"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 34 - 36
4. bis 19. Mai 1932


34

Das ist der Frühling - Zum Schwips nach Werder - Strandbäder am ersten Mai - Erinnerung an das Haus am See - Das Ende der Teddybären - Der rabiate Angetrunkene - Die Nacht im Asyl.

Hier und da trällert noch ein alter Leierkasten: "Das ist der Frühling, das ist der Frühling von Berlin!"

Aber er ist nicht so, wie die Schlager ihn schildern. In einer Zeit, in der 25,8 v.H. der Berliner von öffentlicher Unterstützung leben, die der Steuerzahler doch aufbringen muß, in einer Zeit, in der - wenn man die Kinder einrechnet - rund 50 v.H. der Berliner ihr Dasein von der Arbeit fristen, die die übrige Bevölkerung noch leistet, kommt leicht etwas Gespenstisches in die Frühlingsfreude. Obwohl viele Leute viel freie Zeit haben, geht der Ausflugsverkehr dauernd zurück. Daß er am vorigen Sonntag etwas stärker als sonst war, das liegt erstens am Datum - "Deher Mai iist gekommähn!" - und zweitens daran, daß just an den drei warmen Tagen zuvor das Land sich mit Blüten übersäete.

Also konnte die Bahnverwaltung ruhig neben den alltäglichen und sonntäglichen noch 23 Sonderzüge nach Werder einlegen.

Werder: das ist Preußisch-Grinzing.

Wie in Wien der Fremde auf die Höhen geführt wird, wo die Rebe wächst und das angeblich echte Volk seine Seele zeigt, so muß er in Berlin unser Grinzing, nämlich Werder, besuchen. Man staunt über die vielen Hunderte von Privatautos, die dort in langen Zeilen in den Straßen oder einzeln in den Höfen stehen. Aber was macht das, wenn allein mit der Bahn 17 000 Menschen dahin befördert worden sind. Volk, Volk, Volk! Was es da sucht? Natürlich auch die Frühlingsfreude, den Blick hinunter über den Blütenschnee der Hügel mit der Sprenkelung durch das Rosa der Mandelbäume, den Blick über Havelarme und Havelseen und Wälder bis hinüber zu den darüber lugenden Turmspitzen von Potsdam.

Aber in der Hauptsache sucht es den Schwips und die Liebe und das Vergessen.

Die meisten der jungen Männer, die in dem Riesensaal der Bismarckhöhe tanzen, haben schwere Arbeitsfäuste und spreizen die rechte Hand von der Taille ihrer Tänzerin ab, um sie nicht durch Schweiß zu gefährden. Und wenn die Musik dann spielt:

"Nur einmal möcht' ich keine Sorgen haben,
Nur einmal keine Angst vor morgen haben",

so sieht man plötzlich durch alle Herzen hindurch wie durch Glas, sieht hie und da Lust darin aufbrodeln, wenn einer sein Mädel im Arm hat, das durch ein paar Gläschen Obstwein fast schon willenlos und jedenfalls sehr anlehnungsbedürftig geworden ist, aber in vielen auch die graue Sorge, die man eben nur einmal verscheuchen will: Evoé, Bacche!

Trink, Brüderlein, trink . . ., vor allem Du, Mägdelein; denn das will Dein Begleiter. Hier im Saal tanzt man sich den Alkohol wieder etwas ab, aber draußen auf den unzähligen Bänken und Stühlen unter den blühenden Obstbäumen oder im Grase oder an jedem Zaun ist es noch viel bacchantischer. Mit hängenden, fast umeinandergewickelten Beine, an ihren Schatz gelehnt, ihren festen Turm, steht da ein Mädel und sagt:

"Hansi, ich - hupp - kann nicht mehr!"

Sie sieht schon glasig darein. Aber er setzt ihr immer wieder die Flasche an den Mund und zwingt sie zu einem Schluck, noch einem Schluck, noch einem Schluck. Er selbst, der junge Arbeiter, trinkt fast nichts. Einige Kollegen hocken im Grase.

"Na, seid Ihr vergnügt?"

"Nee, bloß besoffen."

Da ist es drüben im Strandbad Wannsee, wo man trotz des kühlen Mailüfterls an dem bißchen Sonne sich freut, doch schöner. Hier feiern 6500 Besucher - die höchste Rekordzahl an einem Augusttage war bisher 78 000 - den ersten Mai. Ich stelle mich auf den Dachgarten C und schaue rundum: nur einige wenige patschen in das Wasser mit seinen erst 15 Grad, die meisten liegen im Badeanzug herum oder sitzen in den Strandkörben und sonnen sich. Ist nicht Grün heuer die Modefarbe? Ich entdecke aber keine moosgrüne Seejungfrau, nur allerlei hellblaue, knallrote, orangegelbe, schwarze und durcheinanderbunte.

Und wie schön ist die große Bucht mit ihren weißen Segeln und flinken Motorbooten, wie weiß und fein ist der Strand, der aus ganzen Schiffsladungen hierher gebrachten Ostseesandes besteht. Das "Freibad" Wannsee, so genannt, weil man hier im Freien baden durfte, nicht etwa umsonst, ist eine städtische Einrichtung, die sich selbst erhält und, aus eigenen Einnahmen erweitert, eine der seltenen defizitlosen Unternehmungen der öffentlichen Hand, und ist jetzt gerade 25 Jahre alt.

Vorher streiften hier nur Gendarmen und schrieben jeden auf, der zu baden wagte.

Jetzt ist es eine europäische Sehenswürdigkeit, wird von durchschnittlich gutem Publikum besucht und trägt erheblich dazu bei, die Brot- und Fleischkarten-Generation gesunden zu lassen, den blassen langen Boticelli-Figuren unserer jungen Mädchen wieder ein gut geschütteltes Maß roter Blutkörperchen zu geben. Natürlich ist das Strandbad Wannsee, ebenso wie das am Müggelsee und die anderen, ein "Volksbad", aber es gibt überall auch noch private, teurere, exklusivere, nur daß ihre Einrichtungen an diese hier lange nicht heranreichen.

Rundum der Blick auf die Villen. Meist stehen sie zum Verkauf. Eine der ehedem schönsten ist schon längst Weinrestaurant geworden, das "Haus am See", - nun ist es wohl schon bald ein Jahr her, daß ich da glücklich in froher Gesellschaft saß.

"Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder."

Wenn das jedermann so leichtfertig dahersingt, denkt er nicht daran, wieviel Herzeleid darin steckt und wieviel Verlassenheit, wenn es vorbei ist. Vielleicht geht das "Haus am See" einmal auch ein wie heute so viele Berliner Gaststätten, obwohl gelegentlich auch noch eine Neugründung erfolgt, zur Zeit beispielsweise das Schloß Marquart - auch an einem See - "restauriert" wird.

Alles hat seine Zeit, alles wechselt, nicht nur die Kleidermode. Gott sei Dank: der Teddybär scheint ausgelitten zu haben. An seiner Stelle winkt in der ganzen Umgebung von Berlin und in der Stadt selbst in jeder Würfel- oder Schießbude der ganz naturalistisch aufgemachte, schnauzbärtige Stoffhund als Gewinn. Wird auch seine Zeit haben. Man wird solcher Dinge überdrüssig. Gewann ich je so etwas, so schenkte ich es gleich einer Kinderärztin zur Unterhaltung für ihre wartenden kleinen Patienten, sodaß nichts davon in unser Haus kam. Und wenn ich heute irgendwo bei einer Dame zum Tee eingeladen bin und unter dem "Kunstgewerbe", das zu einem Boudoir gehört, auf dem Sofa eine der bekannten Stoffpuppen mit unsäglich langen Beinen entdecke, schmeckt mir kein Sandwich mehr. Ich kann die Modemitmacher nicht leiden. Kleid und Wohnung und Kunst im Hause müssen Eigengewächs sein.

Daß ich selber alles noch nach eigenem Geschmack habe, macht mir freilich weniger Freude denn je. Zu jeder Freude braucht man jemand, der sich mitfreut, und es wird doch immer einsamer um einen, je weiter die Jahre vorschreiten. Wir alle werden allmählich notgedrungen ungeselliger.

Und die Not derer bedrückt einen, die Kleid und Wohnung und Kunst nicht haben, geschweige denn, daß sie alles nach individuellen Wünschen haben. Es ist mir nun doch gelungen, eine Nacht unter den Ärmsten der Armen zu verbringen, im Asyl für Obdachlose . . .

Es ist eine schlaflose Nacht gewesen; so etwas kenne ich auch sonst, wenn aufgespeicherte Arbeit es erfordert oder wenn Grübelgedanken wie Dämonen an einem zerren, aber dann ist es doch an "meinem" Schreibtisch oder in "meinem" Bett, nicht mit 53 anderen Menschen in einem Schlafsaal, mit 567 im ganzen Asyl.

Um 5 Uhr nachmittags bin ich da und trete "in Schlange" an, wo das Schild steht: R-Z. Hinter mir ist einer, der duftet stark nach Schnaps und ist sehr ungeduldig. Ich lasse ihn vor. Er fängt gleich an zu randalieren. Die Beamten sind freundlich und höflich, versuchen ihn durch leichten Humor zu besänftigen: wenn er auch etwas angetrunken sei, er werde schon schön schlafen. Darauf gröhlt er:

"Wat, bloß anjetrunken? Nee, besoffen bin ick! Wat soll ick denn sonst?"

Noch vor ihm ist ein Pole ausgefragt worden, was immer eine lange Geschichte ist, aber hier besonders ausgedehnt, weil er etwas begriffsstutzig ist. Er wird nach dem Mädchennamen seiner Mutter gefragt. "Jadwiga", sagte er. Nein, was für eine Geborene sie sei. "Geborren natürrljich!" Endlich bekommt er den Aufnahmeschein.

Bei mir geht die Sache glatter. Ich werde weitergeschleust, wie alle anderen durch das Zimmer 77, in dem zwei Herren und eine Dame in einer Kartothek nach meinem Namen suchen, ob ich etwa - nehme ich an - steckbrieflich gesucht werde; das Asyl soll kein Unterschlupf für Verbrecher sein.

Nun komme ich in einen Raum, in dem etwa 40 Mann sich gerade ausziehen oder schon ausgezogen sind. Einer hat so ein merkwürdig großmaschiges Netzhemd. Wie ich nähertrete, sehe ich, daß es ein richtiges Hemd ist, aber so durchlöchert, als sei es in Schrapnellhagel geraten. Jedermann bekommt einen Beutel für seine Schuhe und einen eisernen Bügel für seinen Anzug, über den ein Sack gezogen und verschnürt wird; man gibt die Sachen zur Aufbewahrung ab und erhält als Quittung eine Blechmarke mit Nummer an einem Kettchen um den Hals. Die Unterwäsche aber wird vorher auf Ungeziefer durchleuchtet; ist sie verdächtig, so kommt sie in den Entlausungsofen. Ihrer 4 stehen am Ende des Baderaumes. Dort sind 30 Brausen, unter denen man sich schubweise mit Seife säubern muß. Ein Mensch neben mir hat richtige Schmutzborken an den Beinen und anderswo; schon jetzt wird mir fast schlecht, denn solch eine Erkundungsnacht ist doppelt schwer, wenn man selber gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe ist.

Der Angetrunkene ist wieder da und macht Skandal, ruft "Rotfront! Hoch Thälmann!", kriegt einen förmlichen Wutanfall, schreit: "Det ick Magenkrebs habe, daran seid Ihr schuld!" und wird schließlich unflätig.

Mit unendlicher Geduld versuchen die Wärter, ihn zu beruhigen. Aber wenn er alles kaputt schlagen wolle, müsse man doch die Polizei holen.

"Holt ruhig die Bullen, mit die wer' ick ooch noch fertig!"

Im Nebenraum bekommt jeder zum Abtrocknen ein blütesauberes Handtuch, ein paar Pantoffeln und einen frischgewaschenen, grauen langen Kittel, der als Nachthemd dienen kann, dazu Eßnapf und Löffel. Nun sind wir alle uniformiert. Lediglich an den Gesichtern kann man zu erraten versuchen, was für einer einer ist. Sonst ist man nur noch Nummer. Ich bin Nr. 404 in dieser Nacht. Als Abendbrot gibt es 1 Liter dicke Bohnen mit Schweinefleisch, dazu einen ordentlichen Kanten Brot, am Morgen erhalten wir 1 Liter vortreffliche Haferflockensuppe, wieder mit Brot. Für die gesamte Leistung werden nur 2 Stunden leichte Arbeit am Vormittag verlangt, aber dabei "verkrümeln" sich die meisten Pennbrüder.

Wenn nur die Nacht nicht wäre!

Wir sind unser 54 in dem Raum, es ist behaglich warm, 24 Grad, wir liegen - ohne Kissen, aber mit hohem Kopfgestell - auf den mit Filz belegten Betten, aber zu der Wärme kommt die Ausdünstung, kommt das Plaudern bis zu später Stunde, kommt hier und da Streit um einen "Kippen", einen aufgelesenen Zigarrenstummel, den die alten Kunden trotz des Verbotes immer wieder einzuschmuggeln verstehen.

"Mir ooch 'n Zuch!"

"Mir ooch!"

Neben mir liegen lauter junge Leute, so zwischen 20 und 30, darunter ein Landstreicher, der es satt hat und - natürlich vergeblich - hofft, bei der Reichswehr unterzukommen. Im ganzen Saal entdecke ich nur einen einzigen älteren, etwa 65jährigen Mann.

Zu weit ab von mir, als daß ich allem folgen könnte, plaudert eine Gruppe offenbar ehedem "besserer" Leute darüber, was zur Allgemeinbildung gehöre an Schulwissen, an Politik, an Technik, an Kunst. Sie einigt sich schließlich darauf, daß man auch die wichtigsten Opern kennen müsse, aber nicht ungebildet sei, wenn man von Operetten nichts wisse.

In der andern Ecke unterhalten sich fünf Mann lärmend auf polnisch, bis ihnen zugerufen wird: "Verfluchte Pollacken, haltet die Fresse!"

Endlich wird es still. Aber da hat dafür das Schnarchkonzert begonnen. Fast alle schnarchen. Im Tenor und im Baß, im staccato und im sostenuto, jeder auf seine Art. Vorher hat es noch eine Art Abendmette gegeben. Ein junger Westfale hat, unter allgemeiner Andacht, nur zuletzt unter Mitsummen der anderen, ein wehmütiges Bergmannslied gesungen. Jetzt ist er arbeitslos und obdachlos. Darauf hat ein anderer, um den Eindruck zu verwischen, die Internationale angestimmt.

Um 6 Uhr früh kommt ein Aufseher herein: "Suppe holen!" Man wäscht sich, ißt, zieht sich an, verläßt rein und mit neuen Kräften das Haus, das in seiner Sauberkeit und Gastfreiheit vorbildlich ist. Nur ich habe freilich nicht geschlafen und werde diese Verwüsteten des Lebens nicht mehr vergessen können.

Um 8 Uhr stehe ich wieder auf der Straße. Noch nie ist mir die Berliner Luft so würzig vorgekommen.
4. Mai 1932 (Mittwoch)


35

Fiffi mit Blumen - Nach dem Bankenkrach - Golfklub - Katzenellenbogen, Guttmann, Goldschmidt - Arbeiter und Studenten gemeinschaftsbewußt - Wer ist Everling? - "Wiederentdeckte Monarchie" - Vatertag, Muttertag, Tantentag - Am Pariser Platz.

Als unser Herrgott bei der Schöpfung die Erde mit der Schiefe der Ekliptik versah, hat er sicher mit einem lieben Lächeln schon der Evastöchter von heute gedacht. Nämlich ohne diese Winkelstellung gäbe es, das haben wir alle in der Schule gelernt, keinen Wechsel der Jahreszeiten. Und ohne diesen Wechsel hätten wir keinen Frühling. Und gäbe es keinen Frühling, dann zeigten die Schaufenster auch nicht alljährlich entzückende neue Frühjahrshüte, die unserer gesamten Damenwelt die Pulse schneller schlagen lassen.

Manchmal tut die Mode einen ganz großen Hopser. Im vorigen Frühsommer tauchten plötzlich - seit dem Kriege sagt man: schlagartig - in Berlin die Fiffi-Hütchen auf, von den Korrekten Chasseur-Hütchen genannt. Sie waren keck wie ein Stupsnäschen. Rechts tief über Auge und Ohr, links schräg aufwärts und umgeklappt, damit hier die Frisur zur vollen Wirkung komme. Nun hatten unsere Damen zur Auswahl zwei Profile, zwei Seitenansichten, die zu Verteidigung oder Angriff sich benutzen ließen, ehe man mit der Front zum Durchbruchssiege antrat.

Das Fiffi-Hütchen machte die jungen verwegen, die alten unternehmungslustig. Und dann das klitzekleine Federchen dazu oder die Pleureuse!

In Berlin ging es im Handumdrehen mit der Neueinkleidung, da machten alle, alle mit, während in Zielenzig oder sonst einem Städtchen natürlich noch monatelang später die Leute auf der Straße stehen blieben, wenn die erste Einheimische mit einem Fiffi-Hütchen daherkam. Jetzt ist es schon in der Versenkung verschwunden. Die neue Herrscherin, auch noch schief getragen, läßt den vorjährigen Aufschwung der Federindustrie wieder versinken, kennt nur noch Band und Schleife und rundum abstehende Krempe: "Strenge Herrenform".

So ist der Hut vom Frühling 1932 getauft. Aber zwischen ihm und Fiffi hat es einen kurzen Übergang gegeben, das Hütchen mit Stoffblumen links unter der Krempe, und wer nichts überschlagen, sondern stets mit dem Neuesten herausfordern will, der trug also Fiffi mit Blumen. Da sehe ich ein junges Mädchen, das sicher nicht über große Mittel verfügt, aber natürlich eine ganze Plantage von Hortensien trägt. "Schick, nich?", scheinen ihre Blicke zu fragen. Dafür hat die Mutter sicherlich noch einen Topfhut und der Vater versagt sich jedes Vergnügen.

Daß das Gewerbe der Hutformer noch nicht der allgemeinen Pleite erlegen ist, hat seinen Grund darin, daß so viele junge Damen heute Selbstverdienerinnen sind und sich als Junggesellinnen viel mehr leisten können, als wenn sie als Gattin, Hausfrau, Mutter nur auf das bißchen Kleidergeld angewiesen wären, das der Mann dann auswerfen kann. Auch diese Überlegung trägt zur Ehelosigkeit oder zur Kinderlosigkeit bei und wirkt mit bei dem Versiegen der Nation. In Berlin gibt es schon seit Jahren mehr Sterbefälle als Geburten. Aber in gewissen Kreisen ist immer noch "alles da", sind die Männer immer noch Schwelger und die Frauen immer noch Luxusgeschöpfe, besonders in der Welt der Bankdirektoren, obwohl der Staat mit 1 115 000 000 Reichsmark aus den Taschen von uns Steuerzahlern beim letzten Bankkrach hat helfend eingreifen müssen, wovon etwa die Hälfte als verloren gilt.

Es ist unter der heutigen Moral fast ein Wunder, daß selbst die neue Gesellschaft dazu nicht immer die Augen zudrückt.

Herr Katzenellenbogen, der Gatte der Tilla Durieux, der schon ihr Freund war, als ihr erster Mann, Cassirer, noch nicht Selbstmord begangen hatte, rast vor Wut. Man denke: er hat aus dem Golfklub Wannsee austreten müssen! Warum? Wegen einer Lächerlichkeit. Wegen der 3 Monate Gefängnis, zu denen er verurteilt worden ist. Ja, so - rückständig ist also doch dieses Neuberlin und dieser Golfklub mit seinem Gemisch von Grafen und Börsianern. Nicht zu sagen!

Begründet ist er von Herbert Guttmann, der bis zum Krach Generaldirektor der Dresdner Bank war und einen unerhörten Aufwand trieb, auch nachher, nach seinem erzwungenen Ausscheiden, nicht etwa in die Stille verschwand, sondern in seiner Stadtwohnung im Blücherpalais ein fürstliches Essen für etwa 60 Personen - Bankleute, Adel, Diplomaten - gab, bei dem die Eingeladenen selbst (warum kamen sie überhaupt?) sehr viel über ihn zu wispern hatten. Aber er ist eben immer noch in der Lage, sich mal ein neues Auto zu kaufen oder, da er unter der Hand noch reichliche Bezüge aus den alten Quellen hat, ein bloßes Ministergehalt als Bettelsumme anzusehen. Auch er hat Pech im Golfklub und ist vom Vorsitz zurückgetreten. Es gibt eben immer noch Leute, die es für nicht richtig halten, daß wir an seiner Bank Hunderte von Millionen verloren haben, sie nämlich allmählich durch unsere Steuern aufbringen müssen. Der jetzige Reichsfinanzminister hat einmal gesagt, die Bankdirektoren müßten mit ihrem Vermögen für die Verluste herangezogen werden. Gesagt wird viel. Ein Teil des Guttmannschen Vermögens - die berühmte Fayencen-Sammlung des Herrn Generaldirektors - wird soeben zu Gelde gemacht. Nicht in Berlin, bewahre. Sondern im Auslande, in London.

Auch aus dem Zusammenbruch der Danat-Bank sind keine Folgerungen gezogen worden. Der internationale Kapitalismus wird von unseren Schwarzroten geschont. Jakob Goldschmidt war einer der fünf persönlich haftenden Gesellschafter der Danat, spielt noch heute hinter den Kulissen bei ihr eine Rolle, hat noch heute sein Riesenschloß in Babelsberg mit einem Heer von Dienerschaft und der Bibliothek und Kunstsammlung, die viele Millionen wert ist. Niemand im Reichstage unter den regierenden Parteien denkt auch nur im Traume daran, deswegen Alarm zu schlagen. Und wenn die neue Gesellschaft Berlins hie und da Anstoß nimmt, so geschieht das vielleicht - aus Angst. Umstellen, umstellen. Auf die kommende Regierung der nationalen Opposition sich einstellen! Denn die wird im Namen der alten Moral mit dem eisernen Besen dreinfahren. Dann haben die Leute vom Stamme der Katzenellenbogen, Guttmann, Goldschmidt nichts zu lachen.

Wie einst die "Pamphlete" als Sturmvögel der großen französischen Revolution voranflogen, so heute der Restauration des Königtums leidenschaftliche und geistvolle Bücher. Gewiß, es liest sie nur der Gebildete. Aber wie alles Wasser von oben nach unten durchsickert, nicht umgekehrt, wie niemals aus der Masse heraus das große Antreten kommt, sondern aus der Stimme der Führenden, wie ein leichtsinniger Fürstenhof das Volk demoralisierte, ein sittenreiner es erhob, so vermittelt auch heute der Gebildete dem Unbelesenen die Ideen. Und der schwer schuftende Handarbeiter nimmt sie willig auf.

Hunderttausende glauben nicht mehr an die Internationale und an den Klassenkampf, sondern sind gemeinschaftsbewußt-volksbewußt geworden. Ein rührend-erschütterndes Beispiel kann ich dafür anführen. Es ist gegen Morgen, es ist 4 Uhr. Gleise der Straßenbahn werden erneuert und genietet, es geht wild her wie im Akkord. Da kommen von einem Ballfest her Studenten im Smoking, daran das Hakenkreuz oder den deutschnationalen Adlerkopf. Sonst hätte es geheißen: "Verdammte bummelnde Kapitalistenbande!" Aber hier heben Arbeiter die Hände und sagen strahlend: "Unsere Jungs!", und alsbald stehen beide Gruppen beisammen und es gibt aufmunternde Worte (auf "den" Tag) hinüber und herüber.

Das ist die Stimmung, in die herrlich ein Buch paßt, das eben im Brunnen-Verlage erschienen ist und das ich schon zum dritten Mal lese, um es ganz in mich zu vertiefen. Es heißt: "Wiederentdeckte Monarchie" und ist von Dr. Friedrich Everling. Wenn ich es geschrieben hätte, könnte ich mich fröhlich zum Sterben hinlegen und sagen: besseres könnte mir in meinem ganzen Leben doch nicht gelingen, nun stehe ich wie Dr. Faust auf dem Höhepunkt glücklichen Schaffens.

Dieser Everling ist ein schmaler, feiner, jung aussehender Mensch. Politiker, Parlamentarier, Rechtsanwalt. Er wäre heute, wenn er es nur wollte, mecklenburgischer Staatsminister.

Er hat aber sein Lebtag nur eines gewünscht: seinem König treu zu dienen. Er hält nie eine Reichstagsrede, ohne den König von Preußen zu erwähnen. Schon in seiner Doktorarbeit über den Beamteneid - und sein Professor in Halle war Demokrat und ihm bitterböse - hat er "ganz wilde" Ansichten über Lehnstreue verfochten. Seine Vorfahren sind Bauern aus dem Braunschweigischen um 1400 herum. Aber daß einer um 1755 als Offizier dem Alten Fritz gedient hat, das ist der größte Stolz der Familie.

Everling ist ein phosphoreszierender Geist, der eigentlich immer sarkastisch spricht, sodaß uns Minderbegabten unheimlich wird. Man sagt:

"Will das Kerlchen mich eigentlich anpflaumen?"

Einmal war ich mit ihm zum Abendbrot bei dem Prinzenpaar Oskar von Preußen eingeladen. Er brillierte, ohne es darauf abzusehen, aus seiner Natur heraus, und ich wurde stummer und stummer. Alles, was er an Geist und historischem Fundament und Idealismus und fanatischer Überzeugungskraft besitzt, das steht jetzt in den 66 - jawohl, 66 - ganz kurzen, aufblitzenden Kapitelchen seiner "Wiederentdeckten Monarchie", die für 3,60 Mark, gebunden für 5,25 Mark, zu haben ist. Er gehört nicht zu denen, die die Frage nach Monarchie oder Republik, wie es so schön heißt, "vorläufig zurückstellen" möchten. Als Hilfsrichter beim Landgericht I Berlin wurde er aufgefordert, den neuen Eid der Republik zu leisten. Also den Eid auf Verfassungsbeobachtung. Er erwiderte, in seiner ersten Bestallungsurkunde stehe noch, es werde erwartet, daß er in unverbrüchlicher Treue dem Königlichen Hause ergeben bleiben würde. Er erbäte also lieber seinen Abschied während der republikanischen - Übergangszeit. Ursprünglich hatte er sich auf den Diplomatenberuf vorbereitet und war dem Auswärtigen Amte zugeteilt. Dort flog er nach der Revolution natürlich hinaus. Seine jüngeren Kollegen nannten ihn damals in der fiebernden Zeit den letzten Monarchisten. In der Bibel steht: "Die Letzten werden die Ersten sein".

Zum ersten Mal, im Rohabzug, habe ich das Buch am Himmelfahrtstag gelesen. Ich pürschte eigentlich auf die traditionellen "Herrenpartien", um davon wieder einmal zu erzählen. Aber nun saß ich fest, las und las und las. Das wundervolle, gänzlich neu gesehene Kapitel über Napoleon. Die aufklärenden Kurzgeschichten über die Diktatur als Regierungsform oder Episode, über den Kronprinzen als würdigen oder unwürdigen Erben der Krone, über des Kaisers "Flucht" nach Holland, über die goldene Internationale, über die Trennung von Kirche und Revolution. Und so sah ich nur wenige Herrenpartien. Aber sie sterben, trotz verstärkten und manchmal rüden Fastnachtsulks, wirklich aus.

Hie und da sitzt eine Gruppe alter Herren, Berufsgenossen, Vereinsgenossen, in einem Ausflugsort bei einem Dauerskat. Alle Männer um das 40. Lebensjahr herum aber haben schon die Parole: "Ganz ohne Dornen ist die Rose nicht, ganz ohne Weiber geht die Chose nicht." Und die jüngeren wollen von der Herrenpartie garnichts wissen, sondern ziehen mit der Frau oder mit ihrem Mädel ins Freie, und schieben sogar, wenn sie Nachwuchs haben, den Kinderwagen.

Aber Himmelfahrt mit der aussterbenden Herrenpartie wird jetzt neu lackiert. Es ist nichts gewachsenes, sondern etwas beschlossenes: "Vatertag!" Vater braucht einen neuen Schlips, annoncieren die Geschäfte. In einem kleinen Vorkostlädchen in Berlin N sah ich ein großes Pappschild "Für den Vatertag" und darunter lagen kleine Büchschen Sardinen für 33 Pfennige. Auch Likörstuben melden sich zum Vatertag. Sie stellen sich noch immer den Vater von einst vor, der den Wandschrank voll hat und seiner Gattin, während er trinkt, zugröhlt: "Ich möcht' so blau wie Deine Augen sein!" Die heutige Jugend trinkt keinen Schnaps mehr, und die Alten sehen auch kein Heldentum mehr im Trinken, sondern allenfalls ein Schlafmittel.

Aus dem Muttertag ist ja dank der Evangelischen Frauenhilfe etwas sehr schönes geworden.

An die 40 000 abgearbeitete Mütter werden, zum großen Teil aus Mitteln, die an diesem Tage gesammelt werden, in Erholungsheime geschickt, während für die Familie gleichzeitig eine Vertreterin besorgt wird. Aber nun, liebe Leute, laßt es damit auch genug sein und beschert uns nicht auch noch den Tanten- und am Ende gar den Schwiegermuttertag, denn sonst werden nur alte törichte Witze wieder lebendig.

Schade, daß die Arbeit uns, die wir für die Steuern uns abmühen, so zermürbt, daß wir weniger als früher für die Familie übrig haben, - nämlich an geistiger Aufrichtung. Auf dem Pariser Platz treffe ich ein paar Volksschüler, dreizehnjährige, vierzehnjährige, und einer sagt: "Det da is die ruschisse Botschaft!" Ich mische mich ein: "Nein, die französische! Da, an den Treppenstufen, haben 1813 unsere Leutnants ihre Säbel gewetzt. Ihr wißt doch? Damals, als es gegen Napoleon ging!" Der Junge antwortet: "Det hamwa in der Schule nich jehabt!" Und als ich einwerfe, aber der Vater habe es ihm vielleicht erzählt, antwortet er:

"Nee, Vater singt bloß immer: Und am Pariser Platz, da war sie schon mein Schatz!"
12. Mai 1932 (Donnerstag)


36

Die abgebrochene Pfingstreise - Parlamentsskandale - Neuheiten im Theater - Von Lilian Harvey und Fern Andra - Gerhart Hauptmann am Grabe und am Rednerpult - Die Hand - Kunstflug-Meister - Auf dem Juvena-Boot.

Natürlich, zu Pfingsten müssen Sie verreisen, unbedingt, hatte der Arzt gesagt. Wer so wie Sie arbeitet, geradezu Raubbau treibt, der muß fort, sowie er nur für etliche Tage kann.

Also am Pfingstsonnabend früh marschiere ich an der Alster in Hamburg entlang, ehe ich mit dem nächsten Zuge weiter in Richtung Kiel in die Holsteinische Schweiz fahre. Auf einmal kriege ich - ein Seitenstück zur Budenangst - die Angst vor der fremden Welt da draußen. Wir sind wohl, wie ich zu spät, erst nach Lösung der Fahrkarte, erfahren habe, an einander vorübergebraust, ich in Richtung See, unser Jüngster aus Wilhelmshaven in Richtung Berlin. Er hat Pfingsturlaub bekommen. Ich bin ja so müde, so müde. Und von aller Falschheit der Welt kann man sich am besten erholen, wenn man in ein paar treuherzigblaue Jungensaugen sieht.

Schon sitze ich im Zuge, der mich zurückfährt, und telephoniere - zum ersten Mal in meinem Leben - aus dem fahrenden Zug nach Hause: "Ich bin heute Punkt Soundsoviel zu Hause, bitte bringt die Fahrstuhlschlüssel, die ich in der Schublade gelassen habe, dann nach unten!"

Das ist doch eine großartige Erfindung. Ich verstehe die Meinigen, als ob sie im Nebenzimmer säßen, sie mich ebenso, dabei rast der Zug mit rund 100 Kilometer Stundengeschwindigkeit donnernd über die Schienen.

Man "muß" wirklich nicht. Reisen ist ja schön. Aber diesmal ist trotz des herrlichsten Sommerwetters eine halbe Million Berliner weniger als im vorigen Jahre mit der Eisenbahn ausgeflogen. Reisen bildet, weil man vergleicht. Daher meine ständige große Berufsreise im Spätsommer. Aber sonst? Da muß es heute schon um Leben oder Tod gehen. Ich habe Sehnsucht nach Hause. Nach lieben, treuen Menschen.

Dazu hat es in der Woche vorher an Sensationen nicht gefehlt, man zittert noch nachträglich vor Erregung, wenn man an das Theater im Reichstage denkt. Vom Montag an lange Dauersitzungen bis Donnerstag, darunter eine bis nach Mitternacht. Die Nerven aller Teilnehmer bis zum Bersten gespannt. Zuletzt die unglückselige Ohrfeigengeschichte, die dem gewandten roten Taktiker Löbe - allerdings ohne gesetzliche Berechtigung - die Möglichkeit gibt, den Reichstag auffliegen zu lassen und dadurch dem System Brüning, das schon dicht vor dem Sturze war, das Dasein zu verlängern. Polizei im Sitzungssaale! Der Vizepolizeipräsident Dr. Weiß wird mit den Rufen "Isidor! Isidor!" empfangen. Aber die Linke jubelt, als seine Leute, schwerbewaffnet, über Tische und Bänke springen und die Nationalsozialisten attackieren. Die Roten haben alles aufgegeben, was früher bei ihnen Grundsatz war. Wie haben sie sich einst über den alten Oldenburg empört, der gesagt hatte, ein Leutnant und zehn Mann genügten, um den ganzen Reichstag zur Raison zu bringen! Heute feixen sie, wenn eine Hundertschaft Polizei eines Mannes, der kein Deutscher ist, nur deutscher Reichsangehöriger, mit Gummiknüttel und Pistole gegen die Rechte vorgeht; frische, forsche deutsche Schutzleute gegen Volksvertreter, die großenteils alte Frontkämpfer sind, Deutsche gegen Deutsche unter fremdem Kommando!

Ein einziges Mal hat bisher der Parlamentarismus ähnliches erlebt, und damals war ich auch dabei. Es war noch im alten Reiche. Im preußischen Abgeordnetenhause. Der Zehngebote-Hoffmann und andere Rote machten Radau, kein Ordnungsruf half, der Verweisung aus dem Saale, die der Präsident endlich aussprach, folgten sie auch nicht. Da kamen vier freundlich-dicke blaue Pickelhauben-Männer und beförderten sie hinaus, wobei sie den Genossen Leinert mit sanfter Gewalt aus der Bank ziehen mußten; ein Westenknopf sprang ihm ab und landete mit hellem Klingen.

Ein unerhörter Tumult erhob sich damals in der Presse der Linken: Vergewaltigung der Volksboten! Und heute? Heute sind die Abgeordneten verfassungsgemäß souverän, haben eine ganz andere Stellung als früher, aber es gibt sicher kein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung.

Der einzige, der offen seiner Empörung Ausdruck gegeben hat, ist der Direktor beim Reichstag Galle. Er ist nicht Partei, er ist nur korrekter alter Beamter. Aber er tritt mannhaft gegen Weiß auf, der unrechtmäßig gehandelt und den Fall nachher falsch dargestellt hat.

Also das ist das tollste Theater gewesen, das wir in der Woche vor Pfingsten erlebt haben. Auf den wirklichen Bühnen ist es aber nicht viel besser. Die eine gibt ein Päderastenstück, in dem drei Primaner, auf ein Lotterbett mit seidenen Kissen hingesielt, die "Helden" spielen. Eine andere führt "Die Journalisten" auf, die aber nicht mehr die von Freytag sind, sondern frei nach ihm ein Singspiel von Joachimson. Das Stück ist aus seiner alten biedermeierlichen und doch völlig zeitlosen Behaglichkeit in das Jahr 1897 verlegt; Adelheid ist ein armes Sing- und Tanzmäuschen, und Konrad Bolz wird Oberbürgermeister von Potsdam. Eine Geschmacklosigkeit sondergleichen.

Das erstaunlichste ist, daß es noch Leute gibt, die darüber erstaunt sind, daß es den Theatern schlecht geht. Diese haben nur noch eine Premièrengemeinde, keine Dauerbesucher mehr. Auch der Film hat in den letzten Monaten 30% seiner ständigen Gäste in Berlin verloren. Das ist nicht nur die Folge materieller Not, sondern vornehmlich des läppischen Inhalts der meisten Neuheiten.

Das einzige, wofür sich das Publikum noch interessiert, ist das Persönliche und das Intime der Darsteller. Bei Lilian Harvey wollten also jugendliche Mörder einbrechen: mein Gott, wie interessant! Gleich darauf, noch interessanter, die Zeitungsnotiz: erstens sei aber Lilian Harveys Villa gut gesichert, und zweitens befand sich in der Nacht, für die der Mordüberfall geplant war, - ein Filmkollege bei ihr, der den Einbrechern doch mit der Pistole entgegengetreten wäre. Alles leckt sich bei dieser Lektüre die Lippen. Aber es war doch nur - ihr Gatte. Nur die Filmreklame verlangt es, daß "Sie" und "Er" stets als unverheiratet angegeben werden.

Und dann - mein Gott, wie interessant - die letzten Nachrichten aus Amerika. Also Fern Andra hat sich mit dem Schauspieler Keith drüben verlobt. Fern Andra? Richtig, diese Filmkünstlerin, nicht mehr ganz in der ersten Blüte ihrer Jahre, hatte doch in Berlin den jungen Meisterboxer Prenzel geheiratet, war mit ihm zusammen in einem Film aufgetreten und hatte ihm als Morgengabe ein schönes Auto geschenkt, das er für die Hochzeitsreise steuern lernte. Allmählich ist ihr der Muskelmann wohl gleichgültig geworden. Sie ließ sich von ihm scheiden. Und jetzt ist er Taxi-Chauffeur in Newyork.

Zum Schluß etwas sentimentales. Gerhart Hauptmann hat am Grabe des ehemaligen, zuletzt gänzlich verarmten Theaterdirektors Samst, der sich nicht einmal mehr Telephonanschluß leisten konnte, einen Kranz niedergelegt. Das ist so der Welt Lauf. Einen Kranz und einen Nachruf kriegt man immer, aber vorher muß man eben verhungern. Im Leben Gerhart Hauptmanns spielt der Name Samst eine große Rolle. Als "Die Weber" herauskamen, wollte kein Mensch in Berlin das Stück aufführen, nur Samst in seinem kleinen "Ostend-Theater" unternahm das Wagnis und machte den Dichter populär, ohne selber eine goldene Ernte einzuheimsen.

Bevor der Dichter mit dem Kranze auf den Friedhof fuhr, hatte er - als bedeutende Figur und vermutlich nicht ohne Honorar - eine Rede zu halten. Zur Eröffnung der Sommerschau 1932 "Sonne, Luft und Haus für Alle!" auf dem Berliner Messegelände am Funkturm. Selbstverständlich mußte unser auf Demokratie eingekleideter Goethe-Doppelgänger - dabei ist er für Goethe kaum das, was Otto Gebühr für Friedrich den Großen ist - mit einem Goethe-Zitat beginnen, wie ja auch sein letztes Schauspiel "Vor Sonnenuntergang" von solchen Zitaten wimmelt. "Geschrieben steht: im Anfang war das Wort!" Und dann weiter über den Sinn und über die Kraft zu dem Satze: "Und schreib' getrost: im Anfang war die Tat!" Eine solche Tat sei diese Ausstellung von Wochenendhäuschen und dergleichen. Eine Tat mit der Hand! Und mit besonderer Betonung sagte Hauptmann, diesmal von sich aus:

"Erst dann wird die Menschheit sich selbst voll gewürdigt haben, wenn die Hand aus dem Stand der Verachtung in den höchsten Adelsstand erhoben sein wird!"

Das ist doch bloß Geseires, würden in ihrer Sprache die Leute sagen, die in Berlin und im Riesengebirge und an der Riviera zum Kometenschweif Hauptmanns gehören. Erstens verachtet niemand - noch dazu im vierzehnten Jahre der von Arbeitern glorreich geschaffenen Republik - die Handarbeit; unter der Monarchie galt sie so viel, daß sogar jeder Hohenzollernprinz ein Handwerk lernen mußte. Zweitens ist die sehr lehrreiche und fesselnde Ausstellung "Sonne, Luft und Haus für Alle!", die noch bis in den August hinein dauern wird, nicht nur ein Werk der Hände, sondern in ganz eminentem Sinne der Köpfe, nämlich unserer Ingenieure, Architekten, Professoren. Und drittens ist gerade Hauptmann wohl der letzte, der, abgesehen vom Schwimmen in Rapallo oder sonstwo, seine Hände benutzt, im Sinne seiner Festansprache Taten tut: bei ihm sind es wahrhaftig immer nur Worte, nichts als Worte, und meist sehr hohle Worte.

Einstweilen hat die Ausstellung noch kümmerlichen Besuch. Es kommen knapp so viele Hunderte hin, als es etwa im Flughafen Berlin Tausende waren, die dort am Pfingstsonntag das Kunstfliegen von Udet und Fieseler sich ansahen. Wir haben ein sehr mäßiges städtisches Freilufttheater in Berlin-Friedrichshagen, in dem eine erbärmliche Aufführung der "Versunkenen Glocke" uns eben geboten wird. Gelegentlich haben wir, schon besser, "Die Hermannsschlacht" am Brauhausberg in Potsdam aufführen sehen, diese natürlich aus privater Initiative. Aber das besuchteste Freilufttheater, obwohl es nur technisches bringt, ist tatsächlich der Flughafen auf dem ehemaligen Tempelhofer Felde. Hier begeistert sich Jung und Alt. Wenn Fieseler wie ein vom Baume fallendes herbstliches Blatt aus großer Höhe heruntersegelt, heruntertrudelt, herunterschaukelt, nachdem er seine Loopings und Rollings gemacht hat, oder wenn Udet im Rückenfluge hart über die Zuschauermenge daherbraust, seinerseits ganz niedrig diese Loopings und Rollings macht und schließlichals "Parterreakrobat" im 250-Kilometertempo, auf den Zentimeter genau berechnet, mit einem geneigten Flügel das Gras des Feldes berührt, da ist der Beifall hemmungslos.

Es ist richtig: mit der Eisenbahn, auch den Stadt- und Vorortbahnen, sind diesmal zu Pfingsten 500 000 Berliner weniger als im Vorjahre gefahren. Aber "draußen" waren sie doch so gut wie alle, fast 4 Millionen Menschen. Manchmal ganz unvernünftig draußen. Da ist ein kleiner süßer Nackedei, ein Mädelchen von 2 Jahren. Die jungen Eltern sind beglückt über die liebenden Blicke von allen Seiten. Das Kind tummelt sich in der prallen Sonne auf dem flimmernd weißen Sande des Strandbades Wannsee den ganzen Tag lang.

Am Abend muß es wegen starker schmerzhafter Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht werden - und ist nicht mehr zu retten . . .

Das Strandbad hat in diesem Jahre eine neue Reklame-Sensation. Etliche hundert Meter vom Strande ab ist eine umfrisierte Zille, ein großer neulackierter Havel-Lastkahn, verankert. Es ist das Juvena-Boot. Jeder, der einen Juvena-Badeanzug hat, darf hinüberschwimmen und - dazu ist ein Fallreep da - das Boot besteigen, findet an Deck Liegestühle und Bänke vor, kann sich verschnaufen, bekommt, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen, also "gratis und franco", Kaffee und Kuchen oder Speiseeis, kann sich die Vorführung von Strand-, Luft- und Badeanzügen durch Mannequins ansehen, am kostenlosen Gymnastikunterricht durch eine Sportlehrerin beteiligen, Musik ist da, ein gelegentliches Tänzchen oder eine Fahrt stromauf oder stromab sind auch vorgesehen, und, wie gesagt, alles ist frei. Wer sich für, glaube ich, 5,90 Mark einen Juvena-Badeanzug kauft, kann den ganzen Sommer hindurch hier seinen Nachmittagskaffee einnehmen; von 2 Uhr nachmittags bis 7 Uhr abends steht das Personal der Zille mit ihren Vorräten ihm in vollendeter Höflichkeit zu Diensten.

So etwas fabelhaftes an Reklame haben wir Berliner jedenfalls noch nicht erlebt. Nur schwimmen muß man allerdings können. Es gibt keinen Bootsverkehr zu diesem Paradiesschiff.
19. Mai 1932 (Donnerstag)



Glossen 31 - 33

Jahresinhalt

Glossen 37 - 39

© Karlheinz Everts