"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 43 - 45
7. bis 21. Juli 1932


43

Junge Tippelbrüder - Eiserne Front - Das Schichtbett - Im Plänterwald - Sportplätze für Studierende - Mädels fliegen schlecht - Haarpflege und Professor Nernst - Schauspieler ohne Beschäftigung - "Der Mann ohne Namen" - Börse für Absitzen.

Mitten in der Potsdamer Straße eine seltsame Begegnung, wie man sie am hellen Tage kaum jemals hat. Ein Mann ohne Strümpfe in zerrissenen Schuhen, aus denen die Zehen hervorragen. Die viel zu langen Hosen abgetreten und zerfranst. Auf dem Rücken ein mit Bindfaden umwickeltes Bündel Lumpenzeug. Haupt- und Barthaar verwildert, fast verfilzt.

Also ein Landstreicher.

Davon hatten wir auch vor dem Kriege etliche zehntausend, und das waren, abgesehen von den braven Handwerksgesellen auf der Walze, meist ältere Leute. Heute aber stellt schon die Jugend einen großen Teil der Tippelbrüder und verwahrlost und wird für ehrlichen Erwerb unbrauchbar.

Wir zählen sorgfältig die Millionen, die daheim bleiben und "stempeln" gehen. Bisher fehlte es an einer Statistik derjenigen, die rastlos von Dorf zu Dorf wandern, hier etwas erbetteln, dort ein Hühnernest ausnehmen, in Herbergen allerlei Art oder bei Mutter Grün übernachten und nicht in den Arbeitslosenlisten verzeichnet sind. Nun hat man es einmal getan, hat an einem Stichtag sämtliche Insassen aller Herbergen - die der Scheunen und der Heuschober und der Parkbänke und der Waldbüsche waren nicht erfaßbar - und auch der Bahnhofs-Wartesäle und der Obdachlosenasyle gezählt.

Es sind 472 000 in Deutschland.

Und rund drei Viertel von ihnen sind ganz junge, kaum der Schule entwachsene Menschen, die keine Arbeit und keine Lehrstelle finden und keinen Anspruch auf Unterstützung haben.

So weit hat uns die Sozialdemokratie gebracht, die zuerst den Widerstand im Kriege brach, durch Munitionsarbeiterstreiks ungezählte Deutsche wehrlos dem feindlichen Massenfeuer auslieferte, dann den Mordfrieden annahm und vierzehn Jahre lang den Tributvogt spielte.

Ein Blick auf das deutsche Elend müßte genügen, um den Sozialisten den letzten Wähler abtrünnig zu machen. Aber es gibt ja noch immer Millionen von Trotteln in Deutschland, die auch am 31. Juli ihren klaren Verstand noch nicht wiedergefunden haben werden. Sie haben neuerdings zum Gruße die geballte Faust ("Was drin ist, zeige ich nicht, wer mich schmiert, braucht Ihr nicht zu wissen"), nennen sich Eiserne Front und tragen als Abzeichen die drei weißen Pfeile; wie man sagt, das Wappen der drei Brüder Sklarek.

Noch ist es, mit Hängen und Würgen, am 1. Juli gegangen, daß unsere armen Erwerbslosen, wenn auch weniger als sonst, doch das alleräußerste Existenzminimum, um nicht buchstäblich zu verhungern, zur Verfügung hatten. Dazu eine Reihe von schönen Tagen, daß sie aus erster Hand die Vitamine, die die Sonne unberechnet verteilt, empfangen konnten. Meist bleiben ja unsere Arbeitslosen solange wie möglich im Bett, weil in der Ruhelage der Magen am wenigsten rebelliert. Aber auch das kann sich nicht jeder mehr leisten. Ich habe einen alten Kriegskameraden, einen abgebauten Bankbeamten, in Berlin N aufgesucht, der sich nur noch ein Schichtbett leisten kann. Was das ist? Das ist eine Schlafstelle, die an drei Leute vermietet wird, die je 8 Stunden Anspruch auf das Bett haben. Um 10 Uhr abends, um 6 Uhr früh, um 2 Uhr nachmittags ist Schichtwechsel. Dann kriecht totmüde die Ablösung in das noch warme und gänzlich ungelüftete Lager, dessen Wäsche alle 4 Wochen gewechselt wird.

Das Leben fängt an, tierisch zu werden.

Aber das mit der Sonne, das hat schon seine Richtigkeit. Man soll nicht immer in die Freibäder gehen, wenn man sehen will, wo "das Volk" sich sein bißchen Gesundheit erhält, denn dort sieht man doch nur die Bessersituierten, die 20 Pfennige Eintrittsgeld und noch etliche Groschen für alles übrige ausgeben können. Also mal in den Osten. Zum Treptower Park und dem angrenzenden Plänterwald.

Da sieht man Dauergäste vom Morgen bis zum Abend, heute mehr denn je, denn den Ferienbeginn am 30. Juni haben diesmal wieder 15% weniger Berliner als im vorigen Jahre zum Wegreisen ausgenutzt. Auch die öffentliche und private Wohltätigkeit hat nicht mehr so viele Kinder wie sonst auf das Land oder an die See verschicken können. Also bleibt Berlin. Und man sucht, um das Fahrgeld zu sparen, das allernächste Ziel auf.

Eine arbeitslose Kleinbürgersfrau hat mit ihren drei Kindern im Plänterwald eine kleine Lichtung gewählt. Es ist da viel Unterholz, viel Vogelgezwitscher, nichts parkartiges mehr, sondern reine Natur. Die Frau ist mit einem Doppelkinderwagen gekommen, in dem die beiden Kleinsten und das Morgen-, Mittag-, Abendbrot verpackt waren. Nun liegt das Jüngste auf einem Kissen auf dem Gras und bemüht sich, den großen Zeh des rechten Beinchens in dem Mund zu kriegen. Die beiden anderen, etwa 3 und 5 Jahre alt, ebenfalls splitterfasernackt (was spart man da an Abnutzung der Kleider!), spielen derweil den ganzen Tag in ihrer Sandkuhle, wie sie es nennen. Es ist kein Sand, es ist Erde. Die beiden sind schon morgens um 10 mordsdreckig. Tut nichts, die Mutter wird sie schon abbrausen, drüben an der Spielwiese im Treptower Park ist eine Pumpe. Ringsherum um die Lichtung gucken verschiedene Beine aus dem Gebüsch. Da liegt überall irgendein Kerl oder eine Frau und pennt oder döst im Schatten. Ich habe stundenlang den ganzen Plänterwald kreuz und quer durchstreift und - kein einziges Pärchen gesehen. Das war doch früher nicht so. Aber es mag schon sein, daß es heute so ist, wie gesagt wird: wer garnichts mehr ausgeben kann, mit dem läßt man sich nicht mehr ein. Bei Hunderttausenden ist buchstäblich jede Lebenslust verloren. Und das ist, glaube ich, etwas spezifisch berlinisches; in keiner Kleinstadt ist der hoffnungslose Verzicht so groß.

Noch gibt die körperliche Betätigung im Sport Lebensfreude. Für unsere "gebildete" Jugend wird in der Beziehung allerlei getan. An der Avus sind soeben die neuen Sportplätze für unsere Studenten und Studentinnen eröffnet. Hunderte von ihnen tummeln sich da schon morgens um 7 Uhr, wofür sie für das ganze Halbjahr nur 3 Mark zu bezahlen haben. Etwa anderthalb Stunden Kugelstoßen, Speerwerfen, Ballspielen, Schnellauf machen schon etwas aus. Um 9 Uhr 15 Minuten sitzen diese Hunderte wieder sittig und frisch im Kolleg, das Fräulein stud.med. präpariert in der Anatomie Hirnschnitte und der Herr stud.theol. hört Dogmenlehre. Für die "Dauerlaufjuristen" und die "Fußballphilologen" habe ich jahrelang sehr viel übrig gehabt, wenn ich sie mit den Bierstudenten meines Zeitalters verglich. Ganz begeistert war ich von der Teilnahme der jungen Studentinnen an der Segelfliegerei in Gatow bei Berlin. Aber so ein gelegentlicher Besuch genügt wohl nicht ganz. In dem Motorflugsport, beispielsweise in Warnemünde, spielen die Rostocker Studentinnen eine sehr mäßige Rolle. Einer der obersten Leiter dieser ganzen Bewegung sagt mir:

"Im Vertrauen, die Mädels leisten im Fliegen sehr wenig. Die Hauptsache ist ihnen doch nur das kurze Höschen und das Poussieren!"

Nu wenn schon, kann ich da bloß antworten. Die Zweckbestimmung des Weibes ist nicht Segelfliegen. Dann schon eher Poussieren.

Den ersten Besuchern der Universitäts-Sportplätze ist es aufgefallen, daß viele der jungen Damen langes Haar tragen, im Nacken eng anliegende Zöpfe haben. Im Strandbad Wannsee, wo das abgebaute Tippfräulein dominiert, sieht man noch fast ausschließlich den Schnittkopf. Aber in den Familien der besten alten Gesellschaft fängt er an, als proletarisch zu gelten. Außerdem kostet er zu viel, wenn er wirklich ordentlich sein soll. Auch das lange Haar bedarf natürlich der Pflege. Für die Dunkelblonde ist der Inbegriff der Pflege meist das Aufhellen, und so geht sie denn zum Friseur, läßt es mit einer entsprechenden Lösung waschen und ist dann meist erstaunt, wenn ihr Haar - rot wird. Von wegen Wasserstoffsuperoxyd. Das ist billig.

Das ist auch gar nicht einmal etwas so neues. Ich begleitete einmal im Jahre 1908 eine Studentin in ein Kolleg des Professors Nernst über anorganische Chemie. Ich muß gestehen, daß ich mich nie für anorganische Chemie oder alte Professoren, aber häufig für junge Studentinnen interessiert habe; dieser einen hatte ich noch kurz vorher bei den Aufsatzthemen, die für das Abiturium in Betracht kommen, geholfen. Also wir sitzen damals, 1908, im Kolleg, und Nernst spricht über Wasserstoffsuperoxyd, fügt lächelnd hinzu, daß es auch zum Haarfärben benutzt werde, und zieht unter stürmischer Heiterkeit des ganzen Auditoriums einen knallrotblonden Zopf aus der Tasche.

Das habe ich dieser Tage einer jungen Privatdetektivin erzählt, die aus Berufsgründen gezwungen ist, häufig die Frisur und die Haarfarbe zu wechseln.

"Jawohl", sagt sie, "das mit dem Wasserstoffsuperoxyd ist ganz richtig, Nur-Blond ist viel besser, das kostet aber bei dem Friseur eine Mark mehr!"

Mit ganz unwahrscheinlichem Goldblond und sogar Platinblond - daß es nicht echt ist, sieht man auf 50 Schritt Entfernung - laufen jetzt in Berlin zahlreiche Damen herum, deren Bühnenherkunft unverkennbar ist. Überall in den Großstädten haben die Theaterferien begonnen, und Sommerengagements - gegen freie Station - werden seltener und immer seltener, da zahlreiche Bäder, so Helgoland, von dem ich es persönlich weiß, nicht einmal diese geringen Unkosten mehr aufbringen können. Und die Leiter der Stadttheater bekommen bei den sinkenden oder ganz wegfallenden Subventionen allmählich das graue Elend. In der vorigen Woche tagte ihr Bühnenverein bei Kroll in Berlin. Es war noch keine Einigung mit den Darstellern zustande gekommen, an denen man sparen will und muß. Es scheint, daß man an eine Art Reparationsabgabe der Doppelverdiener denkt, deren Leben nicht aus Probe, Pause, Aufführung, sondern aus Filmen und Aufführung besteht. Aber da ist wohl nichts zu machen. Es sei denn gegen die Kleinen. Ich möchte den Theaterleiter sehen, der es fertig brächte, Werner Krauß da Vorschriften zu machen.

Wir sehen ihn jetzt im Sommer nicht mehr auf der Bühne. Aber auf der Flimmerleinwand ist er uns noch einmal in einer Première erschienen.

"Der Mensch ohne Namen." Eine Enoch-Arden-Tragödie, nur nicht ganz so, wie sie Tennysons langverschollener Seemann spielt, der endlich nach Hause kommt, seine Frau wieder glücklich verheiratet findet und still sich drückt, um nichts zu zerstören. Der "Mensch ohne Namen", Heinrich Martin - Werner Krauß, der nach 16 Jahren Sibirien wieder nach Berlin heimkehrt, will seinen alten Namen, seine Frau, seine Fabrik wiederhaben. Er ist bei Dünaburg nach einem Gasangriff der Russen schwerkrank in deren Hände gefallen, hat sein Gedächtnis verloren, kennt seinen Namen nicht, kann nicht sprechen, lernt erst mühsam wie ein Kind Russisch. Nur - merkwürdigerweise - für alles, was mit der Fabrikation von Autos zusammenhängt, hat er Gedächtnis, hat er Genie, hat er Erfindergabe. Er wird Werkmeister in einer Sowjetfabrik. Eine deutsche Delegation von Industriellen kommt dorthin, einer der Herren läßt die neueste "Woche" da liegen. Heinrich Martin - Werner Krauß sieht das Brandenburger Tor und andere Bilder aus Berlin, mit einem Schlage kann er Deutsch, weiß er seinen Namen, erinnert er sich auch an seine Autofabrik in Berlin-Oberschöneweide, die ihre 3 Millionen Mark wert ist, bekommt seine russischen Ausreisepapiere und erscheint in Berlin.

Niemand erkennt ihn. Er ist 1921 für tot erklärt worden, punctum.

Und das Unwahrscheinlichste: seine eigene Frau, die inzwischen seinen besten Freund geheiratet hat, erkennt ihn nicht, obwohl er über alle Einzelheiten seines Vorkriegslebens Bescheid weiß, das eingenähte Ablieferungsdatum der Schneiderfirma in seinem in Dünaburg gefundenen und an die Frau geschickten Leutnantsrock angeben kann und sie selbst, seine Eva-Maria, mit dem Kosewort "Kleine Madonna" anredet, das nur er je gebraucht hat.

Ist, so fragt sich jedermann, diese Frau überhaupt glaubwürdig? Wenn nach 16 oder 20 Jahren ein Mann, und sei er inzwischen noch so schneeweiß geworden, heimkehrt, aus seinen alten Augen die Frau anlächelt und mit seiner alten Stimme irgendein Kosewort, meinetwegen "Schnups" oder "Affeli", das nur die beiden kennen, ihr zuruft, dann stürzt sie doch auf die Knie und küßt ihm die Hände!

Aber das geht ja nicht. Das wäre nichts für das große Publikum der kleinen Mädchen, die in den Film laufen. Daß ein ehemaliger Millionär seine Millioneuse wiederkriegt, pfui Teufel! Nein, er muß natürlich ein Mädelchen aus dem Volke haben.

Das ist da. Grete Schulze - Maria Bard. Ein arbeitsloses Tippfräulein, das gelegentlich Schwarzarbeit macht: aushilfsweise Maschine schreibt, aushilfsweise Männer liebt. Zur Zeit den Provisionsagenten Hanke - Julius Falkenstein. Aber der neue, der "Mensch ohne Namen", der im Grunde geniale Kerl, ist die größere Chance. Sie tippt für ihn die Idee einer fabelhaften Erfindung in der Autobranche. Sie klaut für ihn die 100 Mark Patentgebühren. Und als ihm nun wieder ein Vermögen winkt, als er sie dann fragt, ob sie mit ihm eine Weltreise machen oder ob sie sich eine Villa am Wannsee kaufen sollen, ist sie sein.

So etwas wollen die kleinen Mädchen sehen. Und die große Ufa wirft sich vor ihnen auf den Bauch.

Ich habe schon einmal geschrieben, daß der Film, der doch heute - wie früher das Theater - unsere Volksbildungsanstalt ist, fast nur noch Stücke herausbringt, in denen eine Modezeichnerin, ein Tippfräulein, eine Friseuse, eine Handschuhverkäuferin einen Herzog oder einen Generaldirektor oder einen Milliardär oder einen Kaiser als Gemahl oder wenigstens als Liebhaber bekommt. Man kann drei oder vier solcher Volksstücke vertragen. Aber wenn die Phantasielosigkeit unserer Filmproduzenten so weit geht, daß sie immer wieder nur dasselbe Motiv variieren, dann wird einem allmählich richtig übel.

Nach der Filmvorstellung gehe ich hinüber in den Tiergarten, verschnaufe die Enttäuschung, trotz des wunderbaren Spiels von Werner Krauß, einen Augenblick auf einer Bank. Sitzen da zwei junge Leute. Sagt der eine: "Ich habe heute 6 M gekriegt!" Sagt der andere: "Mensch, gib mir die Hälfte!" Sagt der eine: "Mit Vergnügen, wenn das ginge!" Sagt der andere: "Warum denn nicht?" Sagt der eine: "Mensch, nicht 6 Mark, sondern 6 Monate habe ich gekriegt!" Sagt der andere: "Auch gemacht, sogar das Ganze!" Und dann vereinbaren sie, daß der eine, der noch Arbeit hat, den anderen, der erwerbslos ist, seine Strafe für sich absitzen läßt.

An einzelnen Stellen in Berlin gibt es schon eine richtige Börse für stellvertretendes Absitzen. Im Gefängnis hat man es besser als mit den paar Mark Arbeitslosenrente. Wir sind am Verlumpen.
7. Juli 1932 (Donnerstag)


44

Das größte Bad Europas - Die Verödung der Vergnügungstätten - Fräulein Doktors Frida - Aus der Geschichte des "Wintergartens" - Ich hakele mit Malvida - Billiger als geklaut - Lynchgericht der Taxifahrer.

Ein nahezu unerhört schöner Juli brennt nun schon vierzehn Tage auf die Reichshauptstadt nieder; übrigens so ziemlich auf ganz Deutschland.

Man freut sich der in die Ferien gegangenen Kinder, auch wenn man selber mit geschmorter Birne seinem Berufe nachgeht. In Berlin selbst verhindert leider die darüber lagernde, über 600 Meter dicke Dunst- und Rußschicht das genügende Durchdringen der heilkräftigen ultravioletten Strahlen, man brennt also hier auch nicht so schnell ein, selbst wenn man sich sonntags ein paar Stunden auf dem Balkon statt im Arbeitszimmer beschäftigt. Aber schon zwei Meilen jenseits des Zentrums wird es erheblich besser, an den Ufern der Havel und der Oberspree schnappt man doch schon leidlich anständige Luft, nur meist - in zu großer Gesellschaft. Von allen Bädern Europas und der anliegenden Erdteile habe ich den Eindruck des stärksten Gewimmels immer von Ostende gehabt, besonders wenn zum Wochenende die Engländer in ganzen Schiffsladungen herüberkommen. Auch Swinemünde, Warnemünde und unsere übrigen Ostseebäder können gesteckt voll sein. Und doch ist das alles gar nichts gegen Berlin mit seinem Kranze von Strandbädern, von dem riesigen Wannsee bis zum kleinen Weißensee: Berlin ist mit zuweilen an einem Tage 280 000 Badenden das größte Bad Europas.

Des einen Brot, des anderen Tod. Von den 43 Theatern Berlins, die über 49 600 Sitzplätze verfügen, von denen in der abgelaufenen, bisher schlechtesten Saison im Durchschnitt noch kein Drittel verkauft war, feiern jetzt fast alle. Und sogar nicht weniger als 104 Kinos haben ihre Pforten geschlossen.

Wenn man diese Ziffern durchdenkt, dann weiß man, wie die Erwerbslosigkeit auch im Vergnügungsgewerbe einreißt. Aber auch sonst. Nach München sind diesmal im Juli statt 50 nur 26 Sonderzüge eingesetzt, und auch von denen fällt noch eine Anzahl aus, weil die Beteiligung nicht genügend ist. In der "Traube" in der Hardenbergstraße ist für den Sommer ein großer Teil des Personals - wie auch in anderen Gaststätten - entlassen worden. Darunter ein junger Koch, ein patentes fixes Kerlchen, der bei uns in der Hofwohnung seiner Eltern hauste und es fertig gebracht hat, daß die ganze bis vor wenigen Jahren rote Gesellschaft, Vater und Mutter an der Spitze, heute immer erst die Parole dieses jungen Menschen abwartet und dann insgesamt rechts wählt, manchmal deutschnational, manchmal nationalsozialistisch. Seine Braut, eine junge Kontoristin, die schon lange arbeitslos war, hatte der junge Mann schon seit Jahr und Tag bei seinen Eltern untergebracht, damit sie nicht "auf den Rummel und vor die Hunde" gehe. Jetzt stempeln sie beide und haben daraufhin - geheiratet. Das heißt, sie sind zusammengezogen. Das Standesamt soll erst später einmal bemüht werden, wenn man das Geld hat, eine richtige Hochzeit auszurichten. Und doch, was will man sagen? Es ist nicht das, was man ein Konkubinat nennt, sondern es ist bei diesem famosen Jungen eine richtige Gewissensehe; gemeinsam trägt man eben leichter sein Los.

Eine besonders große Zahl von Dienstmädchen ist diesmal "auf den Arbeitsmarkt geworfen". Wer eines hat und sich einen Urlaubs-Juli gönnen kann, der entläßt für diesen Monat vielfach die Hausgehilfin. Das bedeutet eine Woche mehr Ferien für die Familie. Manchen von den Mädchen ist das ganz recht. Wird eben auch ein ganzer Monat durchgebummelt! Die Ansprüche steigen überall, obwohl es überall knapper wird.

Fräulein Doktor in der Blücherstraße, unser Hausarzt, hat am 1. Juli - ihr Urlaub fiel in den Juni - ein neues Mädchen genommen. Diese Perle, Frida heißt sie, soll, schon wegen des Telephons, auf keinen Fall das Haus verlassen, wenn Fräulein Doktor nachmittags auf Patientenbesuch ist. Schon den zweiten ganzen Nachmittag ist Frida aber weg. Am Abend schrillt das Telephon bei Fräulein Doktor:

"Guten Tag, hier der Freund von Fräulein Elfriede; wir treiben gern Wassersport, ich möchte mal fragen, ob Sie Fräulein Elfriede, die sonntags sowieso nach dem Mittagbrot frei bekommt, nicht schon Sonnabend abend bis Montag früh loslassen können?"

Die Antwort fiel freilich nicht ganz nach Wunsch aus. Frida kann nämlich zum 1. August wieder gehen und sich dann, aber nicht früher, mit ihrem Freund und ihrem Wassersport einrichten, wie sie will.

So voll es auf und an den Flüssen und Seen ist, so leer in der Stadt. Nur in den Eisdielen drängt sich alles, wozu die Konditoreien selbstverständlich scheel sehen. Und abends sind die Variétés noch die einzigen Lokale, die guten Besuch aufweisen.

"Jeder einmal in Berlin" - und jeder dann ins Variété. Alte Sache. Wir haben drei große Variétés, von denen aber nur das eine, berühmteste und älteste, der "Wintergarten" in der Dorotheenstraße, weil es die Bühne an der Breitseite hat, von jedem Platz aus gute Nahsicht gewährt. Die "Plaza" im Osten ist eine ehemalige Bahnhofshalle. Da kann man sich das Nötige schon vorstellen. Stelle sich einmal einer an der Sperre eines Bahnhofs hin und versuche er die Personen und Vorgänge am Ende des Zuges zu beobachten! Ähnlich ist es in der "Scala" im Westen. Wenn man da im ersten Rang sitzt, braucht man ein Zeißglas mit 16facher Vergrößerung, um am Ende des Riesenschlauches auf der Bühne etwas zu erkennen. Es kann sich doch nicht jedermann einen Klubsessel ganz vorne leisten.

Der "Wintergarten" in der Dorotheenstraße war früher wirklich einer. Hier stand früher der Zirkus Renz mit einem großen Promenadenpark dahinter, in dem es Weißbier und Musik gab. Der Park fiel, als 1880 die Stadtbahn mit dem "Zentralbahnhof" Friedrichstraße gebaut wurde. Statt des Parks erstand das Zentralhotel mit dem riesigen Wintergarten, in dem Wohltätigkeitsfeste veranstaltet wurden. Schon damals hatte er eine kleine Bühne. Im Jahre 1887 wurde ihm dann die Variété-Konzession erteilt. Das Eröffnungsprogramm, nur Musik, lautete:

"Fünf einleitende Orchesterpiècen, eine Liedersängerin, eine Opernsängerin, ein primo Tenore, ein provençalisches Quartett, ein spanisches Sextett, eine Salonjodlerin, ein Wiener Duettistenpaar, drei kleine Xylophonvirtuosen, Vorträge des Hausorchesters und der Magnaten-Kapelle des Vörös Miska."

Damals war man ja noch so bescheiden in Berlin. Man wußte nichts von Parterreakrobaten, Tierdressuren, Seiltänzern, Bauchrednern, Humoristen, Trapezkünstlern, Tänzerinnen, Kunstradfahrern, Jongleuren, Taschenspielern, Jazzsymphonikern, Schlangendamen, Fakiren und allen übrigen "Nummern" von heute, die immer sensationelleres leisten, aber ihre europäische und internationale Abstempelung erst dann haben, wenn es ihnen gelungen ist, einmal im Wintergarten engagiert zu sein.

Der macht es sich nicht leicht. Er sieht sich nicht etwa die Anzeigen in einer Artistenzeitschrift an und macht daraufhin seine Abschlüsse. Erst recht nicht kümmert er sich um die Parenna, den von Staats und Sozialismus wegen aufgezogenen paritätischen Arbeitsnachweis, der mit der Außerbrotsetzung aller privaten Vermittler und Agenten begann, so viel Zuschuß durch die Steuerzahler bedarf, daß man es demnächst überhaupt nicht mehr schaffen kann, und einem im übrigen Arbeitskräfte zuweist - je nun, wie die Frida bei Fräulein Doktor. Die Direktoren reisen selber herum, sehen sich alle großen und kleinen Variétés in Europa an und - machen Entdeckungen. Eine ihrer größten war der unvergeßliche Otto Reutter, der beste Humorist des Jahrhunderts. Und - merkwürdig - es sind lauter deutsche Direktoren. Sie heißen nicht Tichauer oder Kohn oder Warschawski, sondern Schuch, Schmidt, Reimers. Wie ja überhaupt der Aschinger-Konzern, zu dem neben dem Hotel Fürstenhof und zahlreichen anderen Unternehmungen auch der Wintergarten gehört, rein deutsch ist. Ich gehe gern, besonders seit dem Umbau von 1928, der das Haus völlig modernisierte, in den Wintergarten unter seinem Sternenhimmel. Ist man in Gesellschaft, so läßt man es sich am besten an den Tischen auf der Estrade wohl sein, wo es auch vortrefflich zu essen und zu trinken gibt.

Als ganz junger Mensch habe ich hier am 21. November 1895 auch die erste Filmvorstellung der Welt erlebt. Damals nannte man es Bioskop. Die beiden Gebrüder Skladanowski, von denen einer noch heute in Berlin lebt, waren die Erfinder des Apparates.

Also dieser Tage bin ich wieder dort. Ich wollte die fünf singenden Pallos-Ladies hören, eine ganz hervorragende und eigenartige Truppe junger Damen, die der Unternehmer sich aus Musikakademien geholt und Stadttheatern wegengagiert hat. Alles gute Familie. Die Väter Arzt, Ingenieur, Studienrat und so. Das ganze Programm wieder einzigartig. Schließlich gefiel mir am besten aber "Malvida", die Trapezkünstlerin, die den gut berlinischen Familiennamen - für die Nichtöffentlichkeit - Bredereck trägt. Eine einfach fabelhafte Leistung mit vielen neuen Tricks. Und es ist nicht so einfach, dies (ohne Netz) in einer Höhe von 12 Metern auszuüben, wo abends die ganze Hitze und der ganze Menschendunst sich sammeln.

Die willst du mal kennen lernen, sage ich mir. Also am nächsten Vormittag zur Probe.

Die Artisten können ja nicht ohne Übung bleiben, nur abends sich produzieren; sie leisten auch morgens harte Arbeit, in allen Variétés der Welt. Es mühen sich gerade auf dieser größten Bühne Europas - 25 mal 16 Meter - die beiden Omanis ab. Parterreakrobaten. Beide bis auf einen kleinen Lendenschurz splitterfasernackt und doch in Schweiß gebadet. Ein paar italienische Begrüßungsworte zu den Prachtgestalten. Da trippelt des einen Bambina herein, ein Mädelchen von 2½ Jahren. In Artistenfamilien kann man nicht früh genug anfangen. Also wird das Kind an den Beinchen gepackt und geht auf den Händen Schiebkarren.

Da ist auch meine Malvida mit ihrem Vater. Verdammt, hat das Mädel Muskeln! Von dem Bizeps will ich garnicht erst reden. Aber auch alles andere, besonders die Muskelpartien unter den Achseln, ist so eisenhart, daß man Nüsse darauf knacken könnte. Nur mit einem ehrlichen Sehnsuchtsseufzer kann unsereins, des Sportes nachgerade ungewohnt, diese geballte Energie befühlen. Malvida ist im Badeanzug und gern erbötig, mir eine Extravorstellung zu geben. Der Vater sieht stolz zu, wie sie hoch oben ihre Rückenwage und anderes macht, und sagt mir, Drill sei natürlich nötig, er schnauze auch immer noch, aber Haue habe das Mädel verhältnismäßig wenig bekommen.

Er selbst war einst Meister am fliegenden Trapez. Jetzt erhält die 18jährige die ganze Familie, sich selber, Vater, Mutter, zwei Geschwister. Dabei sind die Gehälter, von denen die Reisen und der Hotelaufenthalt das Jahr hindurch bestritten werden, heute nicht mehr so fabelhaft. Malvida bekommt monatlich 800 Mark und hat dafür täglich die Chance, sich das Genick zu brechen.

Als sie wieder herunterkommt, denke ich an Brunhild, und mich gelüstet es nach dem Kampf. Selbstverständlich, denke ich, werde ich in einer Minute erledigt sein. "Wollen wir mal hakeln?", sage ich. Direktor Reimers vom Wintergarten und Direktor Schilinsky von Aschinger, die allein im menschenleeren Parkett sitzen, lachen sich einen Ast. Also los. Meine und Malvidas gespreizte Finger der rechten Hand krallen sich ineinander und suchen nach der Übermacht. Ich versuche es nur mit der Kraft und stehe wie ein Baum. Aber, Donnerwetter, ist die Katze gewandt! Es gibt dauernd Frontwechsel und Auf und Ab, Drehen und Wenden. Kriegt sie mich? Bloß das nicht! Nach 3 Minuten steht unsere Partie remis, wir geben als gleichwertig auf, aber während man dem Mädel nichts anmerkt, atme ich heftig und habe noch zwei Stunden später einen veritablen Tatterich.

Wenn Ihr aber glaubt, Herrschaften, daß ich von diesem sommerlichen Berlin gern erzähle, so irrt Ihr Euch. Ich möchte auch, wie so viele, verreisen. Leider kann ich zu diesem Behufe nicht ein Motorrad oder sonst etwas verkaufen, wie es andere tun. Wir sind es schon gewohnt, daß auf der Tauentzien oder sonstwo gutgekleidete Leute stundenlang stehen, auf der Brust ein großes Schild: "Bekomme keine Unterstützung, nehme jede Arbeit an!" Da geht man schon achtlos vorüber. Aber dieser Tage in der Kochstraße, das ist doch was neues. Da sehe ich ein Motorrad am Straßenbord. Daran ein Riesenplakat:

"Mensch, mir bleibt der Verstand stehen! Motorrad NSU für 135 Mark! Billiger als geklaut!"

Ja, wer hat denn aber 135 Mark? Noch am Abend desselben Tages steht das Rad "ungefragt" da. Jeder braucht seine paar Mark. Und jeder beneidet die erfolgreiche Konkurrenz. Die Chauffeure am Droschkenstand, die jetzt halbe Tage lang ohne Fuhre bleiben, schimpften bis vor kurzem noch, wenn man sie nahm und nur drei Straßen weiter wollte. Also mußte man bei kurzen Touren schon auf eine freifahrende Droschke warten, auf einen sogenannten Greifer. Heute nimmt aber auch schon jeder auf den Standplätzen jedes. Abends am Anhalter Bahnhof fahren wilde Taxifahrer langsam vorüber, halten wohl gar. Da rotten sich die Standinhaber zusammen, fordern die Greifer zum Verschwinden auf, und als einer nicht gleich gehorcht, stürzen ihrer mehrere auf ihn zu, reißen den Wagenschlag vom Kutschbock auf und hauen darein.

Das Publikum ist erstaunt und enrtüstet. Ein Taxifahrer aber bemerkt ruhig: "Eens uffs Ooge, det könnense jlooben, is det beste Erziehungsmittel für solche Kollejen!"
14. Juli 1932 (Donnerstag)


45

Militär greift ein - Der neue Kurs - Die Sklareks in Luckau - Was die Ufa will - "Schuß im Morgengrauen" - Die Haarmode - Vom Trinken und Rauchen - Der Fall Ihne - Im Stadtbahnwagen.

"Urlaub sofort abbrechen."

Dieses lakonische Telegramm, mit der Unterschrift des Regiments, haben an diesem Mittwoch sämtliche jungen Offiziere, die - es ist gerade Ferienzeit beim Militär - in Berlin weilen, erhalten, haben schleunigst alle Verabredungen für den Nachmittag oder Abend telephonisch abgesagt und sind Hals über Kopf in die Garnison zurück.

Gleichzeitig ist die technische Nothilfe (allein die Charlottenburger Hochschule stellt etliche tausend Mann) alarmiert worden, damit Gas, Wasser, Licht im Notfall für die Reichshauptstadt gesichert werden kann.

Es klappt.

Und dann waren nicht einmal ein Leutnant und zehn Mann, sondern meist nur ein Leutnant und ein Mann vom Wachregiment Berlin nötig, um die sozialdemokratischen Bonzen, die sich krampfhaft an ihre Amtssessel festhielten, davon zu lösen. Es bedarf tatsächlich nur eines starken Willens und einer zielbewußten militärischen Exekutive, dann verschwindet jeder überalterte Spuk. Als 1848 General v.Wrangel an den Toren von Berlin erschien und der Kommandeur der Bürgerwehr sich ihm entgegenstellte, sagte Wrangel einfach: "Nanu verduften Se!" Es gab nur noch einen einzigen Einwand, denselben, den jetzt etwas theatralisch der kleine Severing gemacht hat: er weiche nur der Gewalt. Worauf damals Wrangel dem revolutionären Oberkommandierenden trocken erwiderte:

"Denn weechen Se; hier i s die Jewalt!"

Und so geschah es.

Seit einem Jahre, in einer Zeit, in der es noch niemand glaubte und jedermann das Fortwursteln des schwarzroten Regimes für gegeben hielt, habe ich mit nachtwandlerischer Sicherheit fast allwöchentlich erklärt: das Jahr 1932 bringt den Novemberlingen das Ende. In der eigenen Familie stieß ich auf ungläubige Gesichter wegen meines "unbegründeten" Optimismus. Jetzt ist es soweit. Es hat nur eine aus der Parteipolitik geborene kleine Verzögerung gegeben. Die Harzburger Front, wenn sie beisammen geblieben wäre, hätte es schon früher geschafft, und uns wären die blutigen Ereignisse der letzten Tage in Altona und anderswo erspart geblieben. Dann aber verabredeten Nationalsozialisten und Zentrum Vertagung der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten in Preußen; Braun und Severing - wie sie es getan haben, weiß man jetzt - konnten weiter "die Geschäfte führen". Nur Hugenberg hielt fest an der Forderung, daß in Preußen unverzüglich Ordnung geschaffen werden müsse, wenn nicht anders, so durch einen Reichskommissar. In seinem Auftrage erklärte dann vor einigen Tagen der Abgeordnete v.Winterfeld dem Reichsinnenminister, die Deutschnationalen würden dem Kabinett Papen das Vertrauen weigern, es nicht tolerieren, sondern in Opposition zu ihm treten, wenn es jetzt nicht handele. Das gab den Ausschlag.

Nun sind die Dinge im Fluß. Dem dicken Berliner Polizeipräsidenten Grzesinski haben einige rote Tipsen Tränen nachgeweint. Das wird schnell versiegen. Wenn "richtige" Beamte an Stelle der Bonzen kommen, die - ohne jede berufliche Vorbildung - bis zu 72 000 Mark Gehalt ergattert haben, atmet das Volk auf. Die Korruption muß weg, wir wollen wieder einen sauberen Staat haben! Nur kommt alles darauf an, daß am nächsten Sonntag bei der Reichstagswahl das deutsche Volk sein Ausrufungszeichen dahinter macht.

Das kann eine sehr dumme Geschichte werden, sagen manche Revolutions-, Inflations- und Deflationsgewinnler. Es sei vielleicht gut, wenn man sich aus Berlin verdrücke. Am besten ins Ausland, und wenn das nicht geht, wenigstens "in die Provinz".

Zwei der in den letzten Jahren hervorragendsten Berliner Mitbürger haben ein kleines Provinzstädtchen in der Mark gewählt, Luckau. Für vier Jahre. Allerdings haben sie keine Villa, sondern das dortige Zuchthaus bezogen, die Brüder Leo und Willi Sklarek. Luckau ist eine nette kleine Ackerbürgerstadt, die daneben noch ein Moorbad in einem einfachen Ziegelstein-Kurhaus hat. Auch gutes Erlanger Bier wird dort gern getrunken. Als neulich auf dem Heimmarsch von einem Übungsplatz eine Reichswehrtruppe in Luckau in Quartier ging, ertrank die Stadt in einem Meer von schwarzweißroten Fahnen, und die Soldaten und Offiziere wurden von der Einwohnerschaft geradezu gepäppelt. Die beiden neuen Einwohner, die Sklareks, haben auf die Einlegung der Revision selbstverständlich nur verzichtet, weil sie das Gefühl haben, noch mit blauem Auge davongekommen zu sein. Ein nächster ähnlicher Prozeß würde wohl mit erheblich mehr als vier Jahren abschließen.

Welch eine Wendung!

Der noch größere Schwindler Judko Barmat, in dessen Solde der sozialdemokratische Reichskanzler Bauer stand, bekam seinerzeit Bewährungsfrist und hat seine Strafe nie anzutreten brauchen. Die Partei schaffte alles. Und der fast ebenso große Schieber Heinrich Sklarz, der schon vor sechs Jahren verurteilt worden ist, hat noch von keiner Strafanstalt die Aufforderung zum Absitzen erhalten.

Man merkt die Wendung auf Schritt und Tritt, jetzt auch auf kulturellem Gebiet. Der Rundfunk rahmt die Ansprachen nationaler Redner, die - neben denen der Linken - endlich auch zu Worte kommen, mit Militärmärschen ein. Und auf der Ufa-Tagung in dieser Woche hat der Direktor Corell (Gott sei Dank, endlich!) erklärt, bisher habe der Film im wesentlichen nur dem Ablenkungsbedürfnis des Publikums aus der Not der Zeit gedient, aber nun werde der Aufbaugedanke auch zu seinem Recht kommen. Positive und klare Ziele, national oder rein-menschlich charakterlich! Ein ganz neuer Typ von Verfassern sei nötig, wir brauchten deutschfühlende dichterische Naturen.

Fabelhaft, was sich da alles tut. Der erste Ufa-Film der Produktion 1932/33 ist schon gestiegen. "Schuß im Morgengrauen." Es ist eine reine Kriminalgeschichte, mit Überfallkommando schließlich und großem Feuergefecht. Sehr aktuell. Ganz hervorragend darin "der Mann, der sich Petersen nennt", ein verkappter Kriminalkommissar. Ihn spielt Karl Ludwig Diehl, der im Leben einst junger Offizier war und auch im Film die beste Gestrafftheit zeigt. Eine ganz prachtvolle Erscheinung, nicht der übliche süße Filmheld. Also es ist wirklich nur eine - technisch hervorragende - Kriminalgeschichte, und doch, und doch: auch in ihr verspürt man schon etwas vom Wehen des neuen Geistes, wenigstens ist sie ganz frei von allem Läppischen und auch von jeglicher galizischen kleinen Ferkelei. So etwas wie den "Schuß im Morgengrauen" kann das Volk ruhig haben. Bismarck - und er war doch wer - schmökerte zur Entspannung am liebsten auch Detektivromane.

Wenn dieses jetzige Jahr uns wirklich den Umschwung bringt, so braucht es deswegen doch nicht alles Alte wiederzubringen. Selbst ich bin nicht etwa für behördliche Wiedereinführung des Dutt und der Tortenfrisur. Manche meiner reizendsten Leserinnen hat sich oft gewundert, daß ich für langes offenes Frauenhaar so viel übrig habe, dessen Duft kein gebrannter Bubikopf wiederbringt. Aber ich sage nur: wem es steht, dem steht es. In den Bureaus haben wir uns längst an das Kurzhaar gewöhnt; und manchen Damen der Gesellschaft, so Mady Christians, steht es ausgezeichnet. Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß es - eine Mode ist; und Moden wechseln. Zur Zeit nimmt in Berlin in guten Familien das Langhaar ständig zu, während, wie ich neulich schrieb, um 1800 der Tituskopf alle Welt eroberte. Und nun noch ein bißchen weiter zurück. Ich werde auf eine wirklich vergnüglich zu lesende Hausordnung des ehemaligen Klosters Berge bei Magdeburg vom Jahre 1667 aufmerksam gemacht, wo es heißt:

"Die langen Haare, zu Zöpfen geflochten oder gescheitelt oder zu beiden Seiten aufgesteckt, sind für unsere jungen Mädchen und Frauen ein Zeichen sündhafter Eitelkeit und verwilderter Sitte. Unsere Pensionäre haben ohne Ausnahme kurze Haare zu tragen, nicht länger als zehn Zentimeter, glatt nach rückwärts gebürstet; nur so können sie der wahrhaften kirchlichen Gnade teilhaftig werden."

"Was sagen Sie dazu?", schreibt mir ein Schnittkopf-Anhänger.

Was ich dazu sage? Zunächst, daß mir diese Anstaltsordnung persönlich nicht vor Augen gekommen ist. Sodann, daß man 1667 das Zentimetermaß noch nicht kannte, daß vermutlich also ein Spaßvogel das nette Geschichtchen erfunden hat. Schließlich, daß bekanntlich alle Nonnen sich das Haar abschneiden müssen, in katholischen Klöstern aber für Lehrkinder das bisher nicht Mode war. Und im übrigen: ich glaube nicht, daß der Bubikopf heute um der wahrhaften kirchlichen Gnade willen getragen wird. Es sind ganz andere, meist als praktisch geltende Gründe dafür maßgebend. In der Hauptsache aber war es fast immer das Mitmachenwollen; und jetzt beginnt wieder die Absonderung.

Alles ist Mode, alles dem Wechsel unterworfen. Zur Zeit ist beispielsweise Alkohol sehr wenig Mode, und zwar nicht nur wegen Geldmangels. Genau so ist es mit dem Rauchen. Schmeckt etwa die Zigarette allen unseren jungen Mädchen? Bewahre! Aber in Berlin rauchen sie sie schon im Gehen auf der Straße, nicht etwa nur im Restaurant oder, wie zwanzig Jahre früher, zu Hause. Vor einigen hundert Jahren erhielt ein Spanier wegen Rauchens lebenslänglichen Kerker. Noch 1848 war in Berlin das Rauchen auf der Straße verboten. Anderswo wurde es - befohlen. Der Fürst Günther Friedrich Karl von Schwarzburg ließ 1816 an seinem Hoftheaterchen ein Schild anbringen: "Hier muß geraucht werden", und für seine Gäste lagen stets Meerschaumpfeifen in den Logen bereit. Ich selber bin mein Lebtag starker Raucher gewesen, schränke mich erst seit einiger Zeit etwas ein. Und während ich sonst jeden Abend meine Flasche - wenn auch billigen - Wein trank, nehme ich jetzt seit langen Wochen keinen Tropfen mehr auf die Zunge. Vielleicht ist das auch nur Mode. Man will in Ehren mager werden; obwohl ich wahrhaftig nicht dick bin. Aber man denkt: jetzt geht es ins Gebirge, und da kannst du besser laufen! Und dann geht es womöglich wieder in den Süden, einmal weg aus dem täglichen Anblick der Berliner öffentlichen Not der ehedem wohlhabendsten Familien.

In den letzten Tagen wurden unsere Tränendrüsen da sehr ergiebig. Bei Frau v.Ihne, der "Blindenmutter", sollte alles versteigert werden.

Ihr verstorbener Mann, der Hofbaurat, dem wir Berliner unter anderem die Königliche Bibliothek Unter den Linden und das Kaiser-Friedrich-Museum verdanken, ist sehr vermögend gewesen. Ein großer Teil des Geldes - ein trauriges Schicksal in der Familie war der Beweggrund - wurde für die Blindenhilfe und zur Gründung der (unentgeltlichen) größten deutschen Blindenbücherei verwendet. Ein anderer Teil diente zur Erbauung der Ihneschen Villa und zu ihrer Füllung mit kostbarstem Kunstbesitz, darunter mehrere Tiepolos.

Nun steht der Auktionator da mit seinem Hämmerchen. Etliches geht ab. Frau v.Ihne liegt, wie es heißt, krank im Schlafzimmer. Das Publikum fängt an zu murren. Das "goldene Berliner Herz" zeigt sich. Sowieso hat keiner der Hunderte von Erschienenen genug Geld in der Tasche, um Wertvolles zu ersteigern. Es kommt zu offenem Skandal. Polizei greift ein, die Auktion wird unterbrochen.

Das Volk atmet auf. Man hat es "denen" ordentlich gegeben.

Nachher aber sickert allerhand durch, was stutzig macht. Frau v.Ihne, die sich auf keinen Fall von ihrem Kunstbesitz trennen möchte, wie es heute doch so viele tun müssen, hat allerlei nicht ganz zweifelsfreie Kreditmanöver und, wie es heißt, sogar Doppelverpfändungen vorgenommen. Die Firma Keller & Reiner, auch andere, haben viel Geduld und Entgegenkommen gezeigt. Wenn man aber einen Vorschuß von 37 000 Mark für eine Versteigerung empfangen hat, kann man ihr nicht entgehen. Es sei denn, und das war die letzte Hoffnung, daß der Staat oder die Gemeinde etwas von dem Kunstbesitz zu hohem Preise übernehmen. Das ist heute so gut wie ausgeschlossen. Wir sind alle im Wurstkessel. Und uns allen kann nur noch eine radikale Änderung der politischen Verelendungswirtschaft helfen, die seit fast vierzehn Jahren bei uns betrieben wird. Vor dem Worte radikal - oder gar, siehe Hugenbergs letzte Rede, revolutionär - bangt heute niemand mehr. "Die Freiheit und das Himmelreich gewinnen keine Halben!"

Das blitzt aus allen Augen. Immer mehr Leute - bis zu den ruhigsten Dienstmädchen herunter, die früher gar nicht wählen mochten - scheuen sich vor der Schande, am 31. Juli etwa nicht mitzutun. In den Reisebureaus sagen die Angestellten schon ungefragt: aber die Fahrt wird am 31. Juli nachmittags angetreten, man kann also vorher wählen. Oder: man könne zu halbem Preise wieder zurück an einen Grenzort.

Nur ein Gedanke überall.

Schon ist das Warten fast unerträglich. "Wenn die Rechte aber nicht die Mehrheit bekommt?", sagt der und jener. "Dann ist es deine Schuld, weil du nicht wirbst!", ist die richtige Antwort. Man könnte aber auch sagen: "Nu wenn schon, dann schaffen wir es wenige Monate später, aber geschafft wird es!"

Eine dumpfe Spannung in allen Gemütern. Schreckhafte Frauen hamstern Lebensmittel oder fallen im Menschendunst um. In einem überfüllten Stadtbahnwagen wird eine ältere Dame ohnmächtig, nachdem sie eine Weile hat stehen müssen. Man springt auf, man macht Platz, man bettet sie auf die Bank. Ein Knirps von etwa sechs Jahren sagt darauf zu seiner großen Schwester:

"Anni, fall ooch mal um, detwa een Sitzplatz krien!"
21. Juli 1932 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

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© Karlheinz Everts