"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 19 - 21
14. bis 28. Januar 1932


19

Wir dürfen hoffen - Die Schulpäpste - Weihnacht der Emigranten - Sklarek-Ära - Ein Zuchthäusler bei mir zu Tisch - Verlorene Stammtische - Bei den Sammetbrüdern.

Wie sollten wir Deutschen je hoffnungslos werden können!

Im Laufe des Dreißigjährigen Krieges war weit mehr als die Hälfte unserer männlichen Bevölkerung ausgerottet; und trotzdem wurden wir später ein großes Volk. Nach 1648 der nächste Tiefpunkt 1807. Der Professor Fichte glaubt inmitten der napoleonischen Bedrückung, daß sogar die deutsche Sprache untergehen werde; und trotzdem ist sie heute die Muttersprache von annähernd 80 Millionen Menschen. Und wie lange haben wir auf das zweite deutsche Kaiserreich warten müssen? von 1806 bis 1871, fünfundsechzig Jahre lang. Da wollen wir doch nicht die Flinte ins Korn werfen, weil es diesmal schon dreizehn Wartejahre sind. Oder haben etwa die Polen je die Hoffnung aufgegeben? Von 1795 bis 1916 hatten sie überhaupt keinen eigenen Staat mehr, war er aufgeteilt und von der Landkarte verschwunden; und trotzdem blieben sie, bis die Erfüllung kam, bei der zuversichtlichen Parole: "Noch ist Polen nicht verloren!"

So ungefähr, stelle ich mir vor, müßten in den Berliner Schulen die Lehrer sprechen, damit, wenn die Kinder nach Hause kommen und davon erzählen, die entmutigten Familien wieder aufgerichtet werden.

Auch wirtschaftlich sind wir ja früher, nach dem Dreißigjährigen und nach den Napoleonischen Kriegen, genau so verarmt und ausgesogen gewesen wie heute; oder noch ärger.

Aber die Berliner Schulbehörden - viele nicht vor dem roten Baal knieende Lehrer möchten es anders - haben für recht verstandene deutsche Geschichte kein Interesse. Der Stadtschulrat Löwenstein sagt, die Schule habe nur die Aufgabe, den Klassenkampf gegen das Bürgertum zu lehren: das, und nicht irgend eine Volksversöhnung, müsse den Volksschülern von früh auf eingehämmert werden. Und der Oberstudiendirektor Siegfried Kawerau in Berlin erklärt die Abtrennung Oberschlesiens vom Reiche für gerechtfertigt und fordert von jedem neu erscheinenden Geschichtsbuch die Feststellung der Schuld Deutschlands am Weltkriege, die Verantwortung des alten Regimes von Wilhelm II. bis Hindenburg dafür müsse die Jugend erkennen.

Das ist übrigens derselbe Kawerau, der noch 1915 eine ganz hymnische, überstiegene Kaisergeburtstagsrede gehalten hat. Es wird ein großes Aufräumen unter diesen Novembermännern geben müssen.

Ein von innen her noch mehr zerschlagenes Vaterland, ein zu Bettlern verarmtes Volk haben die russischen Emigranten zu beklagen. Und doch leben auch sie nach der Parole: "Arbeiten und nicht verzweifeln!", rangieren sich allmählich aus tiefstem Elend und feiern hoffnungsvoll ihre heimischen Feste.

Vor Jahren suchte ich sie in ihren jammervollen Baracken auf dem Tempelhofer Felde auf und schilderte ihre Not. Inzwischen haben gutherzige Reichsdeutsche vielfach eingegriffen, haben die Kinder der Emigranten in allen Ferien aufgenommen und gesundgefüttert, haben den Eltern ebenso häufig irgendwelche Arbeit beschafft, und nun ist alles nicht mehr so kraß, hat alles schon wieder, von wenigen Hilflosen abgesehen, den Anstrich bescheidener Bürgerlichkeit.

In einem großen Saal in der Bülowstraße feiern die Emigranten nach ihrem alten Julianischen Kalender, der 13 Tage hinter dem unserigen dreinhinkt, und dann auch erst am Sonntag danach, das Weihnachtsfest, schon unter Annahme deutscher Gebräuche: mit Christbaum und Knecht Ruprecht. Viele, viele Kinder. Auch dies ein Zeichen der Hoffnung, ein Zeugnis des Mutes. Da hat der Priester Krasmounow (heute ernährt er sich als Balalaikaspieler) seinen elfjährigen Jungen, der so silberblond ist, als stamme er aus Friesland oder aus Pommern, mitgebracht und seine dreizehnjährige Tochter, ein bildhübsches Ding. Da tanzen die kleine Sanftleben und die kleine Platonowa, die letztere vierzehnjährige Schönheit schon mit ganz wissenden und verheißenden Augen, auf der Bühne einen Matrosentanz, der elektrisierend wirkt. Unter den Aufführungen überhaupt viel Tanz; das ist nun mal die große Begabung der Slawen. So etwas feuriges wie der Krakowiak, den nach der Vorstellung die ganze Festgesellschaft tollt, findet man in Westeuropa sonst nicht.

Herr v.Seume, ein Petersburger Deutschrusse, der Vorsitzende dieses Vereins der Emigranten, kann mit dem Erfolg des Abends zufrieden sein. Er selbst war einst Bankdirektor. Jetzt ist er gelegentlich Filmstatist und gibt nebenbei französische Privatstunden. Unter den Kindern, die fast alle von seltsamem Reiz sind, auf einem Schutthaufen erblühte Blumen, ist eines der schönsten die elfjährige Tarizyna; der Vater war Ingenieur und ist jetzt Kellner. Auch einige Balten, zum Teil russischer Herkunft, sind dabei, eine Frau v.Ungern-Sternberg, eine Baronesse Stromberg. Alles schön sauber und nett, manchmal recht gut gekleidet. In der ganzen Gesellschaft ist nur noch ein einziger Lumpacivagabundus, der ungekämmt und kragenlos und mit Schuhen, die Putzen vertragen könnten, neben den Arrivierten sitzt.

Die Witwe eines einst berühmten russischen Arztes - sie selber ist deutscher Abkunft - sitzt neben uns. Sie muß von 38 Mark monatlich leben. Sie natürlich sieht weiter als wir, sieht auch hinter die äußerlich wieder gut gestrichenen Fassaden. Da ist viel Zerstörung. Wenn Familien jahrelang wie die Zigeuner leben, werden sie eben zigeunerhaft: die bürgerliche Moral wird brüchig.

