"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 40 - 42
16. bis 30. Juni 1932


40

Kuraufenthalt daheim - In der Waldschenke und auf der Weinterrasse des Zoo - Im Geschwader über Berlin - Internationaler Flugtag 1932 - Was Gronau berichtet - Trittroller oder Wipproller - Im Gedenken an den 15. Juni 1922.

"Gehen Sie nach Reinerz!"   "Kissingen würde Ihnen gut tun!"   "Ich empfehle dringend Ems!"   "Nenndorf ist für Sie das Richtige!"

Die Ärzte haben gut reden. Die meisten Berliner, denen so etwas gesagt wird, zucken die Achseln und machen die Geste des Geldzählens. Und dann beschließen sie, eine der empfohlenen Kuren - in Berlin zu machen. Am Lietzensee. Im Schöneberger Stadtpark. Im Zoo. Überhaupt fast schon überall, wo es hier etwas Grünes gibt, gibt es auch Brunnenjungfrauen, die einem frühmorgens alle Heilwasser kredenzen.

Herrlich, so mal ganz früh am Morgen, schon kurz nach 7 Uhr, ehe man an seine Tagesarbeit geht, im Zoo statt zu Hause in seiner Etagenwohnung zu frühstücken. In der sogenannten Waldschenke und unter den Bäumen rundum sieht man die Kurgäste mit dem Glas in der Hand vorschriftsmäßig promenieren. Da trinkt einer, der eine dicke Leber hat, Brambacher Schillerquelle. Einer mit Gichtknoten an den Fingern hält Salzschlirfer Bonifaziusbrunnen in der Hand. Einer, dessen Blase ihm zu schaffen macht, hat Wildunger Helenenquelle gefaßt. Und ein Zweizentnermann, der in weißer Flanellhose und blauem Blazer mit Goldknöpfen erschienen ist, bekämpft mit Mergentheimer Wasser sein Fett. Alles kann man haben.

Und dann das Frühstück! "Bitte Kaffee, Herr Ober."   "Karlsbader oder Berliner?" Auch das noch! "Berliner, bitte!"   "Sehr wohl, mein Herr!" Und dazu gibt es leckere frische Hörnchen - Kipfln - und Butter und ein Ei im Glas. Und in den Bäumen lärmen die Vögel, grüne Sittiche, die hier frei umherfliegen. Zweie haben gerade eine Mensur, und die Nichtpaukanten schnattern ihre Kritik.

Das Publikum läßt es sich wohlsein. Was für ein Publikum? Das ist mit einem Satze gesagt: drei Viertel der Hunderte hier lesen das "Berliner Tageblatt", ein Viertel den "Berliner Lokalanzeiger". Noch eine nähere Erklärung nötig? Ich glaube nicht. Dazu schlagert eine kleine Kapelle: Klavier, Geigen, Cello, Saxophone, Trommel.

Schade. Man hörte lieber getragene Weisen, Volkslieder, Schlichtes. "Frühmorgens, wenn die Hähne kräh'n" oder "Ännchen von Tharau" oder so etwas.

Auch am späten Abend ist es schön im Zoologischen Garten. Ob in Berlin, ob in Köln, ob in Hamburg: früher waren die Zoologischen Gärten immer eine Verlobungs-Einrichtung. Da fanden sich bestimmungsgemäß beim Promenieren die jungen Leute, während die "beiderseitigen " Eltern derweil an einem Tisch beisammensaßen. Das hat natürlich längst aufgehört. Heute wird einem plötzlich ein wildfremder Mensch ins Haus gebracht und man erfährt dann, das sei der Schwiegersohn oder die Schwiegertochter; und was vorher war und wie es war, das erfährt man selten.

Aber trotzdem: schön ist es hier am späten Abend eines warmen Tages, wenn man auf der Weinterrasse sitzt und über den großen Teich mit seiner spiegelnden Lichterbrücke sieht.

"Fabelhaft, dieses Berlin!", sagt der Konsul aus Cartagena, sagt auch tags darauf der junge Fabrikbesitzer aus Sao Paulo, die uns besucht haben. "Einfach fabelhaft! Da merkt man doch nichts von Armut!"

Zwei verabschiedete Admiral an unserem Tisch nicken geistesabwesend und berechnen gerade, um wieviel ihre Pension wieder gekürzt wird. Und mir fällt ein, daß der Pächter der Zoo-Restauration Pleite gemacht hat. Aber wozu davon sprechen? Berlin repräsentiert immer noch. Der Konsul hat recht: gegen dieses gastliche, unterhaltende Berlin ist London ein Kafferndorf.

Und der Berliner nutzt die Gelegenheiten aus und gibt gern seine letzten 50 Pfennige weg, wenn er dafür einen Nachmittag hindurch weltstädtische Unterhaltung hat und die ganze Misere vergessen kann. So ist auch am letzten Sonntag, einem wirklichen Sonnentag, alles wieder voll gewesen, die Strandbäder, das Traberderby und vor allem der Flughafen. Hier war es eine Viertelmillion Menschen. Eine Viertelmillion! Unten war das eine ungeheure Masse, Kopf an Kopf, aber aus der Vogelschau ein kleines buntgetupftes Tulpenbeet. Ich habe es mir zunächst von oben angesehen, dieses internationale Flugsportfest. Fünf dreimotorige Großflugzeuge standen zu einem Geschwader-Passagierflug bereit, der jedem Teilnehmer nur 6 Mark kostete, obwohl es statt der sonst üblichen 10 Rundflugminuten 33 waren. Zuerst weit nach Süden, bis über grüne Felder und Wälder, dann zurück über die Weltstadt, über den klitzekleinen Lunapark und das winzige Funktürmchen hinweg, bis nach Döberitz. Zur Linken liegen Havel, Schwanenwerder, Wannsee. Dann zur Oberspree, wo man den Müggelsee übersieht, und wieder zum Flugplatz.

Eine Staffel von 7 kleinen Flugzeugen, von Staaken kommend, hat unseren Weg gekreuzt. Es sieht fast kriegsmäßig aus; ich wundere mich, daß keiner schießt. Seit 1918 habe ich so etwas nicht mehr erlebt. Nur sitze ich diesmal nicht im offenen Flugzeug, die rechte Hand am Maschinengewehr, sondern mit 15 anderen Passagieren auf Klubsesseln in der Kabine, mehrere jungen Studentinnen darunter, die ihren Heidenspaß an dem ersten Fluge ihres Lebens haben.

Bei der Landung im Flughafen stoßen wir auf ein langes Spalier von Studenten in Wichs, am Schlusse der Reihe drei akademische Stahlhelmer mit der umflorten alten Kriegsflagge und eine Anzahl nationalsozialistischer Studenten mit der Hakenkreuzfahne. Richtig: an dieser "Internationalen Flugschau 1932", vom Aeroklub vorbildlich organisiert, nehmen ja auch die akademischen Fliegergruppen Hannover und Berlin statt, und die werden von ihren Kommilitonen begrüßt.

Nun wickelt sich das ganze Programm ab. Kunstflüge von Angehörigen verschiedener Nationen. Formationsfliegen der Verkehrsfliegerschule Braunschweig mit 7 Albatros As, drei Segelflieger in seligem Schweben und Emporschrauben - von 600 auf 1100 Meter - und Herabgleiten und Landen, Ballonfangen, Fallschirmabsprung, Flugzeugrennen. Zum Schluß: "Bomben auf Berlin".

Ein paar Kulissenhäuschen, ein Potemkinsches Dorf, werden durch Bombenflieger, in Wahrheit durch einen Pyrotechniker, in Brand gesetzt. Es knallt, es raucht, es brennt. Beabsichtigt ist, dem Publikum die Gefahr greifbar und anschaulich zu machen und dadurch den Wehrwillen zu stärken.

Binnen 50 Minuten können tschechische und polnische Flieger von ihren Standorten aus über Berlin erscheinen, und wir haben nichts gegen sie, gegen ihre Bomben, gegen ihr Giftgas.

Aber das Publikum - lacht. Das Feuerwerk ist so schön, nicht wahr?

Das glänzendste an dem Tage ist das Auftreten der drei italienischen Kunstflieger, die ihre Loopings, Rollings, Rückenflüge, die bei uns Fieseler und Udet und die anderen als Solo-Vorführung exekutieren, gemeinsam machen, sozusagen in Tuchfühlung, in einem stets gleichbleibenden Abstand von nur je 5 Meter voneinander, als wären sie mit Gummistrippen verbunden. Ein so exerziermäßiges Fliegen habe ich noch nicht gesehen. Die drei Musketiere der Luft gehen im Sturzflug auf das Publikum los, bäumen sich gemeinsam hart vor dem Zaun, werfen sich im Looping rückwärts und bleiben auch im Rückenflug geschlossen. Sechsmaliges Anstürmen, sechsmal eine andere Figur. Nur ein einziges Mal kommt ein Flieger dem anderen so bedenklich, bis auf 1 Meter, nahe, daß man schon an Kollision und Absturz denkt, da nimmt er aber im letzten Augenblick Gas weg und kriegt auf diese Weise wieder Distanz.

Das ist wirklich preußischer Parademarsch in höchster Exaktheit, das ist nach unseren Begriffen so deutsch, daß das Publikum begeistert ist. Die Kapelle spielt die italienische Königshymne. Eine Viertelmillion Menschen klatscht Beifall; es geht wie Donner über das Tempelhofer Feld. Hoffentlich haben die Italiener, der tüchtige Colombo an der Spitze, etwas von dieser Freude bemerkt, hoffentlich können sie daheim berichten, man habe sie ausgezeichnet aufgenommen. Denn kurz vorher haben unsere deutschen Flieger, unsere Ozeanüberquerer, Köhl und Gronau an der Spitze, den ganzen Charme der italienischen Gastfreundschaft erfahren.

Ich habe gehört, was Gronau davon erzählt hat. Gronau, der 23. Mensch, der den Atlantic überflogen hat, ohne, wie die anderen 17, darin zu ertrinken. Also Nr.23. Hünefeld, dem es lange vor ihm gelungen ist und der daher eine niedrigere Nummer hätte, weilt leider nicht mehr unter den Lebenden. Lindbergh ist auch nicht in Rom bei dem Kongreß der Ozeanüberquerer; man weiß, warum. Aber die Italiener sind sehr zahlreich beteiligt, da sie als erste im Geschwaderfluge nach Südamerika flogen. Mit Balbo, dem Luftfahrtminister, an der Spitze. Welcher Minister bei uns ist am Steuer eines Flugzeuges denkbar? Prinz Heinrich von Preußen hat noch als alter Mann fliegen gelernt. Aber man denke sich die Schreibtischmenschen Müller, Brüning, Marx am Knüttel! Mussolini hat es geschafft; der italienische Ministerpräsident, der Duce, hat das Führerzeugnis. Und nun lasse ich Nr.23 erzählen. In den Schaufenstern: sein Bild mit Nr.23. Im Hotel sein Zimmer: Nr.23. Sein Auto: Nr.23. Überall weiß das Publikum sofort, wer er ist. Der Tedesco, der Deutsche. "Eviva il Tedesco!", es lebe der Deutsche, ruft das Publikum begeistert. Auch im Schlafwagen die Kabine Nr.23. Am Bahnhof ein deutschsprechender italienischer Fliegeroffizier zum Empfang, zwei Soldaten zur Besorgung des Gepäcks. In jeder Stadt im Hotelzimmer eine Mappe mit Wappen und Briefpapier, Visitenkarten(!), Stadtplänen, Programmen, Verkehrsangaben - alles Sonderdrucke - in deutscher Sprache.

Dann die Tagung selbst unter Balbo über Nutzbarmachung der einzelnen Ozeanstrecken. Die Franzosen machen Schwierigkeiten. Sie wollen ein Monopol für sich. Balbo bringt den Antrag ein, daß dies nicht sein dürfe. Die italienischen Ozeanüberquerer haben 50% der Stimmen, ihr Geschwaderflug gibt ihnen diese Stärke. Auf 12 Uhr nachts wird die Weitertagung anberaumt, zwei fehlende Flieger werden noch herangeschleift, Balbo spricht bis zur Ermattung der Teilnehmer: dann hat er endlich den Sieg.

Am nächsten Tag die Flugvorführung. Großartig durchgebildetes Personal. Angriffe von 3 Fliegern auf ein Maschinengewehrnest. Sturzflug, Beschießung im Looping vorwärts, Kreisflug, erneute Beschießung, im Rückenflug ab. Ungeheurer Eindruck auf alle Zuschauer.

Auch wir, wir erst recht, hätten solche Leute, aber die militärische Luftfahrt ist uns ja verboten. Und obwohl wir die besten Maschinen (aber nicht: die besten Motoren) konstruieren können, werden jetzt sogar die Junkerswerke zum größten Teil stillgelegt, da die Verkehrsluftfahrt als Abnehmer nicht genügt. Dafür seien wir ja führend in Kinderspielzeug, schrieb neulich spottend ein ausländisches Blatt. Gewiß, das sind wir. Unsere Federindustrie liefert den schönsten Indianer-Kopfschmuck. Unsere Käte-Kruse-Puppen sind die natürlichsten der Welt, nur daß immer weniger Eltern sie bezahlen können. Und unsere Holzwarenfirmen stellen berückende neue Roller her. Einer dieser Selbstfahrer prallt vorgestern auf dem Bürgersteig der Wilhelmstraße gegen mich, daß wir beide fast stürzen; ich rüffele - nicht hart, sondern freundlich - den kleinen Jungen, erhalte aber nur die Antwort:

"Quatsch' keene Opern, Mensch, pass' lieber uff, dettste den Vakehr nich störst!"

Wie das Urfahrrad, das der Freiherr v.Drais baute, die Draisine, dadurch bewegt wurde, daß der Fahrer, in der Mitte der zwei Räder auf dem Sattel sitzend, sich mit den Füßen dauernd abstieß, so war auch der bisherige Roller unserer Großstadtjugend ein primitives Ding, auf dessen Brettchen man mit einem Fuße stand, während man mit dem anderen abstieß. "Gott, wie altmodisch!", sagen heute die Kinder. Auch die ganz kleinen Mädchen kennen nur noch das Fachsimpeln über die eine Frage: Trittroller oder Wipproller? Bei beiden - Naether heißt der eine Fabrikant, Falter der andere - ist das Prinzip die Bewegung des Fahrzeuges durch dauerndes regelmäßiges Niedertreten eines Hebels, der das Rad in Bewegung setzt. Abstoßen ist also nicht mehr nötig. Man hat sein Auto mit Beinmotor. Der einst so vielbesprochene Erfinder Ganswindt, der schon auf das Treten und Wippen versessen war und nebenbei von Windmühlenflugzeugen träumte, hätte seine helle Freude daran, jetzt diese einfachen Apparate für 19½ und für 18½ Mark zu sehen, die drauf und dran sind, die Welt zu erobern.

Im übrigen ist uns nichts weniger als nach Welterobern zu Mute. Gestern war der zehnte Jahrestag seit der Zerreißung Oberschlesiens, obwohl bei der Volksabstimmung 62% für Deutschland, nur 38% für Polen optierten. Damals hätten wir die Polen noch hinaushauen können, aber die verehrliche Berliner Regierung wollte nicht.

Jetzt gieren die Polen nach Danzig, da sie gesehen haben, wie leicht das 2-Millionen-Volk der Litauer das Memelgebiet mitten im Frieden "erobern " konnte. Und nach Danzig folgt Ostpreußen, wenn wir nicht sehr bald unsere Rüstungsfreiheit uns wiedernehmen.

Nein, nach Welterobern ist uns nicht zu Mute, sondern nur nach Schutz für das noch existierende Rumpfreich und nach einer deutschen Landbrücke über den trennenden polnischen Wallgraben, den nicht nur Mussolini, sondern die ganze Welt für eine Ausgeburt des Wahnsinns hält. Aber im Preußischen Landtag wird derweil anscheinend wichtigeres auf die Tagesordnung gesetzt, darunter der kommunistische Antrag, - den Prinzen August Wilhelm von Preußen des Landes zu verweisen. Zum Glück steht eine neue Zeit schon vor den Toren. Dann werden den roten Herrschaften ihre Anträge im Halse stecken bleiben; und es werden ganz andere Vorlagen kommen, über denen die Überschrift steht: Freiheit für Deutschland!
16. Juni 1932 (Donnerstag)


41

Dreidimensionaler Sport - Nächtlicher Rundfunk - Schmeling-Sharkey - Mordsport in Berliner Straßen - Mit Holländern auf Dachgärten und im Lunapark - Bloß nicht studieren - Der Mann als Hausfrau - Kinderfest im Zoo - Johannes Schlafs Siebzigster.

Der Sport kostet den Zeitungen viel Papier, denn er ist heute sehr vielseitig geworden, sozusagen dreidimensional. Zu der Bewegung auf der Fläche - zu Lande oder zu Wasser - ist nämlich noch die in der Luft hinzugekommen. Und schon auf der Fläche gibt es hunderterlei Neues, was wir, als wir noch Kinder waren, nicht kannten. Wer wußte etwas von Fußball oder Boxen oder Skilauf? Als Junge fuhr ich Hochrad, mit dem man manchmal vornüber kippte, schwamm selbstverständlich stundenlang, ruderte schon im richtigen Rennboot und hatte außerdem zweimal wöchentlich Säbelfechten.

Das war, glaube ich, alles.

Heute aber betreibt beispielsweise unser Jüngster sicherlich dutzenderlei Sport und besitzt außerdem die Führerscheine für sämtliche Motorfahrzeuge zu Lande, zu Wasser, zu Luft. Leiht sich zum vorigen Sonntag einen Udet-Flamingo und kommt zu Besuch einfach hergeflogen. Nein, so etwas haben wir, als wir noch Buben waren, wirklich nicht geahnt. Und als ich im späten Mannesalter selber fliegen lernte, da war das doch kein Sport, sondern Waffenhandwerk, und daneben träumte man davon, daß es einmal eine Verkehrsfliegerei geben könne. Aber daß jemand seine Ferien am liebsten immer hoch in der Luft verbringt und dort im Besitze des Kunstflugscheins mit seiner Maschine vergnügt Purzelbäume schlägt, das hätte man mal vor dreißig Jahren Tante Malchen erzählen sollen!

Segler, Faustballer, Autofahrer, Tennisspieler, Läufer, Poloreiter und die sonstigen Sportler in neunundneunzig anderen Arten suchen in der Zeitung nach "ihrer" Rubrik. Und sie alle, und dazu das nichtsportliche Volk der Nichtsalszuschauer, warten nicht erst auf das Morgenblatt, sondern stellen den Rundfunk an, wenn auf irgend einem Gebiet es etwa um die Weltmeisterschaft geht.

Ein übernächtiges Berlin hat so den Mittwoch früh herangewacht.

Der König der deutschen Faustkämpfer, "unser" Maxe Schmeling, unser Berliner Maxe, schlägt in Newyork oder wird geschlagen, während fünf Erdteile horchen. Wir Mitteleuropäer von 3 bis gegen 5 Uhr. Da hat man es in Bombay bequemer, dort ist schon Frühstückszeit, während Berlin noch Nacht und Newyork erst Abend hat. Wir bei uns zu Hause hatten nicht die Absicht, bei nachtschlafender Zeit schon zu erfahren, ob Maxe neben seinen 132 000 Dollar Abendgage auch noch den Titel als Meisterboxer der Welt behält oder nicht. Aber was kann man machen, wenn in das geöffnete Schlafzimmerfenster herein aus dem geöffneten Fenster eines anderen Stockwerks plötzlich ein Lautsprecher brüllt, mitten in die fast absolute Stille?

Unwillig wehrt man sich gegen die verworrenen Geräusche, die die 70 000 Zuschauer in Newyork von sich geben, aber schließlich reißt man doch Augen und Ohren auf.

"Sharkey spuckt Blut, seine Lippe ist gespalten!"   "Schmelings Linke saust an Sharkeys Ohr!" So, so. Überall aus den Fenstern brüllen die beiden deutschen Ansager in Newyork, unsere halbe Straße ist hell erleuchtet. In Berlin W in einer kleinen Villa sitzt im Oberstock die ganze Familie in Pyjamas und Morgenröcken um den aufgeregt lärmenden Lautsprecher herum, während gleichzeitig unten unbemerkt Einbrecher für 5000 Mark Silber und Teppiche einpacken. "Aoh, yes, I am happy, Smeling is a fine fighter!", keucht Sharkey nachher ins Mikrophon. Auch der Newyorker Oberbürgermeister Jimmy Walker - die 70 000 haben ihn trotz seines Böß-Prozesses stürmisch begrüßt - sagt uns was durch die Luft über Tausende von Seemeilen hinweg; es klingt, als säße er im Nebenzimmer, nur klingt alles etwas betrunken.

Also nun wissen wir es. Schmeling hat, so hat die Mehrheit der Schiedsrichter geurteilt, nach Punkten verloren, obwohl er der ständige Angreifer war, Sharkey sich nur verteidigte. Bei gleicher Größe hat Schmeling 3 Zentimeter Reichweite mehr, weil seine Arme länger sind. Sharkey ist tüchtig angeschlagen, ein Auge ist ihm völlig zugequollen, das Publikum pfeift und heult zu dem Urteil der Schiedsrichter. Aber da ist nichts zu machen.

In derselben Nacht blüht auch in der deutschen Reichshauptstadt der Boxsport in Straßen, deren Gaslaternen vorher sorglich ausgelöscht sind. Nur sind das nicht faire Zweikämpfe mit 4-Unzen-Handschuhen, sondern Mehrheitsüberfälle mit Schlagring und Messer. Rotfront und Reichsbanner vermöbeln sich oder hauen gemeinsam auf Nationalsozialisten und Stahlhelmer ein. Zur Abwechslung wird auch auf Polizei geschossen. In der nächsten Nacht gibt es schon Barrikaden, in einer Straße müssen Panzerautos gegen die Kommunisten eingesetzt werden. Aber Berlin hat viele Tausend Straßen, in den eigentlichen bürgerlichen Wohnvierteln merkt man nichts von diesem politischen Mordsport, und die Fremden können ruhig im Adlon oder im Fürstenhof oder im Esplanade absteigen, ohne eine Störung ihrer Nachtruhe befürchten zu müssen. In Spanien ist es zur Zeit vielleicht ärger als in Deutschland, selbst wenn man das Ruhrgebiet zum Vergleich heranzieht, wo schon Generalprobe zum Bürgerkrieg stattfindet. Herrn Severing und den übrigen roten Zauberlehrlingen ist vielleicht nicht ganz wohl dabei. Jetzt sähen sie es wohl gerne, daß sie schon abgelöst wären und daß der neue Zentrumskanzler v.Papen, der äußerlich in Opposition gegen sie und das Zentrum steht, den Kampf auf seine Kappe nähme.

Wie gesagt, man merkt nichts. Ein junges holländisches Ehepaar - der Mann ist Arzt und hat beruflich in Berlin zu tun - klammert sich ängstlich an mich. Die beiden denken: es wird gleich um die Ecke geschossen werden. Bewahre. Ich zeige ihnen etwas von Berlin, oben vom Europahaus am Anhalter Bahnhof aus. Der Fahrstuhl bringt einen für 20 Pfennige über das 11. Stockwerk hinaus. Da liegt einem ganz Berlin friedlich wie ein Neufundländer zu Füßen. Auf dem Rasen stehen zu kostenloser Benutzung Liegestühle, man sonnt sich, man starrt in die Himmelsbläue oder auf surrende Flieger und man ist weltentrückt.

Dann möchten nachmittags die beiden zu einem Tanztee, der so verrucht wie nur möglich sein soll. Das gibt es nicht mehr. Aber wenn man etwas widerwärtig hypermondänes sehen will, lauter Frauen und Mädchen in Pariser Kriegsbemalung, so mischt man sich eben unter die Gäste des Eden-Hotels auf dem Dachgarten. Viel anders sieht es auf einer Tanzdiele in Nizza auch nicht aus. Meine junge Holländerin fällt auf, weil sie die einzige ist, die nicht Lippenrot aufgelegt hat, nicht gepudert oder lackiert ist. Erstaunen bei den Damen von Berlin W, hie und da bewundernde Blicke von den Herren. An Barrikaden denkt hier noch kein Mensch.

Auch der Lunapark in Berlin-Halensee, dieser größte Rummel Europas, auf dem nur der Besuch immer mehr versiegt, atmet trotz der Ausrufer und Anreißer tiefen Frieden. Man hat das alte Programm mit allen "Attraktionen" und dem Feuerwerk am Abend, aber man sucht natürlich krampfhaft nach etwas neuem, zugkräftigen. Man hat gehofft, daß es der Mastsitzer werde. Das ist ein beschäftigungsloser Tenor, der sich anheischig gemacht hat, drei Monate lang ununterbrochen hier auf der zeltbahnumpannten Mars zu sitzen. Angeblich Tag und Nacht, bei jedem Wetter. Das Publikum kann es natürlich nicht nachprüfen, denn um 11 Uhr abends wird der Park für Besucher geschlossen, aber es freut sich an dem "Rekordversuch" und sieht zu, wie der Sänger gelegentlich durch Klettern sich etwas Bewegung macht, oder hört hin, wenn er eine Arie schmettert.

Niemand ist darüber erstaunt, daß ein Tenor im Mastkorb sitzt. Immer noch besser als zu "stempeln", als sich allwöchentlich seine 6½ Mark oder in höheren Lohnklassen etwas mehr Arbeitslosengeld abzuholen. Beim Dauertänzer Fernando wunderte man sich noch, jetzt aber über gar nichts mehr. Wenn ein abgebauter Professor der Sinologie nächstens Unter den Linden auf allen Vieren liefe und dann den Hut hinhielte, würde man ebenfalls nichts dabei finden.

Man denkt nur darüber nach, wie man der überhandnehmenden Bildung Einhalt tun könnte. Die Zahl der Studierenden wächst uns über den Kopf. Nun will man die Abiturienten, die bisher fast durchweg das Risiko des Studiums auf sich nahmen, vor dieser hoffnungslosen Sache bewahren und in einer Siedlerschule, in Karlshorst bei Fürstenberg in Mecklenburg, für das Landleben erziehen. In der männlichen Jugend gibt es viel "Meinung" dafür. Vielfach wollen freilich die Eltern noch nicht, daß ihre Söhne Kleinbauern werden. Der Erfolg des ersten Jahres dieser Schule soll gut sein, aber festgestellt wird schon jetzt, daß sie nicht aus Berlin Zuzug hat, sondern eigentlich nur aus Kleinstädten, wo man noch erdverbunden ist. Noch mehr täte eine Eindämmung des Studiums unserer jungen Mädchen not. Das Burschenlied "Ein freies Leben führen wir" kennt jedermann, aber die Ungebundenheit der aus dem Elternhause weggeschickten Studentin ist für sie kein Gewinn. Die grausame Statistik sagt, daß 70 Prozent der akademisch gebildeten Frauen unverheiratet bleiben.

Zum Glück wissen wenigstens die kleinen Kinder noch nichts von diesen Nöten. Wir haben noch nicht, wie das kommunistische Rußland, Hunderttausende von heimlosen Kindern, die im Alter von 8 oder 10 Jahren schon um alles wissen und in Verbrechen und Schande leben. Bei uns sind doch noch fast alle Kinder in der Eltern Hut, auch wenn in vielen Familien bitteres Elend herrscht. Und wo es noch leidlich geht, da fehlt es auch nicht an Freude für die Kleinen. Selbst dort nicht, wo, wie es jetzt so häufig vorkommt, der Vater erwerbslos ist, die Mutter aber noch auswärts Arbeit hat. Ein bißchen verkehrt ist es ja. Der Mann macht die ganze Hauswirtschaft, scheuert die Diele, schält Kartoffeln, betreut die Kinder und bittet die Frau, die als Verdienerin der Haushaltungsvorstand ist, um etwas Geld, damit er sich mal ein paar neue Stiefel kaufen oder mit den Kindern in den Zoo gehen kann, während die Mutter irgendwo als Sekretärin oder Aufwartefrau oder Sozialbeamtin ihrem Berufe nachgeht. Wenn es nur die Kinder gut haben . . .

Einmal im Jahre ist großes Kinderfest im Zoologischen Garten; das für 1932 hat an diesem Mittwoch stattgefunden. Natürlich ist das ein Werbefest, bei dem die Aktiengesellschaft Zoologischer Garten tüchtig etwas springen läßt. Gleich am Eingang bekommen die Kleinen, wenn die 50 Pfennige Eintritt für sie bezahlt sind, bunte Mützen, Stocklaternen mit Licht, bunte Fähnchen in die Hand gedrückt. Innerhalb durch Seile von den "Großen" abgesperrten Plätzen allerlei Spiele, für jedes Alter andere: Sacklaufen, dem Esel den Schwanz anstecken, Ballwerfen nach einem Ziel, Steckenpferd-Wettreiten, Häschen in der Grube. Für die Nichtsieger gibt es Bonbons als Trostpreise. Etwa 20 junge Mädchen, Hortnerinnen aus dem Pestalozzi-Fröbel-Haus, hat der Zoo bestellt, damit sie leiten, ordnen, helfen. Die Mütter - oder, siehe oben, die Väter - stehen selig herum und sehen zu. Den größten Jubel bei den Kleinen löst das Kasperle-Theater aus. Sie jauchzen, wenn da ein Hampelmann von dem andern ordentlich eine Backpfeife, mit dem Kochlöffel, "geklebt kriegt". Pazifisten sind die Kinder nun mal nicht. Viel Spaß macht, wie immer, der sogenannte Onkel Pelle, diesmal ein Herr Graevenitz - Nichtberliner und vornehme Leute sagen statt Onkel Pelle immer noch maître de plaisir -, der nicht nur die Kasperle-Puppen mit den Händen dirigiert, sondern auch eine "große Kinderrevue" veranstaltet.

Da werden scheinbar wahllos zunächst 50 Kinder aus den vielleicht 1200 ausgewählt, ein kleines Dingelchen wird als Festkönigin kostümiert, ein zweites bekommt als russische Fürstin eine hübsche Nationaltracht und tanzt darin zum Entzücken, dann treten Frühling, Sommer, Herbst und Winter mit Gefolge auf, Rotkäppchen und Dornröschen werden improvisiert und auf einer Bühne gespielt, und man sieht, daß wirklich alles nicht eingeübt, sondern aus dem Augenblick geboren ist. Dazwischen gibt es berufsmäßige Vorführungen: das Kinderballett der Tanzschule Steffi-Nossen und Gymnastik der Preußischen Hochschule für Leibesübungen. Uns Großen hat dies letztere wohl am besten gefallen. Etwa 40 braungebrannte, kräftige, durchtrainierte junge Mädchen machen Sachen, die nahezu variétéreif sind. Und sie alle sind exerziermäßig-gleichmäßig in ihren turnerischen Kunststücken. Zum Schluß der große Fackelzug mit Musik voran, Marschmelodie: Fuchs, Du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her! Ein ganz herrlicher Tag für die Kleinen.

Etliche unter ihnen sind aber schon blasiert. Etliche genieren sich, die Papiermützen aufzusetzen, weil ihnen der eigene Hut besser steht. Zwei kleine etwa achtjährige Mädchen stehen beieinander, Haare gebleicht, Bubikopf stark gebrannt. Sie machen nicht mit, sie sehen nur zu. Und die eine von ihnen zeigt auf einen vielleicht zehnjährigen Jungen und sagt zu ihrer Freundin:

"Guck' Dir mal den Blauen da an, sieht er nicht einfach fabelhaft aus?"

Armes kleines Mädel. Was Du erleben wirst, wenn Du 15 und 16 Jahre alt bist, weiß ich im voraus. Deine Eltern gehören auf die Anklagebank. Du kannst nichts dafür. Und wenn Du erst 19 oder 20 bist, wird Dein Vater sich vielleicht die Haare raufen . . .

Wer heute über Berliner Kultur- und Sittengeschichte schreibt, von Klein und Groß, von Lust und Verzweiflung erzählt, der glaubt meist, daß seine Beobachtungen völlig neu seien. Dabei hat schon im Jahre 1909 ein deutscher Dichter, der ursprünglich als Begründer des "konsequenten" Naturalismus in der Literatur in Berlin lebte und schon vor Gerhart Hauptmann seine Furchen zog, in dem Roman "Am toten Punkt" alles vorausgesehen und unser zeitweiliges - Kräfte der Wiedergeburt hat das deutsche Volk immer - Verlorengehen vorausgesagt. In Rußland fange der Zusammenbruch an. Dann werde auch der Westen hereingezogen.

In den Straßen Weimars sieht man in dieser Zeit häufig einen untersetzten, muskelkräftigen, schlicht angezogenen Mann mit leicht angegrautem Knebelbart, den Kopf gesenkt, wie in tiefem Sinnen einhergehen, eine halbe Zigarre anscheinend schwerer Sorte "kalt" rauchend: das ist der Dichter, das ist Johannes Schlaf, der am Dienstag dieser Woche 70 Jahre alt geworden ist und noch immer in körperlicher und geistiger Frische schafft. Er ist weit über seinen Nachtreter Hauptmann hinausgediehen, hat schon in dem Roman "Das Dritte Reich" (man denke: im Jahre 1900 erschienen!) eine Weltanschauung entwickelt, die heute die unserige ist, und wird durch seine letzten Arbeiten zum Propheten unserer religiös-kulturellen Erneuerung. Er ist Naturalist, aber nicht Demokrat. Als liebstes von seiner Hand bewahre ich die Niederschrift eines Gedichtes auf, das er mir 1905 geschickt hat: "Dem Meerkaiser".

Dieses kaiserliche Rätsel da oben,
Das heute den Philistern zusetzt
Mit seinen Standarten,
Seinem Adlerhelm und Küraß,

wie es in dem Gedichte heißt, - auch dieses kaiserliche Rätsel hatte Johannes Schlaf erkannt, nicht "Romantik", sondern "Bewußtheit" als Lösung veröffentlicht und dafür herrliche Worte gefunden.

Vielleicht wird der Siebzigjährige von den heute Dreißigjährigen noch als Prophet und Lehrer einmal anerkannt, wenn sein Drittes Reich Wahrheit geworden ist.
23. Juni 1932 (Donnerstag)


42

Reichsliste und Kreisliste - Sozialismus - Der pflügende Bauer - Die Rente unserer Waschfrau - Einen Kaiser haben! - Erlebnisse auf Arbeitsämtern - Volksschülerinnen - Die Siebzehnjährige - Seekadett und alte Dame.

Kein Tag ohne politische Versammlung; die Bewegung zur Reichtagswahl Ende Juli kommt in Fluß. Die Vorsitzenden der Parteien sitzen vom Morgen bis zum Abend schwitzend über der Reichsliste, umgeben von Riesenhaufen von Briefen und Entschließungen der Kreisvereine, in denen verkündet wird, wer unbedingt - denn sonst erleide die Partei unberechenbaren Schaden - einen guten Platz als Kandidat auf Kreis- oder Reichsliste haben müsse. Die Ohren dröhnen einem schon von der ständig sich wiederholenden Reihenfolge der Gruppen, die Ansprüche haben. Also etwa: Arbeiter, Kleinbauer, Frau, Beamter, Lehrer, Persönlichkeit! Aber wie, wenn der rührige Leiter des Vereins der Zahntechniker für Lyck und Umgebung keinen Platz erhält, was dann? Und weshalb, Kruzitürkenelement, ist noch kein Postschaffner untergebracht, wo wir doch gerade aus diesem Kreise so viele liebe Wähler haben? Es ist schon ein Kreuz mit diesen Wahlvorbereitungen in Berlin für ganz Deutschland.

Natürlich ist jedes dritte Wort sozial und Sozialismus. Das ist seit Jahrzehnten das Sesam zum Tor des Zukunftsstaates. Ohne dieses Wörtchen hätten die Nationalsozialisten gar keinen Zulauf von links. Also muß es als Mittel zum Zweck frei sein.

Erst allmählich können die seit achtzig Jahren systematisch Verdummten einsehen, daß es ein Wahnsinn ist, mit dem in rabulistischer Rabbinerschulung großgewordenen Karl Marx als bestimmenden Gegensatz der Weltgeschichte Kapital und Arbeit hinzusetzen. Die Seele des Produktionsprozesses ist immer der Unternehmer, von dessen Kopf es abhängt, ob der Betrieb Ertrag abwirft oder schließlich stillgelegt werden muß. Nach Marx ist er aber nicht die Seele, sondern der Parasit des Produktionsprozesses, der den vom Arbeiter erschufteten Mehrwert einheimst. Der Oberfinanzrat Bang, einer der klügsten Männer der Rechten, neben Quaatz einer der beiden Raben des Göttervaters Odin-Hugenberg, hat am letzten Sonntag auf der deutschnationalen Führertagung im Kriegervereinshaus in Berlin ein durchschlagendes Geschichtchen erzählt, das man in jeder Volksversammlung denen vorsetzen kann, die im Sozialismus unsere Zukunft sehen, obwohl er bisher nur zu Unfreiheit, Hunger, Arbeitslosigkeit geführt hat. Also: ein Pflug geht über das Feld.

Wer pflügt? Der Bauer?

Der konsequente Sozialist muß sagen: nein, das Pferd!

Der Bauer ist der Parasit des Pflügungsprozesses, der ungerechtfertigt den Mehrwert einsteckt. Wir denken natürlich anders darüber, ohne deshalb die Arbeit des Pferdes zu mißachten. Und es ist selbstverständlich, daß das Pferd nicht überarbeitet sein darf, sein reichliches Futter, seine gute Pflege, seine anständige Unterkunft haben muß. Und wenn das Pferd - noch im dreißigjährigen Kriege war das fast durchgängig so - ein Mensch ist, wenn ein Mensch am Pfluge zieht, so muß er die Möglichkeit haben, sich etwas vom Verdienst zurückzulegen und bei Sparsamkeit einmal selber Unternehmer zu werden, der nicht nur mit Faust und Körper, sondern vor allem auch mit dem Kopfe arbeitet.

Zum Nachdenken über alle diese Sachen werden wir jetzt gezwungen. Denn die Not kommt allmählich an jedermann heran, die Not, die in 13 Jahren seiner verfluchten Herrschaft der Sozialismus uns gebracht hat. In den letzten Tagen bin ich viel an Zahlstellen, meist Postämtern, gewesen, wo Rentenempfänger sich zu melden haben. Unsere alte Waschfrau, 69 Jahre alt, die eigentlich nicht mehr kann, aber zwei Tage in der Woche sozusagen Gnadenbrot bei uns erhält, weint vor Enttäuschung. Sie haben ihr zum ersten Mal auf Grund der jetzt von Papen herausgegebenen Brüning-Notverordnung 6 Mark von ihrer schmalen Altersrente abgezogen. Als junge Eheverlassene hat sie einst jahrelang von ihrem Lohn, 12½ Mark monatlich, 12 Mark Pflegegeld für ihren Jungen hergegeben, von 50 Pfennigen monatlich "gelebt", später als Putzfrau allerdings mehr verdient und entsprechend Marken geklebt, - und nun wird der Vertrag vom Staate nicht eingehalten, nachdem er schon einmal ihr ganzes Erspartes, mehrere Tausend Mark, in der Inflation in die Lüfte geblasen hat. Am Postschalter schreit einer:

"Ihr Hunde, wartet nur, wenn wir erst wieder einen Kaiser haben!"

Das ist jetzt die geheime Parole, die viel stärker ist, als das Wort vom sozialistischen Staat. Einen Kaiser haben! Einen Kaiser haben! Das geht durch alle Volksschichten hindurch, das betont daher in jeder Rede die deutschnationale Volkspartei, das wird allmählich auch den frischgewonnenen Kommunisten der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei begreiflich. Einen Kaiser haben!

Einstweilen sind wir noch ein sozialistischer sogenannter Wohlfahrtsstaat von Bettlern, die ein Almosen kriegen. Ich bringe ein paar alte Stiefel zum Flickschuster drüben. Er sieht von der Arbeit nicht auf, er sieht mich nicht an, er schielt nur nach den Stiefeln und sagt: "Hamse 'n Besohlschein von der Wohle?" Etwas anderes ist er kaum mehr gewohnt, als die Scheine vom Wohlfahrtsamt. Auf meine Antwort "Nein, ich bezahle selbst!" schaut er erst mich an und sagt dann befriedigt, das werde aber viel Geld kosten, wenn ich mir noch selber neue Sohlen leisten könne. Selbstverständlich kann von den Bettelpfennigen niemand menschenwürdig leben. Jedermann sucht nebenbei nach sogenannter Schwarzarbeit, die er nicht anmeldet und für die der Arbeitgeber auch nicht "klebt".

Es wird zur Zeit in der Umgegend von Berlin viel gebaut, von der "besseren" Wohnlaube bis zum "schlichten" Wochenendhaus, das aber als Dauerbleibe gedacht ist, wenn es auch offiziell, damit die Wohnungspolizei zufrieden ist, als Geräteschuppen bezeichnet wird, und alles wird von - Verzeihung, liebe Mitdeutsche - Stümpern gemacht, unter Ausschluß der eigentlichen Bauhandwerker, also mehr schlecht als recht. Die Reparaturen verschlingen nachher mehr, als ein richtiger Bau gekostet hätte. Und wer keine Traute zu so etwas hat, der verkauft Schlipse auf der Straße oder öffnet den Wagenschlag der Autos oder produziert sich als Schausteller. Zwei Arbeitslosen kann man ständig in den Untergrundbahnen des Westens begegnen, die, nachdem sie eine einzige Fahrkarte gelöst haben, stundenlang hin- und herfahren. Der eine zieht sich alsbald den Sweater über den Kopf und läßt auf Arm und Rücken des entblößten Oberkörpers die kräftigen Muskeln und Bänder spielen, während der andere mit der Mütze in der Hand sammelt.

Es geht alles ruhig zu. Es gibt keine Verzweiflungsausbrüche. Der Fremde merkt nichts.

Nur einmal sehe ich einen Mann mit heulendem Elend am Bürgersteig sitzen. Er heult wirklich. Kommt ein Arbeiter vorüber und sagt: "Aus een Ooge kommt Sprit, aus det annere Schmierseefe!" Haltung, Haltung. Das geduldigste Volk der Erde, das deutsche, weiß, was sich schickt.

Einen ganzen Vormittag habe ich auf dem Arbeitsamt in Friedenau in der Handjerystraße, dicht am Maybachplatz, verbracht. Irgend etwas sensationelles war da auch nicht zu sehen. Nachmittags ist das eine friedliche Wohngegend, ganz still. Vor dem mächtigen Denkmal aus Sandstein oder Muschelkalk, "Die Sintflut", wo auf die oberste Felsspitze eine nackte Mutter mit Kind sich gerettet hat, während weiter unten andere kämpfen, sitzen teilnahmslos ein paar alte Damen. Weiter hin spielen Kinder im Sande. Aber vormittags ergießt sich eine Sintflut von Menschen hierher, um die Erwerbslosenrente abzuholen. Fahrräder stehen kolonnenweise im Hof. Auch Motorräder brausen heran.

"Eine Augenblick, Mausi", sagt ein junger Mann zu seiner Benzinbraut und geht hinein, "warte uff mir, denn jehn wa eene Molle trinken!" Die jungen Mädchen sind, wenn auch billig, durchweg gut gekleidet; sicherlich haben sie vielfach unangemeldete Schwarzarbeit irgend welcher Art.

Eine, mit wegrasierten Augenbrauen und nur-blond-shampooniertem Haar, sagt mir: "Aber gewiß doch, ich bin in einem Massageinstitut, da arbeite ich halbpart mit meiner Chefeuse!" Eine andere trägt einen Trauring an der linken Hand. Ich frage, was für einen Beruf ihr Verlobter habe. Sie antwortet: "Er ist auch Arbeitsloser, jetzt heiraten wir mit 14,80 Mark die Woche!" Draußen quäkt ein Kind. Aus der langen Schlange, die an einem Zahlschalter ansteht, löst sich eine Arbeiterfrau, geht hinaus, nimmt aus dem Wägelchen ein Kind, das sich losgestrampelt hat und in der prallen Sonne liegt, kommt mit dem nun ruhigen Baby auf dem Arm zurück und findet ihren Platz in der Schlange reserviert. Mitgefühl ist hier stärker als der Eigennutz um die Minute.

Draußen viele fliegende Händler. Zigaretten, Obst, Eis, Schreibwaren. Billig, billig. "Haarschneiden für Erwerbslose 50 Pfennige!", steht an einem Barbierladen; im Hotel Exzelsior und im Westen kostet das 1,25 Mark. Auch die Politik macht sich breit. Leider nicht die von rechts. Da klebt am Zaun ein großer Anschlag, der alle Jungerwerbslosen zu einer Versammlung lädt. Thema: "Antifa-Aktion gegen Arbeitsdienstpflicht, Unterstützungsraub, Papen-Notverordnung, Naziterror!"

Das ist echt rot. Man hat das Unglück angerichtet und nun läßt man das Unglück noch zinsen.

Ein anderer Schauplatz, im Berliner Norden, in der Lothringer Straße, auch Nr.18: Abteilung für ungelernte Arbeiterinnen. Auf dem zweiten Hofe eines unfreundlichen Fabrikgebäudes. Die eine oder andere läßt ihren großen Bogen schnell stempeln, unterschreibt, schiebt sich langsam vor, läßt sich die Bettelgroschen auszahlen. Manche Putzfrau bleibt aber stundenlang in der Hoffnung, doch Arbeit zu bekommen. Etliche finden sich gruppenweise zusammen, stopfen Strümpfe, häkeln, stricken oder spielen "Mensch, ärgere Dich nicht".

Eine Frau weint und beklagt sich über die Ungerechtigkeit der Arbeitsvermittlerin. Der Portier greift beruhigend ein. Es gibt unendlich viele Portiers und Beamte, die wir doch auch bezahlen müssen, für diese Bettelverwaltung des Staates, der uns einst Friede, Freiheit, Brot versprach. Die Weinende aber begehrt heftig auf gegen den Pförtner:

"Sie können doch janich mitreden, Sie haben noch Ihr Fressen; aba wartense ab, Mensch, mal wer'n wir ooch rebellisch!"

Sie bezieht schon seit 1928 Wohlfahrtsunterstützung. Pfingsten hatte sie die letzte Reinmachestelle. Jetzt macht es auch dort die Hausfrau. Eine andere, eine Sechzigjährige, erhält monatlich 17,50, hat einen kleinen Enkel bei sich, für den sie 14,50 Mark bekommt. Von diesen 32 Mark müssen beide leben, sich kleiden, die Miete bezahlen.

"Jetzt schreib' ick an Hinnenburch eenen Brief, er als alter Bürger soll mir eenen Zettel unterhauen, det ick fechten darf, oder, wenn meine Stimme noch een bisken is, uff de Höfe singen, ohne daß mir eener wat anhaben kann, denn jetzt ha' ick noch een bisken Pelle (Kleidung), wenn det nich mehr is, muß ick den Jas uffdrehen!"

Von diesen Dingen erzählt unser Intellektuaille uns nichts, sie hat für die Alten überhaupt kein Interesse, aber daß die jungen Mädchen, statt zu arbeiten, durch Not ins Träumen kommen und dann leichte Beute werden, sobald man mit einer Portion Eis und einer Stunde Tanzdiele anfängt, das ist ihnen recht. Aufsätze und ganze Bücher erscheinen über Denken und Leben unserer heutigen weiblichen Jugend und stellen als ganz natürlich und gerechtfertigt hin, was höchste Unnatur eines durch dem Marxismus zerrütteten Zeitalters ist. Das natürliche Mädel, das als Kind mit Puppen gespielt und an sich selber die unsägliche Fürsorge der Mutter verspürt hat, will selber Mutter werden, Kinder haben, ehe sie überhaupt bewußt an den Mann und - an seine Geldmittel denkt. Das verschiebt sich seit einigen Jahren. Das sorglose Wohlleben kommt in den Vordergrund. Aus Aufsätzen der kleinen Mädchen in den Volksschulen in Berlin, von denen eine Menge mir vorgelegen hat, "Wie ich mir meine Zukunft denke", spricht immer häufiger der Wunsch nach einem Freund, der das Bedürfnis nach Vergnügen befriedigt, tanzen geht, was ausgibt und schließlich dem Mädel "eine weißlackierte Küche" schenkt. Die Intellektuaille drückt das etwas anders aus, etwa so, wie ich es in einem asphaltdemokratischen Großstadtblatt finde:

Die Siebzehnjährige.

Mein Mann müßte ein ganzer Mann sein,
Aber es kann sein,
daß mir auch ein ganz anderer gefällt.
Ich habe ja so viel Sehnsucht in mir:
Nach Lust und Schmerz und Liebesgier
Und nach Geld, furchtbar viel Geld!
Ich möchte einen Mann, der unglaublich gescheit ist,
Einen Mann, der zu jeder Schandtat bereit ist,
Dem ich alles verdanke:
Eine Villa, Reitpferde, oder eine Limousine, eine schlanke,
Oder noch besser einen Sportwagen, acht Zylinder.
Alles! - nur keine Kinder . . .

Das ist die versteckte, infernalische Aufforderung zum Ausstreichen der Nation durch Verzicht auf Nachkommenschaft, ist die Erfüllung des angeblich von Clemenceau herrührenden, in Wahrheit bei jedem einzelnen Franzosen vorhandenen Gefühls, daß es zwanzig Millionen zu viel Deutsche gebe. Zum Glück ist das noch nicht allgemeine deutsche Ansicht, auch wenn die Not, was nur ein Narr leugnen könnte, zur Einschränkung auch der Freude an einem großen Familientisch voll Kindern zwingt. Zu den hoffnungsfrohesten, weil noch - wenn auch bescheiden - gesicherten Deutschen gehören die Mitglieder unserer Wehrmacht; die wissen, daß alles einmal anders kommt, die lassen nicht die Köpfe hängen, die sehen mit blanken Augen in die Zukunft und haben auch noch einen eingeborenen Humor. Man kann immer noch neue Bände von Kaczmarek-Geschichten - ein fünfter kommt im Herbst im Berliner Brunnenverlag heraus - füllen. Einen kleinen Beitrag dazu möchte ich hier stiften. Ein Schulkreuzer ist in einem holländisch-indischen Hafen vor Anker gegangen, die Stadt veranstaltet für Offiziere und Seekadetten einen Ball, zu dem deutschsprechende Damen der Gesellschaft eingeladen sind. Der Seekadettenoffizier sagt vorher:

"Herrschaften, nicht gleich ans Buffet stürzen! Tanzen ist die Hauptsache! Daß mir keine Dame sitzen bleibt! Ob alt oder jung, das geht Sie nichts an!"

Gesagt, getan, der erste eintretende Seekadett steuert auf eine ältere Dame zu, fordert sie zum Tanze auf, und als sie mütterlich-freundlich auf die vielen jungen Mädchen verweist, knallt er die Hacken zusammen und erklärt:

"Verzeihung, gnädige Frau, unser Seekadettenoffizier hat uns gesagt, wir sollen mit jeder Dame tanzen, ganz egal, wie sie aussieht!"
30. Juni 1932 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts