"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 22 - 24
4. bis 18. Februar 1932


22

Enttäuschende Gesichter - Auf dem Reitturnier - Grüne Woche - Ostmärkischer Gesellschaftsabend - Lauter berufstätige Jungmädchen - Der Presseball.

"Nein, er gähnt ja ganz doll, und schwarze gewellte Haare hat er, ach, jetzt steckt er einen Finger in den Mund und das Tempo liest er sogar, mein Gott, was bin ich enttäuscht!", sagt meine Frau.

Ich habe ihr verstohlen - er sitzt in der Nebenloge - den Fürsten Otto v.Bismarck gezeigt, dazu - blond und müde - seine junge schlanke Frau, die schwedische Architektentochter. Mit ihm habe ich früher oft genug gesprochen, sie kenne ich nur von Bildern her, auf denen ihr Goldblond dunkel erscheint. Weshalb ist meine Frau eigentlich enttäuscht? Sie kann sich den Enkel des ersten Reichskanzlers nicht anders als in Kürassierformat vorstellen und stolpert schon über seine Intelligenzbrille, außerdem müßte er natürlich hellblaue Augen und eine sieghafte Opernheldenstimme haben. Hat sich was! Unsere Wunschbilder - in Berlin sieht man ja so häufig Leute, von denen alle Welt spricht - gehen selten in Erfüllung.

Daß der alte Fürst Bismarck in seiner Jugend auch ganz dunkles gewelltes Haar gehabt hat, will kein Mensch glauben, und wenn ich, der ich als Jüngling ein paar Tage in Varzin bei ihm zu Besuch war, erzähle, daß er eine ganz hohe Stimme und nicht ledergelbe, sondern zart rosafarbene Wangen gehabt hat, dann meinen die Leute, ich wolle sie veralbern.

Oder wer von uns weiß, daß Goethe um 1820 eine spiegelnde Glatze und ein erhebliches Bäuchlein hatte?

Oder wer glaubt es, daß der Dichter Felix Riemkasten, der so begeistert für die sogenannte Nacktkultur eintritt, äußerlich, von den halbblinden Augen und den schlechten Zähnen angefangen bis zu den Fußspitzen, eigentlich das Gegenteil von einem Apoll ist, obwohl ihm sämtliche Musen begeistert über die Schulter gucken, wenn er am Schreibtisch sitzt?

Die Psychophysiognomik von Lavater über Lombroso bis zu Huter in allen Ehren, aber es ist doch so, daß es Verbrecherinnen mit Engelsantlitz und bedeutende Männer mit ganz nichtssagenden Gesichtern gibt. Stellt man beliebige hundert Berliner völlig ausgezogen in eine Reihe, dann wird es sehr schwer halten, treffsicher, solange die Hände versteckt bleiben, den Oberregierungsrat und die Portiersfrau und den Afrikaforscher und die Gräfin und die Pfarrgehilfin und den Kellner und die Fürsorgerin und den Komponisten herauszufinden.

Ich habe schon Menschen getroffen, die erklärten: "Ich könnte Hugenberg nicht wählen, dieser kleine Kerl mit dem Bürstenhaar und dem aufgedrehten grauen Schnurrbart sieht ja wie ein Militäranwärter aus, nicht wie ein Führer der Nation!"

Was sollten dann erst die Franzosen von ihrem Clemenceau und Poincaré und Briand sagen? Einzig und allein Mussolini hat das richtige Imperatorgesicht. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf den Charakter.

Also wir sitzen, wovon ich eigentlich plaudern wollte, neben Bismarcks in einer Loge der Halle II des Ausstellungsgeländes am Kaiserdamm, beim Preisreiten anläßlich der Grünen Woche. Viele bekannte Menschen rundum, vom Heere, vom Lande, aus der früheren Gesellschaft. Die Prinzessin Oskar ("Wenn ich sie sehe, schwärme ich wie ein Primaner!", sagte mir einst ein alter Universitätsprofessor) können wir nachher begrüßen. Auch eine ganze Anzahl junger Herren aus der Reichswehr, die in unserem Hause verkehren.

Hier ist wirklich das alte Deutschland und sein Nachwuchs. Nicht ein einziger Mensch um die Riesenarena herum könnte in der Kartothek in das Fach Kutisker-Barmat-Sklarek eingeordnet werden. Wenn zum Schluß die 110 Lanzenreiter in den Uniformen der ehemaligen 110 deutschen Kavallerieregimenter ihre Quadrille reiten und in einer Attacke daherbrausen, hämmern die Herzen und die Hände der Zuschauer. Theater? Gewiß. Aber es ist dasselbe Theater, das auch alljährlich am 14.Juli, sie wissen, warum, die Franzosen sich gönnen. Dasselbe, was der Kriegstanz der Massai oder Wadschagga bedeutet. Dasselbe, was wir im Laufschritt der italienischen Bersaglieri oder in der Dschigitowka der Kosaken sehen, Das urewige Theater der kriegerischen Männlichkeit, das da war, das da ist, das da sein wird. Hin und wieder wird es Wirklichkeit, wenn ein Volk ohne Raum, wie es heute die 71 Millionen Inseljapaner sind, zu neuem Wachstum sich neues Gelände erobert. Kurzsichtige finden, es handle sich nur um die Sojabohne in der Mandschurei, wie sie auch bei uns von Kohle und Zink sprachen, als Oberschlesien uns genommen wurde, nicht von den Menschen. Und in Genf wird derweilen eifrig geschwatzt.