Da ist die pikante neunzehnjährige Tanja, die Tochter eines russischen Fürsten, die angeborenen Schick hat, ihn als Modezeichnerin betätigt, aber das ganze verdiente Geld für die eigene Kleidung ausgibt, in der sie auf Bälle geht. Das andere - läßt sie sich schenken. Entweder von "ihrem Alten", einem jetzt 36jährigen ehemaligen russischen Ulanenleutnant, der selber verheiratet ist, oder von "ihren Jungen", dem Sascha, dem Kolja, dem Petja. Macht die Mutter ihr Vorwürfe, so antwortet sie: "Und Du? Der Vater ist in Paris. Und der Onkel bei Dir!"

Oder da ist eine Generalstochter, die majestätische Wera, Tänzerin von Beruf, bis vor kurzem noch sehr zurückhaltend, Prototyp des Haustöchterchens; heute hat sie, wie es heißt, schon ihren achten "Verlobten". Das ist die Übergangszeit, sagen die Alten. Aber einst komme der Tag, da erstehe Rußland wieder, da werde auch die Spreu von dem Weizen gesondert.

Gewiß, Übergangszeit. Das sagen wir ja auch von uns Deutschen. Um Gottes willen, wenn das Dauerzustand wäre! Noch leben wir in der Sklarek-Ära, wo nicht der redliche Kaufmann, sondern der Finanzjongleur Geschäfte macht, weil das heutige Bonzentum ihm die Wege ebnet. Der monatelange Sklarek-Prozeß erweckt scheinbar keine Teilnahme mehr im Publikum, und in der "Welt, die sich nicht langweilt", sind üppige Zahler, die für ihre bestochenen Freunde Gelage veranstalten, doch immer gern gesehen.

Aber das ist nur scheinbar. Heute ist der letzte Kellner, ist schon die letzte Barmaid politisiert. Sie alle fühlen ihre Erniedrigung und knirschen: "Deutschland, erwache!" Ein Hotelportier dienert vor ein paar Östlichen-Allzuöstlichen, holt aber gleich darauf wieder ein Zeitungsblatt aus der Tasche hervor und liest mit brennenden Augen Hugenbergs Brief an Brüning oder unterrichtet den Piccolo über den Verleumdungsfeldzug der roten Presse in Sachen Ostbank für Handel und Gewerbe. Es tagt wirklich. Auch wenn die Leute nicht den Prozeßbericht verfolgen, so wissen sie doch, daß Max Sklarek, für den wir Steuerzahler die Millioneneinbußen der Stadt Berlin tragen müssen, "haftunfähig" eine 16-Zimmer-Wohnung am Kaiserdamm 51 innehat, und daß sein Bruder Leo Sklarek, der sich ebenfalls in Freiheit befindet und in Moabit den Regisseur zu spielen versucht, in der Kirschenallee am Reichskanzlerplatz eine zweistöckige Villa mit seiner Familie bewohnt.

Nu wenn schon, sagen gewisse Berliner. Das seien eben kluge Menschen. Mit solchen müsse man sich stellen.

Ich selber habe neulich neben einem Zuchthäusler gesessen. Er hatte sogar einen Ehrenplatz an unserem Familientisch. Er heißt Herbert Volck, hat das herrliche Buch "Rebellen um Ehre" geschrieben, ist alter Lüneburger Dragoneroffizier und muß es büßen, daß er sich im Kampfe unter der schwarzen Fahne der schleswig-holsteinischen Bauernschaft gegen die Gesetze vergangen hat. Er muß natürlich ins Zuchthaus, für ihn gibt es keine Gnade. Aber wenn ich alle Dinge der Zukunft so genau wüßte wie das, daß Herbert Volck noch in diesem Jahre die Tore zur Freiheit wieder geöffnet sehen wird, könnte ich als Hellseher viel Geld machen. Die Belegschaft der Zuchthäuser - wird einigermaßen wechseln.

In einer so gärenden Zeit ist für die Behaglichkeit der alten Stammtische eigentlich kein Platz mehr.

Viele sind eingegangen. So existiert der im "Siechen" in der Behrenstraße nicht mehr, über den Fedor v.Zobeltitz so nett zu plaudern wußte, wo man Berliner Generale und Berliner Künstler nebeneinander sah und wo immer wieder der alte Schauspieldirektor Ferdinand v.Strantz in seiner Überhöflichkeit auftauchte, der tausend Schnurren wußte, noch mit 74 Jahren einen handfesten Roman erlebte und mit 80, wenn auch schon faltenzersägt in dem schließlich nicht mehr jungen Gesicht, sich den schwarzgewichsten Schnurrbart zwirbelte.

Vom "Schwimmklub geistig hochstehender Männer" bei Kempinski, dem auch Hanns Heinz Evers angehörte, erfährt man nicht mehr viel.

Die Tafelrunde des "Kladderadatsch" existiert dafür noch in alter Frische und reicht vom Dichter Paul Warncke bis zum Chirurgen Professor Seefisch.

Obdachlos sind viele Berliner Theaterleute durch das Eingehen der "Stefanie", der Weinstube Schwannecke in der Rankestraße geworden. Zum Teil verkehren sie jetzt, so Ernst Deutsch, Fritzi Massary, Ferdinand Hart, Brigitte Helm, im "Quartier latin", zum Teil sind sie, unter ihnen Fritz Kortner, Max Hansen, Moritz Seeler, Viktor Barnowsky, in die "Kulisse" der Witwe des Filmarchitekten Ferency in der Reineckestraße mit dem verheißungsvollen Rufe eingefallen:

"Wir haben Schwannecke pleitegemacht, nur Mut, es wird uns auch bei Euch glücken!"

Die meisten aber kristallisieren sich wohl in der Gemeinschaft der Sammetbrüder, die in ihrem eigenen Zimmer in der "Alten Klause" am Kurfürstendamm tagt. Das ist eine geschlossene Gesellschaft, die aber gern auch Gäste an dem mächtigen Eichentisch sieht. Ich gehe unten durch das weitläufige allgemeine Lokal, in dem gerade der Reichswehrminister - noch ist er es - Groener seinen Schoppen Bier trinkt, steige die Treppe empor und lande in dem Zimmer, das wie ein Bauernmuseum voll Raritäten aussieht, zwischen dem Schauspieler Marlow und dem Tiermaler Kappstein, die die fesselndsten Anglergeschichten erzählen. Überhaupt erzählt immer jemand etwas. Es sind alles weitgereiste Leute, die viel erlebt haben, und es ist immer anregend. Manchmal auch ein bißchen herrenabendmäßig derb.

In dem dicken Bande, in dem die jeweils am Mittwoch Anwesenden sich eintragen, finden sich Zeichnungen von Lovis Corinth, Gedichte von Otto Erich Hartleben, Inschriften mehr oder minder launiger Art von Wilhelm Diegelmann, Major v.Wißmann, Frank Wedekind, Julius Einödshöfer, Dr. Karl Peters, Graf Zeppelin, Sidney Whitman, Karl v.Krogh, Vörös Miska, Josef v.Lauff, Georg Engels, Guido Thielscher, Major Volckmann, um wahllos nur einige Namen zu nennen; und, selbstverständlich, denn wo wäre der nicht dabei, von Philipp Scheidemann, dessen Bild auch im Sammetbarett unter den vielen anderen an der Wand prangt. "La recherche de la groupe est interdite", nach der Partei darf hier nicht gefragt werden.

In dem Gästebuch, in dem ich eine Stunde oder noch länger blättere und sehr viele Namen auch von alten Kameraden finde, steht manches jungenhaft übermütige Verschen, wie es die Bierlaune eingibt. Darunter eines, dessen Zitierung mir jeder Mensch mit Humorverständnis danken wird, auch wenn nur die Kinder darüber jauchzen, die Frau Mama es aber shocking findet:

Ob die Fische pissen?
Wer kann's wissen!
Auf dem Lande tun sie es nicht,
Im Wasser sieht man es nicht.
Sie sind stumm.
Zu dumm!

Bei einer so vergnüglichen naturwissenschaftlichen Frage kann ich wirklich nicht schamrot werden. Und nun sehe ich mir die Wände an. Ein großes Bild vom alten Kaiser, ein großes Bild von Bismarck, ein eingerahmter Brief von ihm an die Sammetbrüder, die schon seit 1891 existieren und deren ältester Mitbegründer 1833 geboren war; dazu eine der bald schon seltenen Photographien Bismarcks an der Seite der Sängerin Lucca. Dann die ganze Galerie aller Sammetbrüder aus 40 Jahren und allerlei Ulkiges. Es hat Zeiten gegeben, wo hier alles von Geist nur so phosphoreszierte, sie sind auch heute noch nicht geschwunden, aber ein wenig Schatten fällt natürlich auf das Bild, denn mancher ehedem Sprühende ist doch heute zum steinernen Gast geworden und fragt dann aus langer Lethargie heraus plötzlich etwa:

"Ziehen Sie auch in eine kleinere Wohnung?"
14. Januar 1932 (Donnerstag)


20

Was heißt Schlager? - Wie er entsteht - Ufa-Ton-Verlag und Bohème-Verlag - Urheberrecht und Tantième - In der Küche bei Kempinski - Die Speisung der Zweitausend - Annonceusen rufen - Wer beschwert sich?

Wenn ein Tanzliedchen blitzartig "einschlägt", so daß alsbald die Leute lichterloh entbrennen und die feurige Musik sich mit Windeseile verbreitet, dann ist es ein richtiger "Schlager". Sogar der Oberregierungsrat summt ihn auf dem Wege zum Amtszimmer, obwohl er keine Tanzdielen besucht und selber vielleicht keine Ahnung hat, was er summt und woher ihm die Kenntnis kam. Er summt die Melodie von "Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder", die ihm - seit der Filmvorstellung "Der Kongreß tanzt" anhängt, die er mit seiner Gattin ausnahmsweise besucht hat. Richtig: die Waschfrau hat neulich in der Küche dasselbe Liedchen geträllert. Und im Rundfunk ist es ertönt. Und der Türsteher im Ministerium hat es gepfiffen. Natürlich: auch die Tochter des Oberregierungsrates, die zur Zeit sich auf die spanische Dolmetscherprüfung vorbereitet, hat in einer Arbeitspause diesen Schlager über die Klaviertasten gejagt. Und beim Austeilen des Puddings am vorigen Sonntag hat die Gattin mit schalkhaftem Mundspitzen erklärt: "Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder!"

Sehen Sie, das ist Popularität! Und heute macht sie in erster Linie der Film. Der frühere "Einzelschlager" hat Konkurrenz bekommen. Die Masse im Film schlägt durch. Früher kaufte man sich im Laden die neuen Noten. Heute schmettert sie der Film in 1400 deutschen Lichtspielhäusern ins Volk. Welche Reklame! Da kommt der alte "Einzelschlager" nur noch schwer mit. Aber auch er läuft und hat Erfolg.

Wie entsteht so etwas?

Ich habe im Laufe der Jahre manches herbe Wort über das Galizische in der Schlagerproduktion geschrieben. Heute ist schon zum größten Teil Berlin der Schöpfersitz für Tanzliedchen. Und sie sind schon manchmal nicht mehr ganz so blödsinnig (oder gemein) wie ehedem. Hin und wieder kriegt man noch einen innerlichen Rippenstoß. Wenn ich da etwa in der Femina das Orchester Paul Godwin den Schlager vom Mädel im Kaukasus spielen höre und darin der Vers

"Ja, die Leidenschaft
Brennt wie Gulaschsaft"

vorkommt, so sträuben sich einem ob solcher Geschmacklosigkeit doch die Haare. Aber was will man machen? Ganz ernsthafte, unzweifelhaft deutsche, womöglich der nationalsozialistischen Partei angehörende Textdichter und Komponisten sagen mir:

"Man kann sich das Publikum garnicht dämlich genug vorstellen, es singt am begeistertsten mit, wenn man ihm absoluten Quatsch vorsetzt!"

Das kann ich mir vorstellen. Aber nun: wie entsteht so etwas? Ich muß da mal ein Beispiel erzählen. Also einem braven Berliner kommt eine Idee in der Form des Satzes:

"Wenn die Sonne untergeht, geht die Liebe auf."

Er sagt sich, das sei ein Aphorismus, ein geistvoller Gedankensplitter, er ist ein bißchen stolz auf sich. Er teilt sich Bekannten mit, bis einer ihn auf die Schulter klopft und ausruft:

"Mensch, das ist ja ein Schlager!"

Und heute sitzen der Erfinder dieser Zeile und ein richtiger Dichter und ein Musiker zusammen und bauen Vers um Vers, Takt um Takt das neue Tanzliedchen auf. Die Zeile ist lyrisch-sentimental, das muß also, das ist klar, einen Slow-Fox geben.

Oder ein anderes Beispiel. Richard Tauber, der Sänger, und Robert Stolz, der Komponist, stehen in einer Gruppe von Menschen beieinander, in der mehrere der Anwesenden von ihrer Militärzeit erzählen, nun, was man so "ulkige" Geschichten nennt. Ein Satz fällt, der Tauber und Stolz wie ein elektrischer Schlag durchzuckt: "Leutnant war ich einst bei den Husaren!" In dem Augenblick ist ein neuer Schlager gezeugt.

Mit einem jungen Komponisten, der schon viel gute Unterhaltungsmusik geschrieben hat, habe ich mich soeben auch über dieses Thema des Schlager-Entstehens unterhalten. Er sagt, irgendwo, nicht etwa nur am Klavier beim Phantasieren, sondern in der Straßenbahn oder in der Badewanne oder vor einem Schaufenster, falle ihm etwas ein, die Phrase der Melodie, die erste Schlagzeile. "Ich denke, nanu, denke ich, das habe ich doch noch nicht gehört, das ist ja ganz hübsch?", sage er sich und probiere dann und feile und halte das achtzeilige Versmaß ein und notiere sich 32 Takte und - suche sich dann einen Verfasser dazu.

Noch ein Beispiel. Ein bekannter Schriftsteller, Junggeselle, wohnhaft in einer Pension des Westens, klopft an der Tür einer Nachbarin an und sagt beim Eintreten lächelnd:

"Entschuldigen Sie bitte, ich bin Ihr kleines Überfallkommando!"

Dieses kleine Überfallkommando wird jetzt von einem berufsmäßigen Vortragskünstler und einem Musiker zum Schlager verarbeitet.

Weiter. Eine schon längere Zeit zurückliegende Geschichte. Als der englische Reißer "I have no bananas today" um die Erde raste, sollte in Wien Dr. Beda ihn deutsch textieren. Nur an den Bananen stieß er sich. Die müßten aber hinein, wurde ihm gesagt. Er quälte sich drei Wochen, kam dann aber doch mit einem freien Text und erklärte:

"Den Text hätte ich also. Nur, bitte, nichts von Bananen. Ausgerechnet Bananen!"

In diesem Moment fiel ihm der Verleger um den Hals.

"Großartig, ganz großartig, lieber Beda! Ausgerechnet Bananen, das klingt fabelhaft als Anfang!"

Nun noch ein letztes Beispiel, diesmal wieder aus Berlin. Ein Kapellmeister, Kanone in seinem Fach, sagt in dem Tanzpalast zu einer Huldin mit scherzhaftem Flöten in der Stimme und mit der rechten Hand in der Herzgegend: "O Fräulein Grete!" Nachher pfeift er sich die fünf Silben einmal, nochmal, wiederholt: Kinder, das gibt ja wahrhaftig einen Schlager! Und also geschieht es. Nur daß an der Vaterschaft sich dann mehrere Kräfte beteiligen.

Mit dem Ergebnis kann man zu einem Musikverleger gehen, der "Einzelschlager" und überhaupt leichte Unterhaltungsmusik herausbringt. Nun beginnt der Ernst des Lebens. Gefallen Text und Musik, so steht einem Verlagsvertrag nichts im Wege, die Noten werden gedruckt und der Propagandist versucht es, die Kapellen dafür zu interessieren. Oder man geht mit seinem Werk zu einer Tonfilmgesellschaft, obwohl die meist schon ihre eigenen Leute dafür hat. Jedenfalls ist auf dem Wege über die Flimmer- und Wimmerleinewand das beste Geschäft zu machen.

Heute ist die Ufa der größte Schlagerverleger Deutschlands. Sie hat Ende 1929 ihren Ufa-Ton-Verlag begründet und Anfang 1931 den schon lange auf dem gleichen Gebiete tätigen Wiener Bohème-Verlag übernommen, damit zugleich auch deren Leiter Otto Hein, der - wie Dr. Eckener bekanntlich Wind und Wetter auf seinen Luftschiffahrten schon vorher riecht - einen ganz fabelhaften Riecher für erfolgreiche Schlager hat. So besitzt die Ufa jetzt die Verlagsrechte von den alten Tanzliedchen "Oh Katharina", "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren", "Valencia", "Veronika, der Lenz ist da", "Ausgerechnet Bananen", "Ein spanischer Tango" usw. angefangen bis zu den neueren wie "Das ist die Liebe der Matrosen", "Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen", "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt", "Das gibt's nur einmal" und den allerneuesten, die noch im Werden sind; alljährlich beträgt der Zugang etwa 60 Nummern, und wenn sie in einem zugkräftigen Film erscheinen, dann stehen tags darauf die Leiter der Tanzorchester bis auf den Korridor hinaus Schlange in der Kochstraße, um alsbald für ihr Publikum in Kaffeehäusern oder Tanzdielen das modernste heimzubringen.

Die Aufführungsrechte werden von Organisationen der Urheber verwaltet. Wir haben da für Noten den "Verband zum Schutze der musikalischen Aufführungsrechte", für Platten die "Anstalt für mechanisch-musikalische Rechte". Die Tanzlokale und die sonstigen Betriebe mit Musik bezahlen monatlich eine Pauschalsumme und dürfen dafür spielen, was sie wollen, müssen aber an jedem Monatsende ihr Programm einreichen. Da steht beispielsweise, daß der Schlager "Das gibt's nur einmal" in dem Café Soundso in dem Monat 86mal gespielt worden sei. Nach diesen statistischen Angaben wird das pauschal eingehende Geld an die berechtigten Urheber, nämlich an die Verleger, die ihrerseits Verträge mit den Verfassern haben, verteilt. Es kommen in ganz Deutschland jährlich rund 6 Millionen Mark solcher Musikhonorare ein.

Eine ungeheure Kartothek mit vielen Tausenden von Adressen muß der Verband führen, damit alles seine Ordnung hat. Er arbeitet wie ein großes Finanzamt oder - dieser Vergleich ist vielleicht noch besser - wie ein Leipziger Großkommissionär des Buchhandels. Man kriegt allerhand Hochachtung, wenn man es weiß; und man sitzt nicht mehr so gedankenlos da, wenn Marek Weber oder Dajos Bela spielen.

Überhaupt das "Hinter-die-Kulissen-Gucken" erschließt einem oft erst das wahre Verständnis für geleistete Arbeit. Auf dem Lande vollzieht sich jede Tätigkeit vor aller Augen, in der Großstadt aber sehen wir meist nur das fertige Ergebnis. Seit ich einst Zolas "Bauch von Paris" gelesen, habe ich wiederholt große Markthallen nachts oder in der ersten Morgenfrühe besucht; nur fehlte mir noch der Anschauungsunterricht darüber, was mit den Schätzen für den Bauch von Berlin weiterhin geschieht. Ach, mal in eine Riesenküche hineinsehen dürfen! Zusehen, wie alle deliziösen Gerichte entstehen!

In Berlin ist es fast schon so, daß man sich je nach Stand oder Partei die Gaststätte aussucht, in der man mal nach Herzenslust schmaust, wenn der Geldbeutel es zuläßt. Die Feinschmecker vom Film gehen zu Peltzer in der Neuen Wilhelmstraße. Die Angehörigen der Rechten bevorzugen den als deutschnational geltenden Habsburger Hof am Anhalter Bahnhof oder irgend ein zum Aschinger-Konzern gehörendes Hotelrestaurant, so etwa den Fürstenhof am Potsdamer Platz, nachdem Rheingold in der Bellevuestraße seine Pforten geschlossen hat.

Aber die große Masse geht in irgend einen der Kempinski-Betriebe, die sich von Jahr zu Jahr mehr ausbreiten. Jetzt hat die Firma auch die Bewirtschaftung des Hauses der Presse in der Tiergartenstraße übernommen. Kempinski, der als erster anfangs der neunziger Jahre die Gaumengenüsse demokratisierte, indem er alles in billigen "halben" Portionen hergab, was man bis dahin nur im Rahmen eines ganzen Diners für teures Geld bei Hiller oder Dressel Unter den Linden bekam, machte das Weinrestaurant Traube in der Leipziger Straße kaputt, schuf das Haus Vaterland am Potsdamer Bahnhof um und faßte am Kurfürstendamm Fuß. Immer kann man noch für verhältnismäßig wenig Geld da gut essen, etwa ein Stück Rinderbrust von einer derartigen Zartheit, wie es sich in einen Privathaushalt nie verirrt. Aber die meisten Leute wollen natürlich reizendere und köstlichere Genüsse, wollen das Gefühl des Schwelgens auskosten, wenn sie bei Kempinski sitzen. Die Zeiten sind schlecht, gewiß, aber es kommen immer noch Ausländer her, auch hat es in dem nachnovemberlichen Berlin immer noch Kommunalbeamte gegeben, die sich von Großverdienern gern einladen ließen, und schließlich ist es der Berlinbesucher aus der Provinz, der solche Lokale füllt.

Kurz und gut, im Kempinski allein am Kurfürstendamm werden täglich immer noch rund 2000 Menschen verpflegt, sozusagen ein ganzes Städtchen für sich, und dazu bedarf die Küche, in den obersten beiden Stockwerken, eines Personals von 80 Köpfen, unter denen sich 30 gelernte Köche und 5 Konditoren befinden, die einem Küchenchef und einem Küchendirektor unterstehen.

Zwischen oben und unten verkehren dauernd eine Menge von Speiseaufzügen; die "warmen Fahrstühle" in dem einen Raum, die "kalten Fahrstühle" in dem andern, und von hier aus ertönt die Stentorstimme der Annonceusen, die auch in den übrigen anschließenden Küchen vernehmbar ist. In dem Aufzug kommen die Bestell-Bons der Kellner herauf. Die Annonceuse, die jede Handschrift lesen kann, trompetet, wenn sie ihre 10, 15, ja bis zu 40 Bons gegriffen hat, laut und schnell etwa:

"Eine Poularde, vier Forellen, Rumpsteak marschieren dreie, ein Fricassé, zwei Fasan, eine Artischocke, zwei Poulet roti einzeln, ein Rotkohl Beilage zum Rehrücken, zwei Königinpasteten, Filetbeefsteak marschieren fünf, eine Schnepfe, zwei Rheinsalm!"

Wie die Schießhunde passen die Köche in den verschiedenen saalartig großen und gegeneinander offenen Räumen auf. Jeder hat vor seinem Herd eine Tageskarte, auf der seine Speisen, die er herstellt, verzeichnet sind. Diese sechs oder acht oder zehn Gerichte hat er sich gemerkt, ertönt eines davon aus dem Ruf der Annonceuse, so greift er zu, für alles andere, was ihn nichts angeht, hat er kein Gehör.

Fleisch oder Fisch ist koch- oder bratbereit hergerichtet oder gar schon, wo es angeht, fertig, die verschiedenen Tunken stehen in Reihen in kochend heißem Wasserbade, Gemüse und Kartoffeln sind auf Armlänge erreichbar. Klipp, klapp, klipp, das silberne Tablett wird gefüllt und geht zur Annonceuse, die einen Abschnitt des Bestell-Bons mit der Nummer des Kellners auf den Rand der Schüssel pappt und sie dem Fahrstuhl anvertrauen läßt.

Ähnlich geht es bei den kalten Fahrstühlen zu, wo von der Schwedenplatte bis zum beleuchteten Eissockel alles zu haben ist, was den Gaumen letzt und das Auge erfreut, und alles geht mit einer militärischen Präzision und Schnelligkeit sozusagen am laufenden Bande (das Personal löst sich in zwei "Brigaden" von 9 bis 16½ und von 16½ bis 1 Uhr ab), daß man über die Leistung baß erstaunt ist und sich gelobt, nie mehr sagen zu wollen:

"He, Herr Ober, die Kuh für mein Sahnegulasch wird wohl erst gemolken?"

Übrigens ich persönlich bin in einer Gastwirtschaft noch nie ungeduldig geworden. Am Krakeel erkennt man nur den nervös Erkrankten oder den Emporkömmling.

Sowieso haben es die Wirte und ihre Angestellten gar nicht leicht. Die ewigen Beschwerden! Während ich oben neben der Annonceuse stehe, kommt gerade eine Portion Brüsseler Chicorée in Bratbutter zurück, die ein unverständiger Gast abgewiesen hat, weil sie - bitter schmecke. Aber das ist doch das Wesen dieser Speise! Dann könnte man ja auch den Matjeshering ablehnen, weil er salzig sei.

So, nun habe ich mich an Lärm und Arbeitseifer und das ganze eilige Exerzieren gewöhnt. Jetzt kann ich mich in Ruhe umsehen. Da ist der Kessel für Fleischbrühe, faßt 200 Liter, da der Kessel für den Fond aller Saucen, da der für Hummern, da der für Pökelfleisch, da sind die Rieseneisschränke für Halbgefrorenes, da die Kaffeeküche, die Salatküche, da rauscht es in den Tellerwaschmaschinen, da werden in drei Schichten - vormittags, nachmittags, nachts - in dem einen Raum ständig kupferne Kochkessel gereinigt, da ist die Fleischerei, da ist die Konditorei, da liegen die Semmeln - und die Spezialität, die dunkeln Berliner "Schusterjungen" - zu Hauf, die aus der Backzentrale in der Liegnitzer Straße kommen.

Der Konsum ist gegen früher natürlich stark zurückgegangen. Und die Gäste werden immer anspruchsvoller. Wenn 20 Leute ein Stück Karpfen bestellen, verlangen 15 von ihnen Mitte, nicht Kopf oder Schwanz, und wenn 20 Gans haben wollen, erklären 15: aber nur Brust. Am besten ist das Geschäft seit jeher in der Weihnachtswoche, vom 25.Dezember bis zum 1.Januar. Da sind diesmal von den Tausenden der Kempinski-Gäste am Kurfürstendamm 30 Zentner Hummer und 45 000 Austern verzehrt worden.

Da läuft einem wirklich das Wasser im Munde zusammen . . .
21. Januar 1932 (Donnerstag)


21

Kaisers Geburtstag - Bloß nicht verkalken - Unsere Schuld von 1918 - Professor Langhorst und Frau - Porträtsitzung - Der deutsche Jackie Coogan - Berliner Kutscher-Humor.

"Gott segne den König, Gott helfe unserem armen Volk!"

Nur dieser eine Satz nach dem Tischgebet, ehe wir uns zum Mittagbrot setzen; dann trinkt jeder still einen Schluck deutschen Weines auf das Geburtstagskind, den Kaiser, und gelobt innerlich erneut sich ihm und Deutschland in Treuen an.

Wir sind daheim keine Freunde von langen Reden. Der ganz kurze Trinkspruch ist schon ein kräftiger Akkordgriff in die Saiten. Wir sind diesmal auch nirgends hingegangen, wo wir stundenlange Ansprachen, inhaltlich natürlich ganz in unserem Sinne, hätten hören können. Irgend etwas stößt uns zurück. Von Jahr zu Jahr stärker. Nämlich das fratzenhafte, das mumifizierte, das seelenlose, das von Verkalkten feierlich mit Hofknix gegrüßte Potsdam, wie es etwa in dem Film "Mädchen in Uniform", freilich reichlich übertrieben, karikiert wird. Wir wissen, daß das Alte unvergleichlich viel herrlicher war als das Gegenwärtige, aber wir wissen auch um seine Mängel und Schwächen, an denen es zerbrach. Etwas ganz Neues drängt sich aus dem Mutterschoß der deutschen Nation zum Licht. Der germanische Königsgedanke wird heller denn je strahlen, aber dieses Sonnenleuchten wird nicht mehr von Schranzen und Exzellenzen in Säcke gepackt und an die Leute von Trützschler bis Ballin, von Fürstenberg bis Harnack verteilt, sondern wärmt das ganze Volk.

Ich habe einmal geschrieben: wenn das neue Reich kommt, dann wird es von Gevatter Schneider und Handschuhmacher und uns Bauernabkömmlingen geschaffen. Nicht von den früher sogenannten "Edelsten der Nation", von denen heute so viele auf den Redaktionssesseln der Ullsteins thronen. Auch nicht von den Treugebliebenen und - Unbelehrtgebliebenen unter ihnen.

Neulich bin ich auf einer Teegesellschaft mit meiner Frau. Eine königliche Hoheit ist illustrer Gast. Alte ehrenfeste Offiziere stehen herum und sind glücklich. Aber ich werde stiller und stiller. Eine Dame, eine liebe, gute, mir sonst sehr sympathische, für meine Bücher begeisterte Frau, die nur mit geschlossenen Augen wie eine Nachtwandlerin durch die letzten achtzehn Jahre gegangen zu sein scheint, sagt:

"Ja, heute haben es nur die Arbeiter gut!" Das schneidet mir wie mit einem Sägemesser durchs Herz. Und ich laufe langsam rot an wie vor einer Explosion, als sie fortfährt:

"Früher war es doch schöner. Als wir junge Mädchen waren, ritten wir morgens zwei Stunden, dann legten wir uns hin und abends konnten wir wieder tanzen. Heute müssen unsere Töchter den ganzen Tag schuften."

Laßt Euch begraben! Ihr sprengt unsere Ketten nicht!

Für uns ist Kaisers Geburtstag alljährlich ein Tag der Selbstbesinnung. Wie der Bußtag. Wir tragen hart und schwer an der lastenden Schuld unserer eigenen Schicht, der führenden von ehedem. Nicht in dem landläufigen Sinne. Auf die Frage der Revolutionsmacher, auf die höhnischen Worte: "Wo wart Ihr, in welchem Mauseloch stecktet Ihr, als wir den Kaiser entthronten?" können wir mit ruhigem Gewissen antworten: "Im Felde an der Front!"

Sonst wäre alles anders gekommen. Es wäre auch nicht zu Spa gekommen, wo der Kaiser allein das Standhalten gegen die Revolte befahl, weil sonst Deutschland den Krieg und seine Zukunft verliere, die Umgebung ihn aber unter Groeners Führung im Stich ließ und nach Holland drängte; und es wäre auch nicht zu Compiègne und Versailles gekommen. Und trotzdem sind wir schuld. Weil wir nicht im Volke standen, sondern über ihm. Und weil unsere eigenen Stammtische die Ehrfurcht vor dem Königtum verlernt hatten.

Diesmal sind zu Kaisers Geburtstag Langhorsts bei uns zu Tisch. Professor Langhorst aus der Hohenzollernstraße 3 in München, "der Maler der schönen Frauen", seit fünfundzwanzig Jahren der gesuchteste Porträtist Mitteleuropas, trotz Laßlo und anderen. Er hat es sich in den kantigen Bauernschädel gesetzt, auch mich zu konterfeien. Sage ich: "Erstens bin ich schon, und zweitens habe ich kein Geld!" Sagt er: "Macht nichts, ich tue es entweder umsonst oder Ihre Enkel können eine kleine Gebühr abstottern."

Na, denn man zu.

Professor Langhorst gehört zu den Leuten, die mit 150 Pferdestärken schaffen; der Pinsel läuft wie ein Wiesel, in zwei Sitzungen ist das Bild fertig.

"Nun die Frau Gemahlin!"

Sie will erst nicht recht. Aber nun ist das Wunderwerk schon im Entstehen. Anderthalb Stunden später stehen wir andächtig vor der erstaunlichen Tatsache, daß der Maler jede, aber auch jede uns selber verborgene Schönheit aus diesem Kopf herausgeholt hat. Und ich kann nicht anders, ich sage ganz demütig zu meiner Frau:

"Nun tut es Dir wohl leid, daß Du mich geheiratet hast?"

Professor Langhorst - o Du Seele von Mensch, o Du treuer Royalist, o Du glühender Nationaler, wie liebe ich Dich - ist seit August vorigen Jahres nicht mehr daheim in München gewesen. Er hat ein Auto aus Vorkriegszeit, das schon über eine Million Kilometer gemacht hat, mit dem fährt er von Auftrag zu Auftrag. Einmal muß er nach Bielefeld zu Herrn Oetker, dem Backpulvermann, um in dessen Familie zu malen. Drei Tage später hat er 40 Porträtaufträge aus Bielefeld und Umgebung, muß er mehrere Wochen dableiben. Neben ihm im Auto aber sitzt immer seine süße kleine Frau. Die beiden Söhne sind gefallen, der eine in Frankreich, der andere in Kamerun, nun hat er nur noch sie, und sie ist seine rechte Hand und bei jeder Arbeit dabei, sie drückt ihm die Farben auf die Palette, sie hilft ihm die Blendrahmen spannen, sie wäscht ihm die Pinsel, sie schreibt seine Briefe, sie schneidet ihm die Haare und rasiert ihn. So kann er ganz erdentrückt nur malen.

Friedel heißt dieses von ihm unzertrennliche elbische Wesen, aber wir nennen sie immer Luise Henriette, weil sie so sehr der Gemahlin des Großen Kurfürsten, Luise Henriette von Oranien, gleicht, auch mit den Ringellocken zu beiden Seiten des rosigen Gesichtchens wie die genaue Kopie eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert. Und während die kleine Frau hantiert, sagt sie zum Professor:

"Du, Tüncher, heute müssen wir mal Ehre einlegen!"

Da fliegt ein warmer Blick des Mannes zu ihr hinüber.

Tüncher, ja, so sagte einst der verstorbene Großherzog von Oldenburg, der Langhorst entdeckt hat. Dieser tünchte damals wirklich. War, ein kerniger westfälischer Bauernenkel, einer unter 11 Geschwistern, Anstreichergeselle geworden. Anfangs der neunziger Jahre. Strich die Elbbrücke in Hamburg an und pinselte Ladenschilder in Eutin. Nebenbei aber verfertigte er für eine große Firma Kreideporträts nach Photographien. Um 10 Mark das Stück. Hatte einer Orden auf der Brust, die mehr Arbeit machten, so gab es 11 Mark. Trug aber einer einen Vollbart, der viel verdeckte und Arbeit ersparte, so betrug die Taxe nur 9 Mark.

Daraufhin gründete Langhorst, noch keine zwanzig Jahre alt, seinen eigenen Hausstand mit seiner damaligen ersten Frau und hatte schon zwei kleine Kinder, als der Großherzog einmal ein Bild von ihm sah und den jungen Mann zu sich kommen ließ. Er schenkte ihm 300 Mark, eine Gräfin Plessen gab 400 Mark, mit diesem Gelde siedelten Langhorsts nach München über, wo Lenbach den Hochtalentierten mit offenen Armen empfing, und es ging nun fröhlich zur Malerakademie.

Ein paar Jahre später war Langhorst schon im steilen Aufstieg. Wen hat er nicht alles gemalt! Enrico Caruso, Frau v.Bethmann-Hollweg, den Grafen Posadowsky, die Kronprinzessin, den Senator Possehl-Lübeck, den Kommerzienrat Kannengießer, die Prinzessin Feodora von Schleswig-Holstein, Daisy Freiin von Freyberg, Gustav Frenssen, Ellen v.Siemens, den Bankpräsidenten Bradshaw in Kentucky, sämtliche preußischen Prinzen abgesehen allein von August Wilhelm, die Kinder des Herzogs von Connaught, Börries v.Münchhausen, Dr. Karl Peters, den Admiral Grafen v.Platen-Hallermund, Jesko v.Puttkamer, den Kommerzienrat Naether, den Prinzregenten Luitpold, um nur einige Namen zu nennen.

Als es der Welt noch gut ging, wurden Professor Langhorsts Bilder mit Gold aufgewogen. Caruso war ein glänzender Kunde. Der gab ihm 10 000 Mark Honorar und schenkte ihm dann noch, überglücklich gemacht durch das sprechende und durchgeistigte Porträt, seinen eigenen kostbaren Spazierstock aus Geigenholz mit goldener Krücke, darauf die Gravierung: "Enrico Caruso al caro Professore Langhorst."

Heute sind das natürlich versunkene Zeiten. Langhorst macht mitunter so billige Preise wie ein menschenfreundlicher Arzt, wenn ein Kopf ihn künstlerisch reizt; auch für den bescheidenen Mittelstand, wie wir es sind, wird bis dahin Unerreichtes damit greifbar.

Natürlich geht auch die Kunst nach Brot. Heute mehr denn je. Denn die großen Maecene, die Fürsten, sind enteignet. Die brachten früher das Geld unter die Leute. Der Herzog von Altenburg ist ganz verarmt. Der Kaiser, über dessen Besitz immer noch phantastische Lügen umlaufen, hat in vornehmster Art 87 Prozent seines Vermögens dem Staate angeboten und schließlich einen sogar noch ungünstigeren Vergleich geschlossen. Die Meininger können kein Theater, die Wittelsbacher keinen Maler mehr unterstützen. Das ist jetzt alles bureaukratisch geregelt, dafür haben wir ja den Reichskunstwart Redslob, nur freilich kein Geld.

Eine Viertelmillion Mark hat man noch für den Sarkophag des Unbekannten Soldaten, für den Umbau der Neuen Wache Unter den Linden hergegeben. So wie das Ding da jetzt steht, hätte ich keine tausend Mark dafür bewilligt, wenn ich Parlamentarier wäre.

Jetzt winkt eine neue Hoffnung. Die Ausschreibung für das Reichsehrenmal im Hain von Berka bei Weimar ist hinausgegangen. Nicht weniger als rund 2000 Bildhauer haben sich die Bedingungen kommen lassen. Sie hungern fast alle. Und sie fiebern dem 1.Februar entgegen, an dem die Jury ihre Prüfung beginnt.

Wo die Kunst noch verdient? Einstweilen natürlich noch im Film.

Er ist zum Goldrausch schon unserer jüngsten Jugend geworden. Die Kinder äugen nach ihm. Für Tausende von Eltern ist er das winkende Dorado. Aber auch hier haben wir Überproduktion und Unterkonsum, wozu in Deutschland noch die sehr scharfen Bestimmungen gegen die Verwendung von Kindern in Rampenlicht und Scheinwerfer kommen. Ein so entzückendes Kerlchen wie Dietrich Henkels hat dreijährig im "Tagebuch einer Verlorenen" und im "Spion des Kaisers" mitgespielt, und Alexandra Nadler, fast schon ein lieber Backfisch, in "Melodie des Herzens" und "Ich glaub' nie mehr an eine Frau".

Nun ist Wolfgang Lohmeyer, der frische Quartaner, ein Enkel des Dichters Julius Lohmeyer, in Berlin seit der Uraufführung der "Nachtkolonne" in aller Munde. Es ist ein elender sentimentaler Schmarren, in dem Oskar Homolka einen Verbrecher spielt, dessen besseres Ich durch ein Kind wieder erweckt wird. Wir kommen wieder in die verlogenen Zeiten hinein, wo man das Böse aus der Welt eskamotierte, wo der edle Räuber, der wohltätige Dieb, die moralische Dirne, der empfindsame Mörder die dumme Menschheit zu Tränen rührt. Fast alles in dem Schmarren ist unwahr und schief, nur dieses brave Bengelchen nicht, der Quartaner Wolfgang Lohmeyer (im Stück: Jascha Orbeliani, der kleine Geiger, das geraubte Kind), der frisch und frei, rührend und trotzig, verängstet und gütig, seine Rolle ganz kindhaft und ganz jungenhaft hinlegt.

Der ist über seine 12 Jahre schon hinaus, auch wenn er im Sommer, während der Ferien im Harz, mit der Mutti richtig hingegeben Indianer spielt und durch das dickste Gestrüpp sich ohne Rücksicht auf die guten Hosen hindurchwindet. Ich kriege einen kleinen Schrecken: der liest angeblich sogar meine Bücher! Ich streiche ihm über den Wuschelkopf.

"Junge, Junge, Du siehst mich heute zum ersten Male, aber Du hast mich schon mal karikiert!"

"Was, ich?"

"Jawohl, mein Lieber!"

"Wieso denn?"

Nun holt der Vater, Dr.Lohmeyer, ein Bildchen heraus, das Rumpelstilzchen und seinen Doppelgänger, Herrn Erbsmeyer, ich glaube, aus dem Jahrgang 1928 meiner Plaudereien, darstellt. Da lacht der Junge.

"Was, sind Sie wirklich Herr . . .?"

"Jawohl, das bin ich!"

Also zeichnen tut der junge Wolfgang Lohmeyer auch. Eigentlich möchte er Theaterarchitekt werden. Er entwirft Vorhallen zu Kinos, Foyervasen, Wandaschenbecher, Rückenlehnen von Klappsitzen, Deckenornamente, alles, alles. Allwöchentlich am Freitag - mehr als eine Stunde täglich braucht er sich mit Schularbeiten nicht abzugeben - gibt er, für den Familiengebrauch, die "Kamera" heraus, eine von ihm selbst auf der Schreibmaschine getippte Wochenschrift mit eigenen Kritiken über die Filmpremièren, Kritiken, die keine große Offenbarung sind, aber auch keine gespreizte Äfferei, sondern eben, schlicht herausgesagt, die Urteile eines Zwölfjährigen.

Ist das ein sogenanntes Wunderkind?

Er selbst sagt: "Ich bin kein Wunderkind, ich bin kein Musterknabe, ich bin ein Junge, wie alle anderen auch!"

Die Schulkameraden sagten nach der Uraufführung von "Nachtkolonne" (er hat schon vorher in Paris mehrmals bei der Paramount gefilmt, hat auch im Rosetheater und bei Reinhardt auf der Sprechbühne gespielt): "Na, nu biste wohl stolz?", worauf er, kühl und sachlich wie immer, erwiderte: "Quatsch, worauf denn?", und damit war die Sache zu den Akten gelegt. Er lebt zwei Leben. In die Schule gehört sein Filmberuf nicht. Und wenn er zur Reitstunde geht, will er nicht in Gamaschen über die Straße; das falle auf.

Dieser Junge, den man den deutschen Jackie Coogan nennt, ist ein natürliches und gesundes Produkt seiner begabten Familie. Der Urgroßvater, der Apotheker Lohmeyer, hatte für seine Kinder ein Puppentheater gebastelt, das sich vererbt hat. Damit spielt Klein-Wolfgang seit seinem 6. Lebensjahr, dafür macht er sich immer neue Figuren und Dekorationen. Und redet mit drei verschiedenen Stimmen, wenn er ein - meist selbstgedichtetes - Stück aufführt. Ich habe Gedichte und Geschichten von ihm da, die alle Ausdruck seines Fabulierdranges sind. Und das hat er schon mit 9 Jahren gemacht, als er den größten Eindruck seines Lebens hinter sich hatte, eine Aufführung von Thea v.Harbous Nibelungen.

Halt, ich muß weg, Lohmeyers wohnen ganz draußen, in der Sigmaringer Straße im Westen, ich habe aber im Norden noch zu tun. Es ist spät geworden. An der nächsten Ecke frage ich einen richtigen behäbigen Autokutscher, einen Berliner von der alten Sorte, wie lange er wohl bis zum Stettiner Bahnhof brauche. Und er sagt:

"Det kommt janz druff an, wie schnell Se bei mir rinklettern!"
28. Januar 1932 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts