amtieren in Berlin im Schulwesen, im Krankenhauswesen nach wie vor die Löwenstein, Schmincke, Ostrowski, Krakauer und Genossen?
Weshalb ist es möglich, daß ein sozialdemokratischer Krankenkassenvorstand sich so viel Überstundenbezahlung zudiktiert, daß dieses Geld reichlich seine Bedürfnisse deckt und er sein hohes Gehalt monatelang überhaupt abzuheben vergißt?
Weshalb wird seine "Braut" jahrelang in erstklassigen Kurhäusern auf Kosten der Kasse verpflegt und fährt noch vor kurzem für das Geld der Steuerzahler nach Bad Reinerz?
Und das, während jedem Nicht-Sozialdemokraten der Kassenvorstand die kalte Schulter zeigt?
Wer in Berlin oder sonstwo in Deutschland Kulturgeschichte zu schreiben hat, der findet nur das eine Wort für den gegenwärtigen Übergangszustand: er muß ein Ende haben! Wer es tut, ist uns egal, aber daß die Löwenstein, Bronner und wie sie heißen mögen, alt und jung, hinausfliegen müssen, ist klar; sonst werden wir auch 1933 nicht gesund.
12. Januar 1933 (Donnerstag)
20
Reichsgründungsfeiern in der Hauptstadt - Schleicher und Hindenburg bei dem Reichskriegerbund "Kyffhäuser" - Papen bei den Stahlhelmern - Zollernprinzen überall - Von Liane Haid und anderen Filmstars - Wie sich der Spießbürger amüsiert - In der Neuen Welt - Vier ganze Schweine am Spieß - Die schönsten Damenbeinchen.
Das reißt die Herzen hoch. Man mag sagen, was man will, aber wenn der alte Hindenburg in den Sportpalast kommt, um mit Tausenden die Reichsgründung zu feiern, dann gehen die Beifallsnerven durch. Das übliche kleine Mädchen reicht ihm einen Blumenstrauß, den er wie üblich - er hat ihn noch keine Sekunde in den Händen - dem Adjutanten weitergibt, dann schreitet er bolzengerade auf den Kronprinzen zu, reicht ihm die Hand und plaudert etwas mit ihm. Das ist für die Anwesenden der Höhepunkt, da braust das Händeklatschen elementar.
Ich sitze fast unmittelbar hinter den Ehrengästen, ich kann ihre Reihe links und rechts beobachten und studieren. Hindenburg ist unter ihnen wie ein Monument. Es ist eine Reichsgründungsfeier, die die Kriegervereine veranstaltet haben. Die Kriegervereinler sind stolz darauf, daß sie Millionen zählen, es ist ja auch sehr nett, wenn sie Kameradschaft pflegen, an der ich mich selbst gern beteilige, aber eine geschlossene, für Kaiser und Reich eintretende Truppe sind sie nicht mehr.
Ihr Vorsitzender, General der Artillerie v.Horn trat im vorigen Jahre sogar offen statt für Hitler oder Duesterberg für den Kandidaten der Sozialdemokratie zur Präsidentschaft ein. Daß dieser Kandidat v.Hindenburg hieß, tut nichts zur Sache. Unter Hindenburg haben wir sieben Jahre lang die ganze Bonzenwirtschaft und die Annahme der feindlichen Vernichtungsabkommen bis zum Young-Plan erlebt, unter Hindenburg die schwache Hoffnung Papen und dann wieder das Linksum unter Schleicher. Natürlich könnte es unter ihm auch wieder einen Rechtsruck geben.
Apropos, Schleicher. Der Mann ist Zugkraft und diesmal Hauptredner. Man denke: der Kanzler und Reichswehrminister! Aber als eine Dame neben mir, die bis dahin im Leben ihm nie begegnet ist, diesen gänzlich unsoldatisch aussehenden Bureau-Glatzkopf erblickt, sagt sie mir:
"Mein Gott, das soll Schleicher sein?"
Jawohl, das ist er. Die gesamte Damenwelt ist enttäuscht, weil sie sich unter ihm einen muskulösen Mussolini vorgestellt hat. Einerlei: Was dieser Mann eintönig vom Blatt abliest, ist nachher, wenn man es in der Zeitung nachliest, gar nicht so dumm, wenn auch nicht entschieden genug.
Im übrigen ist die ganze Aufmachung gut. Unsere Kriegervereine kennen das Exerzierreglement für große Versammlungen.
Und doch werden sie am 18. Januar, dem eigentlichen Reichsgründungstage, von den Berliner Stahlhelmern in der Tennishalle in Wilmersdorf weit in den Schatten gestellt. Die haben den Bogen raus. Auch da die mit Jubel überschütteten Zollernprinzen, von dem ältesten, dem Erben der Krone, bis zu einem der jüngsten, dem Sohn Oskars, der noch die Schulbank in Potsdam als Sekundaner drückt. Nur kein Hindenburg. Dafür ganz ersichtlich ungeheuer viel mehr Tatwille. Einzelheiten erschüttern, so die Einweihung der neuen Fahne für Königswusterhausen bei Berlin durch einen kriegsblinden Pfarrer, der vorsichtig auf das Podium hinauf und an die Fahne herangeführt werden muß - die letzte Fahne, die er mit sehendem Auge erblickte, war die eines preußischen Garderegiments -, so auch das Bekenntnis zu einem neuen Kaiserreich, die Absage an allen parteipolitischen Kram, die Vereidigung von 75 neuen Stahlhelmern.
Darin steckt doch noch Saft und Kraft. Und wenn auch schon viele den Stahlhelm als Abzeichen bloß tragen, weil sie einfach zu den alten Honoratioren ihres Ortes gehören und im übrigen bei jedem Schuß die Fensterläden schließen würden, - der Jungstahlhelm ist unsere große Hoffnung, ist unsere Feldwacht an einer Grenze, die nur Kompagnien gegen Divisionen hat, und wenn ich tausend siebzehnjährige Söhne hätte, gäbe ich sie alle dem Jungstahlhelm und behielte noch nicht ein einziges Nesthäkchen zurück. Es ist begreiflich, daß auch hier die eigentliche Festrede, die Papen hält, ganz anderen Schwung hat als die im Sportpalast, wo das, was an Schleichers Ausführungen gut ist, durch die Langatmigkeit Horns schon vorher totgeschlagen ist.
Nun hat auch der neue Reichsinnenminister im Rundfunk zur Reichsgründungsfeier gesprochen, brav, sehr brav, und der nationalsozialistische Landtagspräsident Kerrl hat sogar auf deutschnationalen Antrag hin die schwarzweißrote rein deutsche Flagge auf dem Gebäude hissen lassen, lauter nette Sachen. Dazu der Vollstreckungsschutz für die Landwirtschaft bis zur nächsten Ernte, wenigstens für die noch als rettungsfähig abgestempelte Landwirtschaft, während in den letzten fünf Jahren allein in Ostpreußen von über 600 000 Morgen die Bauern weggejagt wurden, weil sie meist für das Finanzamt nichts Bares mehr aufbringen konnten, obwohl sie selber schon längst wie die Bettler lebten und Fleisch oder richtigen Kaffee nur noch vom Hörensagen kannten. Also: benissimo, benissimo! Nur sind das alles erst kleine Anzeichen des Willens zur Umkehr.
Herumgeworfen ist das Steuer noch nicht, der tatsächlich neue Kurs noch nicht da, denn die unter Papen hinausgefeuerten Braun und Severing sind wieder, wenn auch mit fast gar keiner Vollmacht mehr, "Hoheitsregierung" in Preußen, und im Hintergrunde wird gewispert und verhandelt, und immer sind Brüning oder Kaas oder andere Zentrumsleute dabei.
Immerhin, man freut sich, wenn wieder Zollernprinzen gezeigt und umjauchzt werden. Bitte: nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Idee willen.
An ihnen selbst hat man manches auszusetzen. Ist es nötig, daß der Kronprinz ein Monstrefest bei einem tschechischen Staatsangehörigen mitmacht, der nicht einmal Tscheche ist, sondern zu der bekannten Internationale gehört? Ist es nötig, daß einer seiner Söhne in dieser Woche unter 200 Cocktail-Partnern bei Bleichröder zwischen den Oppenheim, Goldschmidt, Alpar, Tauber, Eichberg, Eißner sitzt? An sich ist das ja ganz gleichgültig. Mir hat der Kronprinz mal lachend gesagt:
"Man muß alles kennenlernen, also trinke ich auch mit Berliner Schiebern mal ein Glas Bier!"
Aber man muß als Thronprätendent auch nach der öffentlichen Meinung fragen. Sie kann, mißleitet wie 1908 durch Bülows Schufterei, das Schlimmste anrichten. Sie kann freilich auch das Volk zu Unerhörtem anspornen. Wir hätten die Jahre 1813 bis 1815 nie erlebt, wenn nicht Friedrich Wilhelm III. und Luise auf dem Throne gesessen hätten. Unter dem Vorgänger, dem dicken Willem, wäre eine preußische Erhebung undenkbar gewesen, weil das sittliche Vorbild auf dem Throne fehlte. Also: nicht die Idee töten. So leben und verkehren, wie das Volk es von Entthronten erwartet, die wieder etwas für ihre Nation werden wollen. Heute ist der und jener Zollernprinz bestenfalls Politiker und Prätendent für den Präsidentenposten, aber wir wollen einen Anwärter auf die preußische und die Kaiserkrone.
Bei dem Cocktailfest, das Bleichröder in dem dazu gemieteten Hause Cohn-Dajou ("Quartier Latin") veranstaltete, war übrigens einer der beachtetsten Gäste Liane Haid. Von dem Baron Heymerle in Wien ließ sie sich scheiden, als sein Vermögen zu Ende war. Dann sorgte Prinz Lichtenstein, dann Herr Hentschel für ihren Kleiderverbrauch. Wer es augenblicklich tut, weiß ich nicht, nur erzählt man sich, daß sie sehr viele Toiletten hat.
Der Film ist, nicht nur in Hollywood, sondern leider auch in Deutschland, eine sehr, sagen wir, asiatische Angelegenheit geworden. Seine Regisseure sind vom Wüstenuradel, aber ständig auf der Suche nach neuen echtblonden jungen Stars. Lilian Harvey kam einst als Entdeckung Eichbergs ins Verdienen. Jetzt ist Herr Sternberg aus Hollywood in Berlin und sucht. Im Dorado in der Motzstraße, dem Perversenlokal, wurde er mit einer Jungblonden gesehen, und schon heißt es, das werde die Nachfolgerin von Marlene Dietrich werden. Die kann freilich was. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie älter wird. In Wien bettelt eine greise Frau in den Kaffeehäusern, der es einst auch an Männern und Millionen nicht fehlte. Das ist die Durchschnittslaufbahn.
Oder war sie es. Heute, wo wir in Deutschland allein im Jahre 1932 nicht weniger als 84 151 Konkurse und Zwangsvergleiche hatten, geht es manchmal schneller.
Man schüttelt sich, wenn man in dieses Milieu hineinsieht. Dann schon lieber wieder einmal ein Prosit der Gemütlichkeit, ein Prosit dem harmlos vergnügten Spießbürger. Ein gutes Bier und dazu eine Musik, nach der man "schunkeln" kann, genügt ihm schon; und dann muß er in Massen dasein, denn er ist - wie Bismarcks Köchin - nicht für die Einsamkeit.
Das alles kann er in der Neuen Welt haben, dem Riesenlokal in der Hasenheide. Auch eine ganze Reihe von Privatautos aus dem feinen Westen steht übrigens vor dem Eingang, also die Neue Welt ist nicht etwa nur Amüsierlokal für die Neuköllner. Und was es noch nebenbei für Attraktionen gibt! Vor Jahren erzählte ich von meinem Zusammentreffen mit einer jungen Mulattin dort, die wegen ihres naturgekräuselten Haares durchaus den ersten Preis in einem Bubikopf-Wettbewerb haben wollte. Auch gestern gab es einen Wettbewerb. Doch halt: der Reihe nach.
Also der erste mächtige Saal (es ist noch ein zweiter dahinter, es ist für mehrere tausend Leute Platz) hat bis zur Decke eine Reihe auf holprigen Stiegen zu erkletternden Galerien, die ins Hochgebirge führen. An einer Treppe die bekannte, schon zum Quietschen der Trinklustigen führende Inschrift:
"Das Besteigen der Jungfrau ist mit Lebensgefahr verbunden!"
Das ist so recht was für unsere Spießer, das ist Geist, das ist Anregung, das ist Feez. Aber vorher, kurz vor 9 Uhr, verkünden Fanfarenstöße, daß der Braten in einem Riesen-Lukullus in einer Saalecke fertig sei: entweder werden vier Schweine oder es wird ein ganzer Ochse am Spieß gebraten. Diesmal sind es vier knusprige Schweine. Wir stehen an, wir drängen uns, das Wasser läuft uns im Munde zusammen, während vier Köche und zwei Frauen mit großen scharfen Messern die Schweine zerhauen und zerschneiden; für einen Bon von 80 Pfennigen kriegt man eine gehörige Portion, die stark genug gewürzt ist, um den nötigen Bockbierdurst zu erregen. Man kann sich die Portion natürlich auch von der Kellnerin bringen lassen, aber selber holen macht Laune. Dazu gibt es einen ordentlichen Happen Kartoffelsalat.
"Ick ha den janzen Dag nischt jejessen, weil ick immazu an det knusprige Vieh denken mußte!", sagt einer.
Und ein anderer: "Da oben sitzt Frau Breese ihre Familie, die hat wejen heute die janze Woche keen Fleesch jekocht!"
In knapp einer halben Stunde ist der letzte Fetzen von den vier Schweinen weg. Die Männer sitzen an den Tischen und essen und trinken, bis sie puterrot sind. Die Frauen und Mädchen gehen tanzen, nachdem sie ein wenig genommen haben. Aber es ist ein anderes Tanzen als anderswo. Keine Schlagermusik. Die beiden Kapellen spielen abwechselnd Weserlied, Muß i denn, Rheinlieder, Aus der Jugendzeit und sonstiges, wonach man sich behaglich wiegen kann. Auch das verhilft bei Ausdauer zur schlanken Linie.
Außerdem kann man auf die Rutschbahn oder zu sonstigem Rummel. Eine dicke Ehefrau ist begeistert, "Männe, wenn du zu Hause so eine Rutschbahn hättest, dann tät ich dich gleich noch einmal heirate, und den ganzen Tag tät ich rutsche, so schön is dees!", sagt die offenbar Süddeutsche. Oben und unten stehen Zuschauer und juchzen. Stimmung! Stimmung! "Zuerst die Unterlage für das Baby!", erklärt der Wärter oben, wenn er die Damen auf den grünen Filz plaziert, und fügt väterlich hinzu: "Und nun das Kleid fest über die Knie hinunterziehen!" Das besorgen dann auch die meisten. Aber eine Kleine sagt schnippisch: "Na, mir könnense doch nischt abgucken!" Auch junge Männer sausen mit hocherhobenen Armen und unter allerlei männlichen Verrenkungen hinunter, ja sogar die Musiker unter Halloh mit ihren Blasinstrumenten.
Um 11 Uhr: "Prämiierung der schönsten Damenbeinchen von Berlin".
Die Bewerberinnen - ich argwöhne, daß es sich jedesmal, auch wenn es sich um die schönsten Locken, das schönste Badekostüm, den schönsten Bubikopf handelt, immer um dieselben berufsmäßig hierherkommenden Mädchen handelt - werden schon vorher in einem Nebensaal von dem Manager ausgezeichnet. Man erfährt nachher nur das Resultat. Da stehen 30, 40 Mädels auf der Bühne und heben ihr Kleid bis zum Oberschenkel.
"Höjer, höjer, mir sehn ja nischt!", brüllen die Strohwitwer und bestellen ein neues Glas Bockbier.
Die ersten vier Preisträgerinnen - 50, 30, 20, 10 Mark - stehen von vornherein auf einem erhöhtem Podium. Dann ist der Zauber zu Ende. Aber noch nicht die Stimmung. "Einen Enzian bitte! Und noch zwei Bier!"
Eine kurze Randbemerkung. Die Sache ist an sich harmlos, aber ich halte es doch für unmöglich, daß etwa in Rom der Faschismus eine solche Taxierung der Frauen als Ware erlaubte. Weil die Frauen selber sich nicht daran gewöhnen sollen, Ware zu sein.
19. Januar 1933 (Donnerstag)
21
Bohème - Bei Zuntz sel. Witwe - Die Überfremdung der Bars - Griechen und Ägypter - Die Tänzerin Arita Dey - Das Publikum - Liebe einst und jetzt - Im Senderaum der Funkstunde - Stempelgeld als Lohn.
"Was schätzt du wohl, daß die Uhr ist?"
"Na, ich denke, es ist so etwa gegen elf!"
Ein sonderbares Gespräch. Da sitzen also zwei erwachsene Menschen, Europäer, Deutsche, sie vielleicht 24, er an die 40, und keiner von beiden hat eine Uhr.
Versetzt, verfallen? Vielleicht. Vielleicht auch verkauft, für ein paar Schachteln Zigaretten hergegeben. Eine Zigarette hat jeder, der hier in dem Mief des Oberstocks der Kaffeestube von Zuntz sel. Witwe in der Tauentzienstraße sitzt; oder jemand schenkt ihm eine. Wer wußte vor wenigen Monaten von diesem Lokal? Auf einmal sind alle die Unbemittelten der Berliner Bohème, die man sonst im Romanischen Café traf, hierher übergesiedelt, weil die Tasse Kaffee, bei der man drei Stunden versitzt, hier billiger ist.
Und da hocken sie nun. Kennen sich fast alle, duzen sich fast alle, die Schauspieler, die Maler, die Bildhauer, die Reklamezeichner, die Komponisten, die Musiker, die Sänger, die Dichter.
Natürlich ist es auch voll von Mädchen und Frauen, die zum Teil ganz normal aussehen und durchaus bürgerlich modisch gekleidet sind. Aber viele haben eine Art nachlässiger Reformtracht. Und man sieht selten gepflegte Kurzhaarköpfe, sondern meist nur Mähnen. Wo soll auch das Geld dazu herkommen? Aber langes Haar und sich daraus einen einfachen sauberen Knoten machen? Nicht um die Welt! Die eine oder andere, besonders wenn es sich um die wenigen Verheirateten handelt, sieht auch ganz nett aus. Im übrigen geht es stufenweise bis zu grotesker Häßlichkeit; denn hier wird mehr auf Geist als auf Beine und Busen Wert gelegt.
"Dazu brauchst du 20 Kubikmeter Sauerstoff als Betriebsstoff!", sagt eine, die darob erst lange und ernst gerechnet hat.
Mir gegenüber sitzt ein Schauspieler mit ausgehungertem Gesicht, die hohe Stirn voll tiefer Querfalten. Von drüben ruft Tamara Desnis Vetter - ihm geht's noch gut, wenn er auch nicht so viel verdient wie die Tänzerin - dem Schauspieler zu: "Wie steht's mit eurem Kollektiv?" und bekommt die Antwort: "Leider Essig. Wir hatten das Nachtasyl schon fertig. Die Volksbühne wollte eine Anzahl Vorführungen garantieren. Aber es wird nichts."
Neben mir sitzt ein Mädchen mit rotgefrorenen Würstelfingern. Die Kleine sieht aus, als sei sie Anfängerin in einem Butterladen. Aber wer weiß, vielleicht hat sie das Abiturium. Augenblicklich lernt sie eifrig russisch. Ein großer Teil der Besucher sind Edelkommunisten.
Unweigerlich um 12 Uhr ist Schluß, nicht um 3 wie in dem Romanischen. Nein, Zuntz sel. Witwe ist kein Nachtlokal.
Wer das sucht, der muß anderswohin. Alle paar Schritt in der Gegend der Gedächtniskirche ist ja irgendeine Bar. Aber auch da ist der Wechsel das einzig Beständige. Sprach nicht im vorigen Jahr alle Welt von der "Biguine"? Eingegangen. Aber der Besitzer hat dafür das "Cabanon" aufgemacht, der Besitzer mit dem stark östlichen Namen. Auch "Casanova" ist ja geschlossen, soll aber wiedererstehen. Wer heute ein Adreßbuch unserer Berlin-W-Bars herausgäbe, der wüßte genau, daß es in drei Monaten veraltet ist. Im übrigen: die guten deutschen Cafétiers verschwinden, das moderne Vergnügungsgeschäft kommt immer mehr in fremde Hände. Der Mokka-Efti-Führer, der Grieche Eftimiades, spielt da eine große Rolle, will auch das eingegangene Café "Schottenhaml" am Tiergarten wieder - flüssig machen. Der Ägypter Mustafa aber macht Stimmung in seiner "Ciro-Bar" in der Rankestraße, bläst auch wohl mal selber die Trompete in der Kapelle, der u.a. ein waschechter fetter Mulatte angehört, während ein Vollblutneger als Kawaß herumläuft. Mustafa will mich mal auf Rhodos gesehen haben, sagt er. Weiß nicht. Da laufen viele Ägypter herum.
Star in dem Lokal ist Arita Burns - mit ihrem Künstlernamen Dey - aus Louisiana in den Vereinigten Staaten. Wie der Manager, Mustafas Neffe, versichert, die schönste aller lebenden Kreolinnen. Kreolin? Bewahre! Zwar hat das Ding ein ganz europäisches Gesicht mit feinem geraden Näschen, aber an ihrem Kräuselhaar und ihren Händen merkt man ihr doch die Mulattin an. Heimatsadresse seit Jahren: Paris, Charleston Hotel. Arita kann kein Wort Deutsch; sie spricht französisch mit mir. Um 2 Uhr nachts entschuldigt sie sich auf einen Augenblick. Der Boy hat gemeldet, eben klingele Paris am Fernsprecher. Und nun bittet Arita um Drahtsendung von Reisegeld, denn sie wolle sofort zurück. Nachher sagt sie mir unter vielen Entschuldigungen:
"In Paris gibt es doch mal, auch wenn man sich sein Dasein nicht ertanzt, irgendeinen Marquis oder irgendeinen Amerikaner, der sich für einen interessiert, aber in Berlin ist man einfach von Gott verlassen!"
Sie zeigt mir den für sie unverständlichen gedruckten deutschen Vertrag mit vielen Paragraphen. Sie ist danach von Herrn "Direktor" Skutitzky, jetzt Cabanon-Bar, tschechischem Staatsangehörigen, zu 75 Mark pro Abend als Tänzerin verpflichtet worden. Nach drei Tagen war auf Grund irgendeines Paragraphen die Herrlichkeit zu Ende. Sie wurde hinausgeworfen oder vielmehr weitergegeben, sagt sie, zu 40 Mark. Und Mustafa, der sich jetzt in das Gespräch mischt, sagt: man wisse ja, wie wenig der Unternehmer in Berlin verdiene, also er könne der Dame höchstens 10 Mark geben. Dafür muß sie ihr Gemisch von Charleston und Bauchtanz exekutieren und bis um drei im Lokal sitzen, punctum.
Mir kann es gleichgültig sein, wo und wie Arita Burns lebt. Aber das ist mir klar, daß die Überfremdung unseres Gaststätten- und Vergnügungsgewerbes einer schleunigen Säuberung bedarf. Seit Monaten bin ich in keiner Bar mehr gewesen, diesmal den einen Abend in mehreren. Und was sich da gegen früher geändert hat, das eben will ich den Nicht-Berlinern erzählen.
Also die Eleganz ist überall rapide zurückgegangen.
Man trifft kaum mehr die gutangezogenen jungen Ehepaare, die mal tollen möchten. Auch die berufsmäßigen Tanzmädchen in "fabelhaften" Abendkleidern werden zur Seltenheit. Aber vor einem Cobbler oder Flip, den man allenfalls noch erschwingen kann, sitzen vielleicht zwei junge Damen hier und zwei dort, die ein ziemlich schlichtes Tanzkleidchen anhaben und darauf warten, daß ein Herr sie zum Tanz oder gar zu einem Souper auffordert; und sieht man näher zu, dann ist die eine im Lettehaus, die andere in der Universität, die eine die Tochter eines Rechtsanwalts in Buxtehude, die andere die Tochter eines Medizinalrats in Marienwerder.
Das männliche Schieberpublikum hat sich stark vermindert. Hie und da ein altes ehrsamen Männchen, ein Stammgast: "Was befehlen Herr Konsul?" Und dann, mehr als je früher, junge Männer, von denen man trotz eleganter Aufmachung und reichlichen Alkoholverbrauchs, wie ich schon neulich andeutete, nicht recht weiß, ob sie Fünfmarkstücke machen oder Mädchen verschieben oder bandenmäßig Autos klauen.
Irgendein Schmock hat einmal bei Ullsteins geschrieben, entweder gefalle einem so etwas, dann gehe man hin und lobe es; oder es gefalle einem nicht, dann bleibe man zu Hause, statt satirische Bemerkungen darüber zu machen. Na schön. Auch ein Standpunkt. Der Standpunkt des geborenen Reklameschriftstellers. Der aber ist nicht maßgebend für jemand, der den Nicht-Berlinern ein wirkliches Zeitbild von Berlin zu geben hat.
Dazu gehört auch die Darstellung des Wechsels der Angelegenheit, die wir einst Liebe nannten. Früher war für die Frau Liebe und Ehe die höchste Erfüllung. Heute packt sie alle der Beruf. Und Liebe und Ehe sind etwas, was man wie Essen und Trinken nebenbei erledigt.
Eine Dame sagt ganz kaltschnäuzig: "Ich bin grundsätzlich immer Ehefeindin gewesen, habe viermal geheiratet, nun bin ich erst recht Ehefeindin." Und die Filmschauspielerin Martha Eggerth, der die letzten Wochen in St.Moritz recht gut bekommen sind, erklärt sehr offenherzig:
"Ich wollte immer nur den Erfolg, es gab für mich weder Kindheit noch Jugend noch Backfischjahre, sondern nur Training für den Beruf, den ich nie für die Ehe aufgäbe. Wenn man in seinem Leben nie etwas anderes getan hat als gearbeitet und nach Erfolg gestrebt und soll dann plötzlich nur der Liebe leben und Hausmütterchen werden, nein; aber Zeit für Liebe hat man natürlich immer, wenn man will, und das ist das einzige, wofür ich mir neben meinem Berufe Zeit nehme."
Das ist gutes Hochdeutsch. Aber dahinter steckt eine völlig entgötterte, eine proletarisierte Welt.
In Berlin. Bitte: in Berlin. Ich werde mich hüten, etwa zu behaupten, daß alle die Elternpaare Ohrfeigen verdienen, die ihre Töchter ins Berufsleben nach Hamburg oder Stuttgart oder Königsberg aus dem friedlichen Kleinstadtheim schicken. Ich weiß nicht, wie es dort auf den Universitäten, in den Bureaus, in den Konfektionshäusern zugeht. Ich erzähle immer nur von Berlin.
Und da muß ich einmal auch von einem Besuch im Senderaum der Funkstunde erzählen. Ich bin, wie gesagt, monatelang in keiner Bar gewesen - und es vergehen Wochen, ohne daß wir auch nur ein einziges Mal unseren Rundfunk anstellen. Es fehlt einfach die Zeit zum ruhigen Hören. Aber ein ganzes Sendespiel sich am Gebeort anzusehen, das ist schon rein technisch sehr fesselnd. Fast noch fesselnder als eine Theaterprobe, wo die Darsteller auch im Straßenanzug und mit dem Manuskript in den Händen auftreten. Es ist schon ein erheiternder Gedanke, daß Faust in Pullover, schwarzer Jacke und Gamaschen eine Planke in der Diele als Pudel anspricht; oder daß Kätchen einem Hollunderbaum etwas zuhaucht, der in Wahrheit ein Mikrophon ist. Also das muß man mal gesehen haben. Gehen wir hin: zur Operette "Die schöne Risette".
Pst!
Cornelis Bronsgeest als erster Regisseur und gleichzeitig Conférencier hebt die Hand.
Sein wundervolles Organ, das jeden Buchstaben zum Wohllaut macht, führt die Millionen Hörer draußen im Lande in den Stoff ein. Er spricht zuerst ins Mikrophon. Das ist aber jetzt nicht mehr das im Ringe aufgehängte Viereck, wie man es sonst überall kennt, sondern dem Aussehen nach ein halbiertes feldgraues Scherenfernrohr.
Hinter Bronsgeest sitzt die Funkkapelle, neben ihm am Pult der Kapellmeister, von der anderen Seite nahen im Straßenanzug Held und Heldin und sprechen und singen für unsere Begriffe erstaunlich leise, fast uninteressiert; hinten im Saale sorgt der Tonmeister rein technisch für die nötige Lautstärke. Auch für die Deutlichkeit. Vorn auf dem Podium befindet sich nämlich eine große kreisrunde, in drei Sektoren geteilte Scheibe, auf der die Signale aufleuchten: "Näher", "Zurück", Richtig".
Da weiß also die schöne Risette, ob sie ihr Mäulchen zu nah oder zu weit vom Mikrophon hält. Dann zieht ein Hilfsregisseur (alles läuft mit dicken Partituren auf dem Teppich herum) Risette plötzlich am Arm weg, immer weiter weg: aha, ihre Stimme soll "verklingen". Der Chor wartet in einem Nebenzimmer. Ein Zeichen des Chormeisters: die Damen - Gott sei Dank, daß die Rundfunkhörer sie nicht sehen können - kommen herein. Sie haben, das ist die Hauptsache, gute Stimmen. Sehr gute Stimmen. Aber man kann nicht gerade behaupten, daß sie allesamt jung und morgenschön sind.
Nur von einer einzigen, der Anführerin der Mädchenschar in der Operette, Liselotte Krämer, könnte man es mit Fug und Recht behaupten. Sie spricht oft im Rundfunk. Warum sieht man sie nicht auf den Brettern? So ein quecksilbrig vergnügtes Ding würde nicht nur als Chormädel, sondern auch in tragenden Rollen sich sehr schnell ihr Stammpublikum schaffen.
"Wenn ich bis drei gezählt habe, stürzt sich jede auf den auserwählten Mann, also 1 - 2 - 3!"
Es sind aber gar keine Männer da. Und die Chordamen stürzen auch nicht vor, sondern weg; ab in ihr Zimmer, damit die Stimmen dabei verklingen.
Komische Sache, wirklich komische Sache. Es gab noch mancherlei der Art. Aber das Leben ist wirklich noch komischer als die Kunst. Wissen Sie, wie man in Berlin (um Gottes willen, doch nicht etwa auch bei Ihnen?) gehaltlos heute ein Mädchen für alles haben kann? Sagt da eine "Dame" zu einem Mädchen:
"Sie können sozusagen als Gast bei mir wohnen und essen und machen dafür alle Arbeit; im übrigen gehen Sie - dann haben Sie auch das Bargeld - als Arbeitslose stempeln!"
26. Januar 1933 (Donnerstag)
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