"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 25 - 27
19. Februar bis 5. März 1931


25

Vom Fastnachtsdienstag - Es schriftstellert im Hause - Schlechte Zensuren - Auf der Stellensuche - Herr Brabant - Auktionen - Prinz Friedrich Leopold - Die Uhr des Alten Fritz - Gefesselte Justiz - Am Rande der Zivilisation.

Nun gerade nicht. Wer draußen im Reiche erfahren will, wie die Berliner ihre Fastnacht gefeiert haben, kann es an dieser Stelle nicht lesen. In Berlin ist von Silvester bis Palmsonntag Fastnacht, wenigstens für einen Teil der Bevölkerung, zum Aussuchen; jedermann hat doch "seinen" Verein - oder drei oder vier - und jeder Verein hat irgendwann zwischen Silvester und Palmsonntag seinen Mummenschanz. Ein anderer Teil der Bevölkerung hat aber dauernd Aschermittwoch. Jedenfalls hat niemand sich besonders auf den Fastnachtsdienstag kapriziert, der stiller war denn je. Also wir sind auch zu Hause geblieben. Zum ersten Male seit Menschengedenken gab es auch weder Berliner Pfannkuchen noch rheinische Muzemandeln. Es geht auch so.

Fällt ein Ausgang fort, den man sonst beruflich immer gemacht hat, so hat man Zeit, sich einmal zu Hause umzusehen. Und da tagt es plötzlich fürchterlich: ich habe Konkurrenz bekommen! In anderen Häusern spukt es. Bei uns schriftstellert es.

Unsere seit vorigem Sommer Neue macht Aufsätze . . .

An ihrem Geburtstag hatte sie zahlreichen Besuch, wir stifteten eine gute Flasche Rotwein zum Kuchen, ich setzte mich in dem Küchenerker dazu und unterhielt mich eine Weile mit Marthas Gästen. Darunter war auch ein Schulmädel, das sehr häufig bei Martha auftaucht. Warum? Weil die so schöne Aufsätze machen kann! Das wäre gelacht, wenn es nicht so wäre, was? Überhaupt, wo man bei Schriftstellers Hausgehilfin ist. Für den Aufsatz "Winterfreuden" hat es vorige Woche sogar eine Nr. 2 gegeben; der Lehrer ist erstaunt, wie gut seit einiger Zeit das kleine Schulmädchen schreibt.

Ich platze vor Neid über die Konkurrenz. Die kann mehr als ich. Wenn ich jemand beim Aufsatz helfe, ist es allemal ein Hereinfall.

Im Kriege ritt ich mal von der Front nach hinten zum Stabsquartier des Korps. Da fand ich eine junge "höhere Tochter", die eine Oberklasse der deutschen Auslandsschule besuchte und zu dem ihr gestellten Thema "Die nationale Bedeutung des Theaters" nichts Rechtes zu sagen wußte. Her damit! Das war so recht was für mich. Also ehe ich gegen Abend wieder zurückritt, baute ich dem Mädchen einen fabelhaften Aufsatz. Nach einer Woche wurde er zensiert:

"Einleitung zu weit hergeholt. Es fehlt dem Hauptteil die Gliederung. Im Ganzen mittelmäßig."

Aber vielleicht war dies ein Ansporn für mich zur Besserung. Der Mann, der bei mir römisch I und II und arabisch 1, 2, 3 oder groß A und B und klein a, b, c vermißte, ist jetzt Studienrat an einem norddeutschen Gymnasium. Er hat neulich von einem Bekannten die gesammelte Auslese aus meiner Lebensarbeit, das Buch "Politisches, Militärisches, Weltanschauung", bekommen, Da habe ich nicht schlecht gezittert. Aber, Gott sei Dank, diesmal lautete das Urteil: "Hm, hm, inhaltlich ganz beachtlich und stilistisch nicht übel". Dabei fehlt doch auch da in jedem Aufsatz und in jeder Plauderei wie immer die Gliederung mit römisch I und II und arabisch 1, 2, 3 oder mit groß A und B und klein a, b, c.

Viel Größeren ist es schlimmer gegangen. Henrik Ibsen ist wegen mangelhafter Allgemeinbildung zweimal durch Abiturium gerasselt. Adolph Menzel wurde wegen völliger Talentlosigkeit in die Malschule der Akademie nicht aufgenommen. Das ist für uns alle ein Trost.

Besonders heute, wo Konkurrenzkampf und Examenauslese so hart sind, in Berlin sich Laufburschen mit Einjährigen-Zeugnis anbieten und Ammen auf ihre englischen Sprachkenntnisse verweisen. Ein Sohn eines Generalobersten versucht es mit meiner Hilfe, bisher vergeblich, zu irgend einer bezahlten Tätigkeit zu kommen. Eine junge, äußerlich und innerlich gut blonde Gewerbelehrerin für Kleideranfertigen, Handarbeit, Kunstgewerbe, die seit Jahren wie ein Kind im Hause bei uns verkehrt, hat trotz glänzender Zeugnisse zum 1. April bisher nichts gefunden. Seit Anfang Januar sind 109 Bitten um Vermittlung irgend einer Stellung von verschiedenen Lesern aus dem Reiche an mich gelangt. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht irgend eine Familie ein "Wertstück" mir zur Verkaufsempfehlung anbetet oder gar, leider, ins Haus schickt, obwohl ich doch kein Musterlagerhalter bin und nichts verkaufen kann. Wenn in diese Verhältnisse ein Ausländer hineinsähe, dann wäre er besser über unsere Lage unterrichtet als durch die ständige Versicherung unserer Regierung, daß wir selbstverständlich die Tribute zahlen wollten und würden.

An dem großen Ausverkauf beteiligen sich jetzt auch die ehedem regierenden Häuser.

Vom Welfenschatz ist es wieder still geworden. Aber hie und da kommen andere Antiquitäten und Kunstschätze auf den Markt. Man sieht scheel dazu. Warum eigentlich? Die neuerstandenen deutschen Freistaaten haben den Fürsten fast alles genommen und wundern sich jetzt, daß die Not hüben und drüben an die Tür klopft. Der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen hat früher allein das Hoftheater in Darmstadt unterhalten. Jetzt hat es jährlich eine Million Mark Defizit, wird mir erzählt. Und wenn die roten Regierenden an den Großherzog irgend ein amtliches Schreiben zu richten haben, halten sie es für geschmackvoll, die Aufschrift zu wählen: "Herrn Ernst Ludwig Brabant". Augenblicklich hat die Welt eine neue kleine Sensation. Prinz Friedrich Leopold von Preußen soll seinen ehemaligen Sitz, das Glienicker Schloß vor Potsdam, räumen. Ist es da wirklich so erstaunlich, daß er den Inhalt der über 50 Zimmer versteigern läßt? Nur darüber kann man freilich verschiedener Ansicht sein, ob auch die paar Andenken etwa an Friedrich den Großen - sie sind das große Lockmittel - in die Masse mußten.

Drei wahre Prachtsmenschen von Söhnen hatte der Prinz; das ist sein größtes Verdienst um Preußen-Deutschland. Der eine, Friedrich Karl, ist bekanntlich als Fliegeroffizier an der Westfront gefallen; und Friedrich Sigismund stürzte im friedlichen Wettkampf um Deutschlands Ehre zu Tode.

Prinz Friedrich Leopold selbst ist jetzt nur noch ein alter böser Mann, der in Lugano in der Schweiz seinen Lebensabend verbringt.

Vor vierzig Jahren war er Major und Chef der Leibeskadron des Regiments Garde du Corps. Der Kommandeur, Oberst Frhr. v.Bissing, pfiff ihn vor der Front an, er habe keine Ahnung vom neuen Exerzierreglement, er solle sich wegscheren. So war es im alten Deutschland. Kein Ansehen der Person. Prinz Friedrich Leopold beschwerte sich spornstreichs beim allerhöchsten Kriegsherrn. Wie aber nun jeder Musketier bestraft wurde, der nicht den militärischen Dienstweg innehielt, so auch der Prinz. Er wurde strafversetzt. Seitdem war ihm jede Gelegenheit recht, wo er seinen Vetter und Schwager Wilhelm II. ärgern konnte. Den stärksten und doch dümmsten Trumpf spielte er am 9. November 1918 aus, wo er, ohne irgendwie dazu gezwungen zu sein, die rote Fahne auf Schloß Glienicke hissen ließ.

Dazu jetzt die Auktion. Es ist nichts dagegen zu sagen, daß die Möbel ausverkauft werden, die, abgesehen von einigen aus Schinkels Meisterhand, nicht allzu viel wert und zum Teil schon gebrechlich oder beschädigt sind. Erst recht nichts gegen das Fortgeben der vielen, fast durchweg mäßigen Bilder, unter denen sich die aus deutschen Spießbürgerhaushalten um 1880 bekannten Öldrucke (!) mit den Titeln "Romeo und Julia", "Kahnfahrt", "Faust und Gretchen" und ähnlicher Pofel befinden. Ein altes Originalporträt des Großen Kurfürst hätte ich, besäße ich das Geld dazu, wohl gerne selbst erworben.

Aber nun der Skandal: die Uhr, die Uhr! Die Taschenuhr Friedrichs des Großen, die er im ganzen Siebenjährigen Kriege bei sich getragen hat, die ihm an dem entscheidungsschweren Abend vor Leuthen und in der schlaflosen Nacht von Torgau getickt hat.

Ich halte sie in der Hand. Es ist eine "Bolle", wie der Berliner früher die Taschenuhren nannte, also eine Zwiebel, nicht flach wie heute, sondern fast halbkugelig. Auf der gewölbten Rückseite dieser silbernen Uhr sind alle nachfolgenden Besitzer (zunächst hatte der Alte Fritz sie seinem Vorleser geschenkt) bis 1813 eingraviert. Was der Taxpreis betrage, frage ich den livrierten Diener. "1200 Mark!" Schauerlich; dafür wird sie also irgend ein Franzose oder Amerikaner kriegen.

Aber es kommt anders.

Am Mittwoch wird die Uhr ausgeboten. Die Uhr, die der Auktionator Joseph auf 1200 Mark schätzt. Hunderte von Augenpaaren hängen daran und fiebern. Es wird einen Augenblick ganz still. Außer dem üblichen Händlervolk und den üblichen Brautpaaren, die billig eine Einrichtung erstehen möchten, ist viel gute Gesellschaft aus dem alten Regime da. Wer bietet? Eine Stimme, klar und fest, ertönt:

"Fünftausend Mark!"

Niemand bietet mehr. Das Angebot erfolgt im Auftrage des Kaisers. Er weiß den Wert.

Händeklatschen im Saal, Bravorufen. Selbst der abgebrühte Auktionator wird rot vor innerer Bewegung.

Das schlichte Kleinod ist also gerettet. Es wandert nicht als Kuriosität ins Ausland. Im deutschen Inlande aber dürfte natürlich kein Museum dafür etwas bieten. Der heutige Staat will von Friedericus Rex nichts wissen. Aus der Nationalgalerie ist alles, was an Siege des großen Königs erinnert, entfernt worden. Sogar die Reiterbilder von Ziethen und Seydlitz. Die sind in einem ungeheizten ehemaligen Stall in Potsdam abgestellt.

Es ist ja auch ganz gleichgültig, nicht wahr, was unser Staat früher geleistet hat. Hauptsache, daß er jetzt etwas für die Derzeitigen leistet. Für das "Rankommen" der Lebenden und für den Ruhm der Toten. Die 120 000 Mark für das Stresemann-Denkmal in Mainz sind für uns ja nur eine Kleinigkeit. Und die Lebenden werden nach dem Motto behandelt: "Und wer den Papst zum Vetter hat, kann Kardinal wohl werden." Der Schwager des Justizministers, des Zentrumsabgeordneten Schmidt, ist mit 35 Jahren Landgerichtsdirektor geworden. Der Abgeordnete Deerberg, Senatspräsident am Kammergericht, hat auch wohl ähnliches gedacht, als er sich der roten Preußenregierung dazu zur Verfügung stellte, im Lager Hugenbergs ihr heimlicher Verbindungsmann zu sein. Aber da ist die Bombe geplatzt. Im Gefolge der viel größeren Explosion, die das Buch Zarnows "Gefesselte Justiz" schon angerichtet hat und noch anrichten wird.

Die marxistische Herrschaft kommt ins Schwanken. Oft spreche ich darüber mit Auslandsdeutschen, die, wenn sie jahrelang nicht hier gewesen sind, am ehesten die veränderte Luft spüren. Zur Erholung lasse ich mir dann etwas von den Grenzen der Zivilisation irgendwo anders berichten. Erzählt mir so der Pater Chrysostomo vom oberen Amazonas, wo eine Klosterschule für solche Indianerkinder eingerichtet ist, die sich zivilisieren lassen wollen. Einer der braunen Buben schnäuzt sich in die Finger.

"Das macht man doch nicht so, du bist ja ein kleines Schwein!", sagt der Pater.

Und der Junge antwortet: "Weißer Mann noch mehr Schwein, schnaubt in Tuch, bewahrt Schmutz in Tasche."
19. Februar 1931 (Donnerstag)


26

Männliche Mädchen - Es gibt noch Ahnungslose - Internationale Auto-Ausstellung - Schlaf-Cabriolet und Sonnenschein-Limousine - "Ehrt Eure deutschen Meister!" - Nationalsozialistische Kunst - Falsche Propheten.

So mir nichts dir nichts fliegt die junge Elli Beinhorn von Berlin nach Portugiesisch-Westafrika, ganz mutterseelenallein am Steuer ihres Flugzeugs, sogar ohne begleitenden Monteur, und will nun quer über die Wüste Sahara wieder zurück. Da wird man wirklich kleinlaut. Wer wagt nun noch ein Wort des Spotts über das schwache Geschlecht?

Auch der brave Mann von gesichertem Einkommen, der jetzt in die Berge reist, nachdem er seinem Stammtisch augenzwinkernd versichert hat, er wolle sich "ein nettes Skihäschen" greifen, steht doch etwas verblüfft in der Weltgeschichte, wenn die jungen Mädchen nicht greifbar sind, sondern unbekümmert an ihm vorbeistieben. Sicherlich jagten selbst Wotans Walküren nicht so mit Wolkenfetzen um die Wette. Nein, diese Veränderung! Selbst unsere Ur-Omama, die schon vor dreißig Jahren nur im schwarzen Spitzenhäubchen erschien und still auf einer einsamen Landpfarre lebte, sagt jetzt, sie möchte wohl gerne noch einmal nach Berlin und möchte sich dann, man höre und staune, auch modern kleiden. Und dabei habe ich noch die Zeiten erlebt, wo die Damen ohne männliche Hilfe nicht imstande waren, im Kursbuch richtig einen Zug nachzuschlagen. Heute können sie es im Handumdrehen. Oder sie telefonieren einfach die Auskunft auf dem Bahnhof an. Oder sie benutzen überhaupt nicht die Eisenbahn, sondern setzen sich an den Volant in ihrem Auto und brausen auf und davon.

Aber manchmal ist es doch zu schön, wenn man noch auf eine Ahnungslose trifft. Es kann entzückend sein. Natürlich habe ich auch die Internationale Automobilausstellung, die in diesen Tagen in Berlin einen ungeheuren Zulauf hat, nicht mit einer Kennerin besucht, denn das wäre doch zu nüchtern gewesen; sondern mit einer, die da weiß, wie gut sie der fragende große Augenaufschlag kleidet. Dann plaudert es sich hübsch, sogar über Technik. Eine Weile will die junge Frau auch wirklich alles erklärt haben, bleibt sogar vor der Bremse eines nackten Fahrgestells interessiert stehen. Überhaupt sämtliche vorhandenen Dinge möchte sie, aber bequem, bitte, ganz gemeinverständlich, sich erläutern lassen. Ich frage sie, ob sie wisse, was ein Differential sei, und erhalte die Antwort:

"Och, das ist so was aus der höheren Mathematik, Differential, jawohl, das gibt es in Oberprima, aber da war ich schon verlobt!"

Was soll man da sagen?

Am liebsten sagte ich: "Gnädige Frau, Sie sind zum Küssen!", aber ich werde mich hüten. Nur nicht altmodisch werden. Außerdem ist das Interesse an der Technik doch nach einer halben Stunde schon völlig erlahmt. Mit Mühe und Not bringe ich bei zwei Kleinwagen, einem eines sächsischen, einem eines pommerschen Werkes, noch etwas über Vorderradantrieb an. Meine Begleiterin fächelt ab. Nein, nein; aber das allerdings, sagt sie, sei ganz fabelhaft, daß dieser Gedanke, 1928 zum erstenmal als Versuch vorgeführt, jetzt im Serienbau praktisch geworden, im Jahre 1900 dem Kopfe eines einfachen preußischen Leutnants entsprang, der aus militärischen Gründen alsbald auch den alten Feldmarschall Grafen Haeseler damit aufsuchte und gewann.

Nach abermals drei Jahrzehnten werden wir vielleicht überhaupt nur noch Autos mit Vorderradantrieb kennen, also mit Zug von vorn, statt mit Druck von hinten. Dann fährt man sich nicht mehr in jedem kleinen Graben so fest und kommt sogar noch über nasses Geröll gut vorwärts. Schön. Aber alles das will die liebe Gnädige nicht mehr wissen. In Polster will sie sich kuscheln, die beste Folie für das eigene Persönchen will sie erproben, also liegt sie schon in einem Schlaf-Cabriolet ("Wie schön und behaglich ist das, wenn man so liegt und liest, und Männi steuert derweil durch Nacht und Wind!") oder sitzt in einer Sonnenschein-Limousine. Ja, das wäre das Richtige! Mit einem Handgriff das Dach des Luxuswagens aufrollen! Und dann in Sonne und Weite!

Der Geschmack der jungen Frau ist wirklich nicht übel, nur kostet freilich dieser hundertfünfzigpferdige Maybach-Wagen, das Köstlichste vom Köstlichen, das stattliche Sümmchen von 34 000 Mark.

Es ist gut, daß es auch so etwas bei uns gibt. Eine am Alkoholschmuggel reich gewordene Amerikanerin läßt sich - unsere Bilderblätter berichteten vom Stapellauf - in Deutschland ein kostbares Motorschiff von 5000 Tons für "feuchte" Vergnügungsreisen in Küstennähe bauen. So komfortabel, das weiß sie, bekäme sie es nirgendwo anders; und Hunderte von deutschen Arbeiterfamilien und so und so viele Handwerker, Techniker, Ingenieure haben von diesem 20-Millionen-Objekt Brot. Vielleicht sprechen sich auch unsere Mercedes und Maybach in der Welt der Reichen so herum.

Auch in mittleren und kleinen Wagen für den allgemeinen Gebrauch können wir den fremden Wettbewerb gut bestehen. Es ist nicht nötig, daß noch immer jedes zehnte Personenauto in Deutschland aus dem Auslande stammt, von Fords Blechkästen angefangen bis zu dem großen Rolls-Royce.

Ein allgemeiner Boykott aller fremden Erzeugnisse ist unsinnig, aber man sollte nichts aus dem Auslande beziehen, was man in der Heimat ebenso gut bekommen kann. Schon die Käufer dänischer Butter möchte ich so lange rütteln und schütteln, bis sie einsehen, daß deutsche Kühe genau dasselbe Milchprodukt ergeben. Bei unseren Automobilisten wird sich hoffentlich auch bald Richard Wagners Mahnung durchringen: "Ehrt Eure deutschen Meister!"; die jetzige Internationale Ausstellung mit ihrem guten Abschneiden deutscher Maschinen hat vielen Besuchern die Augen geöffnet.

Ob diese deutschen Meister Techniker oder Gelehrte, Bauern oder Künstler sind, das verändert unsere grundsätzliche Einstellung nicht. Auf dem Gebiete der Kunst ist die Fremdtümelei vielleicht am ärgsten. Und immer wieder wird uns entgegengehalten: "Die Kunst ist doch international!" Ihre technischen Ausdrucksmittel in Form, Farbe, Ton sind es natürlich, aber das Werk selbst entsteht aus dem Blut des Menschen. Niemals wären die alten griechischen Bildhauer auf das verfallen, was man heute Negerplastik nennt. Niemals kann umgekehrt ein Orientale auch nur entfernt Verwandtes mit den Schöpfungen Dürers oder Menzels hervorbringen. Die Kunst war und ist zu allen Zeiten rassisch bestimmt schon im Keim. Nur flutet sie über die Grenzen mit oft falschem Paß. Anton Rubinstein ist kein Russe, Pierre Renoir kein Franzose, Max Liebermann kein Deutscher, Gabriele d'Annunzio kein Italiener, Georg Brandes-Cohen kein Däne. Die Familien aller dieser Leute sind irgend wann einmal zugewandert und sind nicht blutmäßig in der neuen Heimat aufgegangen; und was diese Leute und tausend andere ihres Schlages schaffen oder, häufiger noch, nachempfinden, kann nicht als "national" verbucht werden, ist vielfach sogar eine bewußte Fälschung des geistig Urtümlichen der Nation.

Der Überfremdung muß man sich erwehren, zumal da sie, mit Kapital und Presse verbündet, sich oft nur unter Vergewaltigung des Heimischen durchsetzt. Solche Meinung hört man heute schon allüberall. Da aber bei uns in Deutschland das Nationale sich nicht von selbst versteht, sondern immer erst erkämpft werden muß, erkämpft gegen die internationalistische Verblödung der Masse, wird die politische Partei dafür mobil gemacht. Piscators bolschewistisches Theater hat sein Gegenstück in dem nationalsozialistischen in der Klosterstraße gefunden. Und da fast sämtliche Gemäldesalons Berlins in Händen nichtdeutscher Kunsthändler sind, wurde vor einigen Wochen im "Nazihaus" in der Hedemannstraße eine Ausstellung nationalsozialistischer Künstler eröffnet.

Das klingt absurd, aber es ist Notwehr. An sich sollte niemand nach der Parteizugehörigkeit eines Künstlers fragen. eine "national-sozialistische Kunst" kann es ebensowenig geben als katholische Mathematik oder deutschnationale Elektrotechnik; aber daß Künstler, die Nationalsozialisten sind, sich einen eigenen Markt zu schaffen suchen, ist ihr gutes Recht, besonders, wenn man sie anderswo verdrängt. Nur möchte man wünschen, daß dergleichen nicht überhand nimmt. Deutsch gegen fremd, national gegen international, das ist gut. Wenn aber - in Übergangszeiten mag es nötig sein - alles auf die Partei gestellt und jede Partei sozusagen zu einem geschlossenen Handelsstaat ausgebaut wird, so daß auch jeglicher geistige Bedarf nur bei der Partei gedeckt werden darf, dann verarmen wir innerlich.

Von den Künstlern, die sich in den letzten Jahren offen als Hitlerleute bei jeder Gelegenheit bekannt haben, ist der junge Schweitzer zum besten politischen Karikaturisten unserer Tage emporgewachsen und ist bereits "sehr gefragt" und ein guter Verdiener. Aber das wäre er nur in der eigenen Partei nicht geworden. Seinen Aufstieg haben die Deutschnationalen gemacht, in deren großen Zeitungen die Schweitzerschen politisch-satirischen Strichzeichnungen (sein Signum: das große deutsche S im Kreise) immer wieder erschienen.

Nur nicht engherzig sein. Es ist doch eine gemeinsame Bewegung. Auch alle Abgesplitterten, Abgetriebenen, Abgeschwemmten müssen noch einmal in sie münden. In der Ausstellung nun, die, wie gesagt, nur Werke von Künstlern gebracht hat, die "Parteigenossen" sind, wurde man das Gefühl der Verengerung nicht los. Gott sei Dank, das eine ist wenigstens sicher: hier stellen nur Deutsche aus. Arbeiten von dem schon früher bekannten Kurt Rothe, v.Lessingk, vom Bildhauer Kranz (er ist der Leiter des "Ringes national-sozialistischer Künstler") und anderen sind ganz annehmbar, zum Teil recht gut, nur - fehlt, da man den deutschen Generalnenner verschmäht, nur den nationalsozialistischen gelten läßt, manches wirklich Hervorragende, was von Deutschen in deutschen Landen geschaffen ist.

Die Frage lautet eben: "Sind es Parteigenossen?" Am Ende sind es, Gott sei's geklagt, bloß Stahlhelmer oder gar Deutschnationale, und dann wird natürlich aller Argwohn wach.

Die Ausstellungen sollen sich alle paar Monate wiederholen. Vielleicht wird der "Ring" inzwischen etwas weitherziger. Dann kann er deutsche Kulturarbeit leisten, die geknechtete deutsche Kunst erlösen. Auf dem bisherigen ganz engen Wege kommen wir allmählich zu parteiamtlicher Kunst genau so, wie die andere Seite uns das Parteibuch-Beamtentum beschert hat. Das endet dann in der letzten Verästelung mit der Verpflichtung, nur demokratische Briketts zu verheizen, nur volkskonservative Brötchen zu essen, nur Jungdo-Bücher zu lesen, nur in welfische Taschentücher sich zu schneuzen.

Wenn es sein muß, nun gut. Vielleicht kommen wir nicht anders durch. Aber die Kunst möchte ich nicht auf dem Prokrustesbett der Parteien sehen. Das faschistische Italien, das gewiß nicht parteipolitisch unvoreingenommen ist, hat seinem größten Dirigenten Toscanini goldene Brücken gebaut, obwohl er Antifaschist ist. Mussolini pflegt italienische Kunst, nicht faschistische; nur von d'Annunzio und anderen Nichtitalienern hat er sich losgesagt. Lenbach und Böcklin wären, lebten sie noch, heute von der Hedemannstraße ausgeschlossen. Denn sie wären eben leider nicht Parteigenossen.

Das Parteileben auf der Rechten darf sich nicht überspitzen, sonst verliert es seine augenblicklich noch wachsende Anziehungskraft auf die Massen. Hie und da wird schon der und jener schwankend. Schon haben falsche Propheten Zulauf, die da predigen: "Alle Partien ohne Ausnahme sind vom Teufel, retten kann uns allein nur Gott!" Auch das ist heute schon fast Bewegung und zugleich große Gefahr, weil es uns von der Gegenwartsarbeit um Leben und Dasein der Nation abzieht. Auch kleine Betrüger tauchen schon mit der Gott-Parole auf, die über alle Hintertreppen läuft. An der Küchentür steht eine Frau, die dem Dienstmädchen Spitzenband verkaufen will. Vergeblich. Da holt die Frau tief Atem, sieht das Mädchen mit weitgeöffneten Augen an und sagt:

"Ich komme von Gott! Wickeln Sie mir Ihren Monatslohn hier in das Taschentuch, ich gehe damit zum Kreuzberg, dort bete ich eine Stunde lang über dem Päckchen! Dann bringt das Geld Ihnen Glück!"

In diesem Falle hat Liesl, das Dienstmädchen unserer Verwandten, die Versucherin stramm abgefertigt. Aber an ungezählten Türen ist der klingende Erfolg da. Je größer die Not wird, desto mehr nimmt auch der Aberglaube in der Lichtstadt überhand. Der Prophet Weißenberg hat Hunderte von Nachfolgern, die es mit Weichkäse oder sonstwas und Handauflegen machen. Und Tausende laufen ihnen zu, die sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfinden und nur noch die eine Alternative kennen: Den Gasschlauch oder das Wunder.
26. Februar 1931 (Donnerstag)


27

Der böse Luxus - Arbeitslose zu Hauf - Die Berliner sehen so gesund aus - Der Knopf am Rundfunkgerät - Werbefilme - Weltmeisterschaft auf dem Eise - Im Blauen Vogel.

Unser Schuster, der vor zwanzig Jahren mehrere Gesellen und Lehrbuben und einen schönen Laden vor der Werkstatt hatte, hadert mit der Menschheit. Jetzt hat er nur noch seine Wohnung auf einem Hinterhof drei Treppen hoch, wo er allein um das Nichtverhungern arbeitet. Den Alltagsstiefel, nun ja, das sieht er ein, daß man den sich, wenn man normale Füße hat, nicht mehr machen läßt, sondern billig im Großgeschäft kauft. Aber warum reiten die Leute nicht mehr, für die er früher nach Maß die Langschäfter anfertigte? Und sind das noch überhaupt Damen von Welt, die in Fabrikschuhen sich Hühneraugen antanzen? Wenn man ihm sagt, daß heute doch Luxus nicht mehr statthaft sei, wird er wild. Herrgott, er wolle doch auch noch leben!

Umgekehrt fragt eine Kunstgewerblerin aus guter alter Familie, die bei einer großen Firma angestellt ist und vom Morgen bis zum Abend tüchtig sich abschuften muß, was eigentlich die Drohnen der oberen Stände sich dächten, wenn sie in dieser Zeit noch Bälle besuchten.

Erstens sind es vermutlich keine Drohnen, sondern tagsüber auch bienenfleißig, zweitens sind es nicht nur Angehörige der oberen, sondern buchstäblich aller Schichten. Und wenn sie wirklich nachdenkt, kommt meine Kunstgewerblerin sicherlich zu dem Schluß: hört man erst auf, sich Maskenkostüme oder Handtäschchen oder Halsketten zu kaufen, dann werden - Tausende von Kunstgewerblerinnen arbeitslos.

Wir haben es jetzt dank unserer irrsinnigen Politik wirklich bis auf fünf Millionen Erwerbslose gebracht. Die blanke Zahl sagt den meisten Menschen aber nicht viel. Man muß Beispiele geben, die gerade in Berlin, wo "jeder doch einen Verwandten hat" und viele Brotsuchende zusammenströmen, reichlich sich bieten. Also: eine Wohnung von zwei Stuben mit Küche, darin 14 Personen einer Familie von den Großeltern über zwei Ehepaare hinweg bis zu den Kindern, die schon allesamt aus der Schule heraus sind; und unter diesen 14 Erwerbsfähigen hat nur ein einziger Arbeit, ein Fünfzehnjähriger, der als Laufbursche etwas verdient. Alle übrigen leben von der Unterstützung, die knapp für das notwendigste Essen reicht. Kleider und Wäsche zerfallen.

Wenn dann solch ein Schäbiger, Ausgemergelter, Blasser sich um eine Stellung bemüht, erweckt sein Aussehen nicht viel Vertrauen. Ist ein Almosenjahr herum, dann sagt er sich, nun sei er endgültig unter die Räder geraten.

Aber merkwürdig: in Berlin sieht man gar nicht auffallend viel Schäbige, Ausgemergelte, Blasse, auch beim Stempeln auf den Arbeistlosenämtern nicht. Man ist erstaunt über die vielen, wie es heißt, gesund geröteten oder sogar gebräunten Gesichter. Dabei sind es nicht etwa Leute, die, wie Philipp Scheidemann - eine Winterfrische im Hochgebirge, in einem Prachthotel in Arosa, hinter sich haben.

Auf der Treppe seines Verwaltungsgebäudes treffe ich einen von der Arbeit abgehetzten Generaldirektor, der nicht einmal so viel Zeit hat, sich täglich auch nur eine halbe Stunde Spaziergang gönnen zu können.

Er hält mich an: "Seltener Gast, sehr erfreut, Tag, wie geht es?"

Ich antworte: "Ich hoffe, es geht mir so gut, wie Sie gut aussehen!"

Tatsächlich sieht er so jung und gesund aus wie vor fünfzehn Jahren, nur sind die Haare gebleicht, aber dafür machen sich die gut durchbluteten und gebräunten Wangen um so mehr bemerkbar.

"So, finden Sie? Alles nur Vorspiegelung. Dreimal wöchentlich Höhensonne. Tag, Tag, Verehrtester!"

Und schon springt er elastisch die Treppe hinunter. Da geht einem ein Licht auf, da findet man nun auf Schritt und Tritt die Bestätigung. Das kleine Bübchen auf unserem zweiten Hof, Enkelkind des Portiers, sah immer zum Erbarmen mickerig aus, ist aber jetzt seit einigen Wochen frisch und ungeheuer eßlustig. "Alle Tage Höhensonne, von der Fürsorge!", sagt die Großmutter stolz, während sie uns im Fahrstuhl in unseren vierten Stock befördert. Oder die junge Dame, die oft unser Tischgast ist, irritiert mich: ich habe etwas erzählt, sie lacht und ist dabei ganz rot, - sollte ich mich - nein, nicht möglich - im Ton vergriffen haben? Bewahre. Aber sie hat bis in die Nächte hinein arbeiten müssen, bis sie richtig käsig aussah, und da hat sie dies mit ein paar Sitzungen unter der Höhensonne wieder in Ordnung gebracht. Das machte sonst der Arzt oder die Fürsorgeschwester, aber heute hat ja schon jeder "bessere" Friseur die Höhensonne für seine Kunden dastehen, und die Hanauer Quarzlampenwerke haben sogar einen so billigen Apparat herausgebracht, daß er schon in vielen Familien sich findet, ja bei Heimarbeiterinnen; in dem Stübchen einer Schneiderin entdeckte ich ihn kürzlich neben der Nähmaschine. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, und unsere Studenten setzen am Morgen nach einem Stiftungskommers statt scharfen Katerfrühstücks zwanzig Minuten Höhensonne an. "Alles nur Vorspiegelung!", sagt mein Generaldirektor.

Nun gut; obwohl es nicht nur Vorspiegelung ist, sondern ein Stück Gesundung, Ersatz für echte Sonnenkur im Gebirge. Jedenfalls sind die Fremden baß erstaunt über das gute Aussehen der Berliner und, wenn sie Bescheid bekommen, über die große Ausnutzung aller modernen technischen Hilfsmittel durch uns Deutsche.

Das maschinelle Verschönen des Daseins wird auch an Stellen, wo man es sicher nicht erwartet hätte, zur Tatsache. Da ist neulich einer mit einem bekannten Offizier nachts durch die Kaserne einer Garnison in der Nähe von Berlin gegangen, hat die fest und friedlich in ihren eisernen Betten schlafenden Soldaten gesehen, - und fast jeder von ihnen hatte noch den Kopfhörer von der Rundfunkleitung um, war also nach hartem Dienst des Alltags mit Tanzmusik eingeschlummert.

Vielleicht auch mit eienr Rede des preußischen Ministerpräsidenten Braun. Dann um so schneller.

Zum Glück braucht man bloß auf den Knopf zu drücken, dann verstummt er. Dieser Knopf ist die schönste Erfindung des Jahrhunderts. Wenn im Lautsprecher die Stimme einer Koloratursängerin zu schrillen anfängt, sagt Vater: "Hau' sie auf die Schnauze!", und drückt Mutter auf den Knopf; aus ist's. Und dann freuen sich Vater Schulze und Mutter Schulze ihrer Macht. Aus der Stuhlreihe in einem Konzert kommt man nicht so schnell heraus. Wann springt man überhaupt herzu und bringt den Rundfunk zum Schweigen? Selbstverständlich bei der tendenziösen Zeitungswochenschau. Fast immer bei politischen Zweckreden. Wie der Rückgang der sozialdemokratischen Stimmen bei allen letzten Wahlen zeigt, hat die Rundfunkpropaganda ihrer Minister das Gegenteil der erhofften Wirkung erreicht; man ärgert sich nur. Wenn man überhaupt den Stromverbrauch dafür aufwendet. Wäre eine Statistik möglich, so würde sie wohl ergeben, daß an rund 4 Millionen Rundfunkapparaten noch keine 10 000 Hörer die Politik erdulden. Am unbegreiflichsten ist die geschäftliche Reklame durch den Rundfunk, denn die wird immer alsbald abgestoppt, nur als Störung etwa zwischen dem Schallplattenkonzert empfunden.

Die beste Werberin ist nach wie vor die Zeitung. Was man schwarz auf weiß vor sich sieht, immer wieder lesen kann, das wirkt. Der Geschäftsmann, der darauf verzichtet, begeht sozusagen Selbstmord; und in Notzeiten, wo man das Letzte aus den Kunden herauslocken muß, hat schon mancher, der sich der Zeitungsanzeige bediente, die zurückhaltende Konkurrenz bedauert.

Flüchtiger und vor zahlenmäßig geringerem Publikum und daher nicht so nachhaltig ist die Anzeige auf der Flimmerleinwand. Aber wenn sie in das Gewand eines lustigen, verblüffenden Trickfilms gekleidet ist, kann sie doch haften, besonders dann, wenn sie über alle großen und von zahlungskräftigen Leuten besuchten Uraufführungstheater etwa der Ufa in ganz Deutschland geht. Solche Werbefilme konnte man sich neulich in geladener Gesellschaft am Kurfürstendamm ansehen: für ein Antinikotinum, für ein Nahrungspräparat, für eine Autofirma, für eine Schallplattenfabrik, für einen Wäscheladen, für eine Sparkasse, für eine Bierbrauerei, entzückende Sachen darunter.

Hochinteressant als Anschauungsunterricht die Herstellung einer Schallplatte, dazu in Bild und Ton Edith Lorand, Max v.Schillings, Richard Tauber. Dem Gedächtnis unentreißbar aber, weil man immer wieder lachend daran zurückdenkt, der Werbetonfilm "Das Rätsel". Auf der Leinewand erscheint ein Conferencier, winkt, hinter der Szene ertönt etwas, und dann fragt er uns, was das sei. Jeder Kinobesucher ist eifrig dabei und rät in Gedanken mit, dabei immer falsch. Eine Nachtigall? Nein, ein Tierstimmenimitator, den wir gleich darauf sehen. Ein Xylophonkonzert? Nein, Pflasterer bei der Arbeit. Der fliegende Do X? Nein, ein paar Straßenbuben mit Holzknarren. Und nun, was ist das? Man hört aber gar nichts! Richtig; und gleich darauf sehen wir im Bilde das - "geräuschlos fahrende" Soundso-Auto.

Das Gros der Berliner (wir zählen 450 000 Arbeitslose in der Hauptstadt) muß sich natürlich mit Konservenmusik, Rundfunk, Kientopp begnügen. Zum lebendigen Konzert oder Theater langt es bei vielen, die ehedem ihr Abonnement hatten, auch einmal monatlich nicht mehr. Ebenso steht es mit sportlichen Veranstaltungen, obwohl da "die Provinz" noch eher erlahmt. Gerade lesen wir ja von dem erschütternd schwachen Besuch der Breslauer Sechs Tage. Hier wie dort die - falsche - Taktik der Unternehmer, durch erhöhte Eintrittspreise das Minus ausgleichen zu wollen.

In Berlin hat der Sportpalast seine Wintersaison mit Eishockey und mit der Austragung der Weltmeisterschaften im Kunstlaufen beendet, aber zu Eintrittspreisen, die bis 18 Mark für den Platz gingen. Für 5 Mark - etwa in der sechsten Reihe des ersten Ranges - konnte man überhaupt nichts sehen. Das nicht gerade in Scharen am ersten Tage erschienene Publikum war also überhaupt schon ergrimmt. Nun fiel außerdem programmwidrig die angekündigte Walzerkonkurrenz aus, und da war kein Halten mehr: Pfeifen, Schreien, Toben, und auf die glatte Eisbahn ein Bombardement von Papierknäueln, leeren Zigarettenschachteln, Apfelsinenschalen. Erst das außerprogrammäßige Erscheinen Sonja Henies beruhigte, denn wer vermöchte noch zu toben, wenn diese junge Sylphe - aber Achtung, Mutti sitzt wie immer in der ersten Bankreihe und paßt auf, daß keiner dem Mädel zu nahe kommt - über das Eis gleitet, schwebt, tanzt, flimmert oder wie eine Rakete daherschießt.

Kein Sport zeigt uns so wie dieser die vollendete Anmut in der Schönheit der Bewegung. Tags darauf hatte die junge Norwegerin, von einer Wienerin nicht ganz erreicht, ihre vierte Weltmeisterschaft wieder.

Mit irgendeiner anderen Darbietung kann man das gar nicht vergleichen, nur wenn man den Eindruck treffen will, kann man allenfalls sagen, man sei ähnlich ergriffen und beseligt wie bei einem Tanze Niddy Impekovens auf dem Parkett. Gewiß sind auch die Männer in dem Wettbewerb um die Kunstlauf-Weltmeisterschaft von einer fabelhaften Eleganz in der Linienführung, von einem unerhört kraftvollen Wirbel in den Pirouetten, aber sie machen da doch immer den Eindruck von - Artisten. Hinreißende Grazie ist nicht bei ihnen. Nur im Kampfspiel, nachher beim Eishockey, wo die kanadischen Weltmeister brillieren, aber auch die Berliner sich recht brav halten, ist man von ihnen begeistert. Atemlos folgt man dem blitzschnellen Getümmel. Man merkt es nicht, daß man sich derweil mit der Zigarette ein Loch in den Mantel gebrannt hat. Man merkt es nicht einmal, daß weltvergessen die schöne Fremde vom Nebenplatz einem die Hand umkrampft.

Es ist so schön, einmal, ach, einmal nur vergessen zu können . . .

Das ist es doch, was in dieser argen Zeit uns zu Schaustellungen lockt, die unsere Sinne ganz gefangen nehmen. Törichte Unternehmer im Vergnügungsgewerbe glauben immer noch, das geschehe am einfachsten, wenn man uns Zwei- oder Eindeutigkeiten vorsetze. Weit gefehlt. Wenn jetzt sogar der Kempinski-Betrieb in seiner Rheinterrasse von zwei auf Kölnisch frisierten Müller- und Schulze-Typen schmierige Witze erzählen läßt, so wendet sich der Gast mit Grausen. Aber der nach langer Pause in Berlin wieder erschienene "Blaue Vogel", in dessen farbenprächtigen, lustigen, berauschend romantischen Darbietungen kaum eine Schlüpfrigkeit unterläuft, macht volle Häuser. Wenn sein Direktor Jushnyj vor den Vorhang tritt und in demselben harten Kauderwelsch, in dem er anderswo englisch oder französisch spricht, uns auf Deutsch sagt: "Zwaj Jarre ich njicht warr gjewäsen in Bjerlinn!", dann lacht ihm schon alles entgegen. Da versinkt auch alle Politik. Nein, Jushnyj braucht nicht besorgt zu sein: wenn seine "Namenlosen", der Chor der sechs Soldaten in zeitlos stilisierter Kriegertracht, auftreten, gibt es weder Stinkbomben noch weiße Mäuse, sondern Linke und Rechte hören ergriffen der Weise vom Opfer zu; und jeder vergnügte Sketsch und jede nette Conference des Unerschöpflichen finden jubelnden Beifall.

Man kann auch ohne Dreck lustig sein. Das einzige Gewagte in dem Programm, das Liedchen "Ich kann nicht russisch" mit einer Schlafzimmer-Pointe, bringt eine Nichtrussin. Aber natürlich stammt sie auch aus dem Osten.
5. März 1931 (Donnerstag)



Glossen 22 - 24

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Glossen 28 - 30

© Karlheinz Everts