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Aus Afrika zurück - Selbstverständlich fliegt man - Der Kampf gegen Nuditäten - Wo gibt es noch Schamhaftigkeit? - Deutsches Bettlertum - Villen-Ruine - Daisy v. Freyberg heiratet - "Die Herrin von Atlantis".
Also ich komme gerade aus Afrika.
Ich habe weder Schiff noch Eisenbahn benutzt. Die ganze Reise von der Libyschen Wüste bis zum Tempelhofer Felde in Berlin hat 14 Stunden 23 Minuten gedauert. Natürlich im Flugzeug; mit einem Zwischenaufenthalt in Rom vom Nachmittag bis zum nächsten Morgen.
Nach wenigen Jahren, wenn die Fluggeschwindigkeit - sicher - sich fast verdoppelt hat, wird man, ohne unterwegs Nachtquartier nehmen zu müssen, an einem einzigen Tage von Berlin nach Tripoli fliegen können. Kleiner Wochenendausflug sozusagen. Die Deutsche Lufthansa und die Navigazione Aerea machen es gemeinsam. Man hat nicht den Staub und das Gerüttel der Eisenbahn, man hat nicht das Schaukeln und die Seekrankheit auf dem Schiff, die großen dreimotorigen Land- und zweimotorigen Wasserflugzeuge (deutsche Dornier-Wal) liegen so ruhig in der reinen und böenfreien Höhenluft, daß man unterwegs, wenn man sich nicht gerade verzückt die Welt von oben aus ansieht, ohne Krickel-Krackel Briefe schreiben kann.
"Safety first!", die Sicherheit ist das erste, pflegen englische Bahngesellschaften zu plakatieren. Die Sicherheit im Verkehrsflug beträgt heute so gut wie 100 Prozent. Auf den Kopf der Reisenden berechnet, ist sie tatsächlich - die Zahlen sind unwiderleglich - größer als in der Bahn oder gar im Auto.
Es ist die phantastischste Reise meines Lebens geworden während ich bisher eine fast dreimonatliche nach Samarkand und dem umliegenden Innerasien dafür hielt. Schon der Flug München-Venedig über die Alpen, die schneebedeckten Stubaier und Zillertaler und die Dolomiten, in annähernd 4000 Meter Höhe war ein ungeheures Erlebnis. In Venedig stieg die italienische Kronprinzessin zu und nahm vor mir Platz, die typisch blonde junge Deutsche; das einzig Belgisch-Romanische an ihr ist ihr Lippenstift, den sie vor der Landung in Rom herauszog. Der Weiterflug nach Tripoli, über den rauchenden "kleinen" Vesuv nördlich Neapel hinweg, an dem großen und am Stromboli und am Ätna vorüber, Zwischenstation auf Malta, dann das letzte Stück über das nun einsame Mittelmeer: wieder eine Sensation ohnegleichen.
Und alles das im Elendsjahr 1932! Es ist ein leibhaftiges Wunder.
Was man als Schriftsteller und als ehemaliger Fliegeroffizier an Erleichterungen bekommen kann, habe ich natürlich bekommen, sonst wäre es nicht gegangen. Am Abend meiner Ankunft in Rom saß ich im Casino Validier auf dem Monte Pincio mit dem italienischen Luftfahrtminister Balbo zusammen und konnte ihm persönlich danken. Er trug mir sehr herzliche Grüße an die deutschen alten Fliegerkameraden auf, besonders den Ministerialdirektor Brandenburg, der im Kriege ein Bombengeschwader geführt hat.
Nun ist eine alte Sehnsucht erfüllt.
Sieben Jahre habe ich einst, schier vergeblich, gewünscht, mir ein eigenes Billard anschaffen zu können, um mich daran zu entspannen, um Mitternacht oder später nach des Tages Arbeit da noch im Speisezimmer eine Partie mit meiner Frau spielen zu können, und schließlich war es 1920 Wahrheit geworden.
Jetzt habe ich sieben Jahre lang mir gewünscht, Leptis Magna sehen zu dürfen, die aus dem Wüstensand wieder ausgegrabene altrömische Kaiserstadt, gegen die das ganze Forum in Rom nur ein kleiner armseliger Scherbenhaufen, Pompeji ein Spießernest ist. Und nun waren meine Frau und ich da, haben Wüsten und Oasen durchwandert, jedes Kamel liebgewonnen, eine gewaltige Hochachtung vor der kolonisatorischen Leistung der Italiener bekommen, - und ich habe meine durch Überarbeitung und schwere Erlebnisse erschütterte Gesundheit großenteils wiedergewonnen.
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Ich bitte um Entschuldigung, daß ein Berliner Allerlei so unberlinisch anfängt.
Ja, nun ist man wieder für elf Monate daheim, außerordentlich bereichert an Erkenntnis, obwohl das Landesfinanzamt, das die paar Devisen zu bewilligen hat, es zunächst nicht verstehen will, daß ich nie in eine Sommerfrische gehe, sondern immer Studienreisen mache.
Sie sind nötig, damit man das Vergleichen lernt, denn nur aus dem Vergleichen wird Urteilen möglich.
Gelegentlich, sehr selten, habe ich unterwegs eine Zeitung gelesen und daraus entnommen, welche Fortschritte - auch auf kulturellem Gebiet - inzwischen die Gegenrevolution in Berlin gemacht hat, wenn sie auch nur mit besonnenen, kleinen Schritten vorangeht. Da habe ich beispielsweise gelesen, daß durch einen Federstrich der Regierung die Badeanzüge der Damen auf die Bäder beschränkt worden sind. Wahrhaftig: das bißchen Trikot und das viele nackte Fleisch ist aus den Animierlokalen verschwunden.
Ich bin gleich am ersten Abend bei Steinmeier, recte Meyerstein, gewesen, einem der vielen hiesigen Vergnügungsunternehmer, die damit Geschäfte machten, daß die Tanzmädchen mit entblößten prallen Schenkeln sich an den Tisch zu den Provinzgästen setzten und "eine Zeche trieben". Heute tragen die Mädchen alle Nachmittagskleider und sehen viel, viel netter aus; und man hat ihnen ihre Menschenwürde wiedergegeben. Die ganze Schweinerei seit 1918 ist im zusammensinken. Auch die sogenannten Nacktplastiken in der Bonbonnière und ähnlichen Lokalen haben aufgehört. Ein ganz neues Berlin.
Natürlich ist diese Veranständigung zunächst nur äußerlich; die innere Umwandlung bedarf vielleicht langer Jahre.
Ich habe unterwegs mit manchem Auslandsdeutschen gesprochen, der es beklagte, daß in allen Erdteilen heute die deutsche Frau als die schamloseste gelte. Gewiß, Polinnen, Ungarinnen, Tschechinnen der untersten Klasse füllen in allen Hafenstädten der Welt ebenso wie die Deutschen die übelsten Lokale. Aber die Art, wie deutsche Mädchen der sogenannten guten Gesellschaft sich jedermann, selbst dem farbigen Ausländer, zu einem Flirt bieten, ist bei anderen Völkern doch unerhört.
Und was man im Strandbad Wannsee allsonntäglich sehen kann, daß hie und da engumschlungen ein Pärchen liegt, oder gar, daß ein Mädchen seinen Kopf im Schoße eines Mannes birgt, während zwei andere Männer ihr die Beine streicheln.
Im Strandbad von Tripoli, von Homs und sonstwo - und in den Kolonien ist man angeblich doch "freier" - habe ich keine solchen Bilder gesehen. Daheim in unseren vier Wänden sind wir alle gleich, welchem Volke wir auch angehören, da gibt es wohl kein Besser oder Schlechter. Aber in der Öffentlichkeit, schon aus nationalem Selbstbewußtsein, ist beispielsweise der Italiener von einer vorbildlichen Schamhaftigkeit. Ich habe nicht einmal in Ostia, dem Strandbad Roms, wo kleine Leute, viel Arbeitervolk darunter, ihre Erholung suchen und wo ich gleich am ersten Nachmittag war, ein einziges Pärchen gesehen, das sich auch nur berührt, sich auch nur angelehnt hätte; immer waren ein paar Achtungszentimeter dazwischen.
Kapuzinerpredigt? Ich denke nicht daran.
Ich habe niemals der Prüderie das Wort geredet. Ich gönne jedem Liebespaar alles nur Erdenkliche. Aber nicht vor allem Volk. Sondern in der Verschwiegenheit. Ein Volk, das die Schamhaftigkeit zum Teil sogar in seinen führenden Schichten verliert, geht zugrunde.
Selbstverständlich spielt auch die wirtschaftliche Not dabei eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. Ich finde Berlin ärmer wieder, als ich es Ende Juli verlassen habe. Ende Juli? Jawohl. Aber zuerst ging es nur bis München. Am 31. wollten wir auf alle Fälle noch auf deutschem Boden sein, um uns an der Reichstagswahl zu beteiligen. Also nun bin ich wieder hier und finde die Zahl der Standbettler auf den Hauptstraßen etwa verdreifacht. Das quillt in immer größeren Massen sogar über die Grenzen, und auch zu den Wanderbettlern stellen die führenden, gebildeten Schichten ihr Teil. Bis zur Balkanhalbinsel hin blamieren wir uns in ganz Europa. Was früher die "Mausifalli-Ratzifalli" in unserem Erdteil waren, das sind jetzt die Deutschen. In Seefeld in Tirol, nahe der deutschen Grenze, habe ich liebe Bekannte in ihrem Landhaus aufgesucht. Da sprechen täglich bis zu zehn reichsdeutsche Wanderer - nein, wirklich: Bettler - vor, die nicht mehr der Type der früheren Handwerksburschen sind, die Arbeit suchten und fanden, nur dazwischen "fochten", sondern der heutigen Studenten.
Blütesaubere Wäsche, geradezu eleganter Sportanzug, goldenes Armband von der Liebsten an der Rechten: solch ein Jüngling spricht vor, kriegt einen Kanten Brot, legt ihn aber verächtlich auf die Schwelle.
"Brot habe ich genug, ich dachte, Sie könnten mich zum Mittagessen einladen!"
Auch bisherige Großverdiener können nicht mehr. Ich patrouilliere im Eilzugtempo die Umgegend von Berlin ab und stoße am Schwielowsee, am Krähenberg in Kaputh hinter Potsdam, auf eine Ruine. Es ist die angefangene Villa von Agnes Straub, der großen Darstellerin. Der Zaun ist eingebrochen, alles verfällt, das Grundstück steht zum Verkauf. Agnes Straub hat nicht mehr das Geld, sich ihr Heim zu bauen.
Nur hie und da hat sich, wenn auch geschmälert, die Wohlhabenheit erhalten. Bei meiner Heimkehr finde ich eine Anzeige vor. Daisy Freiin v.Freyberg zu Eisenberg, die blonde Schönheitskönigin, die wir wiederholt von Herzen gern in unserem Hause gesehen haben, weil sie weder die Königin noch die Diva spielt, sondern im Grunde ein liebes, schlichtes, kreuzbraves deutsches Mädel ist, soll am 14.September Herrn Oskar Schlitter, Attaché am deutschen Generalkonsulat in Newyork, zur Zeit im Haus Schlitter auf Schwanenwerder bei Wannsee, heiraten.
Sehr schön. Ich habe immer gesagt: die verkauft sich nicht an einen Schweinefleischmilliardär aus Chicago, sondern nimmt den deutschen Mann, den sie gern hat; Geld darf er natürlich haben.
Und dieser Oskar Schlitter ist immerhin Sohn eines Direktors der Deutschen Bank. Kein alter Kerl, der sich eine Schönheit "leistet", sondern erst 28 Jahre, als Gerichtsreferendar vor drei Jahren zum Auswärtigen Amt einberufen und soeben erst, nach bestandenem diplomatischen Examen, zum ersten Außendienst versetzt.
Da hat man wirklich seine Freude. Und noch an vielem anderen. Vor allem an dem Stahlhelmtag, der 197 000 Mann auf dem Tempelhofer Felde in Parade sah. Diese und die daheimgebliebenen übrigen Hunderttausende Feldgrauer sind der Kern unserer neuen Milizarmee, die wir neben der Reichswehr aufstellen werden, ohne wieder 10 Jahre lang Genfer Konferenzen zu Bemühen. Es geht wirklich vorwärts.
Auch die erste Filmpremière, die ich wieder erlebt habe, hat mich mit Genugtuung erfüllt. Ein Nero-Film: "Die Herrin von Atlantis". Zum Glück nicht der bisher übliche Spielfilm, in dem irgendein Mädel sich einen Nabob angelt. Es ist eine reichlich phantastische Geschichte, die die Hauptstadt des versunkenen Reiches oder Erdteils Atlantis unter den Wüstensand der mittleren Sahara verlegt, beherrscht von einer männertötenden Weißen unter Tuaregs. Die arabische Oberstadt und die palastartigen Räume der Unterstadt sind nichts weniger als historisch. Die Tuareg, das sagt einem jedes Konversationslexikon, wohnen als Nomaden in Stangenzelten. Auch ist Brigitte Helm als die große Erbarmungslose, die "den" Mann für sich sucht und diejenigen, die das Examen nicht bestehen, untergehen läßt, ohne jeden sinnlichen Reiz. Auch ist das Lachen im Zuschauerraum begreiflich, wenn ein Tuareg in bestem Deutsch: "Friede sei mit Euch!" sagt, statt mit "Salaam aleikum!" anzufangen und dann weiter zu radebrechen.
Aber nun das Herrliche: die Wüste, die Wüste, die Wüste! Wir haben grandiose Schneefilme erlebt, Wunder des Hochgebirges mit Luis Trenker, aber noch nie in so erschütternder Eindringlichkeit die Wüste. Da kommt das große Starren und Staunen und Schweigen über die Menge. Es ist eine Großleistung der Photographen; dieser Film macht seinen Weg durch die Welt.
Übrigens soll, sagen die Neuesten, Atlantis in Tripolitanien gelegen haben. Vielleicht deckt Mussolini Atlantis einmal noch ebenso auf wie Leptis Magna.
8. September 1932 (Donnerstag)
2
An der Gedächtniskirche - Wochenende am Wannsee - Lauter Versteigerungen - Billiger Unterricht - Vom Erwachen der Nation - Dr. Dehmel - Das Staatstheater lernt um - Aus städtischen Hallenschwimmbädern.
Wenn die Sonne, wie in diesem Sommer und Herbst so häufig, leuchtend herniederscheint und alles durchwärmt, dann kann Berlin so schön sein, daß man es umarmen möchte, auch wenn man gerade aus wunderbarster Ferne kommt.
Natürlich nicht das Berlin vor und hinter der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo man einer Dame mit Lackgesicht begegnen kann, mit einem Zwergspitz an der Leine, der über dem Kopf ein weißes Lederkäppchen mit - Sonnenschutzbrille trägt. Überhaupt nicht das ganze unnatürliche, sondern das natürliche Berlin, wie es der Herrgott mit seinen neun Grunewaldseen, wo es - nur der Schlachtensee wäre groß genug - kaum Sport gibt, und den fast zahllosen Spree- und Havelseen mit ihrem Gewimmel hingesetzt hat. Eine Spanierin hat mir, ergriffen von diesem Reichtum, immer wieder vorgestammelt: "O so viele Wasser, so viele Wasser!" Noch nicht jeder zehnte fremde Berlinbesucher lernt das kennen; und wenn, dann nur den kleinen Ausschnitt auf der üblichen kombinierten Landwassertour nach Potsdam.
Die Umgegend wird immer weiter "erschlossen". Zum Schloß Marquardt kann man jetzt täglich - fliegen, um nur ja keine Minute im Großstadtdunst zu opfern. Um 14 Uhr 30 geht täglich das Flugzeug ab und ist in wenigen Minuten da. Kostet freilich 11½ Mark. Man kann es auch billiger haben, wenn man Sonnabend mittag Schicht macht und ins Wochenende will.
Auch mich wochenendlert es so.
Sonntag um Sonntag sitze ich sonst über Manuskripten. Aber einmal will ich auch das schöne Berlin kosten. Im Schwedischen Pavillon am Wannsee sind wahrhaftig noch Zimmer frei, sogar eines der schönsten, Nummer 16, nach vorn heraus mit dem Blick über die Wasserfläche. Ich weiß, am Sonntag nachmittag werde ich wieder über der Arbeit hocken. Aber einmal den frühen Morgen draußen zu erleben, das ist köstlich. Wohlausgeruht - denn in die behaglichen Wohnräume dringt kaum ein verwehter Klang von der Kaffeeterrasse und der Tanzdiele - erwacht man, frühstückt man in seinem sonnigen Erker und sieht, wie es auf dem Wasser zu leben und zu weben beginnt.
Vom kleinen Wannsee her kommt ein Paddelboot. Zwei Damen darin, offenbar Lehrerinnen. Die sind sicher schon um 5 Uhr morgens in Berlin aufgestanden, um so früh hier sein zu können.
Ein Schiff an der Brücke, noch halb verschlafen, macht Dampf auf.
Eine Vierergig von Gymnasiasten zieht schnell ihre Bahn.
Noch brummt kein Motorboot, aber nun beginnt es sich auf den vielen an Bojen vertäuten Segeljachten zu regen. Im ersten Sonnenglanz zwitschern die Vögel im Garten des Schwedischen Pavillons, die Erde und die Bäume duften zu den Fenstern herein; im ersten Sonnenglanz, der die Segel weiß aufblenden läßt, hantieren Jachtbesitzer und Bootsjungen.
Nun die Wanderung um den See herum, bis zum Strandbad, wo das Schwimmen in der Frühe unter den bis dahin Wenigen dieser Massenanstalt besonders angenehm ist. Die Luft ist nach einem Nachtgewitter kühl, aber das Wasser hat immer noch 22 Grad. Das ist reichlich und das ist erfrischender als die 29 noch vor kurzem am Lidostrande.
Und dazu das beruhigende Gefühl, daß man für einen Groschen nach Hause telephonieren kann, ob alles in Ordnung ist; und daß man, wenn es not tut, in einer guten halben Stunde wieder zu Hause sein kann.
So ähnlich ist es rund um Berlin. Was sind wir doch für glückliche Leute . . .
Aber wenn man so dahergeht, fällt einem allerlei auf. Zwischen dem Schwedischen Pavillon und dem Haus am See, das früher eine Privatvilla war, jetzt eine öffentliche Gaststätte ist, steht ein schloßartiges Gebäude mit großem Park. Mit seinen hellgelben Türmen leuchtet es weit über Wasser und Land. Es ist eine genaue Nachbildung der Burg Stolzenfels am Rhein. Nur können die Leute da sich nicht mehr das kulturgesättigte Dasein von früher leisten.
Ein großes Schild: "Ganz oder geteilt abzugeben!"
Wir geben immer noch ab. Gerade wird das Heim der Operettensängerin Betty Sturm - und die war doch jahrelang Großverdienerin - versteigert, weil ihr Gatte, der Bankier Steinberg, es nicht mehr halten kann. Auch die "Blindenmutter", die verwitwete Frau Hofbaurat Ihne, hat wegen einer an sich lumpigen Schuldforderung keinen weiteren Aufschub - die Sache spielt schon seit Monaten - mehr erhalten und muß morgen ihre Tiepolos und sonstigen Kunstschätze versteigern lassen. Alles kommt für ein Butterbrot unter den Hammer. Die Zeitungen leben von den großen Auktionsanzeigen.
Wie bei den ehedem Reichen, so ist auch bei den nur Gebildeten Schmalhans Küchenmeister. Wer die kleinen Annoncen durchsieht, der weiß Bescheid, wie es in Berlin aussieht. Draußen im Lande, "in der Provinz", werden noch 3 Mark für Privatstunden bezahlt. In Berlin bieten geprüfte Lehrerinnen, die einst unter großen Kosten im Auslande Englisch oder Französisch gelernt haben, für 50 Pfennige die Stunde an. Und für seinen faulen Jungen sucht ein Vater Nachhilfe, täglich mindestens 2 Stunden; dafür will er monatlich - 20 Mark bezahlen. Das Haus werden sie ihm einrennen.
Und dennoch, und dennoch: die Hoffnung keimt wieder.
Es ist wirklich ein ganz neues, wieder männliches Berlin, in das ich hineingekommen bin. Man greint nicht mehr vor dem Auslande. Erzbergers Wort "Sie werde uns verzeihe!" wiederholt niemand mehr. Frank und frei fordert das Berliner Kabarett unser Wehrrecht. Gerade eben verkündet ein Erlaß Hindenburgs, daß 20 ehemalige Truppenübungsplätze der deutschen männlichen Jugend zum Geländesport unter Leitung ausgebildeter Offiziere zur Verfügung gestellt werden, wo sie in starken Gruppen je 3 Wochen lang das Jahr hindurch ihre Kurse erhält.
Damit ist der Grund zu unserer kommenden Miliz gelegt, werden die parteipolitischen "Privatarmeen" allmählich in staatliche Kontrolle übergeführt. Das ist für diese zunächst bitter, aber sie alle sollen und werden es lernen, daß das Vaterland über der Partei steht, auch wenn in der Komödie dieses Montags im Reichstage noch das Gegenteil versucht worden ist. Natürlich kann ein völlig verelendetes, darbendes Volk nicht sofort Machtpolitik treiben; es ist ein langer Weg bis Tipperary. Die notwendige Ergänzung sind die wirtschaftlichen Maßnahmen, durch die zunächst 2 Millionen Arbeitslose wieder in den Produktionsprozeß hineinkommen sollen. Auch vielen von ihnen wird das anfangs bitter sein, denn sie haben sich daran gewöhnt, bis gegen Mittag im Bett zu liegen, ihr Existenzminimum aus den Steuern der noch Arbeitenden und ein bißchen Schwarzarbeit zu ziehen, nebenbei im wesentlichen Zigaretten zu rauchen. Auch damit wird es anders werden. Wir werden wieder unsere Lust am Schaffen haben.
Der eine oder andere tatsächlich Lebensuntüchtige mag dabei auf den Lauf gehen. Man macht in Berlin viel Wesens von dem Selbstmord des Dr.med. Dehmel, der ein Sohn des im Kriege gefallenen großen Dichters ist. Dieser Arzt war ein Mischling aus einer rassischen Mesalliance seines Vaters. Wie so häufig in solchen Fällen: ein Mensch ohne Vitalität. Er begründete eine sexuelle Beratungsstelle, zuletzt ein Hilfsunternehmen für Selbstmordkandidaten. Als dann die materielle Not über ihn kam, wurde er selber schwach und schluckte Veronal in tödlicher Dosis.
Es hat keinen Zweck, über so etwas zu jammern. Die Selbstmordkurve wird sinken. Wir wollen als Nation leben, wir werden leben, wir werden uns durchsetzen. Auch kulturell. Auch das aus den "besseren" Schichten, was man heute kunstseidene Mädchen nennt, wird verschwinden. Und Theater und Rundfunk kommen endlich zu nationalen Aufgaben.
Ist es nicht schon ein Wunder, daß das Berliner staatliche Schauspielhaus, das bis vor kurzem noch ein einziger grober Unfug unter einem Kommunisten war, nach langen Jahren jetzt zum ersten Male wieder Schillers "Tell", den es seit 1918 wie die leibhaftige Pestilenz haßte, wieder herausbringen will? Am 5. Oktober spielt ihn Werner Krauß. Vierzehn Jahre lang durfte das Wort "Wann wird der Retter kommen diesem Lande?" am Gendarmenmarkt nicht erschallen. Vierzehn Jahre lang verhinderten es rote Bonzen, daß die deutsche Jugend (abgesehen von dem privaten Theater der höheren Schulen, wo man es gelegentlich wagte) die Verse zu hören bekam: "Ans Vaterland, ans teure, schließ' Dich an, das halte fest mit Deinem ganzen Herzen, hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft!" Wenn parlamentarisch-gewerkschaftlich-sozialistisch eingestellte Leute dies alles "Reaktion" nennen und die Männer stürzen wollen, die uns den Umschwung gebracht haben, so ist das Torheit. Das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Unsere parlamentarische Schwächezeit ist dahin.
Und Parteien brauchen wir nicht, wenn wir erst eine Nation sind.
Selbstverständlich meine ich das in dem neuen Sinne der Volksgemeinschaft. Wir wollen keine Klassen und Kasten mehr. Vielleicht ist sogar der Wunsch gerechtfertigt, daß wir nicht die fetten Zeiten von ehedem wiederbekommen. Das arme Preußen des Alten Fritz war in seinem Kampfe gegen die europäische Entente stärker als das reiche Deutschland im letzten Weltkriege. Das liegt nicht nur am Genie des Führers, sondern auch an dem Gehärtetsein des Volkes. In den jetzigen Elendsjahren haben wir ja vielleicht schon die Völlerei verachten und die Körper-und Willensschulung ehren gelernt. Natürlich ist es möglich, daß die sportgewandten Mädchen von heute, die schlanke Rehe sind, mit 40 Jahren ein Nilpferd werden. Aber wir wollen hoffen, daß die körperliche Straffheit bleibt, die seelische Straffheit kommt. Wir wollen - wörtlich und übertragen - nicht mehr ächzen unter unserem Speck.
Auch ich persönlich möchte lieber ein hagerer Greis als ein fetter Jüngling sein. Eines muß man als gerecht urteilender Mensch zugeben: auch in den bösesten Böß-Zeiten hat die Stadt Berlin fast an erster Stelle dafür gesorgt, daß ihre Einwohner sich stählen konnten. Nicht nur auf vielen Sportplätzen, die lediglich Feld der Jugend sind, sondern auch durch reichliche Einrichtung von Bädern, namentlich Schwimmbädern, die jedermann bis zum Alter von Gerhart Hauptmann oder Bernard Shaw benutzen kann.
Die Bewegung dafür begann 1903 unter dem Kaiserreich. Heute hat nahezu jeder Stadtteil sein kommunales Hallenschwimmbad, das der selbständige Privatmann für 30 Pfennige, der Unterstützte und das Schulkind umsonst benutzen darf. Ich arbeite gern nachts eine halbe Stunde länger, wenn ich dafür morgens eine halbe Stunde schwimmen kann. Im ganze hat Berlin im letzten Jahr 1 333 522 Brausebäder, 3 611 070 Schwimmbäder, 1 178 501 Wannenbäder (darunter alle die medizinischen für Krankenkassenmitglieder) verabfolgt, ungerechnet die vielen Millionen in den freien Strandbädern. Die Hallenbäder sind dabei von peinlichster Sauberkeit.
Nur in einem Männerbad in einem Arbeiterviertel hat man die Zellentüren ausheben und wegschaffen müssen, weil hinter ihnen Greuliches geschah. Sonst ist das Publikum sehr ordentlich. Manchmal allerdings, auch wenn es nicht zahlt, sondern "von der Wohlfahrt" kommt, sehr ungeduldig. Da, wo ich zu baden pflege, schimpft eine ältere weibliche Person laut, weil es so lange dauere, bis sie zur Massage herankomme. Aber man glotzt sie ohne sonderliche Teilnahme an; und eine vorübergehende Scheuerfrau meint:
"Na, ick kann Ihnen ja mal mit'n Schrubber bearbeeten, det is ebenso jut wie Massage!"
Den meisten Spaß macht mir ein Anschlag in den Bädern. Da steht: "Männliche Personen mit längerer Haartracht haben im Schwimmbecken Badekappen zu tragen." Recht so. Übrigens nimmt der militärische Haarschnitt bei dem männlichen Jungvolk Berlins stark zu.
15. September 1932 (Donnerstag)
3
Wo der Soldat tanzt - Hofmusikanten-Wettbewerb - Modenschau im Zoo - Von 1932 zu 1910 - Das Schnürkorsett kommt - "8 Mädels im Boot" - Der neue Fridericus-Film - Otto Gebühr zu Hause.
Bitte sehr: in den Clou. Als Berlin noch eine Riesengarnison war, verteilte sich alles mehr, meist in die Nähe der Kasernen oder in die Vororte. Auch wurde damals noch nicht so viel getanzt. Kaczmarek war zufrieden, wenn er Hand in Hand mit seiner Minna oder Jette bei einem Glase Bier saß. Heute haben wir nur noch ein Wachregiment in Berlin und etliche Abkommandierte. Also Clou in der Mauerstraße.
Das war mal eine Markthalle, jetzt ist es ein wunderbar eingerichtetes Massenlokal für den soliden Mittelstand mit dem wohl größte Tanzparkett Berlins.
Ein braves Lokal mit Flottenverein, Stahlhelm und so, mit einem Orchester (abgesehen von der abwechselnd immer einsetzenden Tanzkapelle), das schöne Märsche spielt und "O alte Burschenherrlichkeit" und "Kling, klang, goldener Wein" und "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren". Nun sind Sie im Bilde, nicht wahr?
Da haben Tausende Platz, der Eintritt kostet nur 50 Pfennige, und dafür wird noch allerlei besonderes, variétéartiges geboten. Also da tanzt der Soldat, wenn er eine hat oder eine weiß oder eine sucht. Da findet er kleine Beamtenfamilien mit Töchtern, da findet er auch einzeln das Ladenfräulein oder die Hausgehilfin. Alles sehr anständig und sehr schlicht. Nur sehr selten verirrt sich hierher eine Gemalte mit Windstoßfrisur und Festhalteschleier. Hier kann man sich wirklich welche zum Heiraten aussuchen. Und da dreht der Stabsgefreite von der Artillerie eine Sohle, da fegt ein Musketier einher, da versucht ein Unteroffizier von der Kavallerie den Rumba neu zu beleben.
In der vergangenen Woche hatte der Clou ein Zugstück. Nicht der schönste Bubikopf oder die schlanksten Beine wurden - wie in anderen Lokalen - prämiiert, sondern die beste Gruppe von Hofmusikanten. Außer Wettbewerb zuvor Einmarsch, Klampfen und Singen von 12 Werkstudenten. Gut, daß es außer Wettbewerb war, denn da schmolzen schon die Herzen. Die eigentlichen Hofmusikanten mit Geige, Harmonika und Begleitgesang waren viel mäßiger; und ihre Zahl ist Legion. Dann schon lieber tanzen!
Jedes Lokal versucht heute so, durch Sonderdarbietungen das Volk zu locken. In den Festräumen des Zoo - auch fast eine Woche lang - die große Herbstmodenschau mit eingelegten Tänzen und sonstigem Variété. Herrlich geschmackvolle Sachen bis zu den luxuriösesten werden da gezeigt. Kauft wer? Bewahre! Für ihre 2 Mark sitzt die Frau aus dem Mittelstande, die sich eigentlich nichts mehr leisten kann, da; es genügt ihr, daß sie in den Erregungszustand kommt, der jede Frau beim Anblick schöner Kleider packt, die den Mannequins "auf den Leib geschnitten" sind. Das alles ist nichts für Frau Müller oder Frau Lehmann, aber man will doch mit der Zeit mit, nicht wahr? Und wenn dann gegenüber den wirklich verführerischen Toiletten von heute die von 1910 gezeigt werden, lacht alles.
Die Bade- und Sportanzüge sind freilich ganz anders als damals, sonst aber nähern wir uns doch mit Riesenschritten der Mode von 1910. Das lange Kleid ist wieder da. Der große Hut ist beileibe noch nicht ausgestorben, sondern taucht an sonnigen Tagen immer wieder auf und wird als kleidsam und malerisch empfunden. Es gibt wieder Blumen auf den Hüten. Die langen Handschuhe sind wiedergekommen. In den Schaufenstern erscheint die alte Boa.
Und das tollste: neben anderen, "bloß mit Gummi", zeigt sich auch erneut - das Schnürkorsett.
Als meine verstorbene Mutter noch keine dünne alte Dame, sondern eine mehr volle als schlanke junge Frau war, habe ich einmal gesehen, wie das Dienstmädchen sie hinten zuzog. Das war schrecklich. Ich habe es nie vergessen können. Dann verlobte ich mich als ganz junger Dachs mit einem Mädchen, dessen "Taille" berühmt war, weil man sie mit zwei Daumen und zwei Zeigefingern umfassen konnte. Mir war das unheimlich. Ich war mehr für die Venus von Milo, die sicher am Barren die Kippe hätte machen können, was meine Braut zu meiner Verachtung nicht fertig kriegte. Sicherlich wegen der "Taille" und so! Denn Bauchmuskeln konnte man damals gar nicht haben, höchstens Speck, wenn man älter wurde.
Eines Tages, mitten aus blauem Himmel heraus, fängt mein Mädel an zu weinen.
Warum?
"Ich weiß selber nicht!", sagt sie.
"Nun", sage ich stockend, denn damals sprach die Jugend noch nicht so frei wie heute, "bist du - am Ende - zu eng - geschnürt?" Sicherlich bin ich dabei rot geworden. Sie aber erwidert nur: "Ach wo, du könntest noch deine ganze Faust zwischenstecken!" Da werde ich noch röter und schweige.
Heute ist es, wie gesagt, ganz anders, obwohl wir in der Mode wieder rückwärts marschieren. Wie es ist, das kann man aus dem Film "8 Mädels im Boot", dessen Uraufführung ich gestern mitmachte, erfahren. Dieser Terrafilm, von dem ganz ausgezeichneten Regisseur Waschneck szenisch und photographisch prachtvoll herausgebracht, wird seinen Weg im Sturmlauf machen. Man sieht die körperliche und seelische Verfassung von 18 (nicht nur 8) ganz modernen Mädels, die einem Ruderklub am Wannsee angehören, dessen Rennachter im Training ist. Man sieht diese 18 fast präraphaelitisch Schlanken im Luft-, Schwimm-, Strand-, Ruder- und Schlafanzug und beim häufigen Schlüpfen aus dem einen in den andern, man sieht sie - ästhetisch ist es wunderschön - bei ihren Schwimm-, Ruder- und Freiluftübungen und im Schlafsaal des Klubhauses. Oder auch im eigenen Privatauto; denn Geld haben sie wohl alle, sie gehören zu der sogenannten guten Gesellschaft.
Eine von ihnen, eine Primanerin, "geht" mit einem Studenten der Chemie, einem Habenichts ohne Aussichten, einem etwas schlaffen, ganz unsicheren Kantonisten. Also sie geht mit ihm, wie es früher die junge Fabrikarbeiterin mit dem Schlossergesellen tat. Der Erfolg, der eine Gretchentragödie einzuleiten scheint, ist, daß sie sich, noch vor dem Abiturium, Mutter werden fühlt.
Im Zuschauerraum sitzen, erhaben lächelnd, Primanerinnen und drücken ihr Stadtköfferchen samt Inhalt beruhigt an sich. Mutter werden? Sowas ist doch heute nicht mehr nötig! Im Stück selbst, das ist das Erschütternde, "findet keiner was bei", wie ja jedenfalls auch Proletariermädchen so etwas natürlich fänden, sondern der Mädchenruderklub ist jauchzend bereit, Mutter und kommendes Kind einfach - man kann sich doch im Taschengeld einschränken - durchzufüttern.
Christa freilich (Karin Hardt) hat einfach Angst und bringt dies auch fabelhaft rührend zum Ausdruck.
Der Student rät: "Wegmachen lassen!"
Christa tritt also den schweren Gang zu dem ursprünglich zu allem bereiten stud.med., dem Freunde ihres Semestergeliebten, an, aber rechtzeitig, ehe - die Zensur den Film verbietet, bittet Christa, "es am Leben zu lassen" und flüchtet aus der Studentenbude, während auch der stud.med. - Achtung, § 218! - erklärt: "Ich bringe es nicht über mich!"
Wird nun eine Gretchentragödie daraus? Bewahre! Der Vater, ein reicher Baumeister, wird alles applanieren, er gibt dem Weichling von Studenten einfach das Nötige zum Heiraten. Und die Mädels im Ruderklub jubeln. So etwas möchten sie gleich auch. Die Hemmungen der "guten Familie" sind bei diesem Publikum heute noch zum Teufel.
Ich hoffe, es kommt bald eine Zeit, wo man solch einen Film, trotz seiner unzweifelhaften Schönheiten, trotz seiner Unstrafbarkeit, trotz der herrlichen Wasserszenen, im neuen Deutschland ablehnt. Aber den Versuch zu machen, ihn totzuschweigen, wäre sinnlos, denn er wird in den nächsten Wochen über jede deutsche Kinoleinwand laufen.
Und er ist immerhin ein Stück Kulturgeschichte von 1932, aus der Zeit, wo sogenannte beste Familien proletarisiert sind.
Eine Erholung ist es da, wieder einmal Otto Gebühr in einem Fridericus-Film zu sehen, in dem Ufa-Film "Die Tänzerin von Sanssouci". Die Barberina, die diesmal von der ursprünglich so starren Lil Dagover gelockerter, rokokohafter dargestellt wird, als man es der "Göttin Kwannon" wohl zutrauen mochte, ist schon mehrfach verfilmt und vertheatert worden. Auch ist dieser - ich glaube, sechste - Fridericus-Film nicht der beste von Otto Gebühr, obwohl er wie immer staatsmännisch und groß, schalkhaft und galant ist, denn der Filmheld bekommt eben doch seine Szenen fertig vorgelegt, läßt sich kurbeln und ist im übrigen einflußlos. Zum Schluß sorgen freilich Fahnen, Grenadiere, Märsche für die richtige Fridericus-Stimmung; und die Szene mit den überraschten österreichischen Generalen im Schlosse, diese historische Szene, ist ganz prachtvoll.
Neulich bin ich bei Otto Gebühr eingefallen.
Man klettert vier - oder sind es gar fünf - Treppen empor und landet im Dachgeschoß in einem bohèmeartigen Atelierraum, in dem der Künstler, persönlich bedürfnislos wie sein großes Urbild, zwischen einer Staffelei und einer Anzahl von Lauten haust, ohne Lorbeerkränze und Brimborium, ohne kostbare Möbel, ohne einen Tizian oder so etwas an der Wand.
Eigentlich hat man keinen Blick für diese Dinge. Etwa, daß weder Zentralheizung noch ein Gekachelter hier steht, sondern nur ein eiserner Kanonenofen wie aus dem Unterstand im Kriege. Man muß nur immer in dieses liebe, gute, geistvolle Gebühr-Gesicht sehen. Das ist ein Mann, den man von vornherein gern hat, weil er nur die Rollen anständiger, ehrenfester Männer alter Art spielt. Ich denke an seinen Hauptmann in den "Sporckschen Jägern" oder an seinen Kapitän z.S. in "In Treue fest". So etwas liegt ihm, denn - so ist er.
Im Leben spielen wir alle Theater, aber im Theater will der Darsteller sich selbst spielen.
Es ist nicht so von ohngefähr, daß manche Filmerin immer und immer wieder eine Vampyr-Rolle bekommt; Otto Gebühr könnte man niemals einen Schuft verpassen. So hat ihn ganz Deutschland, auch auf der Sprechbühne, lieben gelernt. Er filmt im Jahr etwa 2 Monate, und 10 Monate ist er auf Gastspielen unterwegs, wo er zuletzt in der Hauptsache Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" und Rudolf Presbers "Die Ballerina des Königs" in allen Groß- und Kleinstädten vorgeführt hat.
Irrt man einmal von Gebührs Gesicht ab, an dem man mit grenzenlosem Vertrauen sich eingräbt, so ist man einigermaßen erstaunt. Dieser Mensch ist nicht nur nicht "zurechtgemacht" für angemeldeten Besuch, sondern bleibt "ganz wie zu Hause". Er hat eine graue Flanellhose an und einen braunen ausgeschnittenen Sweater; ob überhaupt ein Hemd darunter ist, bezweifele ich fast. Statt des Kragens hängt ihm um den Hals ein dünnes altersgraues Bindfädchen.
Also: in Magdeburg tritt Otto Gebühr in dem Presber-Stück auf, in dessen erstem und letztem Akt er als Fridericus die Flöte an die Lippen zu setzen hat. Eine Frau Geheimrat in Magdeburg, geborene v.Prittwitz und Gaffron, begeistert von Gebührs Spiel, leiht ihm dazu aus Familienbesitz eine Originalflöte Friedrichs des Großen. Die ist, wie üblich, in vier Teile zerlegt und so ins Futteral verpackt; man muß beim Zusammensetzen um jedes Einschiebsel, denn das ist meist eingetrocknet, ein bißchen angefeuchteten Bindfaden wickeln, damit die Flöte beieinander bleibt.
Und Otto Gebühr sagt mir:
"Ein Stück von dem alten Bindfaden habe ich mir geklaut. Vielleicht hat noch Friedrich der Große selber darauf gespuckt, bevor er ihn wickelte. Jetzt ist das mein kostbarer Talisman."
22. September 1932 (Donnerstag)
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Glossen 4 - 6 |