"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 4 - 5
29. September bis 6. Oktober 1932

[Die lfd. Nummer 6 fehlt im Original.]


4

Es spritzt - Großstadtjugend am Sonnabend - Nazi und Kozi - Vom Sammeln und den Autogrammbörsen - "Der 18. Oktober" im Schillertheater - Lilian Harveys Zukunft - Auf der Oie.

In Dordrecht, meinem holländischen Lieblingsstädtchen, habe ich vor langen Jahren erlebt, daß jedes Haus am Sonnabend auch außen, an der ganzen Fassade, abgewaschen wurde.

Ganz so sehr aufs Saubere sind wir nicht aus, obwohl wir mit 11 Kilo Seifenverbrauch für das Jahr und die Person jetzt sogar die Engländer übertroffen haben, die wegen ihres vielen Rußes und Schmutznebels besonders vieler Reinigung bedürfen. Immerhin: an Sonnabenden muß man auch in Berlin den Bürgersteig mit Vorsicht benutzen, denn immer wieder strömt nur so, aus einem mächtigen Schlauch auf den Hof gespritzt, Wasser zu den Torbögen heraus. Ein Fest für die Jugend, die in der Millionenstadt genau dieselbe ist wie in dem kleinsten Marktflecken. Erstens kann man in die kurze Strecke Rinnstein, bis der nahe nächste Gully das Wasser eilig in die Erde schlürft, feste mit den Stiefeln treten.

"Ehe Mutta schimpt, sindse wieda trocken!"

Zweitens kann man an einem Bindfaden ein leeres Streichholzbüchschen über die wilden Gewässer ziehen, das dann ein großer Amerikadampfer ist. Und drittens kann man natürlich die Elli bespritzen, die in ihrem neuen Hängerkleidchen sich so tut.

Bei so etwas, bei der jüngsten Großstadtjugend, könnte ich stundenlang zugucken, wenn ich die Zeit dazu hätte. Auch wenn die Jugend es knapp hat, auch wenn sie manchmal (aber das gibt es im allgemeinen nur bei den Großen) solchen Hunger hat, daß es ist, als wringe jemand mit harter Faust den schmerzenden Magen aus, spricht sie nicht von Weltkrise. Sie spielt eben; und beim Spielen - so wie beim Zugucken - ist man nur Optimist.

Die Einzelspiele mit dem Schiffchen oder dem Triesel - dem Holzkreisel - bleiben immer dieselben, aber in Gesellschaft wechselt es. Man kann sogar in dem großmächtigen Berlin, wenn man gewandt ist, in verkehrsarmen Zeiten auf den Straßen Ball spielen. Man kann Indianer und Farmer, man kann Räuber und Wanderer, man kann Emil und die Detektive spielen. In gewissen Vierteln, wo gerade ein Abbruchhaus oder sonst etwas nach Feierabend Unbenutztes steht, werden auch ganze Verbrecherfilme gespielt. Ein Pfiff: "Die Polente kommt." Und dann tun die anderen Jungens so, als hätten sie Gummiknüttel oder Pistolen. Natürlich hat in den letzten Jahren die Politik sich eingemischt. Am Wedding oder in Neukölln wurde mancher Dreikäsehoch zur Rolle eines Nazi verdonnert, worauf die übrigen als Kozi, als Kommunisten über ihn herfielen und ihn, platsch, in den Rinnstein schmissen.

In dieses Spiel ist in den letzten Wochen ein Riß gekommen. Bis zu den Kleinen hat es sich herumgesprochen, daß irgend etwas anders geworden ist, daß der Nazi sich als Bundesgenosse entpuppt hat; hoffentlich dauert diese Unsicherheit nicht zu lange, und es gibt wieder reinliche Scheidung zwischen Räuber und Gendarm oder zwischen Streiker und Nazi oder wie die Buben sich nennen.

Wenn sie und die Mädels etwas größer sind, so etwa 12 Jahre alt, dann läßt für eine kurze Zeit die Lust am Bewegungsspiel nach. Dann beginnt - die Sammelwut. Irgendeine alte schmutzige Briefmarke oder ein Puppenteller wechselt zum zwanzigsten Male den Besitzer. Buchstäblich alles wird getauscht. Zwei amerikanische Zinnsoldaten oder drei Inkas gegen eine halbe Stulle. Oder fünf Kugelfedern gegen eine altpreußische Groschenmarke.

Ist man noch älter als 12 Jahre, so kommen schon die Autogramme der Prominenten an die Reihe. Es gibt dafür richtige Börsen in der kleinen Welt, meist eine Konditorei - oder noch häufiger ihr Flur - in der Nähe einer Schule. Des Wunderläufers Nurmi Unterschrift unter einem Postkartenbild ist fast so selten wie eine blaue Mauritius, dafür sind zu Zeiten ganze Warenlager von Gesammeltem anderer Art geboten worden. Maxe Schmeling ist schon häufiger. Und dann die vielen Filmhelden und Filmdiven! Lilian Harvey notiert zur Zeit 10 Aristonzigaretten. Willy Fritsch ist überhaupt immer in der Hausse. Dagegen wird heute Henny Porten nur noch als Zugabe verwendet, wenn einem Jungen oder Mädchen daran liegt, mit einem anderen Tauschliebhaber "ins Geschäft zu kommen". Hans Albers - das habe ich in einer Seitenstraße der Tauentzienstraße in einer kleinen Konditorei festgestellt - ist sogar einen Negerkuß mit Schlagsahne wert.

Schade, daß man nicht einmal eine ganze Woche nur dieser Großstadtjugend nachpürschen und ein volles Berliner Allerlei über sie schreiben kann. Es geht einfach nicht. Und wenn man mit Armen und Beinen zu ihr hinpaddelt, man wird einfach wieder - von der Premièrenflut weggeschwemmt. Jeden, aber auch jeden Tag ein neues Stück oder die Neuinszenierung eines alten in einem Theater, dazu die Uraufführungen der Filme, die man vor allem mitmachen muß, weil sie in der Hauptsache das geistige Nahrungsmittel des Großstadtpublikums sind.

Im Sprechtheater habe ich in dieser mit stürmischem Angebot beginnenden Saison bisher nur einmal ein Stück erlebt, dessen Besuch sich lohnt. Im Schillertheater in Charlottenburg, das staatlich war und jetzt von einem Privatunternehmer gepachtet ist. Nur 5 Mark im vorderen Parkett, wo ein Opernglas überflüssig ist, für Berlin also sehr billig; im Abonnement sogar nur 2½ Mark. Also wenigstens diese eine Bühne ist von den wahnsinnigen Berliner auf vernünftige Provinzpreise gekommen. Oder Berliner Vorkriegspreise; das Klettern hat ja bei uns erst in der beginnenden Inflation angefangen, und der Abbau läßt noch heute zu wünschen übrig.

Also Schillertheater kann "man" sich allenfalls leisten. Ich meine die Kreise von Bildung ohne Besitz, die nach Erhebung hungern, am liebsten Klassisches sähen.

Ich habe zwar im Zuschauerraum auch eine Dame in Hosenrock und mit verwegener roter Samtkappe erblickt, die meisten machen aber doch den Eindruck, als seien sie Luisen-Bündlerinnen, kommen ganz schlicht hin oder bestenfalls in einem 1929 angefertigten Abendkleid. Die Herren selbstverständlich im Tages- oder Bureauanzug.

Da wird seit ungefähr zwei Wochen "Der 18.Oktober" von Dr. Walter Erich Schäfer gespielt, dem Stuttgarter Dramaturgen. Leider mit immer größeren Lücken im Zuschauerraum. Der Berliner ist so geschmacksverbildet oder, wenn wir nachsichtig sein wollen, nach hetzender wilder Arbeit so müde, daß er ein bißchen Gesang und Tanz und etwas Weibliches dabei haben will, nicht ein derart reines Männerstück, obwohl es so wunderbar den deutschen Ehrbegriff des soldatischen Menschen in Nietzsches Sinne verkörpert, daß die Damen im Zuschauerraum vor Begeisterung sich die Hände schier wundklatschen. Heute wird dieses herrliche Drama vom Vorabend der Schlacht bei Leipzig an 50 deutschen Bühnen gespielt. Aber es ist bezeichnend, daß Hagen, Regensburg, Plauen, Ulm die ersten Theater waren, die es nahmen, dann einzelne Großstädte und ganz zuletzt Berlin.

Das Buch, im Dieck-Verlag (Francksche Verlagshandlung) in Stuttgart bereits in dritter Auflage herausgekommen, liest sich ganz prachtvoll, ist schon für sich allein wohltätige Erschütterung. Es ist hochdeutsch geschrieben. Auf der Bühne bemühen sich die Darsteller, uns "ßieddeitsch" zu kommen, rollengemäß zu schwäbeln, wobei freilich mehr oder weniger ein berlinisches Oberbayrisch herauskommt, aber auch so ist es anheimelnd.

Die Berliner Aufführung ist gut. Ich wünschte nur, es käme eine monatelange Serie zustande. Und das Haus wäre immer pfropfenvoll. Aber das leidige Berlin hat ja im Vorjahr sogar die "Deutsche Nationalbühne" mit bester Dramenliteratur pleitegehen lassen. Es liegt also nicht nur an den Theaterpächtern, sondern auch am Publikum. Dieses nationale Publikum hat zu viel damit zu tun, sich gehässige politische Flugblätter oder noch Handfesteres um die Ohren zu schlagen. Alle Achtung, daß da immer wieder ein Theater versucht, uns idealistisch zu kommen. "Der 18.Oktober" könnte für uns das werden, was einst Kleists "Hermannsschlacht" war. Nur daß er bühnenwirksamer ist und mehr Theaterblut hat. Wieder die erste Schwalbe am winterkalten dunklen Berliner Theaterhimmel!

Ansonsten Filme, Filme, Filme. Manchmal zwei Uraufführungen an einem Tage.

Eine angenehme Enttäuschung ist "Der blonde Traum" mit Lilian Harvey, Willi Fritsch, Willy Forst.

Endlich einmal nicht das kleine Mädel aus dem Volk, das den Generaldirektor oder den Herzog von Perusa oder den amerikanischen Milliardär oder den Zaren kriegt. Mit oder noch häufiger ohne Standesamt. Die beiden Willys, die Lilian (sie ist Akrobatenfliege in einem kleinen Zirkus) haben möchten, sind weiter nichts als Berliner Fensterputzer. Und Willi Fritsch heiratet Lilian. Es ist absolut gesunde und dabei - also das geht doch - sehr schmackhafte Kost.

Lilian Harvey, im Leben ein hart arbeitender müder Berufsmensch, sieht in diesem Film wieder reizend kindlich aus. Und da sie keinen "Double" duldet, der die schweren Tricks statt ihrer macht, hat sie für diesen Film sogar - seiltanzen gelernt. Tanzen überhaupt kann sie ja aus dem ff. "Es" tanzt in ihr. Und nun tanzt sie im November hinüber nach Hollywood, wo sie so viele Dollars kriegen soll wie in Neubabelsberg Mark. Wird sie mit ihren 89 Pfund Lebendgewicht und der angegriffenen Lunge die drei Jahre dort aushalten? Nachher winkt ihr freilich (dann will sie Schluß machen) eine Villa in Juan les Pins an der Riviera zum Ausruhen und ein Millionenvermögen. Wenn sie es aushält, wenn sie es aushält! Am liebsten möchte man ihr sagen:

"Kindchen, laß das alles, geh - das kannst du dir ja schon leisten - auf ein Jahr nach Arosa in 1800 Meter Höhe und lebe dann, wenn auch etwas bescheidener, noch ein langes Leben gesund an der Seite eines gesunden Mannes!"

Aber da kannst halt nix machen. In der Filmwelt wird sozusagen unaufhörlich geheiratet und geschieden, oder man "geht" bloß mit wem, aber man arbeitet wie wahnsinnig und rafft und rafft und sieht schließlich doch meist alles zerrinnen.

Also den blonden Traum habe ich vor dem Vorhang mit dem übrigen Premièrenpublikum gesehen. Noch interessanter, aber nur wenigen und sehr selten geboten, da die Störung für die Darsteller zu groß ist, ist es, sozusagen hinter dem Vorhang zu stehen, das Werden eines Films zu beobachten. Augenblicklich ist ein Weltgroßfilm, ein Millionenfilm der Ufa im Werden: "F. P. 1 antwortet nicht". Nämlich die Flugplattform 1, die mitten im Ozean verankert und im Untergehen ist, bis - natürlich ist das Hans Albers - ein verwegener Flieger im letzten Augenblick, als schon die Besatzung die sinkende schwimmende Rieseninsel aus Stahl verlassen hat und mit den Ozeanwellen kämpft, die Rettung bringt.

Diese Boot- und Schwimmszenen sind im kalten Septemberwasser der Nordsee vor Cuxhaven gedreht worden, etliche Fliegerszenen in Warnemünde, die Hauptsache aber wird auf der Greifswalder Oie in der Ostsee gemacht, wohin 451 Tonnen Material gebracht worden sind, um daraus für die Aufnahmen die "F. P. 1" anzubauen. Mit Mühe und Not ist es mir möglich geworden, für einen einzigen Tag Berlin zu entrutschen und die Oie aufzusuchen, um mir die da in wenigen Wochen entstandene mächtige Fliegerplattform mit ihren Gebäuden und ihrer Filmarbeit anzusehen.

Die Oie ist ungefähr so groß wie Helgoland, nur nicht ganz so hoch.

Es wohnen nur 16 Menschen darauf. Der Leuchtturm und ein Pachthof mit Ausflugsrestaurant sind das einzig Bewohnbare.

Jetzt aber wimmeln von morgens früh bis spät abends rund 150 Filmleute und "echte" Flieger da herum, darunter 32 Solodarsteller.

Sprachen schwirren durcheinander.

Eine Verbeugung: "Connaissez vous monsieur le commandant?"

Alles da, drei Versionen, deutsch, französisch, englisch.

Und alles ist anders.

Wenn der baumlange Konrad Veidt, der akzentfrei englisch spricht, bei den Engländern mitspielt, hebt er sich darstellerisch turmhoch von ihnen ab. Auch bei den Franzosen spielt ein Deutscher mit, der den Arzt der Flugplattform gibt. Schon er sieht ganz anders aus als der deutsche Kollege, mehr Menjou als Medizinprofessor. Und nun erst die Damen, die die Hauptheldin verkörpern, die Engländerin, die Französin, die Deutsche!

Von London nach Nairobi in Ostafrika zur Elefantenjagd fliegt man 8 Tage, und dazu ziehen Damen sich so an, daß sie vor Schlangen und Dorngestrüpp sich nicht zu scheuen brauchen, das weiß man in England. Ähnlich ist die junge Engländerin, obwohl es nicht nötig ist, für F. P. 1 gerüstet: sie trägt Breeches aus festem Tuch und lange lederne Motorradstiefel. Der Französin - man kann hier wirklich Völkerpsychologie treiben - kommt es weniger auf das Sportmäßige als auf das Schicke an, also hat sie einen fabelhaften Hosenrock und hohe Gummiboots. Die deutsche Vertreterin, Sibylle Schmitz, weiß dagegen, daß für deutsches Publikum ihr Spiel und ihre Persönlichkeit die Hauptsache ist, nicht die Konfektionstechnik; also erscheint sie ruhig im kurzen Trotteurkleidchen und zeigt ihre wohlgeformten Seidenbeine mit Halbschuhen.

Beim Abendessen - alles fährt abends mit dem Mucke-Picke-Dampferchen zum Hotel Brandenburg in Göhren auf Rügen zurück, nur die Französin mit Gefolge sondert sich auf dem Pachthof auf der Oie ab - sitze ich neben Sibylle Schmitz.

Als Schauspielerin ist die erst 22jährige etliche Zeit auch an Reinhardts Deutschem Theater gewesen und hat u.a. dreißigmal die Lady in "Kabale und Liebe" gespielt. Hier beim Abendbrot kommt einer, nimmt ihr winziges Händchen, sagt, er sei erfahrener Handlinienleser, fummelt an der Patsche herum und balzt seine Prophetie herunter: sie habe, wie diese und jene Linie beweise, schon allerlei Erotisches hinter sich, das mit schweren Enttäuschungen verbunden gewesen sei, aber es winke ihr noch Glück; ob sie ihn nicht man besuchen wolle. Das ist so ein Blick hinter die Kulissen. Man muß als Schauspielerin viel Geduld und viel Tapferkeit haben, um sein Menschentum zu bewahren.

Wir beide, Sibylle Schmitz und ich, sprechen viel über Fliegerei. Sie ist noch nie geflogen. Dem Flugkapitän Foerster, der gerade eine ungemein elegante Landung auf dem kargen Plätzchen gemacht hat, würde sie sich wohl anvertrauen, sonst aber hat sie ein bißchen Angst. Angst? Ich sage ihr, sie könne ja meine Frau anrufen und befragen. Die sei in zwei Verkehrsmittel richtig verliebt: in das Flugzeug und in das Kamel.

Auf der Oie selbst ist es doch am schönsten Hans Albers schwärmt von der einsamen Insel mitten im Meer. Der Regierungspräsident in Stralsund hat ihm scherzweise gesagt, er solle doch die Insel pachten. Aber Albers, dem ich "Warum nicht?" erwidere, bemerkt ganz richtig:

"Wenn ich mir da ein Häuschen baue, verkehrt bald auch eine Fähre mit Autos, der ganze Kurfürstendamm ist auf der Insel und die Einsamkeit ist weg!"

Ich habe mir in allen drei Versionen eine Atelierszene angesehen, wo bei der deutschen Paul Hartmann, der den Kommandanten von F. P. 1 spielt, erklärt: "Wir liegen nur noch 10,8 Meter über dem Wasserspiegel . . . Die Boiler haben in den letzten 13 Stunden 156 000 Tonnen Wasser genommen . . ." Aber noch schöner sind die Aufnahmen im Freien, auf der stählernen Riesenplattform. In einer Ecke stehen Albers und Hartmann und proben nur die drei Sätze einer Szene. "In zwölf Stunden kratzen wir ab, ich und du, jawoll, du und ich, wir drei haben gemeinsam hier dieses Ding gewollt, jetzt können wir drei auch gemeinsam untergehen!" Sie proben zehnmal, zwanzigmal. Dann wird zehnmal, zwanzigmal vor dem Regisseur Hartl - die Produktion leitet Erich Pommer - geprobt, jede Stellung, jedes Wort, jeder Tonfall, jede Lautstärke, jede Bewegung korrigiert, dazwischen kommen die Friseure gelaufen und bringen die Darsteller wieder in Ordnung: es dauert anderthalb Stunden, bis die drei Sätze wirklich "gedreht" werden können.

Harte, ermüdende Arbeit. Täglich vom Morgen bis zum Abend. Die Scheinwerfer stechen. Es ist ein Wunder, daß Albers immer noch dieses Wetterleuchten in den hellblauen Augen aufbringt.

Das wird, glaube ich, der gigantischste Film, den die Welt erlebt hat.
29. September 1932 (Donnerstag)


5

Das Revirement - Die Debatte um den Zwickel - Das Großreinemachen fängt an - Der Arbeitslose und sein Kind - Flugtag in Tempelhof - Die Dela - Zu Louis Hagens Tode.

Noch nie habe ich Huttens Wort "Die Studien blühen, o Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben!" so empfunden wie jetzt. Nach dumpfer vierzehnjähriger Nacht der helle Tag. Überall werden die Gespenster der Bonzenzeit allmählich verjagt. Alle Tage liest man, daß Präsidenten oder Vizepräsidenten verschwinden, wozu noch bemerkt sei, daß früher der "Vize" bei uns nicht bekannt war, sondern der Regierungspräsident oder Polizeipräsident alleine seine Arbeit zu machen hatte und zu machen - verstand. Wir haben viel zu viele Doppelbesetzungen von Ämtern bekommen.

Neben diesem "Revirement", das hoffentlich auch die letzten Stresemänner im Außendienst des Reiches fortspült, erleben wir den Anfang eines grandiosen Ausmisten des ganzen Augiasstalles. Jetzt kommen in den Großstädten die unzähligen Leihbüchereien erotischer Literatur an die Reihe, die von einer Zentrale aus unterhalten wurden und für 20 Pfennige die Woche - Pfand wird bei Legitimation nicht verlangt - ohne Scheu zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchen van de Velde oder sonstwas verabfolgten. Es handelt sich nicht darum, wie gewisse Parteien fälschlich behaupten, daß die "arbeiterfeindliche Reaktion des Herrenklubs" triumphiert, sondern daß wir unser altes sauberes Deutschland wiederbekommen, in der Verwaltung, in der Justiz, auf der Straße, in den Schaufenstern. Wer das macht, ist uns ganz gleichgültig. Er mag ruhig Papen oder Bracht oder Gayl oder, was uns noch lieber wäre, Müller oder Hitler oder Schulze oder Hugenberg heißen, auf den Namen kommt es überhaupt nicht an. Die Hauptsache ist die Säuberung selbst.

In den Gottlosen-Schulen ist allen Lehrkräften zum nächsten April gekündigt worden. In den Berliner städtischen Bädern ist den Vereinen für Freikörperkultur das Nacktbaden beider Geschlechter miteinander untersagt. Der neue Berliner Polizeipräsident Melcher legt den Perversen-Lokalen das Handwerk.

Es ist ein Unsinn, behaupten zu wollen, daß nun "muffiges Muckertum" herrschen werde. Nach wie vor kann der Hans seine Grete finden, nach wie vor hat der Erwachsene seine Freiheit unter Selbstverantwortung, nur die Augen der Jugend werden geschützt, und aus der Öffentlichkeit soll alles das verschwinden, was einst für das Seine-Babel bezeichnend war und worin heute nach dem Urteil amerikanischer Europabummler Berlin an der Spitze marschiert.

Der Kurfürstendamm erzittert vor Angst und Wut. Es sei direkt zum Auswandern. Bitte sehr! Wir haben nichts dagegen.

Vorerst versucht er es mit Hohn, mit dem Spott des erhabenen Intellektuellen. Leider fallen auch einige Blätter der Rechten auf diesen Trick herein und versuchen den behördlich verordneten "Zwickel" an den Badeanzügen lächerlich zu machen. Es sind - nur ehrliches Eingeständnis macht die Luft frei - auch deutschnationale und nationalsozialistische Blätter darunter. Sie tun so, als wüßten sie nicht, was ein "Zwickel" ist, obwohl es jede Hausfrau einem sagen kann: Ein Einsatz, um etwas zu erweitern.

Man braucht ihn vor allem im Schritt. Sogar ein Ullstein-Blatt ist so vernünftig, einzugestehen, daß alle Akrobaten, die ja von Berufs wegen ihr halbes Leben in einer Art Badeanzug verbringen, schon seit Kindesbeinen diesen "rhomboidartigen Einsatz im Schritt" tragen. Dagegen nennt ein Berliner Blatt der Rechten die Vorschrift "lächerlich" und preist es, daß "die Zeiten vorbei sind, da der Jüngling in dumpfe Wallungen geriet, wenn er ein Mädchenbein sah". Ich sage auch: Gott sei Dank, daß diese Zeiten vorbei sind; und daß Berlins Nebenstraßen nicht mehr voll von roten Laternen sind, die anzeigten, daß der Sekundaner allda Kellnerinnen fände, die zur Hebung der Zeche bereit seien, ihn ein Knie sehen zu lassen, obwohl damals die Polizei darauf sah, daß das Kleid dieser Kellnerinnen mindestens bis 15 Zentimeter an den Boden reichen mußte. Ich sage: Gott sei Dank, daß wir im und am Wasser und auf dem Sportplatz all das Muffige losgeworden sind.

Aber es ist nicht nötig, daß etwa die Damenbadeanzüge, ohne "Zwickel" gearbeitet, sich an den Körper so eng an- und - einlegen, daß der Eindruck überzogener Nacktheit erzeugt wird.

Auch die Verringerung des Damenbadezeugs auf Büstenhalter und Lendenschurz ist fortan verboten. So etwas gab es ja überhaupt fast nur in Deutschland. Überall sonst ist man dezenter. Niemand hat etwas dagegen, wenn Damen oder Herren abgesondert völlig hüllenlos ein Sonnenbad nehmen, wir wollen auch nicht mehr zu den alten langhosigen Badeanzügen zurück, aber die Lockung gehört nicht ins Familienbad, da soll es nur Freude an Luft, Sonne, Wasser geben. Und in den Variétés können wir nach wie vor die gewagtesten Kostüme sehen. Kein Schutzmann wird mit dem Zollstock an der minimalen Gewandung einer akrobatischen Tänzerin herummessen.

Wir hätten in Berlin und anderswo wirklich wichtigere und drängendere Sorgen als die, wie man die gegenwärtige Regierung in den Geruch der Reaktion bringen kann. Es gibt nichts weniger Reaktionäres als den alten Kavalleristen v.Papen. Und von Opapa Hindenburg geht die Bewegung auch nicht aus. Es ist nicht Reaktion, sondern endlich der Anfang vom Großreinemachen.

In Berlin hat jedermann, auch wenn er noch so große Worte dagegen macht, das Gefühl, daß es gelingen wird.

Auch ein Teil der praktischen Vorschläge, die Hugenberg etwa für die Landwirtschaft immer wieder gemacht hat, wird ja von dem jetzigen Kabinett ausgeführt. Und es hat als erstes nicht neue Steuern eingeführt, sondern auf 2 Milliarden Mark Steuern verzichtet, um die Arbeit anzukurbeln. Ich habe so viel mit Arbeitslosen aller Stände, auch der ehedem "besten", zu tun, daß ich beurteilen kann, wie dort die Hoffnung aufkeimt, ohne die alles vergebens wäre.

Wir müssen nur noch viel Anpassungsfähigkeit lernen. In unserer Nachbarschaft hat ein erwerbsloser Arbeiter, dessen Frau aber noch eine Stellung hat, von ihr soeben sein zweites Kind bekommen. Das wird, sobald die Frau wieder in ihren Beruf geht, - in fremde Pflege, gegen Entgelt natürlich, gegeben. Warum? Weil "Vater" das doch nicht verstehe! So ein Unsinn. Ich habe als junger Mann manche Dreieckswindel für einen nach dem anderen von unseren Sechs gelegt, habe auch halbe Nächte lang ein Kind, das zahnte, auf den Armen getragen, obwohl am Morgen der tägliche Dienst wieder winkte. Es lernt sich alles. Unter Umständen muß eben auch der Mann Frau spielen können, so wie ein Prinzgemahl Landesmutter in Spitalen und in wohltätigen Vereinen, während die Königin mit den Ministern konferiert oder zu Pferde Paraden abnimmt.

Abgesehen von der Not und von der Hoffnung auf Besserung hat das Volk von Berlin immer noch seine Feste, an denen es als Zaungast teilnehmen kann.

Am letzten Sonntag waren über 50 000 Eintrittskarten für den Großflugtag auf dem Tempelhofer Felde verkauft, aber weit über 200 000 standen außen herum. Sie konnten an diesem wirklich bisher größten deutschen Flugtag nicht weniger als 95 Flugzeuge gegen ein vernebeltes Industriewerk anfliegen sehen, das fingiert mit Bomben belegt wurde. Sie sahen Kunstflüge im unabsperrbaren Äther, sahen Flugzeugrennen, sahen ihrer 6 Fallschirmspringer aus einem winzigen Passagierflugzeug heraushüpfen und sahen vor allem das wundervolle Luftexerzieren der Staffel der Braunschweiger Verkehrsfliegerschule. Das imponierte am meisten; und in den Hunderttausenden wurde die Sehnsucht wach, daß unser jetziger Kampf um Gleichberechtigung und Wehrhoheit schon durchgefochten wäre und wir wieder eine Fliegerwaffe besäßen.

Der Flugtag war die Einleitung zur Dela, der Deutschen Luftfahrtausstellung.

Selten habe ich so viel Jugend in Haufen gesehen, wie in den Stunden, die ich da verbracht habe. Mir altem Flieger lachte das Herz im Leibe. Als wenn diese Jugend wüßte, daß heute unsere Zukunft in der Luft liege. Auf dem Wasser, wo sie früher liegen sollte, ist sie in weite Ferne gerückt; und zu Lande ist Frankreich heute uneinnehmbar.

"Deutscher Junge, lerne fliegen!" grüßt es uns von den Plakaten.

Wir haben so viele wenigstens mit dem A-Schein bereits fertige Flugzeugführer, daß schon fast gestoppt werden muß. Es sind natürlich alles Sportflieger. Heer und Marine dürfen noch nicht. Aber hier in den Ausstellungshallen drängen sich sehnsüchtig schon zehnjährige Buben und - Mädel.

"Da, das ist der Anlasser!", sagt ein Dreikäsehoch beim Blick in den Führersitz.

"Und hier der Ölkontrollhahn!"

Es fängt mit der Urzeit an, mit einer Flatterechse, die 7 Meter Spannweite hat. Wir studieren die Mechanik des Flügelschlages an Schwalbe, Möve, Schmetterling, Fliege, Fledermaus, Eule. Wir werden an die alten Sagen von Ikarus und Genossen erinnert, sehen Mongolfière und modernen Freiballon bis zu Piccards Stratosphärengondel, das erste deutsche Motorflugzeug von 1909, den Grade-Eindecker, wir sehen leichte Sportflugzeuge, die schon komplett für 5900 Mark zu haben sind, und Elly Beinhorns Klemm-Maschine, die sie im Alleinflug über mehr als 50 000 Kilometer gesteuert hat; die aufgepinselte Weltkarte mir Routen hat die Umschrift: "Und wenn die Welt voll Teufeln wär' - Es muß uns doch gelingen!" und zahlreiche Autogramme, mit Bleistift auf die Aluminiumfarbe geschrieben. Auch Bastlerwerkstätten sieht man überall.

Für mich ist das fesselndste ein von der Akaflieg der Technischen Hochschule Darmstadt konstruiertes, von dem Yacht- und Flugzeugbau Dr. Hoos, Berlin, hergestelltes zweisitziges Sportflugzeug D 22, das, mit 150-PS-Argusmotor versehen, 16 000 Mark kostet (wenn ich das große Los gewinne, schenke ich es unserem Jüngsten, meinem Fliegernachfolger) und unerhörte Leistungen für solch ein Serienflugzeug aufweist. Geschwindigkeit: 283 Kilometer in der Stunde! Da kann man wirklich im Sommer Wochenendausflüge nach Afrika machen und Montag nachmittag wieder in seinem Bureau sitzen.

So etwas schnittiges und alle Luftreibung vermeidendes habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Das ist so recht etwas für einen wohlhabenden Mann und seinen Luftkutscher.

Aber die Wohlhabenden sterben bei uns ja aus oder machen Pleite. Berlin W ist zur Zeit, soweit es einer Regung überhaupt fähig ist, erschüttert durch den Tod Louis Hagens aus Köln, der aber fast immer in Berlin steckte und dem das Reichsbankdirektorium, dessen Mitglied er war, einen gerührten Nachruf widmet. Der war noch bis zuletzt, bis in sein 78. Jahr, der große Geldfürst.

In Köln dirigierte er das ganze Geschäft (seine Prachtbank befand sich in einer anderen Straße) von uralten zwei Zimmern des väterlichen Hauses aus. Selbstverständlich war er, nachdem er den Namen Levy mit Hagen vertauscht hatte, katholisch geworden, selbstverständlich Zentrumsmann. Seine Töchter sind Gräfinnen und Freifrauen, denn - wie auch die Guttmann, Friedländer und andere - Levy-Hagen empfand eine satanische Lust daran, gerade den rassereinen deutschen Adel zu bastardieren. Im Semi-Gotha, der leider nur nicht immer ganz zuverlässig ist, kann man Staunenswertes über dieses Mischblut lesen. Sich selbst sah er gern von schönen arischen Frauen umgeben, die er durch sein unermeßliches Vermögen gewann. Er fand sie bei häufigem Wechsel durch Villen und gediegen goldene Teller nebst dem nötigen Gelde ab. Die letzte, noch aus dem vorigen Jahre, residiert jetzt in der Avenue Kléber in Paris. Einer hat er einmal, da er auch da auf Adel versessen war, einen fremden Herzogstitel gekauft und dieser Madame la Duchesse eine richtige deutsche Gräfin als Gesellschafterin zuerteilt. Eine der ersten Damen seines Hofstaates war die in unserer Kinderzeit berühmte Berliner Schauspielerin Jenny Groß. Die kleidete er in einen Schatz von Rubinen ein.

"Das ist ja wie Tausend und eine Nacht!", rief einst geblendet eine Dame aus.

Und Jenny Groß antwortete geringschätzig: "Nein, tausend für eine Nacht!"

Gewesen, gewesen. Dieser Mann ist noch rechtzeitig gestorben. Er ist nicht hinweggefegt worden. Seinesgleichen bebt heute an der Riviera. Sie alle haben Todesangst vor dem Kommenden.
6. Oktober 1932 (Donnerstag)



Glossen 1 - 3

Jahresinhalt

Glossen 7 - 9

© Karlheinz Everts