Nein, diese Leute, die hier in der Halle II das Rekordhochspringen und das disziplinierte Fahren der Trabersulkys und die Akrobatenkünste der Kleinkinder am Pony und die betörend schönen Aufmärsche der Kavalleristen sehen, die wissen es besser.

Und dann steigt man in die Grüne Woche. Morituri te salutant. Es ist weniger eine Ausstellung der Landwirtschaft, als derer, die an die Landwirtschaft verkaufen möchten. Es sind wahre Wunder da von Maschinen und sonstigen Hilfsmitteln. Aber der Landwirt hat kein Geld mehr dafür. Nicht einmal mehr für künstlichen Dünger. Alles frißt dank unserer gloriosen Erfüllungspolitik das Finanzamt. An unserem Mittagstisch sitzt dieser Tage ein uns bekannter Großgrundbesitzer von der sächsischen Grenze mit seiner Frau. Er sagt: im kommenden Winter haben wir, wenn es so weitergeht, die Hungersnot.

Sonst bekam Berlin in der Grünen Woche ein charakteristisches Gepräge durch die Scharen der Landwirte. Ihrer Zehntausend versammelten sich im Zirkus Busch und in einer Parallelversammlung zu einer Kundgebung. Unter den Linden und überall sonst sah man die kräftigen Gestalten in Wetterjacke, Ledergamaschen, Spessartmütze oder im modisch-ländlichen Homespun-Anzug. Alljährlich schrieben die Blätter der Linken höhnische Lokalnotizen über die "notleidenden Agrarier" und über die angebliche Überfüllung der Berliner Sektlokale durch sie. Heute ist es still. Keine Zeitung schreibt mehr so, aus den Zehntausend sind vielleicht dreitausend geworden, die in den kleinsten Hotels und Pensionen oder bei Verwandten wohnen und sich allenfalls eine Karte für den zweiten Rang in irgend einem Theater nehmen. Nur ein paar Hundert machen "Geselligkeit" noch mit. Es gibt ja doch noch Bälle in dieser Zeit. Man will doch einmal im Jahr der Frau oder der heranwachsenden Tochter etwas gönnen.

Auf dem bunten Abend des Frauenvereins für die Ostmarken bin ich gewesen. Die Beiträge werden spärlicher, die Besucher schrumpfen, auf die früheren zwei großen Bälle alljährlich im Zoo hat man längst verzichtet, es ist nur der kleine Gesellschaftsabend in einem Saale des Hotels Kaiserhof geblieben. Man kennt einander noch.

"Ah, sieh' da, sogar mit Töchtern, mein lieber Herr Oberst!"

"O, verehrte Exzellenz, welche Freude, Ihnen hier wieder zu begegnen!"

Einen Tisch haben vier Fähnriche mit fünf jungen Mädchen belegt. Denen sind die Ostmarken natürlich, das nimmt ihnen niemand übel, piepegal, aber sie strahlen einander an und sie tanzen, tanzen, tanzen. Früher standen die jungen Männer wohl auch mal zusammen und fragten, was der Vater von diesem oder jenem Mädel sei und ob er Geld habe. Auf so etwas kommt man heute kaum. Geld hat ja sowieso niemand mehr, und nach dem Beruf des Vaters wird weniger gefragt als nach dem des Mädchens. "Bloß zu Hause sitzen" tut doch keine mehr.

Die eine schlanke, die da umhergeht und Programme verkauft, ist Apothekerin. Da eine: die ist Säuglingspflegerin in der Charité. Da eine: die ist Metallographin, aber zur Zeit stellenlos. Da eine: die arbeitet als Einlegerin in einer Druckerei.

Ich glaube nicht, daß der Ostmärker-Abend einen Überschuß für die Zwecke der Gesellschaft ergeben hat. Einst waren die "Hakatisten" - der Verein der Herren Hansemann, Kennemann, Tiedemann - auch materiell eine Macht. Heute hat der Frauenverein für die Ostmarken kaum noch das Geld für seine notwendigste Kulturarbeit, für die Kleinkinderschulen und alles übrige in dem national so schwer bedrohten Osten. In einem Band der "Ahnen" Gustav Freytags spuckt ein Kriegsknecht verachtungsvoll aus, als er zum ersten Mal in seinem Leben die Geschichte vom bethlehemitischen Kindermord hört, und meint, dieser Herodes sei doch ein infamer Schweinehund gewesen. Hierzu ein entzückendes Seitenstück aus der Arbeit des Vereins in den Ostmarken. In einem kleinen Dörfchen erzählt Schwester Wilhelmine dieselbe Geschichte, wie die Kerle den Müttern die Kindlein entrissen hätten. Und da springt Klein-Hänschen auf und sagt:

"Warum haben sie denn keine Stahlhelmer zu Hilfe gerufen?"

Einen wirklich großen Ball haben wir noch. Den Presseball. Auf dem Reimannball war es schon bemerkenswert leer. Der Presseball ging noch an. Es mögen vielleicht rund 3500 Menschen dagewesen sein. Ich habe da einmal schon über 8000 erlebt. Immerhin: er ist "das" repräsentative Fest Berlins geblieben.

Das Telephon rasselt die Tage vorher unaufhörlich. "Können Sie mir nicht eine Karte zu ermäßigtem Preise besorgen?" Nein, kann ich nicht. Sie kosten alle 25 Mark. Dazu das Essen ohne Wein 7,50 Mark. Und ein paar Tombolalose zu 5 Mark will man doch auch haben. Wer nicht 50 Mark für diesen Ball, Kleidung ungerechnet, ausgeben kann, soll zu Hause bleiben. Meine eigene Frau tut es diesmal seit Jahren zum ersten Mal auch. Wir scheuen die Umbaukosten für das von 1930 stammende letzte Abendkleid.

Ein paar junge Damen aus unserer Bekanntschaft haben den Vater doch noch zu der Ausgabe vermocht, ich habe ihnen die Karten besorgt, und nun können sie "das Herrlichste auf Erden" sehen.

Das ist natürlich Willi Fritsch. Schlank und elegant und lachend wie immer.

"Ach, können Sie es nicht machen, daß er einmal, ach, einmal nur, mit mir tanzt?"

Unmöglich, sage ich; er sitzt nur - wie die anderen - Reklame und läßt sich anstarren. Nachher ist das Wunder freilich doch geschehen. Eine meiner jungen Damen - hört, hört - hat wahrhaftig eine Saalrunde mit ihm getanzt. Eine Berufstänzerin für mondänen Gesellschaftstanz, von der ich schon einmal erzählte, Fräulein Hermann, die Tochter des verstorbenen Komponisten Professors Hermann, die vom 11.Februar ab Frau Krause heißen, Gattin des Tanzlehrers Krause sein wird, Sohnes des verstorbenen Majors a.D. Krause. Sie fällt auf, und das will auf dem Presseball viel sagen. Sie hat ein tangorotes Kleid an, das den Rücken bis zum Südpol freiläßt und im übrigen kein Kleid ist, sondern - ein Hosenrock, oder vielmehr zwei Kleider, für jedes schlanke Bein eines. Sie hat auch - o Glück - mit Richard Tauber gesprochen.

An Gitta Alpar, die umdrängteste, war kein Herankommen. Die hat gerade die Scheidung von ihrem Budapester Gemahl, einem dortigen Hotelbesitzer, durchgesetzt, und heiratet, da sie sich das bei ihren nun schon 800 Mark täglicher - jawohl, täglicher - Einnahme leisten kann, in diesen Tagen den jungen Gustav Fröhlich. Der sitzt natürlich neben ihr und sieht ganz verändert aus. Er, der an sich eine recht niedrige Stirn hat, will wohl bedeutender erscheinen und hat sich oben eine 4 Zentimeter breite Zone von Haaren abrasiert. Die Stirn dort ist aber nun nicht weiß, sondern blau.

Henny Porten und viele andere Dauerbesucher fehlen diesmal. Auch in der Regierungsloge sieht man weder Brüning noch Sklarek, werder Groener noch Scheidemann. Ein Reichsminister sei da, Warmbold. "Warmbold? Wer ist das?", fragt das Publikum. Und auch die Eingeweihten wären eher im Bilde, wenn es hieße, "Professor" Warmbold sei da. Paul Warncke und Rudolf Stratz habe ich diesmal nicht entdeckt, die waren nicht erschienen, aber mit Walter Bloem habe ich gesprochen, auch noch mit dem und jenem anderen Dichter, Schriftsteller, Filmdirektor, Offizier. Nun ein stiller Blick der Freude auf Marianne Winckelstern, zu deren blonder Schönheit der ständige schwarze Begleiter leider eine kleine Disharmonie ist. Ein Blick der Freude, sagte ich? Es kommt mir vor, als hätte ich erloschene Augen. Als ich hinging, meinten die Meinen, ich sei verzweifelt. Mechanisch bewundere ich noch - ein Kleid. Das von Anna Sten, der jungen russischen Filmdiva. Abschattiert rosa, mit tausend Stoffblümchen benäht; auch einen Muff aus solchen seidenen Blümchen dazu.

In der Tombola habe ich ein silbernes Puderdöschen gewonnen. Niemand in unserem Hause will es haben. Das Auto oder eine Reise nach Norwegen wären uns lieber gewesen. Elizabeth Arden sagt, die deutschen Frauen, die den besten Teint der Welt hätten, seien verrückt, daß sie sich färbten.
4. Februar 1932 (Donnerstag)


23

Vom diesjährigen Karneval - Wo sind die Pfannkuchen? - Um Hindenburg - Der "ordentliche" Groener - Musikdirektor Dippels Abschied - Von Harfenisten und Tubaisten - Carnera im Ring.

Nein, wirklich, meinen Sie? Auch in der Zeitung habe es gestanden, daß in dieser Woche Fastnacht gewesen sei? Nicht möglich! Haben Sie in Berlin etwas davon bemerkt? Ich nicht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten garnichts.

Ich bin doch auch an diesem Dienstag abends und nachts draußen gewesen. Ich habe kein einziges Juhu-Hütchen auf einem Männerschädel den Bürgersteig entlang schwanken sehen, ich habe kein einziges Favoritin-Hosenbein unter einem Damenmantel erblickt, ich habe keinen Vermummten nach Droschken rufen hören und ich habe auch am Mittwoch an keinem Laternenpfahl und an keinem Fenstersims verwehte Papierschlangen entdeckt. Irgendwo mag irgendwas los gewesen sein. In irgend welchen Vereinchen hat man mit erfrorenem Lächeln Lust markiert.

Aber in der großen Öffentlichkeit ist nichts uns aufgefallen. Doch eines: etwas fehlendes. Diesmal hat keine Großkonditorei ihre Berliner Pfannkuchen in den Zeitungen angezeigt. Der Verbrauch ist sicherlich auf ein Zehntel noch des vorjährigen gesunken, während früher vom Palast bis zur Hütte - auch beim herkömmlichen Schlußball im Königlichen Schlosse in der Fastnacht - überall dieses leckere Gebäck gereicht wurde.

Kurz vor dieser unaufspürbaren Fastnacht ist die Grüne Woche zu Ende gegangen, die mit den Besuchern (meist aus Berlin selbst) der Ausstellung und einer bescheidenen Zahl von Verkäufen doch noch etwas besser abgeschnitten hat, als man vermutete. Wenn man sich trifft, dann in dieser Woche. Da tauchen Bekannte - oder auch bisher nicht bekannte Leser - aus allen Ecken Deutschlands auf, besuchen einen und fragen. Nicht etwa nach dem besten Theaterstück, oder, wann es wieder aufwärts mit uns ginge. Sondern durchweg erstens: "Wie denken Sie über Hindenburgs Wiederwahl?" Und zweitens: "Ist nicht Groener neuerdings doch recht ordentlich?"

Zum ersten. Die Listen für Hindenburg liegen in allen Ullstein-Filialen aus. Das genügt. Wenn die Ullsteins mir den lieben Gott als Kandidaten präsentieren, dann wähle ich den Teufel. Besseres kann ich für mein Volk nicht tun. So lange Hindenburg Exponent der Schwarzen, Roten, Goldenen ist, lehne ich eine Erpressung meiner Wahlstimme ab. Ja, wenn Hindenburg wieder Hindenburg wäre . . . Aber seine Wahl soll das ja gerade verhindern.

Zum zweiten. Groener hat gute, militärisch geistvolle Bücher, wenn auch voll kaum versteckter Niedertracht gegen andere hohe Kameraden, geschrieben und in letzter Zeit auch sehr vernünftige Erlasse herausgegeben. Aber! Dieses Aber wischen Jahrhunderte nicht weg. Ich komme nicht wieder darauf zu sprechen, daß er über den Fahneneid und Kriegsherr "Päh!" gesagt hat, denn dieser Vorwurf macht bei einem großen Teil der heerlos und kaiserlos aufgewachsenen Nachkriegsjugend keinen Eindruck. Auch daß Groener am 10.November 1918 die Bildung von Soldatenräten bei den Truppenteilen anordnete und das Führen roter Fahnen erlaubte, ist nicht einmal seine größte Sünde. Die fällt in den Sommer 1919 vor der Unterzeichnung des Sklavenfriedens. Wenn wir nicht unterzeichnet hätten, war die Entente auf Nachgeben gerüstet. Die Minimalbedingungen lauteten: nur 18 Monate Rheinlandbesetzung und Zahlung nur der wirklichen Kriegsschäden lediglich in Papiermark. Das Zentrum schwankte. Sogar Matthias Erzberger, der unterschriftbereite, begann zu schwanken, denn namens dessen, was wir noch an "Armee" besaßen, hatte General v.Lüttwitz Ablehnung verlangt. Da kam aus Kolberg Groeners Telegramm: Die Oberste Heeresleitung empfehle Unterschreiben!

Alles war nun aus. Von da stammt unser ganzes Elend. Das darf das heranwachsende, zerquälte Geschlecht nie vergessen.

In Groeners jetziger Amtsführung gibt es auch einige Schönheitsfehler. Beispielsweise die goldenen Uhren für Entdecker und Denunzianten gewisser "Umtriebe".

Immerhin, mit unserer Reichswehr können wir zufrieden sein. Auch wenn wir statt der hoffnungslos ermüdenden zwölfjährigen lieber die sechsjährige Dienstzeit hätten und am liebsten - wieder die allgemeine Wehrpflicht mit ihren zwei Jahren. Dem alten Heere gehört doch nicht nur unser ganzes Herz, sondern auch unser wägender Verstand.

Tausende seiner Freunde versammelten sich dieser Tage im "Clou" in der Mauerstraße, um einem das Abschiedsgeleit zu geben, der 45 Dienstjahre in dem Königlich preußischen Heere und in der Reichswehr hinter sich gebracht hat, dem Musikdirektor Dippel, der "wegen Erreichens der Altersgrenze" weg muß, obwohl er bei diesem Konzert im Clou lange Wagnerpartien, was körperlich eine Leistung bedeutet, mit jugendlichem Feuer dirigierte und auch fürderhin den Taktstock nicht wegzulegen gedenkt. Nur daß er nicht mehr in Uniform spielen wird. An seinem Ehrenabend habe ich ihm, einem der populärsten Berliner Militärkapellmeister, der der populärsten Truppe der Reichshauptstadt angehört hat, den Gardefüsilieren, noch die Hand schütteln können, und viele Tausende hätten es ebenso gern und herzlich getan. Der alte und doch noch so junge Dippel ist ein geradezu unverwüstlicher Kerl, der es immer verstanden hat, morgens zu marschieren, nachmittags und abends zu spielen, nachts den Schoppen zu schwingen und morgens wieder frisch in der Front zu stehen.

Das muß halt so sein, auch das Trinken. Es gibt immer Musikenthusiasten, die nach einem Konzert den Dirigenten vereinnahmen.

Also man ist, von der Kunst natürlich, begeistert und man trinkt einander zu. Den Kapellmeister läßt man nicht los. Der ist ein höflicher Mann und tut eisern Bescheid, bis in Quantitäten hinein, vor denen die Jungen von heute erblassen würden. Und dann tippelt Dippel - das ist eine buchstäblich wahre Geschichte so von etwa 1912 - in aller Herrgottsfrühe der Kaserne am Grützmacher zu, denn um 5 Uhr ist Ausrücken. Unterwegs sieht er den Regimentsadjutanten auf dem Balkon seiner "Bude" im 4. Stock nach dem Wetter Ausschau halten und beschleunigt seine Schritte. Der Adjutant denkt: "Gottverdippel, der Dippel kommt zu spät, ist ja auch noch in Extrauniform!"", hängt sich also die Schärpe um und rast seinerseits zur Kaserne, um im letzten Augenblick einen Stellvertreter zu kommandieren, ehe der Oberst die Schweinerei merkt. Aber da kommt ihm Dippel schon entgegen, frisch wie ein Pensionsmädel und schon vorschriftsmäßig im Dienstanzug. Solche Wunder der Fixigkeit bekam Dippel leicht fertig.

Ich habe ihn mal - wir saßen im Klaußner - äußerst fesselnd von seinen Konzerten bei Festen am Kaiserhofe erzählen hören. Auch manche Schnurre von altem Adel und von neuer Gesellschaft bis zu der gerade dem Kaiserpaar vorgestellten jungen Friedländer-Fuld, bei deren Erscheinen der alte Lausbub schmettern ließ: "Tochter Zion, freue Dich!" Aber am liebsten sind mir doch die Geschichten von seinen lieben Muschkoten.

Da war ein Hallodri in der Kapelle der "Maikäfer" - das ist der volkstümliche Name der Gardefüsiliere gewesen, und im Manöver wurden sie von allen anderen Truppen immer mit Gesumme begrüßt - da war also ein Hallodri, der neben seiner militärischen Trompete vortrefflich die zivilistische Harfe meisterte. Nun gab es einmal ein Konzert mit Harfensolo. Dazu pumpte Dippel dem Harfenisten, der dieselbe Größe hatte, einen von seinen beiden Frackanzügen. Das feine Kammerorchester versammelte sich, aber, siehe da, der Hallodri erscheint in grauem Anzug, in so etwas, was man früher beim Kommiß "Räuberzivil" nannte.

"Mensch, wo haben Sie meinen Frack gelassen?"

"Zu Befehl, meinem Bruder geborgt, dem beim Alexander-Regiment, der hat ihn heute noch nötiger als ich!"

Lohnt es sich, den Harfen-Solisten jetzt so anzupfeifen, daß ihm die Augen trübe werden und daß er nachher keine Noten lesen kann? Es lohnt nicht. Aber am nächsten Tage saust Dippel zu den Alexandrinern am Kupfergraben und kriegt den sauberen Herrn Bruder zu fassen.

"Wo ist mein Frackanzug?"

"Herrn Musikdirektors Frack? Ich dachte, er gehört meinem Bruder. Ich habe ihn vor einer Stunde im Leihhaus in der Jägerstraße versetzt!"

Wer unsere alten Militärkapellen kennt, wer auch nur Liliencrons Lied "Die Musik kommt" kennt, der weiß, was für ein wichtiger Mann der Tubaist ist. Die Tuba ist die Riesenbaßtrompete, und die kann nicht jeder pusten. Nach guten Tubaisten rennen die Kapellmeister - ebenso wie die Kasinovorstände nach Rekruten, die Koch oder Kellner bei Dressel gewesen sind - sich die Hacken ab. Also Dippel hat einmal einen, der gerade 20 Jahre alt wurde, entdeckt und ihn gebeten, freiwillig bei den Maikäfern einzutreten und dort in die Kapelle sich aufnehmen zu lassen.

I wo, sagt der, er denke nicht daran. Bei der Generalmusterung komme er um den Militärdienst sicher herum, er bleibe dann Zivilmusiker und verdiene gut.

Eines Tages aber sitzt derselbige Tubaist mit dicken Tränen bei Mutter Dippel in deren Häuschen auf dem Grützmacher, läßt sich durch besten Kaffee und Kuchen nicht trösten und erzählt, er sei gezogen und müsse, unter Verzicht auf jede Musik, für zwei Jahre als einfacher Infanterist nach Rastatt. Dippel kommt nach Hause und hört es, wirft sich in eine Droschke, saust zum Generaladjutanten Grafen Hülsen-Haeseler, wird vorgelassen und bittet und fleht. Telegramme fliegen, mit Vorrang, hin und her, schon eine Stunde später ist es geschafft, der Tubaist gehört den Gardefüsilieren!

Nun steigt das dem aber in die Krone. Er wird bramsig und nimmt sich viel heraus, erscheint eines Tages (und auch noch den nächsten Tag) nicht zum Dienst, sondern beehrt derweil das Schützenfest in Köpenick. Das gibt 14 Tage strengen Arrest. Das Regiment ist schon zum Manöver abgedampft, der von Vater Philipp nachher entlassene Tubaist fährt hinterdrein, requiriert beim Bürgermeister des letzten Städtchens eine Kutsche und erscheint mit seiner Tuba im Biwak. Am nächsten Tage Parademarsch vor dem Brigadekommandeur. Was ist denn das? Aus der Kapelle der Gardefüsiliere kommen ja greuliche Quetschtöne! Ach, dem Ausreißer ist auf seiner Fahrt ein Hase unter die Räder gekommen, den hat er gekapert und - in seine Tuba gestopft, da er ihn nicht gut an der Seitengewehrschlaufe baumeln lassen konnte. Die 20 Mark für die requirierte Kutsche mußte aber Dippel aus der Notenkasse bezahlen.

So kann Dippel stundenlang erzählen. Die Berliner lieben ihn heiß, und innig und werden ihn fortan auch in Zivil im Zoo bejubeln. Und wie pfiffig er die Leute, von denen er erzählt, schildern kann! Einmal hat er in einem Privathause, bei einem Geheimen Kommerzienrat, zu konzertieren. Das Faktotum der Kapelle bringt die Baßgeige mit der Stadtbahn, vorsichtshalber im leeren Schaffnerabteil, bis zum Bahnhof Tiergarten. Er stößt mit dem Kopf der Baßgeige versehentlich eine Fensterscheibe des Wagens ein. Er legitimiert sich durch die vom Geheimen Kommerzienrat unterschriebene Bestellung des Konzerts. Und der staunt Bauklötze, weil er, der nur in seinem Luxusauto fährt, nachher die Rechnung für eine Scheibe bekommt, die er in einem Stadtbahnabteil dritter Klasse zerschlagen habe.

Doch zurück in die Gegenwart.

Heute sind nicht mehr die Leute in Uniform die Publikumshelden, sondern die in Badehose und Boxhandschuhen. Wenn man es sich überhaupt noch leisten kann, sie zu sehen. Die guten Plätze im Sportpalast kosten 12 bis 15 Mark bei besonderen Ereignissen. Diesmal hieß es: Carnera. Der italienische Boxriese, mehr schon Stier als Mensch, steht auf den Brettern. Höhe über 2 Meter, Gewicht 2½ Zentner, Halsweite 51, Schuhnummer 56. Er steht auf Unterschenkeln, die wie rissige Baumstämme sind, mit Borke und Bast. Wenn er haut, liegt eine Wucht darin, als renne ein Autobus gegen einen Laternenpfahl. Der auch sehr große und starke Deutsche ihm gegenüber sieht wie ein schmächtiger Jüngling aus. Er duckt sich vor dem Ungetüm, das er mit seinen kürzeren Armen kaum erreichen kann, er duckt sich und deckt sich, aber schon nach 4 Runden ist er, ohne wirklich angeschlagen zu sein, völlig zermürbt und gibt wegen eines angeblichen Blutergusses im rechten Fußknöchel den Kampf auf. Man hätte ihn überhaupt nicht beginnen lassen sollen; das Publikum tobt und pfeift und kocht. Ein wundervolles Gefecht zweier ausgeglichener Leichtgewichte, des deutschen und des ungarischen Meisters, rettet zum Schluß die Ehre des Abends und begeistert einen anwesenden Filmstar zu einer Extraprämie von 100 Mark.

Die Unternehmer machen lange Gesichter. Zum ersten Mal seit Menschengedenken ist der Sportpalast bei einer Boxveranstaltung nicht ausverkauft. Einige hundert Stühle sind unbesetzt. Auf Schritt und Tritt macht sich heute deutsche Armut bemerkbar.
11. Februar 1932 (Donnerstag)


24

Die Großstadtkrankheit von heute - Ein bißchen akute Herzschwäche - Auf dem Reimannball - Kleine Untreue - Sechstagerennen mit Buttermilch und Salzgurken - Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang".

Es zieht nicht etwa wieder wie gegen Kriegsende die Grippe durch das Land und schafft den Ärzten Arbeit bis zum Umfallen. Im Gegenteil: die Ärzte haben so wenig zu tun, als seien wir ein kerngesundes Volk. Tuberkulose und Lues haben ja auch abgenommen. Dafür schwellen die Zahlen der an schwerem Rheuma oder an Krebs Erkrankten. Aus den alljährlich allein in Berlin wegen Karzinoms durch die Chirurgen abgenommenen Brüsten könnte man einen Berg schichten.

Doch ist das alles noch nicht die eigentliche Großstadtkrankheit von heute.

Die heißt: Hoffnungslosigkeit.

Der junge Lehrling, der zu Ostern in seinem Konfirmandenanzug bei einem Meister zur Lehre antreten wird, weiß schon heute, daß er nach Beendigung der Lehre, wenn er sein Gesellenstück gemacht hat, kaum irgendwo Arbeit findet. Die junge Studentin, die mit schmalem Monatswechsel, der keine alltägliche Mittagsmahlzeit gestattet, rastlos strebt, ist darüber nicht im Zweifel, daß sie nach dem Staatsexamen jahrelang stellenlos sein wird. Das ist es, was die Leute anfällig macht; nur gehen sie nicht zum Arzt, weil sie die paar Groschen dafür scheuen.

Seit Jahren habe ich von Krankheit nichts gewußt, bis jetzt am letzten Sonntag - "Champagner, ist Champagner im Hause, ein Glas her, schnell, schnell!", höre ich noch eine bei uns anwesende Ärztin rufen, - plötzlich der Puls streikt und das Herz den Dienst einstellt.

Eigentlich war es ganz schön. Ich dachte, nun schliefe ich für immer ein. Dann kam die Kampferspritze und was man da sonst wohl noch tut. Und ich mache mit etwas zerdröhntem Schädel und leerem Gefühl im Herzen wieder automatisch meine Bummelgänge. Nur auf das Sechstagerennen, das hätte ich wirklich noch nicht ausgehalten, habe ich die Meinen gehetzt, die sich im Sportpalast "verteilten" und mir ihre Beobachtungen nach Hause bringen mußten. Irgend ein Dichter hat mal ungefähr gesagt: wer sechs Hengste zahlen kann, der hat vierundzwanzig Beine. Na schön; also ich habe ausnahmsweise einmal fremde Beine und fremde Augen für mich arbeiten lassen.

Wie so etwas kommt, daß einmal, zum ersten Mal in einem baumstarken gesunden Leben, das Herz versagt? Wenn dieses Organ wirklich, wie die Dichter erzählen, der Sitz unserer Empfindungen wäre, könnte ich etwa sagen, mich habe versetzte Romantik auf dem Gewissen. Aber Geheimrat Professor Weber, der gleich darnach an meinem Bette sitzt und mir auch noch eine Bromspritze gibt, sagt, das sei ein Erschöpfungszustand aus Überarbeitung und aus Sorge um die Eigenen und um das Vaterland.

Nu wenn schon! Ich bleibe in den Sielen, ich setze nicht etwa mit der Arbeit aus. Halli, hallo; auf dem zweiten Reimannball, diesmal nicht mehr im Zoo, sondern bei Kroll, bin ich noch gewesen. Diesmal allein. Nur zu einigen Stunden stillen Beobachtens. Mein Gott, Reimannball? Im vorigen Jahr war das noch eine Orgie von Farben und Formen. Dagegen ist es heute fast ärmlich. Sehr wenige originelle oder schöne oder kostbare Kostüme. Niemand kann oder will auffallen; sogar Brigitte Helm ist in einem schlichten weißen Strandanzug gekommen. Besonders häßliche Mädchen kleiden sich ein wenig mehr aus als die anderen, das habe ich noch feststellen können. Da - knack - ist eine Browningpistole auf mich gerichtet: ein lieber Bekannter, der Maler (besser noch: der Lautensänger) Kießlich, steht als U.S.A.-Sheriff vor mir. Dann treffe ich einen bekannten jungen Kapitänleutnant und seine Frau, die mit gläubigen Kinderaugen sich in die Großberliner Herrlichkeit drängen. Es kommen noch mehr Leute, denen man die Hand schüttelt, aber sie bringen nicht das mit, was sonst hier zu haben war, die fröhliche Lust.

Gewiß, Entfesselung ist da, Entzügelung ist da, wie auf jedem öffentlichen Kostümball.

An einer Bar wird glasweise (wer könnte denn eine Flasche bezahlen?) Schaumwein ausgeschenkt. In winzigen Notverordnungsgläsern, von denen 11 auf eine Flasche gehen; jedes Spitzglas kostet "inklusive" eine Mark. Da läßt sich ein Pärchen nieder; sie ist ein nettes, gebildetes Mädel, er sieht wie ein jüngerer Rechtsanwalt aus. Links nimmt bald darauf ein anderes Pärchen Platz.

"Darf ich?", fragt der Rechstanwalt.

"Aber bitte sehr!", sagt der neue Herr.

Und da tätschelt der Rechtsanwalt die Dame links auf den Rückenausschnitt und bald auch noch anderswo. Es ist doch Kostümball, nicht wahr? Und die sogenannte absolute Treue zu Wasser und zu Lande und in allen Lebenslagen ist doch veralteter Quatsch! Mich geht's nichts an. Aber es tut einem doch weh. Nun wendet sich der, den ich Rechtsanwalt nenne, flüchtig wieder der eigenen Begleiterin zu. In deren Augen stehen still schwere Tropfen.

"Nanu, Kleines, weinst Du?"

Aber da lächelt sie schon ein bittersüßes Lächeln und schluckt die Entwürdigung herunter und sagt:

"Ach wo, ich schwitze bloß an den Augen!"

Ähnliche Erfahrungen wie auf dem Reimannball kann man auch auf dem Sechstagerennen machen: es wird popliger. Es gibt nicht mehr aus dem Publikum Prämien von 300 oder 500 Mark. Das höchste der Gefühle: 50. Dazwischen 3 Flaschen Sekt oder 1000 billige Zigaretten. Und das große Geschäft im Innenraum heißt nicht mehr Sekt und Kaviarbrötchen, sondern Buttermilch und Salzgurken.

Mit 20 Litern Milch und 200 Gurken fing der Unternehmer am ersten Abend an. Am fünften waren es schon 1000 Liter und 800 Stück. Beiläufig bemerkt, kostet die Gurke 25 Pfennige. Beim Produzenten nur 6 Pfennige. Also 19 verkrümeln sich im Zwischenhandel. Das letzte Glied der Kette, der Unterangestellte des Händlers im Sportpalast, der die Gurken umherträgt, verdient 2 Pfennige an jeder.

Es ist diesmal das 27. Berliner Sechstagerennen, von denen ich etwa die Hälfte besucht habe, also viel Neues können die abgesandten Meinigen mir davon nicht erzählen. Daß eine Gruppe Holländer auf der Tribüne sitzt und "Hopp, hopp, Pittje!" ruft, wenn ihr Landsmann Piet van Kempen vorüberrollt, oder daß Belgier in Extase geraten, wenn ihr Compatriot Charlier in seinem einst lachsfarben gewesenen Trikot daherflitzt, ist begreiflich und ist immer so. Auch die Berliner haben ja ihre Lieblinge und apostrophieren sie, nur daß diesmal, beim 27. Rennen, die Sprechchöre der Galerie nicht mehr ganz so aufdringlich (auch im Erbetteln von Zigaretten und Bier bei den Tribünengästen) sind wie früher, weil man gedroht hat, daß dann das Rennen eingestellt und die Galerie geräumt würde.

Von den 13 Paaren, die den Wettkampf im Radpendeln mit Ausreißen begonnen haben, sind nur noch 8 in der fünften Nacht vorhanden. Während der eine herumsaust, liegt der andere in der nach der Bahn zu offenen Kabine, wird massiert, kriegt Kraftnahrung, läßt die Arme oder ein Bein in Eimer mit kaltem Wasser hängen. Bepflastert oder roh zerschunden sind fast alle diese Rundenhelden. Und auf dem Dache jeder Kabine hockt oder liegt ein Paar zugehöriger Mädel, übernächtig, müde, kaum mehr appetitlich anzusehen, und tut Zuspruch nach unten. Es ist doch schön, daß ich diesmal geschwänzt habe; diese Mensch-Maschinen, diese lebenden Pleuelstangen, diese vom Publikum bezahlten Tretmühlensklaven sind im Grunde doch ein erbärmlicher Anblick. Aber sie "ziehen" noch immer. Gegen 3 Uhr kommt ein ganzer Schwung von Leuten in Frack und Abendkleid. Eine Dame sagt:

"Ich muß um 5 weggehen, mein Mann ist heute auch aus, aber ich will auf alle Fälle vor ihm zu Hause sein."

O Du trautes deutsches Familienleben! Aber man hat doch seine Sensationen. Wenn ein Paar im plötzlichen rasenden Vorstoß die anderen überrundet. Oder wenn etliche übereinanderpurzeln und nachher verklebt werden. Oder wenn Max Adalbert dem Schnellsten der nächsten 5 Runden 50 Mark auslobt.

Das Gros des Publikums bei Radrennen ist Hefe. Kaum um einen Grad besser bei Boxkämpfen. Schon viel anständiger bei Eishockey. Und am allerbesten bei Reitkonkurrenzen. Immer schlecht ist die Luft.

Es ist eine Erholung, wenn man wieder einmal ins wirkliche Theater, nicht zum Film, sondern zur Sprechbühne gehen kann. Leben, Leben! Und ein so starker Kontakt zwischen Darstellern und Zuschauern wie sonst nirgends. Zur Première von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" bin ich nicht gegangen, sondern erst gestern zur zweiten Aufführung. Etwas nie Dagewesenes: schon am zweiten Tag einer Hauptmann-Aufführung weite Lücken im Parkett! Daran ist nicht Hauptmann schuld, nicht Reinhardt, nicht das Stück, nicht das Theater, am allerwenigsten Werner Krauß - wiederum einzig in seiner Größe - oder Helene Thiemig oder sonstwer, sondern nur "die schlechte Zeit". Ehe einer heute 8,50 Mark für einen Parkettplatz in der 14. Reihe ausgibt, kauft er sich eben ein Nachthemd oder einen Rollschinken.

Man liest das Programmheft: Blätter des Deutschen Theaters. Es ist Huldigung - oder Reklame - für den nun bald 70jährigen Hauptmann. Die Verfasser der kleinen Artikel? Schalom Asch, Albert Einstein, Alfred Kerr, Max Liebermann, Ernst Toller, Siegfried Trebitsch, Karl Zuckmayer, und dergleichen mehr. Da hat man also den ganzen Kometenschweif.

Niemals war der "Olympier" Hauptmann wirklich deutschen Menschen innerlich nah. Er versagte 1913 bei der Jahrhundertfeier der deutschen Befreiung, er versagte in der Erschütterung des Weltkrieges, er war immer nur das große Ich, aber trotzdem ein gütig verstehender Mensch. Nur für das Positive und Nationale nicht. Auch in "Vor Sonnenuntergang" kann er es nicht lassen, die Figur eines evangelischen Geistlichen zur Fratze zu verzerren. Im übrigen aber ist dieser Hauptmann - bester Sudermann. Ein an sich schwaches Thema ist mit fabelhaftem Geschick außerordentlich bühnenwirksam gemacht worden. Man ist immer "drin"; man lebt, man atmet, man bangt, man jauchzt besinnungslos mit den Personen des Stückes.

Es ist die Tragödie des alten Mannes, der vor jungem Erleben steht. Der 70jährige Geheime Kommerzienrat Clausen, ein nicht nur für die Seinigen, sondern für die Stadt und die Welt wertvoller Mensch, halb Gelehrter, Witwer, kommt in seinen zweiten Frühling hinein, liebt Inken Peters, ein Prachtmädel aus schlichtem Hause, die in ihm den vornehmen Geist und die noch überraschende Liebes- und Manneskraft schätzt.

Für ihn aber bedeutet es geradezu Wiedergeburt, daß er noch begehrenswert für ein junges Blut sich weiß. "Das Wunderbare gärt in mir - und von Wundern bin ich umgeben!", bekennt er seinem alten Freunde.

Nun könnte Gerhart Hauptmann, wenn er Romantiker wäre, den alten Geheimrat einen kurzen Liebesfrühling erleben und dann wehmütig und segnend verzichten lassen, wenn ein Jüngerer sich Inken Peters naht und sie gewinnt. Aber Gerhart Hauptmann steht doch nun man als Naturalist im Lexikon, also muß die Familie des Geheimrats, Söhne und Töchter und Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, nicht an das Glück des verjüngten Vaters, sondern nur an die schöne Pinke denken, die er am Ende für die neue Frau ausgeben könnte; und damit ihr Erbvermögen nicht geschädigt wird, lassen sie ihn - entmündigen. Inken Peters hält zu ihm, Inken Peters will, gleichviel, ob als Gattin oder Geliebte, ihm folgen und jauchzt:

"Als Dein Stecken, als Dein Stab und - als Dein Geschöpf!"

Es gibt solche Mädchen, nicht nur der erdichtete Geheime Kommerzienrat Clausen, sondern der auch seiner Zeit wirklich lebende Goethe und wohl auch mancher unbedeutendere Heutige sind des Zeuge. Aber Inkens Hingabe kommt zu spät, der Geheimrat bricht unter der mit vereinten Kräften unternommenen Familienintrige zusammen, das einst so starke Herz hält den Stoß nicht mehr aus, wie eine gefällte Eiche stürzt der Mann.

Die Kleinmalerei in der Schilderung der Familientypen, manchmal schon etwas karikierend, ist allerbestes Theater. Und Werner Krauß hat als Geheimrat gerade in seiner ritterlichen Zurückhaltung im Beisammensein mit Inken und dann im Zorn des verratenen Königs Lear Momente von erschütternder Eindringlichkeit.
18. Februar 1932 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts