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Jeder "raus aus Berlin" - Auf der Suche nach der Partnerin - Die Strandhose - Wo Hunderttausende sind - Unterm Volk beim Avus-Rennen - Brauchitsch und Lobkowitz - Straßensänger zum Mittagessen bei uns - Von "fahrenden Schülern".
Die vielen im Winter stillgelegten Kleinautos - man wollte die Steuern sparen - sind um Pfingsten wieder angekurbelt worden. Ebenso die schweren Motorräder, die "mit Badewanne" nebenbei, in der Puppchen sitzt. Und erst recht ist auf den Gewässern um Berlin alles lebendig geworden. Der Parole "Jeder einmal in Berlin!", die von unserer städtischen Fremdenwerbung von Treuenbrietzen bis Newyork in Plakaten und Prospekten verbreitet wird, stellt der Berliner selbst die andere entgegen: "Jeder raus aus Berlin!"
In der Rubrik Vereinswesen mehren sich die kleinen Anzeigen in den hauptstädtischen Blättern, in denen jüngere und ältere Herren, vom Kanu bis zum Luxusmotorboot, um von den Segeljachten nicht erst zu sprechen, eine Partnerin suchen, mit und ohne Kassentrennung.
Manchmal steht da, abgesehen davon, daß sie selbstverständlich jung ist, daß sie gebildet sein muß; manchmal auch, daß sie national gesinnt sein muß; am häufigsten aber, daß sie schlank sein muß. Da ist denn bei gutem Wetter - "Jeder raus aus Berlin!" - die Zeit von Burauschluß bis zum Abend und ebenso das ganze Wochenende in Zweisamkeit ausgefüllt. Und wir haben diesmal einen exemplarisch schönen Mai gehabt.
Die stärkste Vermehrung zeigen die Wasserfahrzeuge, und dazu hat mehr noch als die Sportlust - die Mode beigetragen. Nämlich jene Mode, die uns nach dem langen weiten Rock die lange weite Hose beschert hat. An Mädchenbeinen hat sich die Welt anscheinend sattgesehen. Im Ballsaal und auf Wochenende sind sie nicht mehr "gefragt". Die Strandhose, die immer bauschiger wird, immer mehr dem geteilten Rock gleicht, verbirgt sie. Dafür ist diese Hose aber ganz eng um Hüfte und Gesäß, sodaß die Partnerin von heute als Aphrodite Kallipygos erscheint, was wir einst schon als humanistische Sekundaner vergnügt ins Deutsche übersetzten. Die Mode ist ja nichts weiter, als das ständig wechselnde Unterstreichen irgend welcher weiblichen Besonderheiten. Vom verkleinert dargestellten Fuß bis zum irgendwie getollten Haar gibt es da einen weiten Spielraum.
Am wenigsten kleidsam ist das sogenannte Trainingskostum oder der Fliegeranzug, den Fräulein Benzinbraut trägt, "das Klammeräffchen", das auf dem Soziussitz des Motorrades Platz nimmt. So etwas huscht gelegentlich auf der Landstraße an einem vorbei oder wird einmal beim Picknick im Chausseegraben gesehen. Zu Tausenden aber standen und saßen diese verunstalteten Damenfiguren, jede für sich eine Monteur-Nachahmung, am letzten Sonntag auf den Rasenflächen der "Avus" herum, unserer fast 20 Kilometer langen Autorennstrecke zwischen Funkturm und Strandbad Wannsee. Die Wälder waren zu Heerlagern von Rädern geworden, jeder freie Platz zu einem Riesenpark von Autos. Dazu waren Unmassen von Menschen noch mit der Bahn und dem Omnibus gekommen.
Wohl noch nie hat Berlin bisher eine derartige Völkerwanderung erlebt. Man verschätzt sich leicht (und gern) bei Massenansammlungen. Während der letzten Wahlkämpfe verkündete bald die eine, bald die andere Partei, daß bei ihrer Kundgebung im Lustgarten 200 000 oder gar 250 000 Mann aufmarschiert seien. Das ist alles Unsinn. Ein einziges Mal, früher bei einer Stahlhelm-Kundgebung, ist zahlenmäßig genau festgestellt worden, wieviel Menschen in den Lustgarten, in den Raum zwischen Schloß und Dom und Museum, hineinpassen, wenn sie ganz eng stehen, - und das sind 72 000. Schon wenn es 100 000 sind, müssen Schloßfreiheit und Schloßplatz hinzugenommen werden, und sind es noch mehr, dann stünde auch Unter den Linden bis fast zur Friedrichstraße alles Kopf an Kopf. Also man täuscht sich. Aber das Avus-Rennen hat wirklich ungeheure Massen mobilisiert. Rechnet man die dichten Kolonnen der Zaungäste hinzu, die 9 Kilometer weit den Kronprinzessinweg säumten, wie ich bei der Rückfahrt vom Auto aus gesehen habe, so glaube ich nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, daß insgesamt sicherlich 400 000 Berliner sich dazu aufgemacht haben.
Diesmal hatte ich eine ganz komische Eintrittskarte. Sie berechtigte überall zum Zutritt, nur nicht - auf der Pressetribüne, auf die noch im letzten Augenblick an die 200 aus dem Auslande hergereisten Sportberichterstatter der Weltpresse Zulassung wünschten. Ich wußte bisher noch garnicht, wie schön es ist, wenn man an keinen festen Platz gebunden ist. Nun konnte ich auch "unters Volk". Klappstühlchen unter dem Arm, das genügt. In entscheidenden Augenblicken stellt man sich darauf, sieht alles, und sonst bummelt man.
Schon eine Stunde vor Beginn ist zu erkennen, welches Riesengeschäft der Adac, der Allgemeine deutsche Automobilclub, mit dieser seiner Veranstaltung macht, denn die gewaltige Menge der billigen Stehplätze, von 3 Mark bis zu 1 Mark herunter, ist schon in vielfachen Reihen rund um die 20 Kilometer besetzt. Den fliegenden Wursthändlern werden leere Kisten abgekauft, aus den Bierzelten werden leere Fässer geliehen, überall entstehen so improvisierte Tribünen. Alle Stände sind durcheinander gemischt, auch alle deutschen Stämme; und dazwischen sieht man Exoten, von dem arabischen Häuptlingssohn Emir Feissal auf der Ehrentribüne bis zu den japanischen Studenten in der Südschleife.
Ein kleiner Junge wird weinerlich, weil er hinter einer sechsfachen Menschenmauer steht und von dem Rennen nichts außer dem Motorgedonner erlebt, nur ein Riesenplakat hoch oben jenseits der Bahn erblicken kann:
"Rüwag Wurst aus Rügenwalde Ostsee!"
Einem jungen Mädchen, das in einem weißen Kleide mit doppeltem, in der Mitte geknotetem, sehr tiefem Rückenausschnitt erschienen ist, wird zugerufen:
"Sie, Frollein, Sie haben Ihr Hemde ja vakehrt an!"
Eine Gesellschaft lagert um ein Feldstühlchen herum, auf dem eine mächtige Portion Eisbein und Kartoffelsalat geschichtet ist. Aushilfskellner werden Unmassen von Getränken, Nußstangen, Negerküssen los. Man biwakiert wie bei einem Schützenfest.
Ein breiter Ring bildet sich um zwei lustige Sachsen, die sich Stiefel und Strümpfe ausgezogen haben, auf den Händen laufen und Jiu Jitsu vorführen. Ernst und streng naht ein Hüter der öffentlichen Ordnung, um zu verbieten. Da ruft einer: "Meine Herrschaften, stört Sie das?" Als Antwort ein mehrhundertstimmiger Ruf: "Nein, nein, nein!" Etwas verlegen zieht sich der Schutzmann zurück, einer der Jiu-Jitsu-Sachsen läuft ihm wie ein gelernter Akrobat flink auf den Händen nach, alle rundum lacht.
Vorerst brummen nur Reklameflugzeuge mit ihren großen Aufschriften in den Lüften: Abdulla Standard, Trumpf-Schokolade, Fromms Akt. Das Autorennen ist noch gar nicht angegangen, obgleich schon lange über 200 000 Menschen die Kassentore passiert haben.
Jetzt, jetzt: der Münchener Motorradfahrer Henne rast seinen Weltrekord herunter. Wie ein Geschoß kommt er angesaust.
Dann das erste Rennen der kleineren Wagen. Ein Engländer, Schwiegersohn des Königs Georg, macht es, wie er will. Auch den zweiten Platz belegt ein Engländer. Nach einem Siege wird immer die Melodie der "betreffenden" Nationalhymne gespielt. Manch einer schmunzelt verstohlen: zweimal spielt die Kapelle, auf alle Plätze der Hunderttausende durch Rundfunk übertragen, das "Heil Dir im Siegerkranz". Weiter will ich davon nichts erzählen. Das rein sportliche hat ja schon in allen Zeitungen der Welt gestanden.
Nun die schweren Wagen! Wenn sie so mit über 200 Stundenkilometer Geschwindigkeit die Gerade daherbrausen, ist es einfach phantastisch. Die Flugzeuge der Lufthansa, die für je 65 Mark pro Luftzuschauer oben mitgondeln, kriechen ja!
Gäbe es einen Totalisator, so würde ich Sieg und Platz auf den mächtigen Mercedes-Benz-Stromlinienwagen des Fahrers v.Brauchitsch setzen, den Sohn eines Obersten a.D., der in Berlin ganz in unserer Nähe wohnt.
Die Motorbegeisterung scheint in der Familie v.Brauchitsch erblich zu sein. Ein anderer Brauchitsch, Sohn des Generals a.D., fuhr einst in Flandern als Kriegsfreiwilliger wie der Teufel mein Auto. Ein prächtiger, anständiger, lieber, großer, dicker Bursche. Auf einer Schwarzfahrt machte er einmal Kleinholz. Um ihm die Karriere zu retten (er ist nachher auch Offizier geworden), um ihm ein Gerichtsverfahren zu ersparen, sperrte ich ihn sofort disziplinarisch ein. Nach dem Rechtsgrundsatz "Ne bis in idem", keine zweite Strafe für dieselbe Tat, war die Sache damit erledigt. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht so innig über eine von mir verhängte Strafe gefreut.
Also mein Tip lautet natürlich: v.Brauchitsch! Dabei hat er als Konkurrenten den besten Fahrer Deutschlands, den Rheinländer Rudi Carraciola, der diesmal einen ausländischen Wagen steuert, einen Alfa Romeo. Brauchitsch jagt ihn, bleibt ihm an den Fersen, beide dem Felde weit voraus. Einmal geht - probeweise - auf der Geraden der Mercedes Benz an dem Alfa Romeo vorüber, wird aber in der Kurve von dem wendigeren wieder überholt. Da, in der letzten Runde: Brauchitsch vorn! Auf der ganzen Strecke von 294,4 Kilometer (welch' ungeheure Beanspruchung von Muskeln und Nerven!), einer Strecke, die noch 30 Kilometer weiter ist, als die von Berlin nach Hannover, hat Brauchitsch mit 60 Meter Vorsprung gesiegt.
Man jauchzt, man jubelt, man schreit. Ein fast irrsinniger Glückstaumel. In diesem schwersten Rennen des Jahres - und in dieser Elendszeit - hat ein deutscher Fahrer auf deutschem Wagen es geschafft!
Das große Unglück ist schon fast vergessen. Ich habe zufällig, als es geschah, nur 200 Meter davon gestanden, nahe am Forsthäuschen, als der böhmische Fürst Lobkowitz den Todessatz tat. Scheerte quergestellt im Höllentempo von 210 Stundenkilometern über den die Fahrbahnen trennenden Grasstreifen, riß sich dabei drei Räder ab und flog in etwa 6 Meter Höhe in der Luft, hinüber über die Bahn, 30 Meter weit ins Gebüsch. Aus dem Forsthäuschen laufen Schutzleute und Sanitäter hinüber. Auf die Bahre wird ein Mann mit gebrochenem Schädel gebettet.
Wer spricht heute noch davon? Das Leben rauscht darüber hinweg, die Erschütterung bleibt nur der Familie, die Masse lechzt nach neuen Sensationen. In den Berliner Straßen das gewöhnliche Bild, die gleichen Geräusche wie immer. Nur daß in das Kreischen und Klingeln der Trambahn und das Hupen der Autos hie und da noch mehr als in den Jahren zuvor, wo es erst schüchtern begann, sich das Singen und Klampfen von Studenten mischt. An einem und demselben Tage begegne ich drei solcher Gruppen, in der Hedemannstraße, am Fichteberg, in der Marburger Straße. Es gibt in Berlin schon 10 Gruppen studentischer Straßensänger von durchschnittlich je 8 Mann. Sie singen kaum Schlager, sondern pflegen das Volkslied. Ist wieder eine Zeit der neuen Romantik angebrochen? Ach nein, nur immer größere Not; es sind "Werkstudenten", die sich ihr Dasein so erarbeiten. Von anderen Straßensängern heben sie sich durch die Sauberkeit der Kleidung - meist weißes Sporthemd und Pumphose - und durch ihre anständigen Fingernägel ab. Irgendwann einmal haben sie sich in der Musik gefunden, spaßeshalber eine Wanderung durch die Stadt unternommen, die Herzen aller Menschen erfreut. Dann der schwere, sehr schwere Moment, wo zum ersten Mal einer von ihnen den Umstehenden den Hut hinhält. Da heißt es, die Zähne zusammenbeißen. Von da ab geht es. Mitglieder gehen ab, neuer Ersatz kommt, die Gruppe bleibt.
Hin und wieder lade ich eine von ihnen zum Mittagessen bei uns ein, damit die Leutchen einmal der "Bude" oder der Kneipe oder der Straße entrinnen und in gepflegter Umgebung ein paar Stunden wieder Gentleman sein können. Man ißt gut, man sitzt in der Bibliothek, man unterhält sich gebildet. Meine Frau ist dabei, und irgend ein nettes junges Mädchen (eins genügt) wird dazu mit eingeladen, damit es so richtig Familie ist.
Diesmal haben wir am Montag eine Gruppe bei uns gehabt, deren Leiter stud.art. ist, Maler. Sie zählt einen "richtigen" Musikstudenten (er stammt aus Wien), mehrere Neuphilologen und andere zu sich. Der Sinn ist der, im Sommersemester, wo man sich nicht immatrikulieren läßt, sondern nur "werktätig" ist, so viel zu verdienen, daß man sein Leben hat und im Wintersemester wieder studieren kann. Aber ich habe den Eindruck, daß der eine oder andere doch ganz - Straßensänger bleibt.
Es ist schon fast Beruf geworden. Die jungen Leute haben nämlich Verbindung mit einer Agentur, die ihnen längere Engagements auch an Kinos vermittelt. Sie treten dort im Vorprogramm auf, in der sogenannten Bühnenschau. Ein paar Tage in dem einen, dann in dem anderen, dann in dem dritten und weiteren Kinos, und das kann wochenlang sein; und jeder der jungen Volkssänger bekommt 6 Mk. für den Abend. Da läßt es sich schon leben und man kann darob sein Studium vergessen. Manche Gruppe ist durch halb Europa getippelt. Mein stud.art. erzählt von Finnland und Jugoslavien, von Schweden und Spanien und anderen Ländern. Erstaunlich, wie hingerissen die Spanier von unseren schlichten Liedchen wie "Am Brunnen vor dem Tore" und dergleichen seien. Und herrlich, welche Einnahmen man in der Schweiz gehabt habe, wenn man in irgend einem großen Hotel habe singen und geigen und zupfen dürfen: meist habe da irgend eine junge, hübsche Engländerin oder Amerikanerin das Sammeln übernommen und ihnen einen vollen Hut oder Teller ausgeschüttet. Mitunter sind die jungen Leute auch von irgend einem deutschen Botschafter zum Kaffee eingeladen gewesen, haben überhaupt fast nur Gutes draußen erlebt.
Und sind doch nur Herolde des deutschen Elends. Erregen in Italien und sonstwo den Eindruck lästiger Ausländer, wenn sie nur noch ein Stück Brot haben und dann, wo sie unbeobachtet sind, dazu kiloweise Trauben aus den Weinbergen futtern. Die Auslandsdeutschen selber schämen sich. Und wir alle sehnen andere Zeiten herbei, wo es keine "fahrenden Schüler" dieser Art mehr gibt.
26. Mai 1932 (Donnerstag)
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Schäfer, Schuster, Kellner - Die drei Charaktere, die jeder hat - Vor der Umwälzung in Politik und Kultur - Vom "modernen" Baustil - Die Intellektuellen - Schwimmfest im Lunapark - Kempinski im Schloß Marquardt - Deutsche Gesichter gesucht.
Zu den besinnlichsten Leuten, sagen die einen, gehören die Schäfer. Mag sein. Wenn auch ihre Philosophie nur sehr naturhaft sein kann. Die anderen aber, die Städter, sagen: die Schuster. Mag auch sein. Wenn man zum Kellerfenster hinauf und hinaus sieht, täglich an die tausend Paar vorüberwandelnden beschuhten Füße, mag man wohl ins Spintisieren kommen. Ich aber sage: die Kellner. Oder, wie man zur See sie nennt, die Stewards. Sie erleben mehr als andere Menschen, ob sie nun in einem kleinen Gartenlokal ihr Leben verschwitzen oder in einem Weinrestaurant der Großstadt täglich Erzberger und Höfle und Bauer und Barmat bedient oder auf einem Ozeandampfer über den Nacken aller schönen Opern- und Filmstars bei Tisch sich gebeugt haben.
Im Reichstage habe ich einmal danebengesessen, als ein Kellner einem lernbegierigen Abgeordneten verschiedene Fremdwörter erklärte. Und der tiefsinnigste Satz, den wohl je einer aus dieser Menschenklasse gesprochen hat, stammt von einem Kellner in Albrechts Teerofen bei Neubabelsberg und lautet:
"Jeder Mensch hat drei Charaktere, erstens den, den er zur Schau trägt, zweitens den, an den er selbst glaubt, drittens den, den er wirklich besitzt."
Seit ungefähr anderthalb Jahren verläßt mich dieser Ausspruch nicht, und er wirkt mehr in mir als das schematische, meist in griechischer Sprache notierte "Erkenne Dich selbst!" des alten Weisen, das früher auf manchen Schreibtischen oder über dem Türrahmen zum Herrenzimmer stand.
Das erste haben wir, wenn wir nicht dumm sind, schnell heraus, nämlich die Erkenntnis der Rolle, die wir nach den Worten des Babelsberger Kellners alle spielen. Also die Fassade. Viel schwieriger ist schon die Unterscheidung zwischen "zweitens" und "drittens", und ist ohne fremde Hilfe nicht immer festzustellen. Es ist ganz amüsant, so etwas mal für unsere führenden Politiker zu versuchen. Etwa: was ist bei Hitler heißer vaterländischer Drang und was ist bei ihm - wenn auch vielleicht notwendiges - Theater für die Masse? Oder: hat Brüning selbst an seine Sendung für das deutsche Volk geglaubt, die er wirklich nie besessen hat? Oder: ist bei Männern wie Hugenberg oder Hindenburg am Ende jene Dreieinigkeit des Charakters vorhanden, die mein Kellner-Philosoph leugnet, weil er überall Uneinheitliches sieht?
Wenn man dann von solchen führenden Männern zu Hinz und Kunz übergeht, zu - nennen wir ihn mal so - dem Großberliner, so stellen wir bei ihm in diesem Jahre seit dem schwarzen 13. Juli 1931 jedenfalls fest, daß er wohl kaum mehr irgend einen vorgetäuschten Charakter zur Schau trägt. Vor allem nicht mehr den des unverwüstlichen Optimisten und Bonvivants. Auch sein Fassadenputz ist unter der allgemeinen Not abgefallen, er redet nicht mehr von Ankurbeln und von Silberstreifen, und von allem, was nach Deutscher Volkspartei und ähnlichem Verwesendem riecht, hat er für immer genug: er steht rechts oder links, aber nicht mehr in der Mitte, in dem juste milieu, in der Feigheit.
Das neue Reichskabinett v.Papen hat nur die Aufgabe, dies zu vollenden und damit den Endkampf unseres Volkes um sein Deutschwerden einzuleiten.
Kinder, wer von Euch hätte vor drei Monaten an Brünings Sturz geglaubt?
Schon merkt man hie und da die Umstellung auf den neuen Boden der Tatsachen. Es ist kulturell nicht bedeutungslos, auch wenn es sich im wesentlichen nur um einen repräsentativen Posten handelt, daß zum Präsidenten der Akademie der Künste anstelle Max Liebermanns, des französelnden Nachempfinder-Malers, der urdeutsche Musiker v.Schillings gewählt worden ist. Auch in Schulen und Behörden setzt die Massenflucht aus dem roten Parteibuch schon ein; und die ungeheure Blamage mit den gefälschten van Goghs bringt auch wohl unsere Ausländerei gegenüber den Impressionisten endlich in Mißkredit.
Natürlich setzt die Berliner Intellektuaille sich noch zur Wehr.
Aber das Volk geht nicht mehr mit. Trotz manches Schönen draußen in der Sommerausstellung am Funkturm, trotz der Herabsetzung des Eintrittspreises von 1½ auf 1 Mark bleibt es dort hundeleer. Man kann es täglich erleben, daß es mehr Ausstellungsangestellte als Ausstellungsbesucher gibt.
Die Ursache ist nicht nur darin zu finden, daß heute kaum mehr der Mann aus dem Volke, der doch das Gros der Besucher stellt, in der Lage ist, auch nur ein paar Tausend Mark für ein Wochenendhaus auszugeben, die da so verlockend in allen Mustern stehen, sondern vor allem in der inneren Abwendung von diesem ganzen Baustil. Die würfelförmige, flachdachige Wohnkiste, womöglich mit einer Verlängerung des Dachdeckels über den Vorplatz, sodaß das ganze wie eine Rattenfalle aussieht, ist orientalisch.
Auf allen Gebieten der Kultur will man uns orientalisieren oder verparisern oder vernegern, von der Wohnung über die Politik bis zur Malerei und Musik. Flachdächer sind für ein Klima mit ewiger Sonne möglich, aber auch da schon nicht immer richtig: im heißen Arabien ist die Halbkugel üblich, der Kuppelraum über der Hütte des Eingeborenen oder dem Zimmer des Eisenbahningenieurs, denn "bekanntlich" ist die Kugel derjenige Körper, der bei kleinster Fläche den größten Innenraum enthält, sodaß es also in diesen Bauten selbst bei starker Bestrahlung immer luftig bleibt. Die anderen semitischen Völker in subtropischen Gegenden, auch die Südeuropäer, können sich Flachdächer leisten, die für sie das praktischeste sind, in den Tropen selbst aber ist mit Rücksicht auf die Regenzeit natürlich das Steildach erforderlich. Bei uns in Mitteleuropa unbedingt. Wenn der Franzose Corbusier in Sowjetdiensten auch Riesen-Mietskasernen würfelig mit Flachdächern baut und bei Stuttgart oder Marseille ebenso Villen, oder wenn unsere Sozialdemokratie für ihre auf Gemeindekosten erbauten Krankenkassenpaläste, Schulen, Wohnsiedelungen dasselbe Prinzip verfolgt, so ist dies eingestandenermaßen ein revolutionäres und undeutsches Prinzip.
Wohin das führt, sieht man an den Häusern von Gropius und Hilberseimer, an dem August-Bebel-Hof in Braunschweig, dem Friedrich-Ebert-Hof in Altona und den ähnlichen Blocks in Wien: allmähliche Durchfeuchtung von dem Flachdach her durch die oberen Stockwerke, Putzabfall, Risse, daher ungeheuer kostspielige Reparaturen und schließlich Flucht der Mieter aus den zu teuren und immer noch ungesunden Wohnungen.
Aber die Intellektuaille kreischt, das sei das einzig wahre. Noch vor kurzem hielt der Provinzialmuseumsdirektor Dorner in Hannover vor einer fast zur Hälfte nichtdeutschen Hörerschaft einen Vortrag, wonach die Corbusier, Haesler, Gropius usw. den reinsten Ausdruck moderner ( ja sogar germanischer!) Architektur uns böten. Es wird alles den Leuten nichts helfen. Ihre Uhr ist abgelaufen.
Wir stehen mitten in der großen deutschen Umwälzung nicht nur unserer Politik, sondern auch unserer Kultur. Auch seit Jahrzehnten als berühmt geltende Kunstkritiker wie Herr Meier - Meier-Gräfe - werden über ein kleines unmöglich sein.
Gott sei Dank, daß wir so weit sind. Wir finden zum Deutschtum uns zurück.
Das will keine Wohnmaschine (der bolschewistische Ausdruck) für den Maschinenmenschen, sondern organisches Wachstum der Behausung aus Landschaft und Menschenseele. Das will auch nicht Massenpsychose, sondern selbständiges Urteil. Und es läßt sich nicht daran genügen, daß der junge Mensch von heute sportlich sich stählt und adelt, seelisch aber ins Proletarische versinkt, wozu auch die Semesterehen - Treue garantiert auf vier bis fünf Monate - mancher Mädchen aus gutem Hause gehören. Dieses Deutschtum wird spätestens bei den Kindern der heute Entarteten wieder eine Kraft sein.
Gegen den Sport, auch den gemischten beiderlei Geschlechter, sei damit nichts gesagt. Man muß ihn nur nicht gerade Sonntags bei den Pärchen in den Strandbädern suchen.
Aber so etwas, wie das gestrige Jubiläumsschwimmfest im Wellenbad am Lunapark es war, das macht einem das Herz doch warm. Wundervoll, diese Kraft und diese Sicherheit und diese Disziplin. Figurenliegen im Wasser, ausgeführt vom Damen-Schwimmklub "Blau-Gold", Schauspringen vom 10-Meter-Turm von stählernen jungen Männern aus Spandau, Berlin, Zeitz, Wien, Wasserballspiel zwischen einer Spandauer und einer Magdeburger Mannschaft und dazu allerlei Wettschwimmen. Im Damen-Brustschwimmen über 200 Meter siegt beide Male "Nixe"-Charlottenburg, einmal Fräulein Lotte Schön, einmal Fräulein Traute Engelmann. Das Publikum ist begeistert, ist fanatisiert, und kann sich bei der letzten Teilstrecke kaum mehr zurückhalten. "Lottäh! Lottäh! Lottäh!" und "Trautäh! Trautäh! Trautäh!" wird gebrüllt.
Nachher noch eine kurze Visite im Lunapark selbst. Fürchterliche Leere. Es sind um diese Zeit mehr Berliner im Tivoli in Kopenhagen als im viel besseren Lunapark in Berlin zu sehen.
Wer noch Geld hat, der läßt noch Geld springen, aber nicht in Berlin selbst, denn man will doch nicht immer der blassen Sorge ins Gesicht, sondern fröhliche Menschen sehen, wie sie wohl zu finden sind, wenn man auch nur 50 Kilometer weit wegfährt. Das ist die neue große Spekulation, auf deren Gelingen Kempinski rechnet, der sogenannte Freß-Wertheim von Berlin, denn die Firma hat das märkische Schloß Marquardt am Schlänitzsee nördlich Potsdam gepachtet und zu einem Weinrestaurant und Wochenendhotel gemacht. Das ist kein Ausflugsort, der bequem zu erreichen und daher von Krethi und Plethi überfüllt ist, sondern eigentlich nur ein Ziel für Leute mit eigenem Auto, denn es liegt ganz abseits von jedem sonstigen Schnellverkehr als noch unberührtes Idyll am waldumkränzten stillen See.
Im 14. Jahrhundert hießen dieses Dorf und dieses Schloß Schorin, nach dem Besitzer v.Schorin genannt. Die Besitzer wechselten häufig. Im Jahre 1704 bekam der Staatsminister Marquardt Ludwig v.Printzen das Anwesen vom König geschenkt und taufte es um. Der berühmteste spätere Besitzer war um 1800 der Herr v.Bischoffswerder, der mit Goldmachern und mit Okkultisten sich umgab, nachdem er wegen eines Unfalls als junger Offizier im Siebenjährigen Kriege den Dienst hatte quittieren müssen. Um 1900 aber heißt der Besitzer schon Ravené, einfach Ravené, und ist preußischer Geheimer Kommerzienrat.
Ein ganz eigenartig schöner, 60 Morgen großer Park mit vielhundertjährigen Bäumen, Taxushecken, seltenen Pflanzen, Liegewiesen und das Bad am See bieten Erholung, in den Sälen des Schlosses im Erdgeschoß - sie sind erhalten, wie sie waren, auch der große Kamin in der Halle - können 1200 Menschen gleichzeitig verpflegt werden, genau so, wie in den Kempinski-Betrieben in der Stadt, und 26 Doppelschlafzimmer im Oberstock stehen Wochenendgästen zur Verfügung, die von Morgensonne und Vogelgezwitscher wach werden wollen.
Das ist also schon was. Was macht man aber, wenn, wie am vorigen Sonntag, fast 1400 Privatautos heranrollen und weit und breit die Landstraßen verstopfen? Da ist man einfach lahmgelegt.
Auf solchen Andrang (in diesen Zeiten!) hatte nicht einmal der Kommerzienrat Unger, der Leiter der Firma, gerechnet. Dazu kann man noch auf dem Wasserwege, im Motorboot wohl zumeist, hinkommen, von der Havel durch Jungfernsee, Weißen See, Fahrlander See, Schiffgraben in den Schlänitzsee. Wenn das so weitergeht, werden außer den gedeckten Räumen auch die beiden großen Terrassen und die Lichtungen im Park für die Gäste nicht ausreichen, - und dann ist der Zauber dahin, während man sich heute in dem großen Park noch einsam oder zweisam verlieren kann. Jedenfalls hat Berlin - das muß man trotz allen Ärgers über die Verpöbelung des stillen Schlosses sagen - eine neue Sehenswürdigkeit gewonnen, wie man sie in dieser Art bisher eigentlich nur im 100-Kilometer-Umkreis von Paris gekannt hat. Und ich habe kein Schlemmen dort gesehen, auch nicht viel aufgedonnertes Kurfürstendamm-Publikum, dagegen viel schlichte, anständige Ehepaare, soweit sie freilich einen eigenen Kleinwagen besitzen.
Ich habe keinen. Ich habe mein sauer verdientes Geld in der ordentlichen Aufzucht von 8 Kindern verausgabt und, allerdings, Jahr für Jahr in einer schönen weiten Reise. Also bin ich bescheiden mit der Bahn um 17 Uhr 25 nach Potsdam gefahren, von dort mit dem Omnibus nach Marquardt, abends zu Fuß durch den Wald bis Satzkorn, von dort mit der Nebenbahn über Grube und Golm - als einziger Reisender im Zuge - nach Wildpark, und gegen 1 Uhr nachts war ich wieder zu Hause. Für unsereins ist das also nichts rechtes; man muß schon Auto oder Motorboot haben.
Zu Hause finde ich einen sehr bezeichnenden Brief vor, von einem jungen, durch und durch deutschen Menschen, der sich bei einer Schuhfabrik gemeldet hatte, die Volontäre suchte Israelski und Robinsohn. Er sei, schreibt der junge Mann, wie ein älterer Angestellter ihm gesagt habe, deshalb nicht angenommen worden, weil er dunkelkraushaarig sei, und solche Leute könne man heute - bei der lawinenartig wachsenden nationalen Bewegung - für das Publikum nicht mehr gebrauchen.
Ein Seitenstück dazu erlebte ich dieser tage in einem Berliner Kabarett, wo ein feister Ansager, während etliche Kurfürstendammer im Parkett betreten dreinsahen, erklärte:
"Wenn das Dritte Reich kommt, stellen wir schnell die blonde Soundso auf die Bühne!"
Wir stehen wirklich vor der Umwälzung. Viele Oxfordhosen schlottern.
2. Juni 1932 (Donnerstag)
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Besuch aus der Provinz - Tauentzien-Masken - Die letzten Pferdedroschken - Zerstörerwut - Im Kordon der Schutzleute - Die Kaaba des Nordens - Ausstellung der Entwürfe für Berka - Es raucht nichts mehr - Hakenkreuz-Bonbons.
In der großen Flandernschlacht sind wir einige Male zusammen geflogen und haben in den Nächten, umkracht von Geschossen und geblendet durch die Scheinwerfer, unsere Bomben abgeworfen.
Jetzt sitzen wie , "Emil" und "Franz", wieder beieinander. Er kommt aus einem kleinen Nest in Westfalen, nimmt auch im Sommer nie Urlaub, mußte nun aber auf einige Tage her, schüttelt den Kopf und sagt:
"Mehr als drei Tage hielte ich es in Berlin nicht aus!"
Das kann ich Dir nachfühlen, alter Junge, denn Du kommst aus der Natur in die Unnatur.
Nach langer Zeit ein Bummel auf der Tauentzien macht mir das wieder einmal klar. Ich habe die Rankestraße abpatrouilliert, wo, wie das "Studentenwerk" mir mitgeteilt hatte, eine Eisdiele sich befinden soll, die von drei Studenten und einer Studentin, die damit Geld verdienen wollten, betrieben werde. Geld verdienen? Bei diesen Zeiten, bei diesem wieder ganz kühlen Wetter? Ich habe das Lokal nicht gefunden, vielleicht ist es schon pleite.
Aber in der ganzen Gegend und besonders auf der Tauentzien habe ich wieder Menschen gesehen, Menschen weiblichen Geschlechts, die keine menschlichen Gesichter mehr haben, sondern Masken. Lauter Fabrikware, zurechtgepinselt und standardisiert, wie die Ankleidefiguren in den Schaufenstern der Modehäuser. Jede Frau hat die gleichen getuschten Augenbrauen, die gleichen karminroten Lippen, die gleichen fast bläulich rosigen Wangen, die gleiche Starrheit im Blick.
Masken, nichts als Masken auf mechanisch beweglichen Gliederpuppen.
Alles Leben ist verkleistert und verschmiert und lackiert. Also nicht etwa ist das Leben gesteigert, das Gesicht verschönert, wie man es in alten Zeiten wohl tat. In England gab es noch 1838 ein Gesetz, wonach jede Weibsperson, die durch Schminke oder Puder oder Stahlkorsett oder sonstige Fälschung einen männlichen Untertan Ihrer Majestät der Königin zum Ehebruch "verlocke", wegen - Hexerei zu verfolgen sei. Du liebe Güte! Der heutige Massenauftrag von Farbe und Lack zum Tauentzien-Bummel hat nichts verlockendes mehr. Und da wundern sich diese jungen Mädchen und reifen Frauen, "beste Gesellschaft" übrigens, daß die Männer sich von ihnen abwenden? Daß sie jedes Kathrinchen aus dem westfälischen Dorfe vorziehen, dem noch das Blut sichtbar ins Gesicht schießt und dessen Lippen noch erblassen können?
Lange vor dem Kriege war die Tauentzien, wenn man der Hans v.Kahlenberg glauben darf, von "Nixchen" bevölkert, von halbflüggen Dingern, die in der Gegend in irgend einer Konditorei ihren ersten Demivierge-Roman erlebten. Aber die sahen ganz anders aus. Das waren noch saubere Deerns mit natürlichem Flaum im Nacken, nicht blaurasiert, nicht gepudert und geschminkt. Heute ist hier fast jede Dame eine lackierte Geisha; man kann die käuflichen von den nicht käuflichen nicht mehr unterscheiden.
Hin und wieder sitzt solch eine getünchte Holzfigur am Volant ihres Autos und gleitet maschinenmäßig durch den Wirbel der Großstadt. An den Kreuzungen ein kurzes Knirschen und Halten, oder ein lautes Aufbrüllen und Weitersausen. Immer mehr werden wir motorisiert. Es gibt schon über 110 000 Motorfahrzeuge in Berlin und nur noch 91 Pferdedroschken. Diese sterben langsam aus. Sie stehen nur noch - zu zweit, zu dritt, zu viert - in der Nähe von Bahnhöfen oder am Tiergarten, denn es gibt noch alte Frauen vom Lande, die bei ihrer Ankunft in Berlin sich keinem Auto anvertrauen möchten, und es gibt noch junge Pärchen, die gelegentlich die Poesie des langsamen Juckelns auskosten wollen.
Das langsamste vom langsamen brachte einst das größte Trinkgeld ein. Das waren die sogenannten Porzellanfuhren. Der Wagen schaukelte, der Wagen federte, aber er stieß nicht, man konnte sich also ruhig - bei Mondschein im Tiergarten - einen Fünfminutenkuß geben, ohne sich die Zähne auszuschlagen.
Oder wenn sonntags die Familie eine Droschke nahm, Vater und Mutter im Fond, die beiden Töchter auf dem Klappsitz, durfte der Junge auf dem Bock neben dem Kutscher Platz nehmen und die Leine mit anfassen. Solche Seligkeit kennen die Buben von heute nicht mehr. In der nächsten Woche soll einmal, um den Besitzern zu helfen und den Gästen etwas von der alten Poesie zu vermitteln, ein Droschkenkorso durch Alt-Berlin unternommen werden. Aber das ist schon fast eine Museumssache.
Wir sind für Fortschritt. Viele hassen das Alte. Auch wo es besser war. Von einer Statue auf öffentlichem Platz in Berlin-Kaputh, "Die Kauernde", ist der ganze Oberkörper mit Hämmern zerschlagen worden. Dem jungen Alten Fritz in der Siegesallee haben sie die Nase mit roter Ölfarbe verschandelt. Am Denkmal Friedrich Wilhelms I. stehen ein paar wunderschöne Verse über das Wirken des Landesherrn. Da ist das Wort "Untertan" mit Anilin verschmiert. Dies alles sind die letzten Zuckungen der versinkenden Novemberwelt. Wir sind schon mitten im Aufbruch. Noch am 22.März, bei der Goethefeier in Weimar, wünschten die Offiziellen nur die Beflaggung der öffentlichen Gebäude. Mit Schwarzrotgold natürlich. Die Bürgerschaft wurde ersucht, nicht zu flaggen; man fürchtete, daß ganz Weimar sonst ein Meer von Schwarzweißrot würde. Auch Berlin ist bald so weit; und dann wird man nichts mehr verbieten können.
Noch ist Genosse Grzesinski der Herr von Berlin. Noch löckt er wider den Stachel. Wenn die Wache aufzieht, läßt er sie links und rechts und vorn und hinten von Polizei einkesseln, als seien unsere Soldaten nicht Manns genug, ohne polizeilichen Schutz daherzumarschieren. Umgekehrt paradiert seine Polizei, mit Schellenbaum sogar, ohne militärischen Schutz. Man merkt die Absicht und man ist nicht verstimmt, sondern man lacht.
Man lacht grimmig und entschlossen. Über ein kleines werden die Herren, die uns fast vierzehn Jahre lang ihre Herrschaft aufgezwungen haben, verflüchtigt sein. Es bleibt ein paar Jahre lang das von ihnen angerichtete Elend. Es bleibt hie und da auch noch irgend eine monumentale Erinnerung an sie. So das fürchterliche Grab des unbekannten Soldaten, wenn man es so nennen will, in der Neuen Wache Unter den Linden. Der schwarze Kubus in der Gruft, die Kaaba des Nordens, das einzige rein orientalische Denkmal in der Reichshauptstadt. Nun soll endlich einmal ein deutsches Ehrenmal für die Toten des Weltkrieges entstehen, im Berghain bei Bad Berka in Thüringen, und in dem Glaspalast am Lehrter Bahnhof in Berlin, dem Sitz der früheren Großen Kunstausstellung, sind die 1828 Entwürfe dazu in plastischen Modellen aufgestellt oder in Zeichnungen aufgehängt.
Den Platz haben alle Organisationen der Kriegsteilnehmer einstimmig gutgeheißen, einschließlich des Bundes jüdischer Frontsoldaten, aber auf seine Ausgestaltung haben sie nur noch geringen Einfluß. Dazu ist ein Komitee da, an dessen Spitze der Staatssekretär Zweigert steht und dem u.a. der "Reichskunstwart" Redslob und der Direktor Neidhardt vom Reichsbanner Schwarzrotgold neben einigen "Nationalen" und einigen Künstlern angehören.
Ich habe den Eindruck, daß das Reichsehrenmal ganz unpopulär zu sein scheint. Nur wenige Besucher verirren sich, unter Aufwendung von 30 Pfennigen Eintrittsgeld, in den Glaspalast mit den 1828 Entwürfen unserer Bildhauer und Architekten. Und diese wenigen sind von den "Preisgekrönten" enttäuscht.
Mich enttäuscht überhaupt das Gros der Einsendungen. Was ist denn da? Haufenweise immer wieder: Burgturm, Stadion, Pergola, Planschbecken, Pyramide, Kolosseum, Berg- und Talbahn, Riesenglocke, Sarkophag, Obelisken, Stahlhelm. Kaum eine einzige selbständige und deutsche Idee.
Zum Teil wird sogar der Hochwald, das schönste von Berka, rasiert, damit durch Kahlschlag eine Plattform gewonnen wird. Gewiß, die Siegessäule in Berlin oder die Germania vom Niederwalddenkmal ob Rüdesheim mögen uns heute altmodisch vorkommen. Aber sie haben Wucht und sie haben Idee. Von den 20 preisgekrönten Entwürfen für Berka greift kein einziger ans Herz. Ich habe nur zwei gefunden, die mir Frontsoldaten, mir Deutschem, etwas sagten, und beide hat selbstverständlich das Richterkollegium nicht anerkannt.
Das eine ist Entwurf Nr.1581, der einen 22 Meter hohen und noch 5 Meter unter die Waldbodenfläche gehenden Bau vorsieht, eine Kuppelhalle, die außen mit Rasen und Heidekraut bedeckt ist, also einen Berg - wenn man will: ein Hünengrab - darstellt. Man geht hinein wie in einen Unterstand. Innerhalb der Rundhalle gewaltige Mosaikbilder, die Jahrtausenden trotzen können, vorherrschend in Schwarz und Rot, auf der einen Seite "Die endlose Straße", Marschkolonnen deutscher Soldaten - noch in Pickelhaube - aus dem Osten, auf der anderen Seite die Westfront, Leute in Stahlhelm und Gasmaske, die zum Gegenangriff der Erde entsteigen, darüber in der Kuppel lichte Gestalten von Kriegern, die zum Himmel einziehen, über allem ein gewaltiger schwebender Reichsadler. Die Stimmung, die der Künstler (die Namen der Unprämiierten erfährt man nicht) erwecken will, heißt: "Nicht umsonst!" Es ist also ein hochgemutes Denkmal, das sich nicht auf die Totenklage beschränkt. Das andere ist der Entwurf Nr.1626, der, glaube ich, einen bekannten Berliner Bildhauer zum Verfasser hat, der aber als Urdeutscher und als Anhänger des alten Systems in der Severing-Grzesinski-Redslob-Ära nicht viele Freunde finden kann. Das ist eine ausgesprochen deutschchristliche Lösung. Das Eingangsgebäude vor dem Hochwald ist eine Halle, nach allen vier Seiten mit einer großen Spitzbogenöffnung von je 10 Metern Breite und 8 Metern Höhe, in der die Nornen, die das deutsche Schicksal weben, um die Weltesche Yggdrasil sitzen. Das Gezweige der Esche - das ist echt germanisch - bildet hier zugleich das Gewölbe. Ein Quell entspringt an der Esche, teilt sich in vier Abflüsse, die von vier Steinkriegern bewacht werden, stürzt zu Tale in die Ilm und fließt schließlich in das Meer, in dem so viele unserer Tauchboothelden ruhen. Im heiligen Haine selbst steht die Kolossalfigur des Heilands mit hoch erhobenen Händen, die die Wundmale zeigen; auf dem Sockel die Inschrift: "Für Dich!" Auch von diesem Denkmal könnte man einen ungeheuren Eindruck erhoffen. Noch unsere Ururenkel würden das "Für Dich" ergriffen nachstammeln.
Heute hat man an andere Dinge zu denken. Jetzt stehen nicht nur Berliner Bureaupaläste und Läden und Etagenwohnungen in Massen leer, heute werden nicht nur Prunkvillen, deren Bauwert vor dem Kriege 400 000 Mark betrug, für 75 000 zum Kauf ausgeboten, ohne daß sich ein Käufer findet, sondern auch große Fabriken veröden. In einem Werk in der Nähe von Spandau rauchen von 26 Schornsteinen nur noch 6, und ich höre die bittere Bemerkung:
"Bald werden nur noch Krematorien rauchen!"
Also man hat wirklich an andere Dinge zu denken; aber manchmal auch noch an vergnügliche: Er an Sie, und Sie an Ihn! Da trällern zweie:
"Zu einem kleinen Paddelboot |
und gondeln selig zum Stössensee. Und wenn unseren jungen Menschen, die noch in der Ausbildung zu irgend einem Berufe stehen, manchmal das Herz schier stillstehen will, wenn sie an die Zukunft denken: einstweilen sind sie noch fröhlich, einstweilen bauen sie Luftschlösser, einstweilen hält die Hoffnung sie aufrecht. Bei einer immer größeren Zahl von ihnen ist es die Hoffnung auf den Umschwung in der Politik. Wäre sie nicht da, reichte die fast religiöse Inbrunst des Glaubens, daß die neue Zeit schon vor der Tür stehe, nicht schon bis in die Mittelklassen unserer Gymnasien und Lyzeen, so wäre die Verzweiflung Herr und man läse wohl gar von einer Selbstmordepidemie in der Jugend.
Mit den Sechzehnjährigen einer Berliner Frauenschule macht die junge Lehrerin einen Tagesausflug. Wovon spricht man auf der Wanderung? Von der Herrlichkeit der Natur? Oder von technischen Dingen wie Schwingachse und Vorderantrieb? Oder gar von deutschen Dichtern? Ach nein; die Mädels sprechen von Politik. Eine hat sich bewußt eine braune Hemdbluse mit vier aufgesetzten Taschen geschneidert.
"Ich bin ein Nazimädchen", sagt sie der Lehrerin, "während Sie wohl deutschnational sind; na ja, Sie sind eben 30 Jahre alt, da fängt die Verkalkung doch wohl schon an!"
Die Lehrerin fährt der Forschen nicht über den Mund, sondern lacht nur unbändig.
"Kindchen, Sie können mir ruhig die Hand geben; wir ziehen doch an demselben Wagen, auch wenn die Deichsel uns trennt!"
Da drängt sich eine andere, noch jüngere Schülerin heran und spricht auch über Politik. Es ist eine Untersekundanerin. Hier dürfen alle kameradschaftlich frei von der Leber weg erzählen, was sie wollen, und da sagt sie zu dem Fräulein:
"Gestern hatten wir eine knorke Stunde, Mathematik war so langweilig, da hat eine eine Menge Nazi-Bonbons mitgebracht, und alle haben gelutscht. Die schmecken einfach fabelhaft. Zuerst leckt man das Rote rund um ab, dann wird das Weiße der Drops immer kleiner, und, hach, das Gefühl, wenn man zum Schluß nur das Hakenkreuz auf der Zunge fühlt!"
9. Juni 1932 (Donnerstag)
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