"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 22 - 24
2. bis 16. Februar 1933


22

Presseball 1933 - Die Prominenten drücken sich - Wie die Modeberichte entstehen - Wieder Liebesbriefe - Der Herr Graf - Clara Schulz zahlungsunfähig - Beim Fackelzug vom 30. Januar - Grüne Woche - Das Denkmal der Artillerie und ihr Pauker - Grippe und Krankenkasse - Der Junge mit dem Wasserkopf.

Noch einmal ist der Presseball über uns dahergebraust.

Noch einmal . . .

Aber in das Brausen der Tausende mischte sich schon das Stöhnen des Schuftens, so etwas heute noch fertig zu bringen. Wenn das "der" Ball Berlins ist, dann sind die, die ihn zum ersten Male besucht haben, sicherlich enttäuscht gewesen, auch wenn sie es nicht gleich aller Welt sagen. Wo ist denn eigentlich die Pracht der Toiletten geblieben? Nun ja, Gerda Maurus, diesmal in rötlichem Blond, trug einen echten Hermelinmantel, von dem sie damals, als Fritz Lang sie entdeckte und hie und da traf, wohl noch nicht geträumt hat. Auch war bei anderen Damen gelegentlich ein gutes Abendkleid zu sehen, aber kaum ein wirklich in Stoff und Idee auffallendes.

Manchmal hatte man den Eindruck, im letzten Augenblick sei von der Stange für 39,50 Mark ein Tanzkleidchen gekauft worden, um neben dem Herrn aus Kötzschenbroda einherschweben zu können, der, in Geschäften in Berlin, eine kleine Anzeige in der Zeitung erlassen hatte:

"Partnerin zum Presseball gesucht."

Gesellschaftlich hat die Herabsetzung der Eintrittspreise sich jedenfalls in diesem Sinne ausgewirkt.

Also man hat noch einmal an die 5000 Menschen zusammenbekommen, die die beiden Kleinautos oder das dünne Silberblech der Schmucksachen in der Tombola neben einzelnem Besseren anstarrten, man hat es noch einmal unter Stöhnen geschafft. Aber es fehlte so gut wie die gesamte Hochfinanz, es fehlte so gut wie die gesamte, soeben gesprengte Regierung, es fehlten sogar ungezählte Filmdiven, die sonst den Presseball nie versäumten, von Henny Porten bis zu Brigitte Helm. Mit einem Wort, womit nichts gegen dieses an sich liebe, nur leider sprichwörtlich gewordene Städtchen in Sachsen gesagt sei: Kötzschenbroda!

Der und jene waren freilich da. Werner Krauß folgte manch versunkener Blick. In der roten Veranda wurde Gitta Alpar von Autogrammsüchtigen umdrängt, während Gustav Fröhlich als beatus possidens dahinter saß. Rose Barsony und andere tauchten in später Stunde auf. Der Prinz Heinrich der Niederlande ging umher und wunderte sich. Im Marmorsaal hatte Generaldirektor Klitzsch sogar fünf Logen mieten müssen, um die Seinen von der Ufa und von Scherl unterzubringen. Aber trotzdem vermißte man mehr Menschen, als man sah.

Daß Literatur und Presse und Kunst manchen Abgesandten hier hatten, ist klar. Auch manche Frauen darunter. Wer aber den Modeberichten in den Berliner Zeitungen glaubte, in denen Hunderte bekannter Damen als Teilnehmerinnen des Presseballs geschildert werden, der ist auf dem Holzweg. Die Kleider werden beschrieben, aber die Trägerinnen kommen nicht. Die Hauptsache ist, genannt zu werden. Nicht nur für die Damen, sondern vor allem für die Modesalons, die das Abendkleid geliefert haben. Das vollzieht sich nun nicht etwa so wie in alten Zeiten, als Ludwig Pietsch mit gezücktem Bleistift umherstolzierte und beschrieb, was er an Toiletten sah, sondern die ganze Arbeit wird schon tagelang vorher in den Modesalons erledigt, wo die befreundeten Modeberichterstatterinnen erscheinen und abmachen, wie viele Kleider und welche von dieser oder jener Firma in die Zeitung kommen. Ob das nachher auf dem Presseball wirklich zu sehen ist oder nicht, spielt keine Rolle. Die Geschichte ist aus einem Bericht längst zu einer rein geschäftlichen Reklameangelegenheit geworden.

Natürlich hat es auch wie immer Damen- und Herrenspenden gegeben. Unter nahezu hörbarem Stöhnen wurden den Herren diesmal - Vierpfennigszigaretten auf "dem" Ball Berlins bewilligt. Dazu wie immer ein gedruckter Almanach, der auch Inserate enthält, denn die Wohltätigkeit entschuldigt alles. Diesmal hieß der Almanach: "Wieder Liebesbriefe". Der Inhalt ist großenteil albern. Aber mitten darin drei Juwelen: auf Seite 9 der Brief von Manfred v.Brauchitsch, auf Seite 16 der von Minna Falk, auf Seite 6 der von Asta Nielsen.

Die lohnt es, sich auszuschneiden. Ich lese sie immer und immer wieder. Die Zeitungen müßten sie abdrucken. Das ist lautere Poesie.

Ich habe auf dem Presseball einen Tisch im Bankettsaal, neben dem Marmorsaal des Zoo, erwischt. Da sitzen wir zu fünft mit Rittergutsbesitzers von der sächsischen Grenze, die wir einmal auf einem Woermann-Dampfer kennengelernt haben, lieben, netten Menschen. Es ist schön, wenn man in solch einer Oase sitzt, geschützt gegen die Unrast der Tausende, die defilieren. Aber auf einmal kommt ein leibhaftiger Graf heran und sagt:

"Sehr erfreut, ähä, viel von Ihnen gelesen, ähä, aber ich dachte immer, ähä, Sie wohnen in Dresden?"

Ich habe wortlos und ostentativ den Kronleuchter angestarrt und nicht geantwortet, obwohl Dresden eine meiner Lieblingsstädte ist und vielleicht mein Pensionopolis wird. Ich bin auch nicht in die Presseball-Stimmung gekommen, die sich nachher immer entwickelt, wenn man erst unten im Gartensaal etliche "gezischt" hat, sondern bin früher als sonst je fortgegangen.

Also noch einmal ist der Presseball über uns dahergebraust. Die Wahrheit über diesen Ball von 1933 spreche wohl ich allein nur aus. Sonst überall finde ich bloß die herkömmlichen Redensarten von "leuchtendem Damenflor" und eine Fülle von begeistert klingenden Superlativen. Aber warum soll man nicht einmal die Wahrheit vertragen können? Die Lieferanten der Fritzi Massary, das Atelier Clara Schulz, haben soeben ihre Zahlungen eingestellt. Andere ähnliche Firmen, die Phantastisches an Formen und Farben ersannen, haben schon vorher zumachen müssen. Zuweilen wird ja noch ein Abendkleid gekauft. Aber es wird nicht bezahlt. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir auf dem Tiefpunkt der Kaufkraft der "besitzenden" Kreise angelangt sind - und daß dies auch Brotlosigkeit für so und so viel Angestellte und Arbeiter bedeutet.

Allein der Theaterkrach der Gebrüder Rotter - in Wirklichkeit heißen sie Schaie - stellt den Erwerb von 1200 Menschen in Frage. Die Schaie-Rotters haben für sich persönlich, wie auch andere Prominente der westlichen Mischpoke, das nötige übrigbehalten, um in der Schweiz oder sonstwo sich erholen zu können. Aber viele Berliner der ehedem besitzenden Klassen haben nichts mehr übrig, allenfalls nur noch ihr über Geschäfts-Unkostenkonto fahrendes Auto. Und selbst da sind die Ziffern zurückgegangen. Während auf 1000 Pariser 37 Autos kommen, sind es auf 1000 Berliner nur 9. Man könnte seitenweise solche Vergleichsziffern zwischen uns und allen anderen Städten und Staaten anführen, damit der Leser endlich begriffe: es ist die allerhöchste Zeit, es ist die letzte Minute, daß unsere Wirtschaft wieder rentabel gemacht wird und Brot für Angestellte und Arbeiter hat. Seit vierzehn Jahren hat uns das schwarzrote Novembertum nur immer tiefer in die Not geführt, haben wir die Wahrheit des Hugenberg-Wortes erkennen können:

"Sozialismus ist Arbeitslosigkeit."

Nun stehen wir an der Wende, auf die wir seit Jahr und Tag geharrt haben. Die gemeinsame nationale Front ist wieder da, das Kabinett Hitler, endlich, mit Papen, Hugenberg, Seldte in seinen Reihen, ernannt. Die große Durchbruchsschlacht für Freiheit und Existenz des deutschen Volkes bis zu den ärmsten Kameraden und Brüdern unter den Arbeitern beginnt.

Am Abend des historischen 30. Januar habe ich während des Fackelzuges festgekeilt in der Wilhelmstraße gestanden. Hitler vorn an einem Fenster des Kanzlerpalais, Hindenburg am Balkon des Kongreßsaales. Hindenburg: die Statue. Aber als die alten Soldatenmärsche erklangen, wurde er lebendig. Er schlug glückselig mit beiden Unterarmen den Takt dazu.

Ach, wir alle waren ja so glücklich!

Ich habe auch Hitler mit den anderen Begeisterten zugewinkt. Nur als das Deutschlandlied ungefähr zum dreißigsten Male gesungen wurde, schlug mir jemand den Hut vom Kopf. Ich hatte ihn endlich aufbehalten, um mir keine Grippe zu holen, außerdem habe ich immer ein Klößchen im Halse, wenn von deutscher Treue gesungen, die Einigkeit zu Schutz und Trutze hervorgehoben oder die italienische Etsch, die litauische Memel, die französische Maas, der dänische Belt genannt werden.

Wir haben längst eine neue Nationalhymne nötig. Aber das muß ich doch sagen: inniger ist kaum je gesungen worden als an diesem 30. Januar. Die Berichterstatter vergleichen die Stimmung mit der vom August des Kriegsausbruches. Das ist falsch, wie es auch falsch ist, daß 700 000 defilierten, während es tatsächlich 19 000 waren und dazu etliche Tausend Zuschauer, denn das Ganze war doch nur eilig improvisiert, - es ist falsch, daß Auguststimmung geherrscht habe, weil 1914 das ganze Volk von dem gleichen Gefühl beseelt war, sich gegen einen Überfall von außen verteidigen zu müssen, der Arbeiter und der Student derselben Meinung waren, während diesmal nur die "Nationalen" demonstrierten. Nein, nicht 1914. Es war so wie in der Wahlnacht von 1907, wo die schwarzrote Mehrheit, die Mehrheit Bebel-Erzberger, gebrochen wurde und viele Tausende, nur damals ohne Fackeln, auch vor die Reichskanzlei zogen und ihre Begeisterung ausströmen ließen.

Eine nationale Minderheit - noch ist sie es - geht in den Kampf, um Mehrheit zu werden und das Volk vor dem Untergang zu retten. Als Mussolini seinen Kampf begann, hatte er noch viel weniger hinter sich, nur 24 Abgeordnete unter 500.

Völlig überrascht von dem plötzlichen Umschwung in Berlin waren alle Fremden. Wenn der Berichterstatter einer deutschfeindlichen Pariser Zeitung ihr meldet, er hätte sich nicht gewundert, wenn die Tausende in der Wilhelmstraße auf die Knie gesunken und "Nun danket alle Gott" gesungen hätten, so sei die Stimmung gewesen, dann ist das doch wirklich schon was. Freudig überrascht war natürlich auch alles, was zur Grünen Woche hier ist, was noch - aus allen Teilen des Reiches - das Geld für eine Berlinreise erschwingen kann.

Die Ausstellung der Grünen Woche, wo es für Fachleute - Fachleute von Acker, Wiese, Wald, See - allerlei Fesselndes gibt, habe ich mir diesmal nicht angesehen, sondern nur in der Halle II das übliche Jagdspringen und die Schaunummern. O Wunder über Wunder: Nennungen mehr als je! Trotz aller Verarmung der feste Wille, sich zu behaupten. Der reicht bis zu den Studenten im undefinierbar dunklen Sporthemd und bis zu dem kleinen Mädchen mit Hängezopf. Und das Publikum! Drei Viertel Pots-, ein Viertel Kurfürstendamm. Wenigstens auf den guten Plätzen. Auf der Galerie nur Deutschland. Man bejubelt Frau v.Opel, man freut sich über jedes fehlerlose Nehmen der Hindernisse durch deutsche Offiziere oder Rotröcke, aber man kargt auch nicht mit seinem Beifall gegenüber den hervorragenden irischen Kavalleristen. Die rothosigen Tschechen sind weniger auf der Höhe.

Unbeschreiblich schön - wenn auch ich einmal in Superlative geraten darf - das Denkmal der Artillerie.

Früher hatten immer nur die Kavalleristen die großen Schaunummern, diesmal wird die Artillerie in allen ihren Wandlungen vorgeführt, von der Zeit August des Starken bis zur modernen Reichswehr. Es sind Leute von der Truppe aus Jüterbog und aus Potsdam, die hier entweder in historischer Verkleidung mimen oder in ihrer eigenen Uniform - es ist militärisch Unsinn, aber in der Arena nicht anders möglich - geschlossen im Galopp aufmarschieren, abprotzen und - bumm-bumm - ihre Kartuschen verfeuern. Reiten und Fahren ausgezeichnet. Als die zehnspännige(!) Kanone der ehemaligen Schutztruppe daherrast und keines der zehn Pferde über die stets straffen Taue tritt, gerate selbst ich in einen gelinden Taumel der Begeisterung. Den übrigens eine Gesellschaft von Engländern am Nebentisch durchaus teilt. Dabei hat fast die Hälfte der Kerls Grippe. Der Pauker, ein ganz großartiges Stück Soldat, reckt bei 40 Grad Fieber maschinenmäßig die Arme, als wären es Pleuelstangen. Die Jüterboger Garnison kann stolz auf ihn sein.

Ja, die böse Grippe ist einfach mit dem Minimum im Tauwetter hergeweht. Im Januar hatten die Ärzte nichts zu tun, auf einmal müssen sie sich die Hacken ablaufen. Aber richtig helfen dürfen sie den Kranken nicht. Die Allgemeine Ortskrankenkasse, durchweg besetzt mit sozialdemokratischen Funktionären, hat sich zwar für 5 Millionen Mark einen Bureaupalast gebaut, in dem weder die Klubsessel noch marmorne Kühlschränkchen für Zigarren noch irgendwelche sonstigen Bequemlichkeiten vergessen sind, aber die Ärzte werden in einem Rundschreiben der Kasse zu möglichst billiger Heilweise verpflichtet.

Was der Arzt über Durchschnitt verordnet, muß er bekanntlich aus eigener Tasche bezahlen.

Nun tränt alles in Berlin. Ein paar Tage früher war man noch - trotz der Kälte oder wegen der Kälte - sehr vergnügt. Da kommt ein Junge aus dem Hof unseres Nebenhauses heraus. Sagt zu ihm ein anderer Junge:

"Mensch, wenn du mit dein' Wasserkopp bei die Kälte rausjehst, brauchste bloß etwas Zucker in deine Birne zu tun, denn kommste als fertige Eisbombe zurück!"
2. Februar 1933 (Donnerstag)


23

Das Fest der Viktoria-Fachschule - Auf dem Akademieball - Wann lebte Wilhelm I. ? - Die Schuld der Bonzen an unserer Schule - Carsen-Krakauer - Die nationale Revolution - "Morgenrot" und "Rebell" - Mit dem Prinzen der Niederlande.

"Froh zu sein, bedarf man wenig,
Und wer froh ist, ist ein König!"

steht auf der ersten Seite des vergnügten Programmheftchens, das die Berliner Viktoria-Fachschule zu ihrem Fest am vergangenen Mittwoch herausgegeben hat. Endlich wieder mal was harmlos Nettes. Lehrer und Lehrerinnen sind da, ehemalige und jetzige Schülerinnen zu Hauf bis zu 16 Jahren herunter, dazu die nötigen Jungs, und dann beginnt die humorvolle "Fahrt ins Blaue" auf dem Bühnchen, während in den Pausen das Parkett eifrig betanzt wird. Kosten einschließlich Kaffee und Kuchen anderthalb Mark. "Ja, so etwas gibt es noch!", möchte man beglückt ausrufen. So etwas gibt es sogar noch in Berlin.

Ansonsten rutschen wir allmählich in den Fasching hinein.

Leider kann ich mich in das Maskenfest des Vereins der Heilgehilfen und Heilgehilfinnen Berlins an diesem Sonnabend nicht einschmuggeln, weil "strengstens" nur Vereinsmitgliedern und deren Gästen der Zutritt gestattet ist, ich mich aber nicht durch den Bräutigam unseres Mädchens dazu einladen lassen kann; denn da wäre, auch wenn ich vor der Demaskierung wegginge, der Witz der Sache gestört, weil in die Gruppe um unsere gute Martha herum zuerst Unruhe und dann Steifheit käme.

Unsereins ist und bleibt, mit wenigen Ausnahmen, dazu verdammt, auf die sogenannten ganz großen Sachen zu gehen, von denen alle Zeitungen schreiben und zu denen bloß das Geldbeutelzücken an der Festkasse irgendeines Warenhauses oder von Bote & Bock gehört. So eine große Sache ist immer der Ball der Kunststudierenden Berlins, der diesmal als "Sternschnuppe 33" aufleuchtete, aus den Wänden aller Räume in der ehrwürdigen Hochschule am Steinplatz eine einzige Karikatur gemacht hatte, voll von Übermut, aber schließlich doch nur wie der Ball der vier Künste von einst in Paris eine Probe darauf war, mit welchem Minimum an Bekleidung manche "Dame" bei solcher Gelegenheit auszukommen vermag.

Es hat keinen Zweck, in der jetzigen Zeit davon zu sprechen, daß das nahezu verschwunden ist, was wir früher Schamhaftigkeit nannten und was die Mädchen von einst so entzückend machte. Das verstünde heute kaum jemand. Wir haben doch überall die Koedukation, die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter. Kunstschüler und Kunstschülerinnen zeichnen zusammen Akte nach lebenden nackten Modellen. Da wird man sachlich, vastehste. Und dann kann man denn auch im Ballsaal die vergleichende Anatomie weiter betreiben und sich, sagen wir, die passenden Modelle suchen.

Ist das just ein Wellental in dem ewigen Auf und Nieder der Kultur? Oder ist es, wie die anderen meinen, gar nur eine Etappe auf dem Wege zu noch weiterer Entwicklung in dieser Richtung? Oder ist es - da wird man ganz ernst - die Henkersmahlzeit, die sich unser Geschlecht vor dem Untergange gönnt?

An irgendeine Hinrichtung in übertragenem Sinne glaubt ja jedermann. Entweder die von rechts oder die von links werden unsere Zeit köpfen.

Daß die Zeit so geworden ist, daraus macht man manchmal der Not, manchmal den Elterhäusern, manchmal der Schule einen Vorwurf, wenn man innerlich mit ihr nicht zufrieden ist. Ich sträube mich dagegen, daß die Not ("Not heißt die Amme aller großen Männer", hat einmal jemand gesagt) uns proletarisieren müsse, und in die Elternhäuser kann ich nur wenig hineinsehen; was aber die Schule in den letzten 14 Jahren angerichtet oder unterlassen hat, das weiß ich. Daher auch die Enttäuschung darüber, daß immer "noch nichts geschieht", daß die Provinzialschulkollegien noch nicht sofort ausgemistet worden sind, daß sogar den sozialdemokratischen "Aufbauschulen" noch bis zum 1. Oktober das Gnadenbrot gegeben wird, statt sie schon zu Ostern zu schließen. Wie ungebildet - an Moral und auch an Wissen - entläßt heute die Schule ihre Insassen! In einer Frauenschulklasse in einem Vorort von Berlin wird die Ein- und Durchführung der Sozialversicherung, 1881-1891, besprochen. Frage: wer regierte damals? Von den 28 Schülerinnen, von denen 25 Lyzeumsreife besitzen, weiß es niemand. Eine sagt stockend: Friedrich Wilhelm I. Ob die Mädchen überhaupt von deutschen Kaisern, preußischen Königen etwas wüßten. Ach ja. Vom Film her kennen die meisten Friedrich den Großen. Wann der regiert habe. "Na, so um 1600 herum!" Und eine Schülerin sagt voll Stolz: "In der Rokokozeit um 1400!"

Darüber kann man sich nicht wundern, wenn man weiß, daß noch heute (noch heute!) an Berliner Schulen Kommunisten als Lehrer und Lehrerinnen angestellt sind und daß bisher die "Andersdenkenden" nicht den Mut zur Opposition um jeden Preis aufbrachten.

Ein wahres Muster ist die Aufbauschule des Herrn Carsen, der früher Krakauer hieß. Sein hoher Protektor Böß stiftete aus dem sogenannten Korruptionsfond den Schülern Englandreisen und anderes. Der Höllenlärm aus der oder jener Klasse dringt bis auf die Straße hinaus. Drinnen sitzt in einer Ecke ganz still ein Mann, ein Lehrer, und sagt demütig:

"Ich warte, bis sie sich ausgetobt haben, vielleicht kommen wir dann doch zum Lernen!"

An der Anstalt unterrichtet noch heute gegen gutes Entgelt die Kommunistin Korsch, deren Mann Gehalt und Reichstagsdiäten bezieht, aber abends geht sie auf Freikarten ins Kino, obwohl sie Villenbesitzer in Berlin-Tempelhof sind: der machen diese Zustände natürlich Freude. Das Lehrerkollegium tagt in Anwesenheit von Abordnungen "proletarisch klassenbewußter" Schüler, die auch dazwischenreden. Lehrer werden auf den Korridoren offen angerempelt und drücken sich scheu. Eine probeweise berufene junge Lehrerin wird sofort von Primanern umstellt: "Na, das ist ja was ganz Apartes!", sagt einer. Und wenn ein Lehrer sich mal irgendeine Bemerkung erlaubt, heißt es: "Quatschen Sie nicht!" Ein Junge verschmutzt die Bank und schnitzt in sie. Die Lehrerin sagt freundlich: "Sag' mal, gehört die Bank dir oder ist sie fremdes Eigentum, Eigentum der Stadt?" Erfolg: Klassengericht über die Lehrerin. Herr Carsen-Krakauer ist ganz dafür.

In der Schülerbibliothek befinden sich 25 Stück von Remarks "Im Westen nichts Neues", besonders zerlesen die Seiten, wo mit schmatzendem Behagen geschlechtliche Dinge beschrieben werden; und in der Lehrerbibliothek 6 Stück von Schnitzlers "Reigen", der sich in seinen gesammelten Werken nicht findet, weil er wegen grober Unzüchtigkeit verboten ist.

Zur Reformationsfeier wird in der Krakauer-Schule natürlich nicht freigegeben. Begründung: Geht uns Proletarier nichts an! Es gibt da Sekundaner, die wohl von dem Bauernaufstand 1525 (wie überhaupt von allen Revolutionen) in der Schule gehört haben, aber nie etwas von der Reformation. Und so etwas gibt es noch heute. Heute! Hochgepäppelt durch Unterstützungen, unbeschwert durch Wissen, disziplinlos in jeder Beziehung, kommen die jungen Leute dann durchs Abitur und gehen auf die Kunstakademie oder die technische Hochschule oder die Universität. Und treffen womöglich auf Dekadente, durch die Not Deklassierte aus ehedem höheren Schichten, die sich ihnen anpassen. Das gilt nicht nur für Berlin. Ähnliche Zustände werden auch aus anderen Städten gemeldet. Was soll aus unserem zur Geschichtslosigkeit erzogenen Volke werden? Deshalb die jetzige nationale Revolution! Wenn ich als erster hier dieses Wort, während andere noch von "Legalität" sprechen, hinausrufe, so weiß ich warum. Der 5. März wird die letzte Probe sein, durch einen Reichstag in Deutschland die Reinigungs-Diktatur und ein Revolutionstribunal zu erreichen. Es hat noch vor wenigen Wochen Exempel gegeben, wo - in einer märkischen Stadt - Gymnasiallehrer von ihrem Direktor, einem Novembersozialisten natürlich, gezwungen wurden, sich öffentlich bei einem Sextaner zu entschuldigen, den sie gerüffelt hatten.

In dieser ganzen Zeit, deren Hinrichtung - warum wartet man noch - bevorsteht, hat immer wieder Hugenbergs Ufa versucht, wenigstens im Film deutsche Geschichte, deutschen Stolz dem Volke zu bringen. Von Fridericus über die Letzte Kompagnie bis zum Morgenrot. Damit füllt man die sogenannten Uraufführungstheater, die Paläste in den Großstädten, auf deren 2-Mark-Plätze die alte gute Gesellschaft geht. Aber wir haben einen Verein der Lichtspielbühnenbesitzer, der die kleinsten Vorstadtkinos mit reinem Arbeiterpublikum umfaßt, und dieser Verein ist natürlich "unpolitisch", wie man das zu nennen pflegt, und sträubt sich aus geschäftlichen Gründen gegen die Aufführung jedes vaterländischen Films, der dem Stammpublikum auf die Nerven fallen könnte.

Trotzdem gehört dank ihren gelegentlich ganz ausgezeichneten Leistungen die Ufa zu den nur 5 oder 6 Filmherstellern der Welt, die kein Minus haben.

Der neue U-Boot-Film "Morgenrot" ist eine dieser Spitzenleistungen und ist dabei ganz und gar nicht hurrapatriotisch, sondern zutiefst menschlich im besten Sinne. Nicht umsonst ist Gerhard Menzel der Verfasser, der deutsche Dichter, dem wir u.a. das Drama "Bork" verdanken, das ich im vorigen Jahre besprach. So ein Mann kann doch mehr als die galizischen Drehbuchfabrikanten und Regisseure.

Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod, - leise schwingt die Melodie in dem Vorkonzert der Ufa-Symphoniker. "Aber für Deutschland könnte ich hundert Tode sterben!", klingt es aus dem Film zurück. Natürlich ist auch hier (aber das stammt bestimmt nicht von Menzel) ein bißchen sentimentaler Schmuß dabei, die Kleinstadt, die Liebesgeschichte, der unvermeidliche Wasserpolack als komische Figur, aber das Ganze ist ein erschütterndes Epos von deutscher Pflichttreue, deutscher Kameradschaft und deutscher - eselhafter Ritterlichkeit gegenüber dem Feinde. Wenn auf dem Meeresgrunde im U-Boot, dessen Bug mit 21 Mann zerschmettert ist, von den in der Zentrale noch lebenden sich zwei, der Leutnant und ein Matrose, mit ihrer Dienstpistole erschießen, damit alle anderen mit den nur vorhandenen acht Schwimmapparaten gerettet werden können, stockt uns ob des Opfers der Atem.

Ich weiß nicht, ob man in den Film geht, damit einem der Atem stockt. Die Masse will lachen und will Mädchenbeine sehen. Aber der Generaldirektor Klitzsch, den ich im Vorbeigehen darüber spreche, meint:

"Wenn überhaupt ein Film die Welt erobert, dann ist es dieser!"

Ein Leser hat sich gewundert, daß ich von dem Luis-Trenker-Film "Der Rebell", dem vorherigen - so sagt man wohl - Monumentalfilm nichts erzählt habe. Gewiß, Trenker ist wieder ausgezeichnet, die Bilder aus dem Tiroler Freiheitskampf von 1809, wenn die künstlichen Steinlawinen auf die Franzosen herniederdonnern, sind von unerhörter Wucht, aber es ist ein aus deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit hervorgegangener Film, in dem es viel zu viel Gehetze gibt, was denen drüben immer noch Spaß zu machen scheint, ganz gleich, ob es sich um Verfolgungen zu Fuß oder zu Pferde oder im Auto handelt. So lange, wie dieser Trenker im Bilde es tut, kann übrigens kein Mensch bergan laufen, springen, klettern, ohne niederzubrechen. Und dann: hinter dem Film steht als Geldgeber jener ehemalige Konfektionär Herr Baruch, der sich unter dem deutschen Namen Laemmle versteckt, ein Deutschenhasser ersten Ranges, der nicht nur Remark verfilmt hat, nach Kriegsende, sondern zu Beginn des Krieges als amerikanischer Kino-Beherrscher alles getan hat, um Amerika in den Krieg gegen uns zu hetzen, u.a. durch den Film: "Der Kaiser, die Bestie von Berlin". Das hat tüchtig Geld eingebracht. "Die öffentliche Moral geht mich nichts an", sagt Baruch.

Laemmle-Baruch, Ehrenbürger von Laupheim in Württemberg (für 1100 Dollar im Jahre 1921), Ehrengast von Berlin und Paris, Multimillionär, läßt den Kaiser, "Das Vieh von Berlin", zum Frühstück eine Schale frischen Kinderblutes trinken. In seinen Filmen schlachten deutsche Offiziere und Soldaten Säuglinge ab, vergewaltigen Frauen, schlagen Männer lebend ans Kreuz. Die Greuelfilme "Der gelbe Hund", "Die apokalyptischen Reiter", "Unser Meer" gehören dazu. Warum wird Laemmle-Baruch in Berlin auf Banketts gefeiert, statt ins Zuchthaus gesperrt zu werden? Der ausnahmsweise anständige Film "Der Rebell" - man muß eben alle Kunden befriedigen - rechtfertigt keine Amnestie der Bestie von Laupheim-Newyork.

Nein, da gehen wir nicht hin. Punctum.

Es ist wirklich höchste Zeit, daß die nationale Revolution bei uns auch den Laemmles das Handwerk legt, ehe die internationale Revolution bei uns so vorwärts kommt, wie es ihr soeben zeitweilig in Holländisch-Indien gelungen ist.

Über die Potemkin-Affäre vor Soerabaya habe ich kurz mit dem Prinzen der Niederlande gesprochen, der wieder zu der alljährlich gewohnten Zeit - er kommt immer wie Schillers "Mädchen aus der Fremde" und läßt immer Freude zurück - in Berlin aufgetaucht ist. Wir sahen diesen lieben Menschen, der immer der am wenigsten förmliche von allen Anwesenden ist, auf zwei ganz kleinen Privatgesellschaften, bei einem früheren ihm bekannten Stabsoffizier und bei Herrn de la Croix, wo vier "Magier", darunter ein Arzt, zu unserer Kurzweil alles weit in den Schatten stellten, was man je auf dem Variété gesehen. Der Prinz ist eigentlich dauernd auf den Beinen, wenn er hier weilt, läßt keinen Mecklenburger aus, der ihn sprechen will, und jagt überhaupt täglich ein kolossales Programm durch.

Mich interessiert das Panzerschiff von Soerabaya; Frauen interessiert anderes.

Also meine Frau, die neben dem Prinzen sitzt, fragt ihn selbstverständlich nach seiner Tochter, die demnächst 24 Jahre alt wird und einmal Königin von Holland werden soll. Sie hat studiert, ich glaube an der Leydener Universität, und ist vergnügt und hat Vater und Mutter lieb. Aber wie steht es mit dem Heiraten, wonach das ganze holländische Volk drängt?

"Ja", sagt der Prinz, "seit Jahren druckst das Mädel herum und will gar nicht. Da habe ich es seinerzeit viel schneller gemacht. Ich war binnen 23 Minuten verlobt und glücklich!"
9. Februar 1933 (Donnerstag)


24

Die Kameradschafts-Fledderer - Das Ehrenwort - Allerlei Besucher - In der "Provinz" sind die Schulen anders - Der neue Intendant - Aus Dr. Ulbrichs Leben und Arbeit - Auf der Autoschau - Wenn man reiner Rohkostler ist.

Was ein Gigolo ist, was ein Cicisbeo ist - und noch manches andere, von dem wir gewöhnlichen Sterblichen keine Ahnung hatten -, das wußte man in Berlin W immer sofort. Aber einen neuen Männerberuf kannte man bis vor kurzem nicht. Das ist, wie wir alten Soldaten zu sagen pflegten, der Kameradschafts-Fledderer.

Er hat eine Besuchskarte, er schickt sie herein, er ist a.D., man stellt aus irgendeiner alten Rangliste fest, daß es stimmt, man empfängt ihn, man hört zu seinem Erstaunen, obwohl man sich auf das Gesicht nicht besinnen kann, daß er bei der Offensive in Italien oder in der großen Flandernschlacht oder in der Türkei neben einem gestanden habe. Zufällig in Berlin, alte Beziehungen auffrischen, na ja.

Es entwickelt sich ein allgemeines, tastendes Gespräch, das viel zu lange dauert, und dann kommt die Bettelei. Der Herr ist "momentan nicht momentan", ob ich nicht . . .  Anscheinend ist ganz Berlin voll von solchen Kameradschafts-Fledderern, vielleicht ist es draußen ebenso, und da muß mal ein Warnungspfiff ausgestoßen werden. Gerade bin ich wieder, hoffentlich zum letztenmal, hereingefallen. Ein verhältnismäßig noch junger Mensch, der den Krieg kaum mitgemacht haben kann, kommt. Richtig, er sei 1914 noch ein kleiner Kadett gewesen. Er kann seine damaligen Kompagnieoffiziere und seinen Erzieher namentlich anführen (dieser bestätigt mir telephonisch, sich an den Kadetten noch zu erinnern) und, tja, scheußliche Sache, Mutter zufällig verreist, und hier diese Rechnung, die sofort bezahlt werden müsse, widrigenfalls usw. Ich kratze alles zusammen, was sich an Bargeld im Hause findet, es sind 35 Mark - wie wird der Mensch mich auslachen - und stelle sie ihm für 24 Stunden zur Verfügung.

Nun knallt er die Hacken zusammen, macht treue Augen und sagt:

"Mein Ehrenwort, morgen ist das Geld zurück!"

Sowie ich das vom Ehrenwort höre, weiß ich: das Geld ist verloren. Aber man ist in solchen Augenblicken wie gelähmt von der Lumpigkeit der Menschen. Ich geleite den Mann wortlos zur Tür - und Roß und Reiter sah man niemals wieder. Jetzt sind schon fast drei Wochen seither vergangen.

Ich schreibe ihm nicht, denn das Porto wäre vertan, ich schicke ihm keinen Zahlungsbefehl, ich hetze nicht die Polizei auf ihn.

Aber für den Fall, daß ihm diese Zeilen irgendwie zu Gesicht kommen, bitte ich ihn: wenn es ihm wieder mal gut gehen sollte, möchte er die 35 Mark einem wirklich armen Teufel schenken. Heute gibt es Familien, die von einem solchen Betrage einen ganzen Monat sich das Essen kaufen. Und ich muß ihn durch vermehrte Nachtarbeit wieder abschuften, denn ich besitze kein Vermögen, nicht einmal den sogenannten Notgroschen an Erspartem. Daran sind die Kameradschafts-Fledderer und andere schuld.

Ist es ein Wunder, daß man da schließlich vor jedem Unbekannten die Tür zuschlagen läßt? Ohne vorherige briefliche oder telephonische Anmeldung (und im Telephonbuch lasse ich mich jetzt streichen), aus der genau das Begehren hervorgeht, wird keiner mehr hereingelassen. Das Mädchen weiß, wer zu erwarten ist und wann. Hartherzigkeit gegen arme Arbeitslose? Ach nein. Sondern Notwehr. Ich habe nur noch Zeit für Menschen, von denen ich etwas lernen kann, weil sie selber arbeiten, wenn auch auf anderen Gebieten. Da ist ein im freiwilligen Arbeitsdienst an hervorragender Stelle beschäftigter Stahlhelmführer, der einst mit unserem Ältesten in der Brigade Ehrhardt stand, für den habe ich natürlich Zeit und Imbiß und Umtrunk. Da sitzt der deutsche Arzt aus Hangtschou in China, der Gesundheitsminister der Nankinger Regierung, an unserem Tisch auf dem Platz, den kurz zuvor die Frau eines Arztes aus Tsingtau beehrt hat. Da sitzt die hochintelligente Frau aus Westfalen, die nach Jahren nationaler Arbeit den Roman "Frauen gehen durch die Politik" schreiben möchte. Da sitzt das Professorenehepaar aus Santiago in Chile; die Frau hat im Verlage von Korn in Breslau ein Buch über das Auslandsdeutschtum ("Von der Heimat losgerissen") erscheinen lassen, das wahrste und tiefste, das ich noch in derselben Nacht gespannt und erschüttert in mich gefressen habe. Da sitzt die junge deutsche Lehrerin aus Kopenhagen, die von früheren und jetzigen Gesandten für mich ungemein lehrreich zu plaudern weiß. Da sitzen die beiden Pflanzerfreunde, der eine aus Mexiko, der andere aus Guatemala, die irgendeine geistige Bereicherung bei mir suchen, während ich sie aus ihnen heraushole. Da sitzt der vielleicht dreißigjährige Maler aus Leipzig, der gezwungen ist, seine Holzschnitte in Käte-Kollwitz-Art auf dem Wege des Hausierhandels zu vertreiben. Vielerlei Volk, vielerlei Anregung kommt so zu einem, während man selber zu Besuchen die Zeit nicht aufbringen kann. Gott sei Dank - für sie und für mich - lauter Leute, die noch mitten in der Arbeit stehen; ich beschränke mich auf die paar Beispiele, ich will ja hier keine Aufzählung mit der Reporterphrase bringen: u.a. bemerkte man . . .

Es tut nicht nur not, daß Millionen Deutscher wieder Arbeit bekommen. Sondern auch die Arbeit selber muß wieder - sachlich werden.

Sie ist in der Schule, wie ich neulich erzählte, vielfach nur noch spielerisches Experimentieren und unvaterländische Tendenz. Eine Leserin aus Thüringen schreibt mir, in ihrer Stadt sei die Aufbauschule vortrefflich. Das glaube ich gern. Thüringen ist nicht das bisherige Preußen. Und Preußen ist auch noch nicht Berlin. In Thüringen hat doch einst der Minister Frick das Schulgebet wider die Schmach von Versailles eingeführt. In Berlin kann es erst nach den Kommunalwahlen am 12. März anders werden.

Das gleiche gilt ja vom Theater: in der "Provinz" haben wir gute Ensembles, wie das Gastspiel der Mannheimer (Die Schlacht an der Marne) soeben bewiesen hat, in Berlin aber das Starsystem von Stück zu Stück. Draußen kommen die Klassiker und sonstige gute deutsche Dichter zu ihrem Recht, in Berlin aber wird die Problematik und die Schweinerei mehr gepflegt, als selbst einer Weltstadt eigens zugestanden werden könnte.

Sehr gut, daß wir nach den Zeiten Jeßners und Piscators jetzt eine andere Sorte Mensch herbekommen. Hans Johst ist nicht nur als Dichter von Rang, sondern auch als Nationalsozialist auf den Posten des Dramaturgen des Berliner Staatstheaters berufen worden. Aber der neben ihm - hoffentlich ohne Reibung - amtierende neue Intendant Dr. Franz Ulbrich aus Weimar ist immer nur sachlicher Arbeiter, nie Parteimann gewesen. Dieser tiefernste, kerndeutsche Mensch kennt nur eine Partei: Deutsche. Er rechnet es Hitler und Göring hoch an, daß sie ihn, der nicht Nazi ist, als Fachmann berufen haben, wie übrigens die Sozialdemokraten ihn früher an Stelle des Versagers Hardt nach Weimar brachten, obwohl er auch nie Sozi war.

Er hat immer mit seinem Herzblut für die Hebung der Kultur gearbeitet und das Edle und Schöne zu fördern getrachtet.

Ich bin einmal in den letzten Jahren, um mir den Schauplatz des Krieger-Totenmals in Berka anzusehen, in Weimar und am Abend vorher dort im Nationaltheater in einer Aufführung gewesen. Es war (bei den bescheidenen Mitteln!) wirklich großartig. Seit Ulbrich als Sekundaner in Dresden eine Faust-Aufführung gesehen hatte, war er dem Theater verfallen, kannte bald den ganzen "Faust" auswendig und hatte ihn immer bei sich. Er schrieb heimlich blutige Trauerspiele. Aber einmal auch - in seiner erzgebirgischen Heimat-Mundart - einen Einakter: "An der Grenze". Diesen reichte er dem Direktor des Geraer Hoftheaters ein, das damals auch das Theater in Annaberg bespielte. Und, siehe da, das Stück wurde angenommen, der Dichter zur Hauptprobe eingeladen; und da kam der 19jährige Jüngling, der Primaner, stellte sich vor, und der Direktor rief verblüfft:

"Wie alt sind Sie denn eigentlich, junger Freund? Ich habe Sie mir mit einem langen Vollbart vorgestellt!"

Als Student - der Vater, Arzt, bestand auf richtigem Studium - kam Ulbrich mit 22 Jahren zum erstenmal nach Weimar, verkehrte viel mit Schauspielern, wie Grube, Taghofer (das ist der Name des Mannes von Lil Dagover), Wilhelmi und anderen. Eines Nachts wurde es in dem romantischen Künstlerverein am Theaterplatz sehr spät, man kam heraus und Ulbrich sagte:

"Mein größter Wunsch ist, hier einmal Dramaturg zu werden."

Im Juni 1924 zog er als Generalintendant in das Weimarer Nationaltheater ein.

Die Weimaraner geben ihn jetzt nicht gern an uns Berliner ab. "Wer kommt nach ihm?", fragen sie. Und was das große Publikum nicht weiß, nur sein Mitarbeiterstab, das ist, daß er nie den Bonzen gespielt hat, sondern immer anerkennend und gerecht und von gutem Herzen gewesen ist. Manchmal kam ihm sein Amt hart an, Abbaumaßnahmen wurden ihm blutsauer. "Im übrigen ist er ein dolles Arbeitstier", sagt mir die Frau eines dortigen Künstlers, "und unter seiner Leitung wird rasend gearbeitet." Dann paßt er ja gut nach Berlin, denn hier ist das blutnötig; und hoffentlich hat er hier auch finanziell das Geschick wie in Weimar.

An sich ist das Theater in Berlin längst keine nationale Angelegenheit mehr, sondern etwas für alte Snobs und junge Schwärmer, die "ihren" Star sich servieren lassen wollen. "Du bist wohl verrückt?", würde der Durchschnittsberliner antworten, wenn man ihm zumutete, auch nur 3 Mark für eine Vorstellung auszugeben, in der nicht Werner Krauß oder Nini Theilade oder Paul Wegener oder Lotte Schöne oder Paul Heidemann, um von Albers nicht erst zu sprechen, auftreten.

Aber dieselben 3 Mark gibt er unbedenklich drei-, viermal hintereinander aus, um jetzt in die große Autoschau zu gehen, denn Technik ist nun mal Trumpf. Ich suche mir immer die erfahrungsgemäß leersten Tage aus, war also am Montag dort und - konnte mich manchmal kaum durchzwängen. Das eigne Auto (natürlich auf Stottern) ist doch heute jedermanns Traum. Wer ganz, ganz bescheiden ist und sich ein führerschein- und steuerfreies Goliath-Dreirad-Kabriolett kauft, das man beinahe in einer Pappschachtel mitnehmen kann, von dem aber schon 1200 allein in Berlin laufen, der weiß, daß er in diesem Ding mit seinem Fräulein Braut schneller und billiger als in der Bahn zum Freibad Wannsee fahren kann.

Wer ergiebiger zu stottern vermag, der sieht sich die vierrädrigen Leichtwagen an, die 1- bis 2-Liter-Wagen zwischen 20 und 40 Bremsstärken, die 1933 schon "alle Schikanen" haben, Frontantrieb, Schwingachsen, Schongang, Vierganggetriebe usw., darunter diesmal besonders der "N.A.G.-Voran" mit - man denke an diese Erleichterung - luftgekühltem Motor, oder die Erzeugnisse der Union, das sind die sächsischen Fabriken und die Wandererwerke, die besonders schöne moderne Exemplare herausgestellt haben. Geht man freilich traumverloren und - wie ich - ohne jede Kaufabsicht und Kaufmöglichkeit herum, nur um phantastisch zu genießen, was nie Wirklichkeit wird, so landet man natürlich unbewußt bei den großen Wagen alter Klasse, etwa bei einem Maybach oder Mercedes-Benz. Unter den letzteren ist mir als Urbild von Kraft und Schönheit der "S.S."-Dreisitzer-Reisewagen mit Rennmotor von 200 Pferdestärken aufgefallen. Ich hätte ihn gern gleich mitgenommen, nur kostet er leider 47 000 Mark.

Soweit die Wagen Volksverkehrsmittel sind, finden sie sicher auch diesmal befriedigenden Absatz. Schon das Heer der über Land reisenden "Vertreter" und die Geschäftsleute der Großstadt sparen Zeit und Geld, wenn sie einen Wagen haben. Und mit Leichtwagen scheint Deutschland an der Front zu marschieren.

Das Gros der Berliner Menschheit freilich kauft sich heute keinen Wagen, sondern stellt ihn eher ab; die Zahl der Autos und auch der - Fernsprechanschlüsse ist im letzten Jahre stark zurückgegangen. Man ist froh, wenn man Wohnung und Kleidung, also die Fassade, in Ordnung und sein Essen hat, um vom Trinken nicht erst zu reden. Der Bierverbrauch geht ja auch weiter zurück. Es ist selbstverständlich, daß die Franzosen heute viel mehr Alkohol als wir zu sich nehmen, obgleich sie früher die Bedürfnislosen waren, während wir "immer noch eins" tranken. Und mit dem Essen machen wir neue Versuche. Der gar nicht einmal billige Rohkost-Fimmel (ein Professor sagt: die Sucht, es den Affen nachzumachen) ist noch im Wachsen. Ich esse auch gern Krautsalat und dergleichen, aber im allgemeinen doch die richtige alte gemischte Kost. Begegnen sich da zwei Herren. Sagt der eine: "Weiß der Teufel, ich hab' immer so Magenschmerzen!" Sagt der andere: "Ach was, ist Ihre Frau auch auf Rohkost gekommen?"

Bei uns ist Rohkost schon aus einem Grunde ganz unmöglich. Ich komme oft sehr spät nach Hause. Und nun denke man sich, daß das ganze Essen inzwischen verwelkt wäre.
16. Februar 1933 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts