"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 25 - 27
25. Februar bis 10. März 1932


25

Anonyme Briefe - Die Denkschrift für das Reformkorsett - Volkstrauertag im Reichstage - Der alte Hindenburg - Wie man Unterschriften sammelt - Sepp Pichl - Aus unseren Berufsschulen.

Das ist aber wirklich eine Gemeinheit.

Ich meine nicht etwa die anonymen, zum Vorteil des Reichspostfiskus so häufigen Briefe des angeblichen Kommunisten, angeblichen früheren Lehrers, angeblichen jetzigen Reisenden, die an mich und neuerdings auch an meine Frau gelangen. Das ist ein armer, krankhaft veranlagter Mensch, von dieser Sorte gibt es viele, denen kann selbst ich nicht helfen. Ich meine auch nicht andere anonyme Briefe, in denen ich gebeten werde, auf irgend etwas öffentlich zu antworten, sehr liebe Briefe, von denen ich beispielsweise den nun schon sehr alten aus Breslau, von einem 1914 freiwillig bei einem Reiterregiment eingetretenen Kriegskameraden, so gern und so herzlich beantworten würde. Liebes und Unliebes kommt massenhaft anonym an jeden Menschen, der irgendwie auf einer öffentlichen Kanzel steht.

Nein: eine Gemeinheit finde ich es, daß in der Denkschrift, die der Verband der Reformkorsett-Versandhäuser an den Reichstag schickt, behauptet wird, daß 60 Prozent aller deutschen Frauen und Mädchen keine normale Figur hätten!

Wenn das noch von anno Olim gesagt würde, wo die Frauen keinen Sport trieben, aber durch Korsetts sich verunstalteten, so wollte ich schweigen. Wenn aber 1932, wo man in jedem Seebad sich daran erfreut, daß fast alle Jungmädchen eine Venus Anadyomene sind, öffentlich erklärt wird, weit über die Hälfte unserer Damen bedürfe eines Maßkorsetts zur Besserung ihrer jämmerlichen Figur, so wird man rabiat. "Erscheint in Massen", möchte man für die deutschen Mädchen und Frauen plakatieren, "und protestiert gegen Eure Verleumder!" Aber darauf hat es die Denkschrift nicht abgesehen. Man beschimpft doch nicht seine Kundinnen. Nein, der Verband der Reformkorsett-Versandhäuser kämpft um seine Existenz, um seine Berufsinteressen; er will es durch die Eingabe verhindern, daß in die Gewerbeordnung ein neuer Paragraph kommt, durch den das Aufsuchen von Privatkunden durch Reisedamen für Reformkorsetts, diese Angströhren aus Gummi, verboten wird. Darob könne der ganze Stand zugrunde gehen, der beispielsweise allein im Rheinland 5450, in Sachsen 4300 Angestellte und Vertreterinnen habe.

Einige dieser Vertreterinnen habe ich kennen gelernt. Man kann sich ihres Besuches, wenn man eine Frau hat, ja nicht mehr erwehren, besonders, wenn auf der Besuchskarte etwa nur Frau Oberstleutnant Soundso steht. Aber ich wimmele alle ab. Bei uns im Hause ist niemand, der zu den 60 Prozent gehört, auch wenn im Laufe der Saison etliche tausend Kalorien zu viel vereinnahmt worden sind und im Sommer wieder abgeschwommen werden müssen.

Die Abgeordneten, die Hunderte solcher Denkschriften von allerlei Berufsverbänden bekommen und sie durchstudieren müssen, beneide ich nicht. Ich als Plauderer kann sagen: es ist eine Gemeinheit, das weibliche Geschlecht so mäßig einzuschätzen. Aber ich bin natürlich kein Fachmann. Ich habe mich nie des Studiums körperlich verunstalteter Frauen beflissen, ein gütiges Geschick hat mir immer das Gegenteil vor Augen gerückt. Also ich könnte mich mangels genügender Übersicht irren, und die Versandhäuser könnten Recht haben. Gott sei Dank, daß ich nicht der Reichsregierung, dem Reichsrat oder dem Reichstag angehöre, dann müßte ich gewissenhaft auch hier prüfen. Einfach nicht auszudenken, wenn ich Brüning wäre und der Verband der Korsetthäuser mir schlaflose Nächte verursachte!

Die Denkschrift habe ich am vorigen Sonntag erwischt, als ich im Reichstag den Volkstrauertag mitmachte. Die fünf Kreuze der Vereine für Kriegsgräberfürsorge sind schon eines der geachtetsten Symbole in Deutschland geworden: kein anderes Abzeichen vom Sowjetstern bis zum Stahlhelm veranlaßt so zum Hutabnehmen. Nun spricht außerdem diesmal im Reichstag, in dem die Hauptfeier ganz Deutschlands stattfindet, der Feldpropst der Reichswehr D.Schlegel, den zu hören immer eine Erbauung ist, auch wenn er in seiner amtlichen Eigenschaft ein bißchen mit der Wurst nach der Speckseite wirft und überflüssiger Weise auch vor dem ersten republikanischen Präsidenten Deutschlands, Ebert, rednerisch seinen Kotau macht.

Vor dem zweiten, lebenden, vor Hindenburg, das ist für uns alle selbstverständlich; und gerade deshalb wünschten wir nicht, daß er hart vor dem Ende seines ruhmreichen Lebens das eigene Bild verwischte. Aber da ist vor dem kommenden Umschwung nichts zu machen. Hindenburg hat dem schwarzroten Syndikat, das seinen Namen ausbeutet wie einen Naphthasprudel oder eine Erzgrube, sich zur Verfügung gestellt. Alles wartet auf ihn an diesem Sonntag, zu dem Eintrittskarten schwerer zu haben sind als zu einem Protzenfest bei amerikanischen Milliardären. Das Publikum hat schon jeden Sitz besetzt. Auch die Studenten in Wichs, die bei allen Gelegenheiten etwas reichlich zur Dekoration verwendet werden, stehen mit ihren Bannern da. Nun marschieren unter Führung junger Offiziere ein paar Soldaten im Stahlhelm ein, mit wirklichen Fahnen, mit Königlich preußischen Fahnen alter Berliner Regimenter. Wie ein Mann erhebt sich das Volk. Jedes Gespräch verstummt. Geschichte rauscht zwischen uns empor.

Und dann der alte Generalfeldmarschall, in Zivil, auf die Minute pünktlich in der ehemaligen Hofloge, geleitet von Groener und Kathinkus Kardorff, von den Chefs der Heeres- und der Marineleitung, von seinem Sohn und vom Staatssekretär Meißner, dazu noch ein paar Adjutanten.

Wieder steht alles stramm. An dem Regierungstisch die, die von seinem Namen leben, Brüning und Treviranus und Schiele. Alles starrt zur Hofloge. Da kommt der, der schon fast sagenhaft geworden ist, der 84jährige Hindenburg. Später auf ebenem Boden, bei der Parade der Ehrenkompagnie vor dem Reichstag, geht er sehr stramm. Hier aber, wo es die paar Stufen herunter zur Brüstung der Hofloge geht, suchen die Füße nach den Stufen, tastet die Rechte ins Leere, stützt die Linke sich schwer auf den Stock. Es ist erschütternd. Aber immer noch die ragende Größe und das überwältigende Pflichtgefühl.

Im Reichstag hat auf der einen Seite neben mir meine Frau, auf der anderen Sepp Pichl gesessen. Dem ging das Herz durch, als er nachher die Ehrenkompagnie sah und den Feldmarschall die Richtung prüfen. Da stand auch Sepp Pichl stramm, obwohl ihm ein Fuß (aber er kann trotzdem meilenweit und sehr schnell marschieren) im Kriege abgenommen ist. Und wenn Sepp Pichl strammsteht, dann ist das schon eine bemerkenswerte Sache, denn er ist 1,87 Meter groß und entsprechend breit.

Sepp Pichl hat als lieber Gast bei uns gewohnt, wir haben zwischendurch - ich bitte um Entschuldigung für die Silbenspielerei - zu Hause über Kriegserinnerungen auch etwas gepichelt, aber das mag er eigentlich nicht gern. Er ist, was das Bechern angeht, mehr einer von der Wandervogelsorte. Unser Sepp Pichl, halt ein Tiroler Bub, ist 1914 zur Front durchgebrannt. Daß er Soldat geworden war, erfuhren seine Eltern erst, als sie die Nachricht bekamen, der Landesschütze Josef Pichl liege verwundet im Spital. Dann ist er 1921 noch einmal auf und davon. Da hatte er schon fertig studiert, war Assistent an dem chemisch-medizinischen Institut der Universität Innsbruck, brannte aber nach Oberschlesien durch, erstürmte mit dem Freikorps Oberland den Annaberg und hieb als Deutscher auf die Polen ein.

Nun soll er, wie auch Hitler, auf einmal kein Deutscher mehr sein, sondern ein Ausländer, der weg muß.

In Oberschlesien hat er in Reih und Glied mit einem meiner Söhne gestanden. Zuletzt hat er 6 Jahre lang segensreich als Lehrer für Physik, Chemie, Biologie an einem deutschen Gymnasium und gleichzeitig als Erzieher am Internat gewirkt. Die Jungen gehen für ihn durchs Feuer, er ist der einzige, der auch seelisch Krumme geradebiegen und mit sich fortreißen kann ins Ideale und das Nationale, aber er ist halt ein Tiroler, verstehen Sie, und deshalb entlassen ihn die Preußen zu Ostern. Am Nock bei Mutters, der Station der Stubaitalbahn hinter Innsbruck in 1100 Metern Höhe, hat Sepp Pichl sein Haus, seine Frau, seine 3 Kinder. Da will er nun hin. Er möchte weiter erziehen und 5 reichsdeutsche Buben, so zwischen 12 und 16 Jahren, zu dem lächerlichen Preise von 110 Mark monatlich für volle Pension und Schulgeld hochbringen. In einem Realschulkursus. Mit modernen Fremdsprachen. Religionsstunde einmal wöchentlich in Innsbruck, wo es auch evangelische Pastoren gibt.

Ich kenne das wunderbare Skigelände bei Mutters. Schade, daß ich keinen 12jährigen Buben mehr habe. Den gäbe ich gleich zu Sepp Pichl. Dort bleibt man deutscher als in Berlin. Wenn Sepp Pichl erst von deutscher Geschichte zu glühen beginnt . . .

In Berlin erfährt man davon immer weniger. Und kaum ein Kind lernt, was es früher mitbekam: Disziplin und Ehrfurcht. Gelegentlich habe ich allerlei von Berliner Volks- und Berufsschulen erzählt, worauf ich prompt aus Chemnitz oder sonstwo wunderbar gedruckte Prospekte bekam, wonach es da ganz, ganz anders sei. Mag sein. Hier in Berlin kann es jedenfalls vorkommen, daß eine Lehrerin in die Berufsschule kommt und grüßt, ohne daß jemand von ihr Notiz nimmt. Sie grüßt nochmals. Eine Stimme:

"Jeem Se sich keene Mühe, wir ham Se ja schon jeheert!"

Die junge Dame gibt in einem Monat 36 Mark von ihrem eigenen Gehalt her, um säumige Zahler mit dem nötigen Arbeitsstoff zu versorgen. Eine Stimme:

"Frollein, wieviel verdien' Se nu wirklich an den Besätzen?"

Von Diziplin keine Spur. In der Pause wird die Lehrerin überrannt und gepufft, hauen darf sie ja doch nicht.

"Frollein, hamse einklich eenen Freund? Na, es wird schon eener kommen!"

Und dann muß das Fräulein von den ganz jungen zum Teil 15jährigen Mädchen die intimsten Geschichten anhören.

Im Lehrplan steht allerlei über Aktie, Dividende, Hypothek, Obligation, lauter schwierige Themen, für die die Mädels nichts übrig haben. "Unsere Reichsbahn ist eine Achsengesellschaft", schreibt eine. Es wird an der Hand der Lektüre über edle Jugendfreundschaft gesprochen. "Über Freundschaft wissen Sie jrosset Kücken ja nischt!", prustet eine andere gegen die Lehrerin los.
25. Februar 1932 (Donnerstag)


26

Der unmusikalische Tänzer - Wachtparade Unter den Linden - Ein Buch über Duesterberg - Konjunktur für das Militärische - "Die endlose Straße" - Zum ersten Ehestandsschoppen.

Da ist jemand so unmusikalisch, daß ihm das Deutschlandlied zwar bekannt vorkommt, daß er es aber "nicht gut unterbringen" kann, weil er nicht weiß, soll er es die Wacht am Rhein oder Lützows wilde Jagd oder Heil Dir im Siegerkranz nennen; und so unrhythmisch, daß er leichter zwei Seiten Prosa als zwei Strophen Verse auswendig lernt.

Und dabei tanzt dieser Mensch!

Am liebsten zur Musik solcher Kapellen, die besonders großen Krach machen. Das sind bei uns fast immer die ausländischen, die immer noch konzessioniert werden, obwohl 62 Prozent der deutschen Musiker beschäftigungslos sind, und unter den Ausländern ist Dajos Bela, trotz des ungarischen Namens ein waschechter Galizier, bis zum 1.März im Hotel Excelsior für alle Unmusikalischen die große Anziehungskraft gewesen. Ich frage meinen Jemand, der da oder anderswo immer wieder mit irgend einem netten Mädel ankommt und tanzt, wie er das bei seiner Gehörlosigkeit fertig bekomme.

Ach, sagt er, guter Turner und in allen Freiübungen exakt bin ich ja immer gewesen, außerdem trete ich nie gleich zu den ersten Takten an, sondern sehe erst, was fremde Beine machen, und schließlich: leuchten rote Lampen auf oder spielt die Harmonika, so ist es bestimmt Tango, und wenn die Leute alle nicht die sonst ernsten, sondern fröhliche Gesichter machen, ist es Walzer, und wenn die Kürbisse klappern oder rasseln, ist es Rumba, und alles andere kann man als Foxtrott wenigstens anfangen, bis man irgendwie hineinrutscht!

Aber selbst an solchen idealen Tänzern beginnt es zu mangeln. In manchen Berliner Cafés tanzen heute so wenige Paare, daß Konzertmusik eingelegt wird. Natürlich sind es meist doch Potpourris. Wenn dann in einer "Russischen Rhapsodie", bearbeitet von Ritter, das Wolgaschlepperlied plötzlich als eine Art Salonstück mit Gewitter daherkommt, kriegt man Sodbrennen. Das ist etwa ebenso, als wenn der "Pilgerchor" aus dem Tannhäuser im Dreivierteltakt verwalzert wird oder ein Kirchenchoral als Marschlied erscheint. Also die Tanzmusik flaut etwas ab, aber eine Hebung der Musikalität ist damit nicht verbunden.

Meinetwegen. Macht nichts. Auch verengert - wir haben in diesem Jahr nur etwas mehr als die Hälfte der vorjährigen Konzerte - hat die Musik noch ihr Gutes; sie "entläßt uns mit gesteigert lebensanregenden Empfindungen", wie es der Münchener Hermann Obrist, der Bildhauer, von überhaupt jeder Kunst verlangte. Das gilt nicht zum wenigsten von der Musik der Wachtparade, die nun endlich wieder, nachdem 10 Jahre lang die Kaufleute der Straße Unter den Linden vergeblich darum petitioniert haben, ihren alten Weg durch diese Straße nimmt, obwohl da nicht mehr als Endziel Neue Wache und Königliches Schloß winken, sondern die ganze Mannschaft einen Haken schlägt und beim Rückmarsch das Reichswehrministerium in der Königin-Augusta-Straße aufsucht.

Jedenfalls: Unter den Linden freut man sich. Die Fremden im Hotel Adlon und Hotel Bristol haben wieder was vom alten Deutschland, auch wenn es heute nicht mehr bunt und in der Pickelhaube, sondern feldgrau und im Stahlhelm ankommt. Und viele Tausende einheimischer Zivilisten marschieren mit, und der eine oder andere von ihnen bleibt in den seit 1918 so menschenleeren Lokalen der alten Prunkstraße hängen oder entschließt sich gar zum Besuch eines Museums oder Schlosses. Man freut sich. Jedermann freut sich und nimmt auch diesen Erlaß als sozusagen kleine Abschlagszahlung auf das Dritte Reich entgegen.

Das Militärische ist wieder einmal große Konjunktur.

Man höre und staune: sogar das Staatliche Schillertheater bringt jetzt, acht Jahre nach Erscheinen des Stückes, "Die endlose Straße" von Sigmund Graff und Carl Ernst Hintze heraus, ein Stück, das weder rot noch ausgesprochen pazifistisch ist. Sondern nur realistisch etwa in der Art des Malers Dix. Alte Damen gehen schon nach dem ersten Akt hinaus, weil ihre Nerven es nicht vertragen. Und junge Frauen stöhnen voll Grauen: "Furchtbar, furchtbar!" Aber es kommen auch Primaner hin, und die lachen. Wenn etwa über einen jungen Kriegsfreiwilligen die Panik kommt oder ein altes Etappenschwein sich wieder einmal komisch verdrückt. Es sind auch ein paar prachtvolle Typen darunter, der Hauptmann, der Leutnant und schließlich der "unbekannte Soldat", der Mann, der 4 Wochen Urlaub hat, aber schon nach 2 Wochen zurückkommt, weil er "heim" wollte, zu seiner Kompagnie. Wie aber ein Kritiker von rechts begeistert schreiben kann: "Ja, so war der Krieg!", das verstehe ich nicht.

Er war mitunter so, wie er hier geschildert wird: daß in dem fast eingetrommelten Unterstand der Rest einer Kompagnie hockt, ohne jeden Kampfesmut mehr, nur von dem einen Gedanken erfüllt: "Wenn die Scheiße doch zu Ende wäre!", dann abgelöst wird, aber schon eine Nacht später - der Feind ist durchgebrochen - wieder "die endlose Straße" nach vorn muß, um aufs neue, hoffnungslos und kaum mehr kampffähig, eingesetzt zu werden, während sie eben noch auf ein paar Wochen Ruhe hinter der Front sich gefreut hatte: "Lille - Betten - Kneipen - Weiber - ah!"

Es fehlt jede aktive Kampfeshandlung, jeder aktive Kampfeswille in dem Stück. Diese Menschen sind alle bis zum Tode erschöpft, bis an den Rand mit Bitterkeit erfüllt, die nur bei einigen wenigen noch vom Pflichtbewußtsein in Schach gehalten wird. Das Bild einer moralisch zertrommelten deutschen Kompagnie, die nur dem Augenblick entgegenbebt, wo der Schangel oder der Tommy sie zerschlägt oder fängt.

Kein Wunder, daß dieses Stück des wackeren Siegmund jahrelang das Repertoire der - englischen Bühne beherrschen konnte. Die Hunnen - die Boches - so in Todesangst, so im heulenden Elend zu sehen, das muß natürlich die Herzen in London erfreuen.

Manches in dem Stück ist fabelhaft gut beobachtet. Auch die Sprache der Verlausten viel echter als etwa bei Remarque. Trotzdem ist das ganze nur eine Schreckenskammer aus dem Panoptikum. Ich werde die Meinigen auf keinen Fall da hinschicken.

Nein, wenn einem so hundeelend zu Mut ist wie mir in diesen Wochen, wo das Herz - Gott sei Dank will es immer noch der Kopf - nicht parieren will und, obwohl der Kopf genügend kühle Gründe dagegen hat, immer wieder den Dienst versagt und aus dem eingebeulten Unterstand hinaus will, da ist es das beste, man sucht Leute auf, die noch hoffnungsvoll ein neues Leben beginnen.

Wo könnte man dies besser als gegenüber einem Standesamte?

Jenes, das ich meine, liegt im alten Wilmersdorfer Rathaus, Ecke der Brandenburgischen Straße. Gegenüber liegt eine kleine, aber berühmte Kneipe: "Zum ersten Ehestandsschoppen". Besitzerin ist Lina Schmidt, genannt die Lindenwirtin von Wilmersdorf, wegen ihrer Ähnlichkeit mit Käte Dorsch, die man in Film als Lindenwirtin gesehen hat. Es stehen ja auch noch Linden in de Brandenburgischen Straße. Frau Schmidt war die Frau eines wohlhabenden Mühlenbesitzers, der im Kriege fiel, und heiratete nachher einen Bankbeamten, der abgebaut wurde. Von den gemeinsamen letzten Spargroschen wurde die kleine Kneipe gekauft. Da steht morgens schon bald nach 8 Uhr Rudolf, der Kapellmeister, am Fenster und drückt sich die Nasenspitze platt. Dahinter auf Zehenspitzen die übrigen drei Blechpuster. "Hurrah, ein Auto!" Die Insassen gehen ins Haus, kommen zurück, verschwinden wieder. "Da, eine weiße Braut!" Ob wohl ein Paar herkommt? Es ist gerade Bierstreik in Berlin, also ein Musiker verlangt "einen Korn", ein anderer "eine Zitrone vom Faß". Da kann man ewig warten.

Plötzlich steuert ein Paar, von drei Herren eskortiert, auf die Wirtschaft zu.

Das ist so, als wenn in einer Kaserne Alarm geblasen wird. Die Musiker stellen sich in Positur, und als die Tür sich öffnet, ertönt ein Tusch, daß die an Schnüren aufgehängten bunten Herzchen schaukeln, und es folgt ein schönes Musikstück. Die Bläser bekommen je ein Glas Sherry und ein Trinkgeld zum Lohn. Außerdem dürfen sie den Neuvermählten nachmittags gegen Honorar ein Ständchen vor der Wohnung bringen.

Da: ein neues Brautpaar. Die junge Frau bekommt von der Lindenwirtin einen Blumenstrauß, der junge Mann eine Schachtel Zigaretten geschenkt. Man tanzt wohl auch ein bißchen. Braut Nr.1 mit dem ganz unbekannten Bräutigam Nr.2 oder Bräutigam Nr.1 mit der Wirtin.

Abends ist es besonders gemütlich, wenn die Flitterwöchner herkommen. Aber es ist etwas stiller als früher. Man kann die Steuern nicht mehr bezahlen, sagt die Wirtin. Klavier, Grammophon, Radio sind abgeschafft. Für die drei Instrumente zusammen sollten monatlich 34,50 Mark Steuern entrichtet werden. So viel bringt das Feiern der Heiraten heute nicht mehr ein.
3. März 1932 (Donnerstag)


27

Untergehende Paläste - Bei Geheimrat Dr. Allmers - "Kampf um Thurant" - Telephon und Rundfunk in der Wahlzeit - Parade der Nurblonden - Der letzte große Kostümball.

Andere Völker sind stolz auf ihre Paläste und ihre Patrizier, denn sie wissen: das bringt Geld ins Land. Bei uns werden die Königsschlösser vielfach zu Amtsstuben umgebaut, und die der Privatleute - niedergerissen.

Die Villa Hentschel, das schönste Haus in Cassel, mit einem Millionenaufwand einst erbaut, dazu mit einer untermauerten Straße, die eine Lebensader für die Stadt geworden ist, soll jetzt auch der Spitzhacke verfallen. Der Unterhalt und die Steuern sind zu groß. Die Lokomotivenfabrik, deren Inhaber hier wohnte, ist ja auch stillgelegt. Wo man in Deutschland hinsieht: Zerstörung. Auch von den Patrizierhäusern, die ich in Berlin kennen gelernt habe, wackeln fast alle. Bei Exzellenz v.Dirksen wird der schönste Kunstbesitz - der Saal in italienischer Spätrenaissance war eine Sehenswürdigkeit für In- und Ausländer - nun auch ausverkauft. Nur hie und da findet man noch einen Menschen, der sich zwar auch ganz anders als früher einschränken muß, aber in der Hauptsache das mit ihm Gewachsene doch noch aufrechterhalten kann.

Bei einem von ihnen - er ist, während ich dies schreibe, just 60 Jahre alt geworden - war ich kürzlich zu Gaste. Bei dem Geheimen Kommerzienrat Dr. Robert Allmers (bitte sehr, "richtiger" Doktor, nicht so einer wie manche parlamentarischen Minister von heute), dem Begründer der Hansa-Lloyd-Werke, dem Präsidenten des Reichsverbandes der Automobilindustrie. Hier in Berlin hat er, im Tiergartenviertel, nur eine Etage in einem Mietshause. Aber auch die, mit ihren Lenbach-Porträts des Fürsten Bismarck und des Marschen-Dichters Allmers, mit Stucks Tilla Durieux als Salome, mit dem kolossalen Seestück von Klaus Bergen und anderen zahlreichen Schätzen an der Wand und in der Vitrine ist nicht von Exzellenz v.Bode oder einem anderen Kunstpapst im Auftrage des wohlhabenden Bestellers mit Blankovollmacht ausgefüllt, sondern buchstäblich mit Geheimrat Dr. Allmers geworden und gewachsen.

Und noch wohler fühlt sich dieser jugendfrische, erfolgreiche, durch und durch nationale Mann auf seinem eigenen Besitz, auf der ausgebauten Burg Thurant an der Mosel, die - ähnliches barg nur die Privatwohnung des Burghauptmannes v.Cranach auf der Wartburg - mit einer Fülle altdeutscher Kunst und Meisterarbeit aufwartet und deshalb und um des kunstverständigen Besitzers willen schon manchen sehr erlauchten Besuch gesehen hat.

Ich war noch nicht da, komme wohl auch nicht hin, weil ich die Zeit dazu nicht aufbringe, aber in die Geschichte der Burg habe ich mich soeben ganz tief versenken können. Die Deutsche Verlagsgesellschaft schickt mir einen Band "Kampf um Thurant", einen Roman aus dem 13.Jahrhundert von - Robert Allmers. Der Verfasser - er ist nicht umsonst Doktor - muß ganz außerordentliche geschichtliche Studien gemacht haben, um so (meines Wissens zum ersten Male) derart lebendig und, von der Wurfmaschine bis zur Falkenjagd, von dem Bischofsstab bis zur Ritterminne, derart sachgemäß die Zeit des Kampfes der durstigen Kölner um das mittelalterliche Thurant vor uns hinzustellen.

Allmers weiß nicht, daß ich das hier erzähle. Ich rufe ihm auch nicht durch den Fernsprecher einen Gruß zum heutigen Geburtstag zu. Keine Zeit, keine Zeit. Wenn ich nicht über Politik schreibe, muß ich für das Feuilleton Berlin abstreifen. Auch den Rundfunk stelle ich kaum mehr an. Wir taten es zuletzt sowieso fast nur dann, wenn Schallplatten angekündigt waren. Jetzt trommelt die Politik. Und da trage ich mich mit dem Gedanken, ein Preisausschreiben zu erlassen. Thema: "Ist Gehirnerweichung durch Rundfunk übertragbar?"

Selbstverständlich bin ich am vorigen Montag Nachmittag zum Hotel Kaiserhof gebummelt, wo die Deutsch-schwedische Nurblond Laboratorien G.m.b.H. sozusagen einen Schönheitskongreß des Blondhaars veranstaltete. Man kann die Sommerkönigin im Lunapark, die Miß Germany im Edenhotel, den größten Ochsen am Spieß in der Hasenheide erleben, das und hunderterlei ähnliches weiß man schon, aber diesmal im Kaiserhof war es doch etwas Apartes. Nur das ständige Photographieren und Filmen zu Reklamezwecken, das insgesamt eine gute Stunde nahm, störte und verstimmte. Aber schon die Blondinen am Richtertisch interessierten. Diese Nurblonden reichten von der pudellustigen Lien Deyers über Else Elster, Traute Flamme, Käthe Haack, Karin Evans, Gretl Berndt bis zu Molino v.Kluck, dahinter in den letzten Reihen saßen noch weitere Nurblonde - nur Marianne Winckelstern hatte geschwänzt - und rauchten und plauderten (gelegentlich auch mit den paar eingestreuten schwärzlichen Herren) und studierten ihre Listen, in die das Urteil über die deutsche Blondheit einzutragen war.

Dann, nach langer Eröffnungspause, begann der Aufmarsch der zum Teil selbstsicher-koketten, zum Teil hochrot-verlegenen Prüflinge. Mehrere Tausend hatten der Nurblond-Gesellschaft ihre Photographien und die Bescheinigung ihres Friseurs eingesandt, daß ihr Haar nicht gefärbt sei, 40 wurden für den Wettbewerb auserwählt, 26 erschienen in Wirklichkeit und in allen Nuancen von dem fast tizianroten Dunkelblond bis zu friesischem Silberblond und trugen in erwartungbebender Hand ihre Plakatnummer und stützten die andere Hand zumeist in die schwingende Hüfte, wie sie es bei Mannequins auf Modetees gesehen, und lächelten etwas blöde.

Natürlich und ungezwungen traten die auf, denen nachher auch die Preise zufielen. Schon aus der Wahl der Toilette konnte man schließen, welche von den Mädchen wohl aus gutem Hause kämen.

Der erste Preis wird von der gesamten Jury - und das Publikum rast Beifall - einstimmig, jawohl, einstimmig, der jungen Ruth Eweler aus Plettenberg in Westfalen zuerkannt, die erst am 19. März 16 Jahre alt wird und noch Schülerin ist. Kein Bubikopf, sondern langes Goldhaar, das hinten im Nacken durch eine Spange festgehalten wird und zwei Zöpfe links und rechts nach vorn hängen läßt. Jedermann sagt: "Ein deutsches Gretchen!" Ruth Eweler ist die jüngste unter 7 Geschwistern und stammt aus einer Fabrikantenfamilie, in der viel Sinn für Kunst lebt. Ein Bruder von ihr ist Kapellmeister am Stadttheater in Hagen, sie selbst sollte wegen ihrer guten Stimme eine Freistelle zur Ausbildung im Konservatorium erhalten. Dabei sagte sie von Kind auf:

"Ich komme noch mal zum Film, ich komme noch mal zum Film!"

Nun hat sie es erreicht. Sie hat nicht nur das Fahrgeld für Plettenberg-Berlin-Plettenberg, die erste Reise ihres Lebens, erhalten, sondern auch einen Filmvertrag mit der Universal-Gesellschaft. Alle Erschienenen, auch die "mondänen" Berlinerinnen, die nur im eigenen Auto mit eingebautem Lippenstift fahren, jubelten diesem deutschen Kinde zu, auf dessen reine Haut noch nie Schminke oder Puder gekommen ist.

Und die mit dem zweiten Preise belohnte junge Dame aus Braunschweig, Maria Schnier, eine selbstbewußte gertenschlanke Schönheit von 26 Jahren, bewies ihre gute Kinderstube dadurch, daß sie der ersten Siegerin in sehr netter, wirklich sehr herzlicher Art sofort Glück wünschte und versicherte, das Urteil habe bestimmt die Würdigste getroffen.

Das war wirklich eine Sache von eitel Sonnenschein. "Sonst is et zappenduster", sagen einem alle. Sogar die Kostümverleiher klagen. Sonst habe es in Berlin immer bis an die Karwoche heran Mummenschanz gegeben. Diesmal aber "einfach Zappen ab!" Nur noch beim 2. Kostümfest der Akademie der Künste ist es voll gewesen. Ganz voll. Als ob jeder noch mal schnell seinen Bedarf eindecken wollte auf dem Sklavenmarkt oder der Weibermesse. Keine Fröhlichkeit, sondern ein Gerenne und Gesuche. Abgebaute Herren schauen nach Damen mit echtem Schmuck aus, die man "eventuell" heiraten könnte, wenn man beide Augen ganz fest zudrückt; und abgebaute junge Mädchen wollen einen endlich einmal "dauerhaften" Freund, der genügend Zechinen hat, sich fischen.

Während der Inflationszeit habe ich Berliner Kulturgeschichte so geschildert, wie sie sich abspielte; ich sehe nicht ein, warum ich während der Deflationszeit nun auf einmal weniger ehrlich sein sollte.

Also auf diesem großen, auf diesem vollen, auf diesem turbulenten Kostümfest hat es Aufsehen erregt, wenn ein junger Nabob seiner Schönen für 1 Mark eine Portion Gefrorenes stiftete. Parole war: "Nichts hier kaufen!"

Der Gent zog die von Hause mitgebrachte Flasche Wein aus der Hosentasche oder zweie aus der Aktenmappe, "besorgte" sich zwei Gläser von einem der leerstehenden gedeckten Tische, wenn der beschäftigungslose Kellner gerade den Rücken wandte, und turnte dann mit seiner Donna auf die Wandschrankreihe in den Korridoren. Da entlang baumelten alsbald Männerbeine herunter, quer darüber Frauenbeine. In ununterbrochener Reihe so wie die Mandelkrähen auf den Telegraphendrähten am Kaspischen Meer. Das kann man stundenlang so aushalten, wenn man eine Pulle und eine Liebste bei sich hat.

Nur ist aus dem früheren Liebesgeflüster heute eine sachliche gegenseitige Konsultation geworden, zunächst darüber, ob der Partner oder die Partnerin zur Zeit "in festen Händen" oder, wenn schon, dann bei mangelndem Abruf doch noch "greifbar" sei, um uns messetechnisch auszudrücken.

Von außerhalb, aus der nahen Provinz, ist eine verheiratete Frau hergekommen, um den Kostümball mitzumachen. Sie hat einen Büstenhalter, eine Badehose mit Volants und Tanzschuhe an, sonst nichts. Aber es ist - früher hätte man daran gezweifelt - wirklich eine Dame der Gesellschaft. Sie trifft sich mit einigen Bekannten. Die stellen ihr einen befreundeten Maler vor. Mit dem hüpft sie alsbald auf den Wandschrank. Man ist zunächst formell, man siezt sich, der Maler fragt: "Frieren Sie nicht am Bauch?", worauf sie erschütterungslos und sachlich erwidert: "Nein, ich bin da ganz warm, fühlen Sie mal her!" und seine Hand nimmt und sie sich auf den genannten Körperteil legt.

Die beiden haben sich erst zwei Minuten vorher kennen gelernt.

Der Maler hätte auch nach jedem andern Körperteil fragen können, und der Effekt wäre doch der gleich gewesen.

"So etwas kann nur in Berlin vorkommen!", mögen dazu die Hausväter draußen im Lande, wenn sie dies ihrer Familie vorlesen, bemerken.

Hoffentlich haben sie Recht.
10. März 1932 (Donnerstag)



Glossen 22 - 24

Jahresinhalt

Glossen 28 - 30

© Karlheinz Everts