"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 16 - 18
15. Dezember 1932 bis 5. Januar 1933


16

Im leeren Drogenladen - Was alles am Bürgersteig gehandelt wird - Die Heilpillen - Aus der Praxis der Kosmetikerin - Elizabeth Arden - Im Pestalozzi-Fröbel-Haus.

Der jungen Frau in unserem Drogenladen steigt das Wasser in die Augen. Sie, die Eheverlassene, hat ihr kleines Kind und ihre alte Mutter zu erhalten. "Aber auch jetzt vor Weihnachten keine Käufer, nicht einmal für Seife, eher noch weniger als sonst", klagt sie, "sehen Sie nur draußen hin, dort stehen die Leute, ist auf Karren und in Weihnachtsbuden alles zu haben!"

Richtig. Sogar an der Tauentzienstraße steht der Bord voll von Tischen. In einigen anderen Straßen ist wirklich Markt. In der Tauentzien werden Auto-Talismane feilgehalten, Seifenkartons, Parfüm, bewegliche Holztiere, Springclowns, Pferde mit rotierenden Schwänzen, Christbaumschmuck, Kinderballons, Schachteln Bonbons, Odol, Chlorodont, bunte Halsketten, chinesische Kunstringe als Geduldspiel, Taschentücher, Füllfederhalter, auf Samt gemalte Kissenplatten, Radiometer, Schlüsseltaschen, Bilder, wollene Schottenschals, Zinnsoldaten, Herrenschlipse, Reisedecken, Hosenträger, Stoffhunde, allerlei sonst noch.

Da gibt es genug Geschenke für Mann und Weib und Kind; Taschentücher schon von 10, Herrenschlipse schon von 60 Pfennigen an. Daß man so etwas nur zum Gutaussehen für einen einzigen Tag kauft, ist klar.

Billig, billig. In einer Nebenstraße hat ein Zauberkünstler Zulauf, der die Tricks selbst vormacht.

"Ja, meine Herrschaften, und dabei stehe ich im Freien, Sie gucken mir vorn herein, von den Seiten, über die Schulter; aber nun stellen Sie sich erst vor, wie grandios alles klappen muß, wenn Sie selber an der Wand stehen und nur vor Ihnen auf Sessel und Sofa das Fräulein Braut und die zukünftigen Schwiegereltern sitzen, womöglich noch andere, denen Sie durch die Lappen gegangen sind und die sich über Ihre gewandten Zauberkunststücke nun schwarz ärgern!"

Jeder Trick, der mit den Tüchern und den Streichholzbüchschen oder der mit den weißen Stäbchen, die plötzlich schwarze Ringe bekommen, kostet nur 10 Pfennige.

Daneben steht ein Mann, der empfiehlt Pillen zu einer Mark die Dose:

"Sehnse, kein Schwindel, denn dadruff steht: Jesetzlich jeschitzt! Bitte alle mal hersehen, det et stimmt. So'ne Pillen heilen alles. Det is keene Medezin, det is direkt Natur, von Buljarien, wo die Leute über 100 Jahre wer'n. Die Pillen - bitte, jeder kann eene vasuchen, schmeckt wie Bonbon - heilen alles, Bronchitis, Asthma, Lungenentzündung, Darm-, Leber-, Nierenleiden, Rheumatismus. Für leichte Fälle eene Dose, für schwere drei. Besser so jesund wer'n, als in die Heilstätte nach Beelitz jehn. Da hängt det Fleesch an de Wand und die Knochen liejen im Bett, aber raus kommen die nich mehr. Wat in die Pillen drin is? Knoblauchsaft. Bestes natierliches Heilmittel, un nich weiß oder rosa, sonnern blau, det is de beste buljarische Sorte. Vor 1 Mark Jesundheet, mehr kannste nich valangen. Ooch wenn eina so hustet - öhö, öhö - un de Brust tut ihn weh, imma ran, unsere Pillen gelutscht! Sin jesetzlich jeschitzt, ha' ick jesagt. Det sin die Aptheker aba ooch, bei den könnse 5 Mark for denselben Zimt bezahlen!"

Ich würde mich nicht wundern, wenn einer aus dem kleinsten deutschen Dorfe mir schriebe, so dumm sei man bei ihm daheim nicht. Das glaube ich gerne. Die Dümmsten aus den kleinen Dörfern werden oft nach Berlin geschickt und stehen dann bei den Heilpillen Maulaffen feil oder kaufen sie gar. Die wenigen Klugen, die herkommen, fallen nicht so auf.

Sie werden nach mancherlei Rückschlägen manchmal ganz unverhofft arrivierte Leute. Man muß nur die Schwächen der Menschen zu packen wissen.

Augenblicklich ist es die Schönheit. Also da kenne ich eine Dame, die Bildung, pädagogisches Talent besitzt und daher Lehrerin an der staatlichen Webeschule werden wollte. Damit klappte es nicht. Also machte sie nach eiserner Arbeit ihr Examen als Schneidermeisterin und hatte sehr bald ein Atelier mit 14 Lehrmädchen. Auf einmal, vor zwei Jahren, taucht besagte Dame im Hotel Atlantic in Heringsdorf an der Ostsee als Schönheitshelferin auf, hat noch jetzt ihren Sommerladen dort im Bade, aber ihre feste Bleibe in Berlin als Kosmetikerin und Medicochemikerin. Als Schneiderin, sagt sie, arbeite sie doch nur für die Steuern; hier habe sie mehr Freiheit, etwas zu erwerben. "Jugila" - ihren eigenen Namen will ich verschweigen - nennt sie ihren Schönheitspflegesalon in der Marburger Straße 9 und hat vorläufig noch billigere Preise als eine Primanerin, die Privatstunden gibt. Sie selbst steht irgendwo zwischen 40 und 50 Jahren, sieht aber dank ihren Künsten wirklich gut und jugendlich aus, mindestens 10 Jahre jünger.

Leider darf man beim Werden der Schönheit nicht zusehen, wenn man ein fremder Mann ist. Also eine mir bekannte Dame hat mir das erste Auskundschaften überlassen und sich dann selber in den Stuhl gesetzt, zu einer ganz anderen Tageszeit. Es war, wie sie sagt, sehr wohlig, so betan zu werden. Zuerst Klopfmassage auf das mit Creme eingefettete Gesicht, dann Überziehen mit Sauerstoffpaste, bis sie nach 30 Minuten völlig erstarrt ist, warme Abspülung, abwechselnd heiße und kalte Packungen, wieder Klopfmassage und dann Abreibung mit Kampfer. Es gibt auch noch Radium-, Herba-, Poho- und sonstige Packungen, wenn man sie in anderen Fällen braucht, auch Moor und Fango, um die Haut wieder jung, elastisch, schön, unfaltig zu machen; es werden auch mit einer Pinzette die Augenbrauen gezupft, so daß sie nicht eckig wuchern, sondern in einem schmalen, geschwungenen Bogen dastehen, und wer es durchaus will, kann vor dem Abgehen noch sein Rouge auf Wangen und Lippen bekommen.

Nicht alle wollen es mehr, obwohl täglich mehr und mehr Damen zu den Kosmetikerinnen und dazwischen einmal auch zu dem Schönheitschirurgen gehen; die Kosmetikerin hat es an sich nur mit Gesicht und Händen zu tun. Schönheit, Schönheit ist alles. Schönheit erhält den Mann, den Freund, die Stellung. Das aufgefärbte Gesicht und die lackierten Fingernägel sind nicht schön, das wissen unsere Damen, sondern nur auffallend; aber was soll man machen, manch einer liebt es eben so, er liebt nicht seine Begleiterin, sondern will, selbst wenn es seine Gattin ist, nur mit ihr auffallen.

Zu meiner Bekannten kommt ein Mannequin, eine junge Vorführdame, und bittet verzweifelt um Hilfe: ihr winke endlich wieder eine Stellung, aber die Brust habe 3 Zentimeter zu viel Umfang!

Ja, mein liebes Kind, "sofort" kann da nur der Schönheitschirurg helfen, nicht die Kosmetikerin.

Ich bin in dem größten kosmetischen Institut gewesen, der Berliner Filiale von Elizabeth Arden; allein diese Filiale hat 48 Angestellte. Der Wahlspruch der Arden, die übrigens ein abgesagter Feind des Puderns, Schminkens, Lackierens ist, lautet:

"Gesund und gepflegt, aber nicht künstlich aussehen!"

Sie hat jetzt das ganze Haus Budapester Straße Nr.20. Wer da hereingeht, der bekommt seine Packungen bis zu den teuersten und berühmtesten, der Venezianischen oder vor allem der Wiener Maske, der wird massiert, gekremt und was es sonst noch gibt, aber er entgeht vor allem einem nicht, dem regelmäßigen Turnen. Durch die Maske, deren Zusammensetzung geheim bleibt, strömt Diathermie. Auch vorzeitig ergraute Haare werden nicht gefärbt, sondern behandelt. Jedenfalls habe ich eine Dame gesehen, ich weiß nur nicht mehr, ob hier oder bei der anderen Kosmetikerin, die war 68 Jahre alt und sah heute erst wie 40 aus, ohne getüncht zu sein oder gerade weil sie das immer verschmäht, allerdings schon als junge Frau eine wunderbar zarten, weißen Teint gehabt hatte; mit Hilfe der Kosmetikerin hat sie sich nun den Teint fast faltenlos erhalten.

Herrschaften: es gibt ja - unter den noch zahlungsfähigen Ständen - in Berlin überhaupt fast keine alten Frauen!

Nur ist die Grundlage das Schönheitsturnen. Hin und wieder verschickt das Institut Elizabeth Arden, dem in Newyork, in London, in Paris, in Berlin Zehntausende die Erhaltung ihrer Berufstätigkeit oder die Erhaltung ihrer Ehe verdanken, kleine Fragekärtchen als Reklame. Welche Schäden die Damen verbessern möchten: Falten, vergrößerte Poren, Mitesser, Doppelkinn, Säckchen unter den Augen, dünne Wimpern, ergrauendes Haar, Sommersprossen, glanzlosen Blick usw. Es gab ein Heer von Korrespondenz daraufhin und neue Geschäftsbeziehungen. Nur in einem Falle hat nicht die Dame geantwortet, sondern - ihr Mann:

"Für die richtigen Proportionen meiner Frau bin ich da und nicht Elizabeth Arden!", schrieb er.

Ich fürchte nur, daß bei dieser Laienbehandlung die Proportionen ein wenig ins Weite gehe. Manchmal hat man überhaupt Lust, nicht korrigierte ältere Schönheit, so ästhetisch sie im Salon wirken mag, zu sehen, sondern wirklich frischem jungem Leben gegenüberzustehen. Im vorigen Jahre habe ich die "Kulinarische Weltreise" der Pestalozzi-Fröbel-Schule in Schöneberg mitgemacht, wo auch kurz vor Weihnachten alles in dulci jubilo umgekrempelt war, und nun lockte es mich wieder. Bitte: 30 Pfennige Eintritt! Mehr nicht. Und der gesamte Überschuß, im vorigen Jahre 1900 Mark, kommt armen Schülerinnen zugute, die da z.B. für 10 Pfennige ein reichliches gutes Mittagessen erhalten.

In diesem Jahre war es, 3 Tage lang, nur eine Reise durch Berlin. Alles knusprig, nicht nur die vielen selbstgemachten Kuchen, sondern auch die Mädel, von denen viele in Schutzmannsuniform den Verkehr regeln. Im Handumdrehen bin ich zu Bahnhof Zoo geschleust, wo selbstverständlich an der Normaluhr der ewige Jüngling mit einem Sträußchen in der Hand wartet. Dann gleich im Galopp hinauf zum Funkturmrestaurant, in dem es erstaunliche, auch im Hause (wirklich nicht in der Traube oder bei Kempinski) hergestellte feine Gerichte gibt, die zum Schmausen einladen, obwohl die Warnung: "Hier Ausgang nur mit Fallschirm!" etwas zurückhaltend wirkt. Hier ist alles hergerichtet und wird man von 18 Abiturientinnen bedient, die einen Jahreskurs in Hauswirtschaft unter der Gewerbelehrerin Frentzel durchmachen, aber auch anderswo ist es ähnlich fidel. Darunter im - allerdings nicht alkoholischen - Keller von Lutter & Wegener, vor dem E.Th.A.Hoffmann persönlich die Honneurs macht, und vor der Konditorei von Kranzler. die uns noch biedermeierisch kommt.

Dazwischen gibt es lange Ladenstraßen, in denen alles, vom Hemdhöschen bis zur Tischdecke, von der Schwedenplatte bis zu den Pralinen, ausgestellt ist, was das Pestalozzi-Fröbel-Haus im Lehrgang produziert. Das ulkige Museum mit der ulkigen Führung und alles übrige habe ich genossen und dann noch einen Blick auf die Charlottenburger Heerstraße geworfen, auf der die bekannte Gruppe von vier ausgezogenen - das Wort "nackten" paßt hier nicht so gut - Läufern dargestellt ist, hier mit der Unterschrift auf dem Sockel:

"Die letzten Steuerzahler verlassen Berlin!"

Es ist schön, wenn man so im Durchschnitt 18 Jahre alt ist und mit noch so blanken Augen das Leben ansehen kann. Auch im Zoo, wo der "vom Amtsgericht ausgebrütete Kuckuck" (die Gerichtsvollzieher-Siegelmarke) und sonstiges Erstaunliche hinter Gittern zu sehen war, habe ich an der Schaffensfreude der Jungmädel meinen Spaß gehabt. Schönen Dank und frohe Ferien!
15. Dezember 1932 (Donnerstag)


17

Weihnachtsgesichter oder nicht ? - Das Bübchen - Ein Wunder des Helfertums - Rumpelstilzchen spart sich das Fest - Moderne Pfefferkuchenpoesie - Das Kind als Sammler - Die Serienbilderbörse auf dem Bayerischen Platz.

Am grünen Tisch kann man sich allerlei Feuilletons aus diesen Weihnachtstagen erdenken, von dem frohen Schimmer in allen Gesichtern, von den an den Schaufenstern plattgedrückten Kindernäschen, von dem heimlich bastelnden Vater und dergleichen. Aber in dem hetzenden Getriebe der Weltstadt selbst entdeckt man solche Feuilletons nicht oder nur sehr selten. Ein paarmal sah ich wirkliches Aufleuchten: wenn man einem Menschen ohne Tätigkeit eine Stellung oder auch nur etwas Gelegenheitsarbeit besorgen konnte. Da drückt mir ein ganz junger Ehemann froh die Hand, weil er für die ersten wieder selbst verdienten 15 Mark sich seinen Wintermantel aus der Pfandleihe hat zurückholen können, und sagt mir:

"Ach, eigentlich hält uns nur unser kleiner Säugling am Leben. Wir sind schwach, wir hätten schon längst den Gasschlauch genommen, aber das Bübchen hat die Kraft, uns davon abzuhalten. Sehen wir das Kind an, dann zerflattern die Sorgen wie Nebel. Das süße Jungchen ist unser Familienerhalter."

Die Möglichkeit, zu helfen oder zu vermitteln, wird für unsereins immer geringer. Die Zahl der Notschreie aber wächst. Und jedermann richtet den Ruf nach Berlin, als gäbe es da immer noch Hilfe, wenn auch draußen im Lande das Erwerbsleben erstirbt. Die Bittbriefe eines Jahres kann ich nun schon nach Tausenden bündeln, und ich weiß nicht, ob demnächst auch nur jeder tausendste Fall erledigt werden kann, so wie der Schreiber es wünscht. Nicht mehr ein Viertel kann man überhaupt noch beantworten. Manchmal aber ist es eine so absonderliche Geschichte, daß sie eine um und um rührt und daß man sie weitererzählen möchte.

Daß Bitten von Leuten an mich gelangen, die im Felde mir unterstanden, kommt natürlich häufig vor, dasselbe erlebt fast jeder ehemalige Offizier, aber daß umgekehrt ein paar Soldaten sich zusammentun, die letzten drei Überlebenden einer einst kriegsstark ausgezogenen Batterie, die heute zufällig alle drei in Königsberg in Ostpreußen leben, und daß diese drei für ihren letzten pensionslos und kümmerlich in einem Berliner Vorort lebenden Hauptmann (der eine von den dreien ist zudem blind und hat nur eine kleine Rente) sich Mark um Mark vom Munde absparen und Mark um Mark auch anderswo erbitten, um den Sohn dieses Hauptmanns studieren zu lassen, das ist so rührend und einzigartig, daß die Kenntnis davon mir dieses ganze Weihnachtsfest vergoldet. Wieviel Liebes und Gutes erzählen die drei von ihrem Häuptling! Ein paar Semester haben sie seinen Jungen schon durchgebracht, können aber nun nicht mehr weiter. Der, der es mir schreibt, fragt mich, ob ich nicht mit ein paar Mark monatlich der Notgemeinschaft beitreten möchte. Selbstverständlich, sofort, obwohl ich vielfach ähnliches regelmäßiges Mitglied bin; und ich schreibe dem wackeren Unteroffizier (nicht wahr, das darf ich doch?), daß sicher noch der eine oder andere Leser in diesem Sonderfall dasselbe Gefühl wie ich haben und mir sagen wird, etwas, wenn auch nur einen Taler monatlich, schaffe er auch noch regelmäßig dazu.

Der erste, an den die drei sich wandten, war der Kaiser. Der gibt von seinem Einkommen gewiß prozentual schon mehr als irgendein anderer Deutscher so weg, kann auch kaum die tausendste Bitte erfüllen, hat aber jetzt das rückständige Kolleggeld und im laufenden Semester das Mittagbrot für den begabten jungen Menschen bezahlt. Da blitzen nur zwei Gedanken auf: "Deutschland, Deutschland! Und ein Soldatenjunge!", und dann muß die Schatullverwaltung wieder schwitzen und feststellen, ob man nicht noch irgendwo etwas sparen und dafür irgendwo etwas geben kann.

Diesmal bin auch ich für das Sparen, zum erstenmal in meinem Leben fällt das Christfest aus, die Kinder bekommen nichts geschenkt, und auch wir Eltern beschenken uns nicht.

Wir könnten sowieso nicht alle beisammen sein wie sonst. Das eine Mädel hat eben im früheren Deutschostafrika geheiratet, der eine Junge ist auf der Nordsee, für die anderen Kinder in Deutschland verschlängen unter den heutigen Verhältnissen schon die Reisekosten zu viel. Das Ersparte kommt zur Hälfte ganz Verarmten und zur Hälfte - mir selber zugute, denn ich soll und muß, sagt der Arzt, auf eine gute Woche in den Schnee, nachdem ich monatelang - auch sonntags - 14 bis 18 Stunden täglich gearbeitet habe.

So fehlt denn auch meinem Gesicht diesmal das Erwartungsfrohe beim Blick in die Schaufenster. Man denkt nicht mehr daran, was man diesem oder jenem stiften könnte. Nur das handwerksmäßig geschulte Auge stellt in Sekunden fest, was sich gewandelt hat. Also auf den Weihnachtsmärkten hat es diesmal merkwürdigerweise nirgends die vielen lieben Sächelchen gegeben, die früher die kleinen Mädchen sich als "Ergänzung" zur Puppenküche wünschten, zum einen Christfest dieses, zum anderen jenes; Kohleneimerchen, Kaffeemühlchen, Täßchen, Gäbelchen, Messerchen, Plättbrettchen, alles Artikel für wenige Pfennige oder Groschen. Und dann: die Pfefferkucheninschriften, die früher nur herzig-weihnachtlich waren, sind im Wechsel begriffen. Daß auf dem einen Pfefferkuchen steht:

"Dieser Kuchen ist nicht groß,
Denn auch ich bin arbeitslos!"

gehört noch zu dem Rührenden, obwohl so etwas früher nicht bekannt war. Im übrigen aber gab es in Berlin zu Weihnachten zum erstenmal in diesem Jahr Inschriften von dem derben Humor der Münchener Oktoberfestwiese, ganz moderne Inschriften auch mit "Wochenende" in Gänsefüßchen, ganz moralinfreie, und dazu, das ist mir besonders aufgefallen, viele, die von einem Sinken der Achtung vor dem weiblichen Geschlecht zeugen, so die Inschrift:

"Ein Mann, ein Wort;
Eine Frau, ein Wörterbuch."

Es gibt noch allerhand andere Verschen, die den alten Pfefferkuchenrat rechtfertigen: "Mensch, sei helle, bleib' Junggeselle!" Die Pfefferkuchenindustrie des weihnachtlichen Berlin geht darauf aus, daß es nicht gut sei, daß der Mensch allein sei, aber wer sich zu fest binde, der falle herein, denn die jungen Mädchen selber sähen heute in häufiger Abwechslung nichts Besonderes.

Das alles sind Dinge, über die heute das Jungvolk beider Geschlechter schon eher nachdenkt als früher, aber bis es soweit ist, hat es sogar für das geschenkearme Weihnachtsfest selber in der Großstadt nicht allzuviel übrig, sondern denkt mit altklugem Ernst an die Zukunft und fröhnt dazwischen nur einer Leidenschaft: dem Sammeln.

Von 50 Sextanern sammeln bestimmt 45 irgend etwas.

Selten nur noch Marken; das ist heute zu teuer. Auch Steinsammlungen und Schmetterlingssammlungen sind so gut wie ausgestorben. Ich hatte als Junge sogar eine Münzensammlung, in der ein Denar Alexanders des Großen und ein Siegestaler von Fehrbellin mein besonderer Stolz waren. Das alles ist heute nichts mehr für Kinder. Sondern - sie sammeln Serienbilder aus Zigarettenschachteln. Fast alle Fabriken haben Serienbilder: Abdulla Autos, Lloyd Kriegsschiffe, Garáty Flugzeuge, Klub Schönheitsköniginnen, Josetti Filmkünstler, Lande Schauspieler oder Blumen in Seide, die Firma Oberst bringt Uniformen der alten Armee, andere Trachtenbilder, Karikaturen; die Serien umfassen, soviel ich weiß, meist 100 Bilder, gehen aber bis zu 216 hinauf, und für jede Serie ist ein kleines Album für eine Mark käuflich, wo man die Bilder Nummer für Nummer einklebt.

Sie stammen natürlich nicht aus der Packung "selbstgerauchter" Zigaretten. Die Buben sammeln im Alter von 6 bis 12 Jahren. Familienmitglieder (nicht zu knapp die große Schwester) und Väter rauchen die entsprechenden Marken. Wer nun fünfmal hintereinander zu Hause dasselbe Bild, etwa "Spätburgund" in der Trachtenserie, erhält, der möchte dafür natürlich Bilder eintauschen, die er noch nicht hat, und versucht dies in der Schule. Das ist da mitunter so arg, daß es verboten werden mußte. Die Kinder hatten für nichts anderes mehr Sinn. Auf dem Katheder dozierte der Studienrat, draußen tobte der Berliner Lärm, die Schüler aber dachten nur an ihre Tauschgeschäfte und kalkulierten, ob sie für eine langgesuchte Nummer - gewöhnlich wird nur 1:1 getauscht - am Ende doch zwei andere geben sollten.

Die Jungens interessierte alles Technische und Militärische. Verdecke ihnen ein Bild, so daß nur ein Eckchen zu sehen ist, so sagen sie dir trotzdem sofort: "Kreuzer Königsberg" oder "Austro-Daimler-Kabriolet" oder "Garde-Pioniere" oder "B.M.W. 500". Die Mädel - auch Backfische noch - sammeln Filmdarsteller und Schönheitsköniginnen und kunstseidene Blumen, welch letztere geschmacklose Produkte auf Mantelkragen, Kissen, Decken oder gar - das ist schon Greuel über Greuel - auf Kavaliertaschentücher, sogenannte Poussierwimpel, genäht werden.

Ist das Tauschen und Kaufen - für einen Kreisel, ein altes Taschenmesser, einen Bleistift, ein selbstgemachtes Heft, um von Bargeld nicht zu sprechen - in der Schule verboten, so macht man es vor ihr. Oder man geht zu einer Zigarettenbilderbörse. Eine befindet sich auf dem Bayerischen Platz, am Brunnen. Da stehen seit Monaten 4 oder 5 - sagen wir - Makler, Arbeitslose von etwa 25 Jahren mit ihren Koffern von Serienbildern, sortiert und gefüllt. Sie tauschen 1:2, machen also immer ein hundertprozentiges Geschäft. Oder sie verkaufen das gewünschte Bild, wenn sie es haben, zu 3 Pfennigen das Stück.

Auch das sozusagen Börsenpublikum unter sich steht und handelt in Gruppen. Alles in tiefem Ernst, ganz bei der Sache. Eines ist ja unsere Jugend viel mehr als alle ihre Vorgänger: geschäftlich eingestellt. Mitunter standen bis zu 150 Buben und Mädel auf den beiden Treppen zu Seiten des Brunnens, so daß die Polizei genötigt war, den Verkehr aufzulockern.

Auf ein paar Minuten habe ich mir den Betrieb da mal angesehen. Es sind größtenteils Buben und Mädel aus guten Familien, aber hier sprechen sie nicht hochdeutsch, hier berlinern sie. Eine junge Dame ist mit mir. "Freiln, wat sammelnse?", fragt sie ein Junge. "Lloyd!", sagt sie. Und er: "Wat hamse denn?" Darauf sie: "Den Meteor, Kreuzer Emden, Linienschiff Hessen." Da lacht er spöttisch: "Mehr nich? Hörnse uff, sa ich Ihnen!" Nebenan bietet ein vielleicht 12jähriges Mädchen für die ihr noch fehlenden 13 "seidenen Schauspieler", nach denen sie schon lange vergeblich angelt, eine ganze Serie Flugzeugführer. Meist haben die Kinder alle fehlenden Nummer im Kopf. Wenn Englisch und Geschichte und Mathematik ebensogut säßen, wären es Musterschüler.

"Ick sammle!"

Wer das von sich sagen kann, der gehört zur Menschheit von Klasse. Was, das wollen die Eltern nicht begreifen? Huch nee, schon das, was man dabei spielend lernt! Und: wenn man auch sonst alles herumliegen läßt, das Sammeln macht ordentlich. Jede Serie gebündelt. Dann in die Schachtel, die Schachteln in den Kasten. Und nun erst die Buchführung! In den Serienlisten alles richtig angekreuzt: ein Blick, da hat man seine Bilanz. Ich wünsche allen Kindern Komplettierung ihrer Serien, dann ist Weihnachten diesmal herrlich.
22. Dezember 1932 (Donnerstag)


18

Ohne Christbaum - In der internationalen Winterfrische - Inventur-Ausverkauf - Kein Interesse für Gerhart Hauptmann - Vom kommenden Presseball - F. P. 1 antwortet nicht - Immer noch Humor.

Zufällig kommt mir in der kurzen Winterfrische im Hochgebirge eine Berliner Zeitung einmal in die Hände. Na, was ist zu Hause los? Und ich lese: 3 Tote bei politischen Schlägereien, Behandlung von über 300 Verletzten auf den Rettungsstationen, 11 Selbstmorde aus wirtschaftlicher Not, dabei 18 Theaterpremièren. Seitenweis ist nur von Verbrechen und Elend die Rede. Wenn unsere kaufmännischen und gewerblichen Unternehmen an sämtlichen Steuern und Abgaben 65,4 Prozent des Ertrages (in den Vereinigten Staaten 2,2, in England 9, in Italien 22,7 Prozent) abliefern müssen, ist das Ankurbeln natürlich schwer. So weit hat der Wahnsinn unserer Politik der letzten 14 Jahre uns gebracht. Dann wurden ihre Macher im vorigen Sommer weggejagt. Gott sei Dank, endlich. Nun hätte eine Harzburger Front etwas schaffen können. Aber . . .

Gott sei Dank, zu Weihnachten und zu Neujahr bin ich nicht in Berlin. Am Tage knirscht der Schnee, brennt die Sonne, in der Nacht funkelt die Sternenwelt. Ich starre aus dem dunkeln Hotelzimmer am Heiligabend zu diesem funkelnden Himmel empor. Aber das erstemal im Leben ohne Christbaum - nein, das tue ich nicht wieder. Ach Gott, wäre ich doch daheim und in Berlin!

Natürlich, unten im Hotelsaal mag irgendein Allerweltsbaum erstrahlen. Da wird eine Bescherung für Ethel Blackstone, Ruth Goldberger, Ettore Manzoni, Maurice Cahen und die übrigen Kinder der Hotelgäste veranstaltet. Ich will nicht hin. Daheim, ach daheim! Nur da ist Weihnacht, nicht hier in der internationalen Gesellschaft.

Links von mir im Speisesaal sitzt täglich ein junges nettes Ehepaar, der Baron de Ferraris-Salzano aus Neapel, rechts Herr Foutscheng Liou mit europäischer Frau und dem Halbbluttöchterchen von etwa 13 Jahren, einem ganz herzigen Geschöpf; er ist irgend was an der chinesischen Botschaft in Paris. Vor mir der Justizrat Dr. Jaffe aus Berlin, eine Anwaltskanone, dessen Frau die größten Schrankkoffer mithat. Weiter der Oberpräsident v.Halfen aus Stettin, Herr und Frau Pedersen aus Kopenhagen, Professor Schwimming mit seiner goldblonden Frau aus Wannsee, dann eine reiche Geschäftsfrau aus Straßburg mit ihrer erwachsenen Tochter und vor allem viele Holländer, die nächst den Deutschen ja die Reiselustigsten sind, die Engländer prozentual weit hinter sich gelassen haben. Das heißt: sie - sprechen holländisch. Einer von ihnen sieht Judko Barmat ähnlich. Ein anderer kristallisiert sich an den Nebentisch heran und sagt:

"Wir werden hier bald eine einzige große Familie sein."

Natürlich. Diese Familie ist überall da. Und in der Konditorei trifft man Bronislaw Hubermann, den berühmten Geiger; und auf der Ortsstraße oder im Embassy begegnet man dem rumänischen Minister Titulescu oder dem Filmheros Harald Lloyd oder der Tochter des Herzogs von Devonshire oder dem Weltfliegerpaar Mollison (sie haben gerade ihre erste Skistunde gehabt) oder Suzanne Lenglen, die vom Tennis - eigentlich ist sie schon zu alt dazu - zum Kunsteislauf wechselt. Was gehen einen alle diese Leute eigentlich an? Viele von ihnen machen nur "Betrieb" und dabei die Nacht zum Tage. Ein Engländer, den ich in 2550 Meter Höhe treffe (18 Grad Kälte im Schatten, 35 Grad Wärme in der Sonne), richtet sich zur Talfahrt und sagt, man sei "mentally intoxicated", in einem ewigen Rauschzustand in dieser Hochgebirgsnatur. Weiß schon, weiß schon. Er ist zum Nachmittagstee bei einer Dame aus dem bayrischen Viertel eingeladen, die im Pyjama und in Sandalen und mit krebsroten Zehennägeln empfängt. Trotz des Verkehrsrückganges gegen das vorige Jahr ist in unserem Ort die Belegschaft noch gewachsen; denn alles drängt hierher, weil es fast der einzige Platz in Mitteleuropa ist, der reichlich Schnee hat.

Das wird fleißig ausgenutzt. In der Klinik werden täglich rund vier Knochenbrüche behandelt. Wohl dem, bei dem es nur der Arm ist, so daß er, sobald er bandagiert ist, wenigstens noch spazieren gehen kann! Mancher Gatte lernt da Zofe spielen. Er kann in 30 Sekunden eine Frau ausziehen, selbstverständlich, aber sie anzuziehen, wenn ihr rechter Arm als Klotz in der Binde hängt, das nimmt, vom Anziehen und Anknacken der Strümpfe angefangen, Stunden in Anspruch.

Nun ja, so etwas kommt vor. Aber man achtet nicht viel darauf. Die Höhenluft ist so wunderbar, die roten Blutkörperchen mehren sich, alles fühlt sich wohl, auch abends beim letzten Cocktail, bis es heißt:

Da sprach der Scheich zum Emir:
Jetzt san mer vull, jetzt gehn mir!

Es ist jammerschade, daß die Mittelgebirge Deutschlands diesmal zwischen den Jahren so schneearm waren, daß Skier oder Rodel kaum irgendwo gebraucht werden konnten, die wahre Winterfreude also ausblieb. Nach dem nächsten Schneefall sause ich mal über den Sonntag ins sächsische Erzgebirge. Ein solcher Wintertag ist so viel wert wie eine Woche Sommerferien. Bloß hinaus aus Berlin muß man, hinaus, hinaus, mal weg vom Schreibtisch, den Körper wieder in Schwung bringen. Wenn man sich nur nicht so schämte! Wo Millionen froh wären, wenn sie durch ihrer Hände Arbeit sich ihr Brot verdienen könnten. Aber dagegen hilft der Verzicht des einzelnen auf den Wintersport gar nichts, macht nur wieder die Leute in den Gebirgsorten brotlos. Nur die Umwandlung unserer ganzen Politik kann uns helfen, nur - man muß es immer wiederholen - das Harzburger Programm der gemeinsamen Front von Nationalsozialisten, Deutschnationalen, Stahlhelmern, nicht das Parlamenteln.

Kommt man wieder über die Grenze und heim nach Berlin, so ist erneut der ganze Jammer da. Zwar der ungeheure Andrang zu den Inventurausverkäufen blendet. Aber welcher Schund und welche Preise! Man kann in diesem Januar 1933 eine Dame von Kopf zu Fuß für 14,35 Mark einkleiden: Wäsche, Kleid, Mantel, Hut, Handschuhe, Tasche. Das Wühlen und das Stieren ist alle Jahre dasselbe. Kleiner Mann, was nun? Kleidung, Wohnung, Essen, für nichts anderes ist mehr Interesse da. Wenn die Intellektuaille uns Kulturinteressen vormimt, so ist das Mumpitz.

Mit Mühe hat man im Goethejahr 1932 Ende Dezember eine "Faust"-Aufführung im Staatstheater ermöglicht und dadurch Goethe geschändet.

Man hat außerdem das ganze Jahr hindurch im Frack Gerhart Hauptmann gefeiert, wenn man zu den Verpflichteten gehörte. Aber das Volk? Wir haben jetzt, nach Breslau, vier Wochen eine Gerhart-Hauptmann-Ausstellung in Berlin gehabt. In diesen vier Wochen waren von den 4 000 000 Berlinern im ganzen 989 da, davon 500 hinkommandierte Schulkinder und 300 Freibillettler, also keine 200 zahlenden Besucher. Nur das offizielle Ruhmesgemüse ist bei Hauptmann abgeladen worden, er hat die Adlerplakette oder sonstwas bekommen, aber das Volk kümmert sich um ihn keinen Deut - notabene so wie er keinen Deut von dem nationalen Verlangen des Volkes empfindet, schon 1913 bei der Jahrhundertfeier völlig versagte, 1918 in einem blöden Aufruf für die Revolution warb und danach bei der Goethefeier in Frankfurt sich zusammen mit Fritz Ebert photographieren ließ. Laßt die Toten ihre Toten begraben . . .

Natürlich ist immer noch "was los" in Berlin. Es werden auch noch immer neue Bars gegründet, während einzelne große Hotels, so Exzelsior, diesmal zu Silvester überhaupt geschlossen hatten. Aber man kalkuliert vorsichtiger. Im vorigen Jahre hatte der Presseball, "der" Ball Berlins, nur noch ein Drittel der sonstigen Besucherzahl. Dafür kostet diesmal der Eintritt nur 16 statt 25 Mark. Auch die Tombola wird vielleicht etwas popeliger sein. Aber solch ein Wohltätigkeitsfest ganz aufzugeben, wäre Unsinn. Geld muß unter die Leute, das ist die Hauptsache, denn wenn es nicht umgeht, hat keiner was. Und sicherlich wird der Presseball seinen Charakter behalten, selbst wenn man ein Auge zudrückt, falls ein exotischer Attaché mit Surrogattin erscheint. Man drückt ja überall die Augen zu. In den großen internationalen Hotels wird ja auch nicht mehr nach den Pässen gefragt.

Nur keine künstlichen Sorgen, sagen sich die Menschen. Wir haben so schon genug, wo nicht weniger als 13 Millionen Deutsche Rente oder Unterstützung beziehen. Wer wie ich noch Arbeit, aber arbeitslose Kinder hat, weiß, was das bedeutet.

Der Trost? Einmal eine Zigarette. Einmal ein Film.

Es bestand die Gefahr, daß auch der Film den Leuten zum Halse heraushinge, sie ärgerte, statt sie ein paar Stunden jeglicher Misere vergessen zu lassen. Man hatte sich die hübschen Lärvchen übergesehen. Man glaubte nicht mehr an die Milliardäre oder Balkanfürsten, die arme Mädchen heiraten. Man war der ewigen Tanzsoupers satt. Auch die Problemfilme mit der Primanerin,die Mutter wird, trafen nur auf gelichtete Reihen von Frauenrechtlerinnen. Selbst Fridericus zog nicht mehr so recht. Ebensowenig die Schlagerpossen mit ihrem galizischen Gedudel und ihrer Erotik. Kurz: es muß ganz neue Ware aufs Lager! Ich hoffe, daß dies der Ufa gelungen ist, und zwar mit ihrem "F.P.1 antwortet nicht". Natürlich komme ich mit meinen Randbemerkungen heute etwas post festum, denn die Uraufführung war am 23. Dezember, aber die fiel schon in meine Reisezeit; dafür habe ich jetzt den ersten Tag benutzt, um hinzugehen - und ich bin glücklich, daß ich da war, und werde, zum erstenmal in meinem Leben, einen Film, diesen Film, noch einmal mir gönnen. Schon um das stolze Gefühl auszukosten, daß so etwas nur Deutschland fertig bringt.

Ich meine nicht das Technische, nicht das Monumentale der einsam auf dem Ozean verankerten Metallinsel, nicht das Atemraubende der Geschehnisse, sondern die reine deutsche Seele, die hier ihre Schwingen - jetzt schon bald über alle Erdteile - entfaltet. Wer dieses Stück sieht, und sei es der verbissenste Franzose, den muß es würgen, wenn er jemals das Wort Boche ausgesprochen hat. Es ist das Hohelied der Verwegenheit und - Anständigkeit.

Der Weltflieger Ellissen - Hans Albers - rettet die versinkende Insel und ihre Besatzung und rettet dem Freunde, dem Kommandanten von "F.P.1", das geliebte Mädchen, das eigentlich ihm, Ellissen, sich versprochen hatte. Ein Lied also der Entsagung aus edelsten Motiven. Zum erstenmal in seinem Filmdasein ist Hans Albers nicht im gewöhnlichen Sinne der Draufgänger, der Sieger, findet er nicht das happy end mit einem an seine Brust hinsinkenden Mädel, sonder er opfert es seiner Freundschaft zu dem Kapitänleutnant a.D. Droste, den Paul Hartmann ausgezeichnet gibt. Neben Albers macht einem die dritte Hauptperson die größte Freude, das Mädchen, dargestellt von Sibylle Schmitz, von der ich schon erzählt habe, als ich im vergangenen Herbst bei dem Drehen des Films auf der Greifswalder Oie mit ihr geplaudert hatte. Das ist kein Püppchen. Sie trällert nicht, sie wirft nicht die Beine. Es ist eine Art Clärenore Stinnes. Man glaubt ihr, daß sie Mitinhaberin der großen Hamburger Werft ist, man glaubt ihr die Neigung zu allem Großen, wahrhaft Männlichen, zuerst zu Ellissen, der aber wieder in die weite Welt geht, dann zu Droste. Kein Mensch fragt sich, was sie wohl für Beine habe. Aber wenn sie "Droste!" haucht, ist man erschüttert. Noch nie war eine Frau so für das Mikrophon geboren.

Auch in diesem Film - in dem übrigens nicht einmal geküßt wird und zu dem trotzdem die Massen sich drängen - gibt es etliches Unwahrscheinliche, so, daß der leitende Ingenieur allein und ohne daß jemand etwas merkt, alle Propeller durchsägt, alles Treiböl abgelassen, die Flutschieber geöffnet hat. Einerlei. Es ist das herrlichste, was ich als Film gesehen habe.

Schön, daß ich wieder in Berlin bin. Trotz aller Not ist der Berliner Humor auch noch nicht ausgestorben. Vor einem Laden höre ich folgendes Zwiegespräch zweier Buben. "Mensch, du bist woll 'n Zwilling, wa?"   "Wieso denn?"   "Na, eener alleene kann doch nicht so dämlich sein!"
5. Januar 1933 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts