"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 28 - 30
12. bis 26. März 1931


28

Fürstenbesuche - Charlie Chaplin ist da - Regie beim Empfang - Bajazzo oder Nihilist ? - Erinnerung an Werthauer - Mady Christians in "Cocktail" - Der Hauptmann von Cöpenick.

Die Berliner haben Amanullah wie einen Filmstar und Charlie Chaplin wie einen König empfangen.

Das ist der Kritikertip, der jetzt überall ausgegeben wird. Aber nicht jede Geistreichelei ist wahr. Ich habe diesmal wie vor drei Jahren den umgekehrten Eindruck gehabt. Daß die Reichshauptstadt als "Schauplatz", diesen Ausdruck wörtlich genommen, außerordentlich an Zugkraft verloren hat, seit mit dem Kaiserreich auch die Fürstenbesuche und der militärische Prunk aufgehört haben, weiß nachgerade jeder Berliner. Das gesamte Hotelgewerbe und die Kaufleute Unter den Linden klagen offen darüber. Zweimal ist ein echter europäischer König bei Hindenburg gewesen, aber incognito. Für die Menge gab es dabei nichts zu sehen. Einen offiziellen Empfang durch die Republik hat man nur bei zwei Orientalen erlebt, bei Amanullah und Fuad, beide Male wurde "des Beifalls lang gehemmte Lust" entfesselt, und es waren jene Zehntausende auf den Beinen, die sich früher keine Kaiserparade und keinen Kronprinzessinnen-Einzug entgehen ließen.

Nur wurde natürlich verglichen; und die Schaulustigen erkannten zwar den guten Willen der Akteure an, fanden aber doch, daß wir, bildlich gesprochen, vom Theater zur Schmiere gekommen seien.

Bei Charlie Chaplins Einzug sind - das kann man in jeder Zeitung lesen - auch "ungeheure" Volksmassen erschienen. Gewiß, "Volk" war da. Es gibt genug zur Zeit Arbeitslose, die sich etwas ansehen wollen, das nichts kostet. Aber (ich muß wirklich mal aus der Schule plaudern) die "Massen" waren - bestellt. Ob durch Charlie Chaplin oder seine Gesellschaft selbst, das habe ich nicht feststellen können. Jedenfalls hatten Hunderte von Statisten und Komparsen für diesen Tag ihr Brot, da sie am Bahnhof und vor dem Hotel Adlon Volk zu mimen hatten, als spielten sie bei Reinhardt in der Orestie. Stellenweise standen sie zu dicht, so daß die Kurbler behindert waren. Es handelte sich also um keine fürstliche, sondern um eine echt filmische Sache auf Reklamekonto; das ist die ganze Wahrheit.

Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten: zu beiden Seiten von mir schleudern Statisten immer wieder den rechten Arm in die Höhe und "brechen in Hochrufe aus", wie man zu sagen pflegt. Hinter mir steht ein schlichter Arbeiter und berührt meinen Oberarm:

"'tschulljen Sie, is det nu der Scharli Schaplin, der da hinten, den se hochjehoom haam?"

"Jawohl, das ist er."

"Ach nee, ick dachte, det is 'n Plattfußindianer mit Korkzieherhosen, aber der sieht ja janz anstännig aus!"

"Jawohl, sehr anständig."

Nämlich wie auch Generaldirektoren anderer großer Gesellschaften oder wie auch andere Millionäre.

Das Volk sucht mit hungrigen Augen nach seinem vielbelachten ewigen Filmaugust, nach seinem vielgeliebten trottlig-verschmitzten und sentimentalen Landstreicher-Proleten, und es findet ihn nicht. Das, das August- und Proletspielen, ist für Chaplin der Beruf, das Geschäft. Jetzt hat Chaplin Ferien, nur daß auch die nicht ganz sans souci sind, weil er darauf aus sein muß, von sich reden zu machen. Die Zeiten, wo er wirklich war, was er seither nur spielte, wo er im Londoner Eastend, im Ghetto, als zertretenes Häufchen Unglück sich, wie er sagt, durchschummelte, liegen hinter ihm. Damals hatte er noch die große Liebe zu den Armen und zu den Kindern, den großen Haß gegen die Polizei und gegen die Emporgearbeiteten. Jetzt ist er blasiert, jetzt ist er müde - und von der Angst gequält, eines Tages zu den Vorgestrigen, zu den Vergessenen zu gehören, wenn das Publikum urplötzlich erkannt hat, daß in seinen 50 oder 60 schlenkrig-sentimentalen Filmen immer nur die gleiche Note sich wiederholt, eine große, aber einseitige Begabung zur Manier erstarrt ist.

Noch einmal hat er jetzt, nachdem er jahrelang in Sketches und Einaktern Millionen von Menschen zum Lachen bis zu Krampf und Tränen gebracht hat, in einem riesigen Großfilm auf die Chance gesetzt, ein Vermögen zu gewinnen. Das ist jedesmal mehr, als der Hauptgewinn der Staatslotterie auf ein Doppellos beträgt.

Dafür reist er nun in Europa herum, zeigt sich, tritt in Film-Wochenschauen aus dem Bahnhofsportal und läßt in den Zeitungen erzählen, daß er gestern im Armenviertel war, das ihn überall besonders interessiere, und heute beim englischen Botschafter speise, morgen aber in einem Variété eine Loge bestellt habe. Das ist die Berufslast, das ist die Verpflichtung zur Reklame, das ist der Kampf um den Kunden, um das Publikum.

Vor ein paar Jahren wurde Chaplin um ein Vorwort zu einem Chaplin-Buch gebeten. Und er schrieb:

"Nirgends. Das ist mein Land. In seinem Hafen geht das Schiff der Wünsche zu Anker. Dort sperrt kein Seil dem müden Wanderer den Abgang vom Bord der Mühsal. Dort hat die Jagd nach dem Golde ein Ende . . . Fern ist das Land. Noch stehe ich in meinen Schuhen und stütze mich auf meine Wünschelrute . . . Ich habe gehungert, gekämpft und um mich geschlagen. Bis mein Schmerz sich in Gelächter entlud. Und nun lacht alle Welt über mich und kennt mich als Clown . . . Ich habe sehr viel gearbeitet, wenn Lachenmachen eine Arbeit sein kann. Wahrscheinlich sterbe ich einmal daran. Wenn dann einige Menschen wissen, daß nicht nur ein Clown verschwand, will ich froh meine unmöglichen Schuhe ausziehen und mich leise davonschleichen. Nach nirgends."

Ist das nur Sentimentalität? Oder ist das schon Nihilismus?

Manche Leute sagen, Charlie Chaplin sei gefährlicher als die bolschewistischen Filmhersteller, denn er bringe uns unter Lachen den Haß gegen die bestehende Weltordnung bei. Das halte ich für übertrieben. Auch daß er 1917 in seinem Film "Das Gewehr - über!" (schoulder arms) das deutsche Heer unsäglich veralbert und mit Dreck beworfen hat, das hat den Weltkrieg nicht entschieden.

Natürlich belegen ihn außer den Filmdirektoren, für die er ein Geschäft ist, auch diejenigen Berliner in Beschlag, die aus Geschäftsrücksichten einen Salon unterhalten und darin Berühmtheiten vorzeigen. Dem Justizrat Werthauer aber, demselben Werthauer, von dessen Millionengeschäften in Zarnows "Gefesselter Justiz" allerlei Aufsehenerregendes berichtet wird, ist es wohl nicht ganz angenehm, was Charlie Chaplin von seinem Besuch bei Werthauer erzählt. Großes Diner bei Werthauers, wunderbares Haus in der feinsten Gegend von Berlin, ein wahrer Palazzo, in dem der berühmte Kutisker-Verteidiger wohnt. Drei Musikkapellen spielen zum Diner auf. Chaplin ist ganz benommen. "Ein geheimnisvoller Hauch liegt in der Luft, etwas Exotisches, Fremdartiges, nicht in Worte Faßbares", schreibt Chaplin in dem Berlin-Kapitel seines Buches "Hallo Europa" nach diesem ersten Besuch bei Werthauer und findet dabei die sonderbaren Worte:

"Ich weiß nicht, warum ich an die Geschichte von Rasputin denken muß. Das Haus scheint mir für solche wohlüberlegten Morde wie geschaffen."

Aber das ist eben die Schicht der heute allein noch Zahlungskräftigen, von deren Willen - bis der Umschwung kommt, und er kommt bald - vorläufig noch die Politik und von deren Geschmack vorläufig noch die Kunst abhängt. Die Bühnen in Berlin sind geschmacklich so verdorben, daß man nur selten ein Stück findet, das man Besuchern von auswärts empfehlen kann. Man kann sie immer nur fragen, welchen Darsteller oder welche Darstellerin sie sehen wollen, weil die zuweilen das Erbärmlichste noch adeln. So ist kaum etwas ordinäreres denkbar, als das nun schon die halbe Saison hindurch gespielte "Cocktail", aber wenn man Mady Christians darin erlebt, so steigt einem der Widerwille nicht mehr so zwingend hoch.

Augenblicklich überschwemmen die Zahlungskräftigen Reinhardts Deutsches Theater, weil dort Carl Zuckmayers "Hauptmann von Cöpenick" herausgekommen ist, was sie für eine vernichtende Kritik an der Monarchie und am Heere halten. (Den burlesken Helden spielt einzigartig und erschütternd Werner Kraus.) Zuckmayer, Zuckmayer? Jawohl, das ist derselbe, der den "Fröhlichen Weinberg" verfaßt hat, den andere einen "Greulichen Schweinberg" nennen. Also böser Ahnungen voll geht man in die Schumannstraße.

Aber ich muß ehrlich gestehen, ich bin angenehm enttäuscht. Nicht von dem Publikum. Das wiehert natürlich bei jeder Stelle, die sich gegen die Wehrmacht ausdeuten läßt, von solchen Leuten ausdeuten läßt, die keine Ahnung haben, weil sie immer zu den "Unabkömmlichen" gehört haben. Einige wirklich verletzende Szenen, so die des Anstaltspfarrers beim Gottesdienst im Zuchthause, sind vom Regisseur gestrichen, der Rest ist eine sehr unterhaltsame Komödie im Stile des "Biberpelz" oder von "Schluck und Jau", eine Komödie von vielen bissigen Humoren, darunter einem sehr offenen gegen - die Demokratie des Bürgermeisters von Cöpenick, jenes freisinnigen Kommunalpolitikers, der, obwohl Sommerleutnant, den als Hauptmann verkleideten Schuster und Zuchthäusler Voigt nicht durchschaut, diesen "Hauptmann", der nicht im Dienstanzug, sondern in Mütze, noch dazu mit einer fehlenden Kokarde, ankommt, dazu nicht mit Feldbinde, sondern mit Paradeschärpe, dazu mit einem fehlenden Sporn.

Das weniger zahlungskräftige Publikum, dem diese Humore baß gefallen täten, sitzt nur leider nicht auf den Parkettplätzen von 14 bis 18 Mark. Das ganze Stück ist - einschließlich des aktiven Hauptmanns v.Schlettow, einschließlich sogar des Uniformfabrikanten Wormser und des Trödlers Hirschberg - gut gesehen, die Liebe des Dichters und die Schonungslosigkeit des Satirikers sind überraschend gerecht verteilt, kurz, es ist nicht das erwartete "J'accuse!" gegen des Königs Rock, sondern nur eine etwas larmoyante Anklage gegen jenes alte System, das angeblich einem Zuchthäusler den Rückweg in die Ehrlichkeit versperrte und ihn angeblich zu neuen Verbrechen zwang.

Dafür vergießen die Zahlungskräftigen und die Salonkommunisten gern eine Zähre der Rührung, dafür riskieren sie gern eine zornige Lippe über den verruchten ehemaligen Polizeistaat. Aber Träne wie Zorn sind nicht echt. Man weiß doch, wie es war und - wie es ist.

Über den Streich des "Hauptmanns von Cöpenick", der den Bürgermeister Dr. Langerhans verhaftete und die Stadtkasse beschlagnahmte, hat seiner Zeit der Kaiser am herzlichsten gelacht. Mit dem Schuster und alten Zuchthäusler Voigt, der nur mit "ick" und "det" berlinern, nicht einmal Schriftdeutsch sprechen konnte, habe ich mich damals, als er nach Verbüßung eines Teils seiner Strafe vom Kaiser begnadigt worden war, eine Weile unterhalten. Er sah verboten aus, in Zivil wie in Uniform, war als Spießbürger etwas beschränkt, aber als Gauner wirklich ein Mensch von Mutterwitz. Als lebendige Illustration zu Oldenburgs "Ein Leutnant und zehn Mann", als lebendige Illustration der Ohnmacht und Faselhaftigkeit der Demokratie geht er durch unsere Geschichte. Seinen Epiker hat er schon längst gefunden, nun endlich auch seinen Dramatiker. Wenn der heutige Staat, dessen Autorität noch mehr als die des alten auf der Uniform, der Amtstracht, dem Gummiknüttel beruht, gegen Zuckmayers Stück nichts einzuwenden hat, haben wir es erst recht nicht nötig.

Abgesehen von allem anderen: es ist wirklich ungemein vergnüglich. Und diesen Zuckmayer könnte man, um in der Kommißsprache zu bleiben, jetzt ruhig Ruck-Zuck-Mayer nennen.
12. März 1931 (Donnerstag)


29

Es ist kirchenstill - Überall Modenschau - Auf der Kochkunst-Ausstellung - Der perfekte Ansager - Madame l'Allemagne - Kaufmann-Assers - Die Frau im Kopftuch.

Auf Reisen, in irgend einer lärmvollen Großstadt, überkommt einen manchmal die Sehnsucht nach feierlicher Einsamkeit. Da tritt man denn außerhalb der gottesdienstlichen Zeit in irgend eine Kirche. Denselben Eindruck kann man aber heute manchmal auch in einem großen Spezialgeschäft haben oder in irgend einem Versandhaus. Jedenfalls herrscht da zu Zeiten dieselbe Ruhe.

Für die Geschäftsinhaber, Etagenchefs, Verkäufer hat sie freilich etwas Beängstigendes, so etwas, wie man es als Kind empfindet, wenn man allein einen stillen dunklen Wald passieren muß. Ein Königreich für ein paar Menschenstimmen! Ein Dankgebet für ein bißchen Leben! Und so sind denn die Häuser, die irgend etwas mit Bekleidung zu tun haben, selbst wenn sie sonst auch noch Staubsauger und angestoßenes Porzellan verkaufen, auf den Gedanken der ständigen Modenschau gekommen. "Eintritt frei!" Natürlich. Aber oben gibt es Kaffee und Kuchen, und dafür muß man zwei Mark bezahlen, wenn man den Genuß haben will, die Mannequins im Pyjama, im Trotteurkostüm, im Abendkleid, in der Brautrobe zu sehen. In der Berliner Damenwelt ist es schon eine übliche Redensart geworden: "Auf welcher Modenschau treffen wir uns morgen?" Irgendwo ist sicher eine, bis zu den einfachsten herunter, wo das Allerweltskleid zu 39,50 Mark "von der Stange" in wenigen Variationen vorgeführt wird. Die ersten, die sich dabei bemerkbar machen, sind aber nicht die Besucher oder gar Käufer, sondern - die Finanzämter, die sich gleich danach erkundigen, ob es eine Modenschau mit oder ohne Musik sei, und eine Lustbarkeiststeuer von etwas erheben wollen, was doch keine Lustbarkeit, sondern nur eine Beschwichtigung der Angstgefühle ist.

"Was haben die eigentlich drunter an?", fragt manchmal ein Neugieriger, wenn die Vorführdamen in hauchzarter Gewandung vorübertänzeln, vorüberschaukeln. Vermutlich außer dem Strumpfgürtel gar nichts, stellt er dann fest; denn über die Anatomie des Mannequins ist bis in die Einzelheiten hinein kein Zweifel mehr zu beheben. Die wenigen Herren, die an diesem täglichen Kaffeeklatsch aus irgend einer Verpflichtung teilnehmen, sind offiziell auch für Linie, sind aber insgeheim mehr für das Handgreifliche. Da seufzt einer, während gerade eine Praerafaelitische einherschwebt, und sagt:

"Die ist ja so schlank, die könnte sich hinter einer Peitsche ausziehen!"

Für diejenigen, denen das Materielle über das Ästhetische geht, gibt es in Berlin auch immer etwas zu sehen. Es vergeht kaum eine Woche ohne drei, vier, fünf Ausstellungen. Die Blumen. Das Heim. Das Lichtbild. Die Siedlung. Das Handwerk. Die Katzen. Und in diesen Tagen der Clou von allem: Kochkunst. Wie sich in Kriegszeiten die Frauen mit Vorliebe darüber unterhielten, wo dies und das noch zu haben sei, so lockt in unseren Tagen mehr noch als Auto oder sonst etwas die große Ausstellung des Gastwirtegewerbes, wo wirklich noch zu sehen ist, was man haben kann, wenn man - Geld hat. So etwas von Andrang habe ich noch nie erlebt. Mit 26 600 Besuchern schob ich mich an dem einen Tage an den Ständen vorbei. Alles stockte, weil jedermann möglichst lange stehen blieb, obwohl die Ordner und die Aussteller verzweifelt um Weitergehen baten. Aber wer vermöchte sich so schnell von einem getrüffelten Fasan oder von den wunderbaren Vorspeisen etwa des Hotels Fürstenhof loszureißen?

"Willy, einen Augenblick, Willy, ach Willy, so sieh doch nur!"

Willy sieht schon. Ihm läuft ja auch das Wasser im Munde zusammen. Ihm hat es die Seezunge auf Müllerin Art angetan, aber der zehnprozentige Gehaltsabbau seit Februar erlaubt ihm doch höchstens, zum Warme-Würstchen-Automaten zu gehen. Alles macht Stielaugen. Wer gar das Wettkochen von täglich Hunderten von Frauen oder Männern oder Kindern jeweils um 3 Uhr nachmittags aus der Nähe erleben will, der muß sich schon um 10 Uhr morgens als Verkehrshindernis aufbauen. "Was sieht man denn da?", frage ich eine zurückkehrende Dame. "Och, nichts, nur wie die Leute nervös werden, weil sie denken, sie werden nicht fertig oder sie brauchen zu viel Gas!" Die fertigen Gerichte werden aber nicht nur nach Zeit- und Gasverbrauch und Schmackhaftigkeit, sondern auch nach Aufmachung bewertet. Wer da etwas präsentiert, was in einem See von Tunke schwimmt, der hat schon verloren. Wer aber blitzschnell aus Tomaten, Zwiebeln, Gurken, was weiß ich, ein paar nette Muster ausgestochen und nett arrangiert hat, hat schon sein Plus.

Vor langen Jahren habe ich an dem ersten Wettkochen für Bühnenkünstler - auch diesmal bietet ein solches den Abschluß - mich sattgesehen. Da gibt es immer Leute, die einen Arroz Valenciana oder sonst etwas Ausgefallenes zubereiten, aber damals hatte doch Guido Thielscher die Lacher auf seiner Seite, als er sehr fidel einfach - Bratheringe machte.

In der ersten Ausstellungshalle, wo der Gastwirt alles für ihn nötige vom Stuhl bis zum Garderobehaken, vom Schinkenhobel bis zur Tellerwaschmaschine findet, bleiben vom promenierenden Laienpublikum verhältnismäßig wenig Leute stehen.

Aber es gibt auch ungezählte fesselnde Neuerungen für den Haushalt. Da drängt man sich beispielsweise vor der Luftpumpe für die Weckgläser: einmal gesaugt, zu ist das Glas! "Absolut" zu, "hermetisch" zu; Kochen ist gar nicht mehr nötig, nur einmaliges Abbrühen vorher. Oder man bleibt vor dem Expreß-Kochtopf stehen, für den ein fabelhafter Ansager wirbt. Gerade ist ein Stück Schweinekamm darin, im Sieb darüber verschiedene Gemüse, dazu Kartoffeln. Nach zehn Minuten pfeift der Topf. "Was bedeutet das Pfeifen?", fragt der Ansager, "Feierabend!", sagt ein Herr unter den Umstehenden. "Essen fertig!", ruft eine Dame und erntet ein Lob. Und dann zeigt der Verkäufer die verschiedenen Töpfe:

"Hier unsere kleinste Nummer, nur für eine Person, nein, ein Persönchen, ein Jungfräulein, das so leicht und lieblich wie Lilian Harvey bleiben möchte. Und hier die nächstgroße, die könnte schon für einen Junggesellen reichen. Ich habe einen Bekannten, der ist Junggeselle und - bitte erschrecken Sie nicht - am Finanzamt angestellt. Dessen Essen kocht in solch einem Topf schon morgens um 7 Uhr, während er sich wäscht und anzieht. Dann ist der Topf unterwegs für ihn seine Wärmflasche, im Amt stellt er ihn als Heizsonne unter den Stuhl, und nachher ist das Essen immer noch heiß. Oder hier, die größere Nummer, für die Hausfrau. Der Expreßtopf macht alles fertig, während Sie, meine Damen, Einkäufe machen oder auf ein Schwätzchen zur Nachbarin gehen. Und riechen, - riechen tut gar nichts mehr, selbst wenn es Rotkohl oder Sauerkraut oder Kabeljau ist. Ihre Freundin mag schnuppern, soviel sie will, sie kriegt es nicht raus, was Sie zu Mittag essen, und sie ärgert sich, während Sie strahlend schon im guten Nachmittagskleide dabeisitzen!"

Da lacht man, da kauft man. Die Art der Werbung macht's. Ist so nicht auch Kukirol seiner Zeit einige Jahre lang ein Bombengeschäft gewesen? Mal ist's ein Kochtopf, mal ein Rauchertrost, die Reklame scheffelt das Geld herbei.

Der Expreßtopfmann sagt:

"Der Topf kann allerdings aus Kieselsteinen kein Gallert kochen, aber selbst einen 25jährigen Hahn kriegt er in 15 Minuten weich!"

Im Publikum steht ein Herr mit abendfüllendem Umhängebart, Typ Altes System vom Lande, und protestiert lebhaft:

"Ein Hahn von 25 Jahren? Sowas gibt's ja gar nicht!"

Der Ansager aber läßt sich nicht verblüffen und erwidert sofort:

"Sie sind sicher sogar 50, mein Herr, nun mal rin mit Ihnen in den Topf, selbst Sie werden ganz zart!"

Manchmal schafft es freilich auch die Reklame nicht mehr. Wir haben die Chaplin-Woche hinter uns - und jetzt erst wird uns gesagt, daß sein neuer Großfilm, der in Berlin und Deutschland über die Bretter gehen soll, in London nicht verkauft werden konnte. Die Clique, die für Chaplin die Werbetrommel gerührt hat, steckt auch hinter anderen Sensationen mit internationalem Einschlag, jedenfalls hinter jedem Unternehmen, das uns Babel-Paris nahebringen soll. Es ist noch nicht genug, das Verneuil, der Enkel der Sarah Bernard, unsere Schwanktheater verschweinigelt. Seit einigen Monaten haben wir eine Invasion von Pariser Damen meist des gleichen Geblüts, die vom Vortragskatheder aus uns für die Verbrüderung mit Babel-Paris und zu "seelischer Abrüstung" zu bewegen versucht. Die letzte Aussprache dieser Art - es sind ihr schon drei vorhergegangen - fand heute vor einer Woche im Marmorsaal des Esplanadehotels statt, allwo man für 6 Mark Eintrittsgeld die Pariser Rechtsanwältin Misard (jede Stromschnelle ist im Vergleich zu ihrem Reden ein Schneckenzug) hören konnte und als Correferentin unsere Filmdiva Henny Porten, von der Ullsteinpresse in diesen Tagen als "Madame L'Allemagne" austrompetet.

Also Berlin W schaute sich die Augen aus nach den beiden Damen in Weiß mit dem roten Blumenstrauß in den anmutigen Händen. Die arme blondgescheitelte Henny Porten, die etwas verschämt-bescheiden-blöde-minniglich-filmhaftes zu stammeln und dann Madam Gallierin zu umarmen und zu küssen hatte, um auf diese Weise Frankreich - zu entwaffnen, konnte einem leid tun. Nachdem ihr erster Mann im Kriege als Reserveoffizier gefallen ist, hat sie nach etlichen Trauerjahren einen mehr oder weniger Schwerreichen aus dem Hause Kaufmann-Asser geheiratet, dem das Blonde wohlgefiel, ist aber dadurch, sie, die gute Deutsche, wenn auch nie sehr intelligente, in jene Clique der Internationalen hineingeraten. Ein anderer Herr Kaufmann-Asser, italienischer Staatsangehöriger, war während des Krieges Agent der Entente in Kopenhagen. Er bekam von seiner Schwester, geborenen Kaufmann-Asser, verehelichten Gräfin Treuberg, manchen guten Tip. Sie unterhielt in Berlin einen politischen Salon, in dem Eisner, Bernstein, Haase, Breitscheid und andere Pazifisten verkehrten. Nun hat auch die angeheiratete Henny Porten, trotz ihres jetzt schon etwas spitzen Gesichtes immer noch das deutsche Gretchen, das ihrige "für den Frieden" getan, für den Frieden der Clique, wie diese ihn versteht. Tut es einem nur leid um sie? Oder kriegt man das große - Kobolzschießen?

Jedenfalls bekommt man bei solchem Theater wieder die Sehnsucht nach Schlichtheit, Wahrheit, Deutschheit, nach jenen Regionen, in denen es gar keine internationale Verflechtung gibt. Wo nur die Arbeit und das Gewissen gelten. Es ist ein Aufatmen, als ich höre, ich könne wieder einmal nach langer Zeit mit einer einfachen armen Bauernfrau zusammenkommen, der Mutter unseres Dienstmädchens, die zu einer Familienfeier bei guten Bekannten Berlin aufsucht. Eben habe ich gerade festgestellt, daß ich in den letzten drei Monaten insgesamt nur 5 Stunden Spaziergang im Freien gehabt habe. Wie wär's, wenn ich mit Mudderken einmal den Zoologischen Garten besuchte, da sie, wie die Tochter erzählt, außer einem Tanzbären noch nie in ihrem Leben ein "wildes Tier" gesehen hat?

"Sie wird zu schüchtern sein, sie trägt auch keinen Hut, sondern nur ein Kopftuch!", sagt unsere Donna. Ach was! Also schreibe ich der Frau ein paar Zeilen ("am Jüngsten Tage wird der liebe Gott sicherlich nicht Ihr Kopftuch und meine Lackstiefel ansehen"), die sie beruhigen sollen; sie kommt am nächsten Morgen, meine Frau und ich nehmen sie in die Mitte und wir gehen in den Zoo.

Merkwürdig oder vielmehr sehr natürlich: wir sind gar nicht aufgefallen. Diese Bauernfrau, deren herbes, aber ebenmäßiges und freundliches Gesicht wie eine Zeichnung von Dürer anmutet, ist in ihrer natürlichen Hoheit adeliger als irgend eine aufgedonnerte Berlinerin von Rang oder Vermögen. Der lange schwarze Rock, die schwarze Schürze, die Jacke, das gehäkelte Kopftuch passen stilrein zueinander. Sieht man die Frau an, dann hat man Ackerfurchen vor sich und harte Arbeit langer Geschlechter, schaut man in Enttäuschungen und in Ergebenheit, in Stolz und in Demut. Noch nie ist mir so deutlich, so beglückend, so ruhevoll zu Bewußtsein gekommen, woher die Kraft und die Wiedergeburt unseres Volkes zu erwarten ist.

Die Frau ist still, sehr still. Einmal taut sie etwas auf, als ich Tierstimmen imitiere und ihren heimischen kleinen Bauernhof so ihr lebendig mache. Sonst beobachtet und verarbeitet sie nur.

Bei den Giraffen sagt sie: "Das ist beinahe nicht mehr wirklich!" Und dabei ahnt sie nicht einmal, daß nicht sie die Empfangende ist, sondern daß wir es sind, wir die Beglückten. Ihre Vorfahren haben sicher, auch wenn sie nichts mehr davon weiß, aus den Trümmern des dreißigjährigen Krieges wieder aufgebaut, dem Großen Kurfürsten und dem Alten Fritz die Rekruten gestellt. Neben uns wandelt deutsche Geschichte, und scheu und dankbar drücken wir der Frau die Hand.
19. März 1931 (Donnerstag)


30

Der Akademiker an der Klingeltür - Von geklauten Zigarren - Niddy Impekoven - Zum Tee bei Frentz-Sudermann - Künstler im Kriege - Hellseher als große Mode - Et Billche.

Wenn man heute vor Bettlern die Tür nicht gleich zuschlägt, hat man überhaupt keine Ruhe mehr, wird man überlaufen und aufgefressen. Aber da ist einer, da zögere ich.

"Loquerisne latine?", fragt er.

"Loquor!", antworte ich.

Seit meiner Primanerzeit, wo der alte Geheimrat Muff, unser Direx, uns zu freier Debatte in Ciceros Sprache anhielt, ist es das erstemal in meinem Leben, daß jemand lateinisch zu mir spricht. Er stellt sich als Doktor der Chemie vor, ist früher Apothekenbesitzer gewesen, sein Vater Rektor der Universität Straßburg, aber jetzt ist dieser Doktor offenbar Landstreicher. Nun ein paar Sätze französisch. Dann eine Flut griechischer Verse aus der Ilias. Da bleibt einem wahrhaftig "die Spucke bei weg", wenn man einen regennassen, abgerissenen Menschen, der kein Nachtlager hat und halbverhungert aussieht, so klassisch deklamieren hört.

Freimütig gesteht er, daß er meine Adresse einem Obdachlosen verdanke, der den Bettlergenossen gegen Entgelt lohnende Namen mitteile. Bei mir müsse man Soldat gewesen sein, habe es geheißen. Und das könne er von sich doch sagen. "Wo denn?", frage ich. "Oberleutnant der Reserve beim Regiment 48 in Küstrin, Landwehrdienstauszeichnung I." Schön, ich schlage eine alte Rangliste auf: es stimmt. Der Mann kann mir auch Namen von Kameraden nennen.

"Haben Sie Papiere bei sich, Herr Doktor?", frage ich ganz zuletzt, nachdem ich ihm schon Geld, eine Hose und ein paar noch brauchbare Stiefel eingehändigt habe.

Da nestelt er einen schmierigen Schein hervor, aus dem man ersieht, daß er im Jahre 1919, wenn er das überhaupt ist, bei einer Freiwilligenformation - Vizefeldwebel war. Ich werde langsam rot, er nicht.

Und er sagt:

"Ça ne vaut rien, man ist halt als gewöhnlicher Soldat wieder eingetreten!"

Da hilft kein verschlossener "Aufgang nur für Herrschaften", da hilft kein Zögern und kein Prüfen, da fällt man denn immer wieder herein, weil heute eben das Unmöglichste als ganz natürlich erscheint. Der Vater ein einst berühmter Professor der Medizin? Ja, warum denn nicht? Heute verarmen alle und müssen zusehen, wo sie bleiben; und wenn sie keine Arbeit finden, gehen sie vor die Hunde. Glücklich, wer ein Unterkommen hat! Die Tochter einer verstorbenen Exzellenz, eines hohen deutschen Diplomaten, ernährt sich in Berlin als Masseuse. Die Enkelin eines im Weltkriege berühmt gewordenen Generalobersten ist Chormädchen an den Rotterbühnen. So etwas erlebt man doch auf Schritt und Tritt. Und da schüttelt man sich auch nicht mehr, wenn ein richtiger Tramp, ein abgerissener Landstreicher, einem begegnet, denn am Ende ist er ein Gelehrter oder ein Künstler von vielen Graden und nur als Opfer unserer wahnwitzigen Erfüllungspolitik von Bauer bis Brüning auf die Straße gekommen.

Am Eingang zum Großen Schauspielhaus steht einer. Möglichst im Schatten, daß der baumlange Pförtner vom "Weißen Rössel" ihn nicht sieht. Es ist schon fast 8 Uhr. Autos flitzen vor, Besucher hasten ins Theater. In dem Vorraum werden Zigaretten und Zigarren abgelegt, manche nur halbgeraucht. Alle 3 Minuten wischt der Landstreicher hinein und erntet. Jetzt hat er schon beide Manteltaschen voll. Er selbst kann nun nach Herzenslust rauchen; der Rest, wenn er ihn in der "Palme" gegen belegte Stullen an Bettler verkauft, genügt für den Hunger.

Als ich es in der Nationalversammlung in Weimar zum erstenmal erlebte, daß einem halbe Zigarren aus den Aschenbechern im Foyer verschwanden, tat ich verächtlich und war wütend. Jetzt bin ich ganz bei der Sache und verwickele selbst den Pförtner in ein Gespräch, als die unverhoffte Entdeckung des Stummelsammlers droht, stehe für diesen also sozusagen Schmiere. Es ist gar nicht nötig, daß man immer Zahlen anführt, um unsere Verarmung und Verlumpung zu erweisen. Solch ein kleines Erlebnis, während man mit einer eben erstandenen Eintrittskarte auf einen Bekannten wartet, für den man sie besorgt hat, redet eine noch viel klarere Sprache.

Und doch geht das Leben weiter, auch wenn Tausende sterben oder verderben. Noch kaum je war Berlin lockender als heute, sagen die Fremden. Manches Theater und manche Gaststätte geht ein, aber was nachbleibt, das bietet mitunter Unübertreffliches. Hunderte von Künstlern haben nicht das tägliche Brot, aber um einige der besten beneidet uns die Welt.

Einigen wenigen unter den Erfolgreichen ist das Herz noch nicht durch Tausendmarkscheine isoliert, sondern pulst warm nach außen: sie helfen, wo sie können. Da ist Niddy Impekoven, das tänzerische Elfenkind, von Musik durchflutet, des Gottes voll. Sie veranstaltet im Staatlichen Schauspielhaus eine Wohltätigkeitsvorstellung, deren Gesamtertrag, ohne einen Pfennig für Frau Impekoven selbst, der Berliner Winterhilfe zufällt. Sogar die Unkosten für Theatermiete und alles übrige hat Niddy vorgestreckt. Sie ist weit weg gewesen, hat in Holländisch-Indien vor den dortigen Europäern und vor einheimischen Fürsten getanzt, hat auch sich selber die Javaner in ihren Tempeltänzen angesehen. Gott sei Dank: sie kommt uns aber nicht exotisch. Sie ist ganz sie geblieben. Wie seliges Schluchzen steigt es den Zuschauern in die Kehle, im ganzen vollbesetzten Theaterraum gibt es nur glückliche Gesichter. Sie tanzt, wie ehedem, Bach und Schubert und Couperin und dann etwas ganz Neues, die "Bäurische Suite" in fünf Vorgängen.

Die Berliner ausgekochten Kritiker haben kein Organ dafür, einige von ihnen sagen, das sei fast schon kein Tanz mehr, sondern Pantomime. Diese Kritiker denken nur noch in Schwüngen und Entspannung, in Labans Tanzschrift und in Mary Wigmans Expressionismus, sie sind für das schlicht zu Herzen gehende zu überbildet.

Aber das Publikum ist davon hingerissen, wenn es nicht nur "Beinarbeit" sieht, sondern wenn auch über Niddy Impekovens liebes Gesichtel Sonne und Schatten abwechselnd hinweghuschen. Man ist ja so dankbar für jedes verlorene Lächeln, so erschüttert durch jeden Anflug von Qual! Man jauchzt laut auf, wenn Niddy "Dorfmusik" mimt oder, in Hosen, den "Unwiderstehlichen" auf dem dörflichen Tanzboden so schelmisch nachahmt; und man schluckt beim "Verlorenen Ringlein" die Tränen herunter, wenn da diese Tänzerin, die ganz Seele ist, das Mädchenverhängnis tanzt oder gar, in der "Prozession", das schwerfällige Ringen um die Gnade des strafenden Gottes. Daß man selbst auf den Knieen rutschend tanzen kann, Musik sein kann, das ist die große Offenbarung dieses Abends.

Wir haben im Bachsaal die Wiederholung erlebt, wir gehen an diesem Sonnabend zum drittenmal wieder hin, und wer von guten Freunden sich heute das nicht mehr leisten kann, der bekommt von uns eine Eintrittskarte geschenkt. Warum muß es immer nur eine "Gesellschaft" mit leiblichen Genüssen sein, zu der man einlädt? Darin sind wir äußerst sparsam, statt dessen treffen wir uns lieber auf unsere Kosten im Bachsaal bei Niddy Impekoven oder im Zirkus Busch beim Massenkonzert der Reichswehr, und wenn es alle noch Gutsituierten uns gleichtäten, wären wir für die Programmgestaltung auch in den Theatern, über die jetzt so geklagt wird, wieder eine Macht.

An einem Tage haben wir Niddy Impekoven auch "at home" bei einem bekannten Schriftsteller sehen können. Bei Frentz, dem Schwiegersohn Sudermanns, in einer stillen Straße des Westens. Er hat ein wunderschönes Buch über Niddy geschrieben. Er hat Toni van Eyck, die kindhafte Schauspielerin, die nun selber "plötzlich" verheiratet ist und ein kleines Kindchen hat, bei sich auferzogen. Und er ist im Kriege ein tüchtiger Offizier gewesen, der erst nach schwerem Kopfschuß, nachdem er schon 1914 das Eiserne Erster sich geholt hatte, in die literarische Etappe bei Hindenburg im Osten ging, wie es Walter Bloem und Oskar Höcker im Westen taten. Damit habe ich so ziemlich alles aufgeführt, was ihm mein Herz gewinnt.

In der Teegesellschaft bei ihm sind wir fremdes Element, wir, die Primitiven, erdrückt unter lauter Geistigkeit und Kultur.

Da taucht zwar auch ein bodenständiger alter Preußenname auf, da fällt bei der Vorstellung auch der Name eines hohen Beamten, aber wenn Niddy Impekoven nicht da wäre und nicht ihre reizende Malerschwester Heidi Impekoven und nicht Toni van Eyck, kämen meine Frau und ich uns doch wie verloren vor unter dieser Gesellschaft von Künstlern und Kunstkritikern und Maecenen aus Berlin W bis zu der Tochter von Professor Einstein und der Frau jenes Dramatikers, in dessen Zeitstück zum Schluß die rote Fahne von der Gaffel weht. Wir fürchten fast, wir stören. Zum Glück kennt uns außer Impekovens und Frentz-Sudermanns so gut wie niemand in diesem Kreise. Ohne die herzgewinnende Freundlichkeit des Gastgebers hätten wir uns vielleicht schon früher in unseres Nichts durchbohrendem Gefühle gedrückt; es ist nicht leicht, unter so viel Intellekt, so viel Kultur dazustehen, wenn man selber für alles dies ob des einzig brennenden Gedankens an des Vaterlandes Freiheit einfach keine Zeit hat.

Ein neues Buch von Hans Frentz-Sudermann, "Über den Zeiten, Künstler im Kriege", im Urban-Verlag in Freiburg i.Br. erschienen, gibt einem einen guten Einblick in diese Kreise. Ich bin immer sogenanntes Frontschwein gewesen, habe von Zeitungen und Theater und anderen schönen Dingen in der Etappe nichts geahnt. Jetzt lernt man auch dies aus dem Buche kennen. Und mehr noch als bisher Richard Dehmel schätzen, den fünfzigjährigen wilden Dichterleutnant, der allerdings als Frontfreiwilliger in den Krieg zog, anders als Herbert Eulenberg, der sich selber als "Kriegsunfreiwilliger" bezeichnete. Auch ihn und die anderen Künstler-Pazifisten lernt man nun einigermaßen verstehen, wenn es auch eine ganz fremde Welt ist, die Welt der künstlerisch Ergriffenen, aber vaterländisch Blinden.

Zuweilen kommt, wie ich nun weiß, auch über solche Leute plötzlich Erkenntnis oder Erschrecken. Eulenberg hat, wie ich höre, sein scheußliches Machwerk über die Hohenzollern jetzt einstampfen lassen; und Sudermann, der alte demokratische Sturmgeselle, hat, vom Tiergartenfreisinn bitter enttäuscht, in den letzten Jahren seines Lebens deutschnational gewählt. Es ist ein buntes Gewimmel von Literaten, Darstellern, Malern, Gelehrten, das Hans Frentz in "Über den Zeiten" an uns vorüberziehen läßt. In Uniform und in Zivil. Mitten darin, sehr menschlich, sehr verstehend, Ludendorff und Hindenburg, von denen uns allerlei nette Intima erzählt werden. Da liest man sich liebend hinein, während man ein paar Seiten weiter sich wieder an den Kopf faßt, daß so etwas wirklich vorkommen konnte. Daß nämlich der Dichter Zuckmayer, zu vaterländischem Unterricht der Mannschaften abkommandiert, ihnen - Spartakusbriefe vorlas. Agnes Sorma und Sven Hedin, Cläre Dux und Xaver Scharwenka, alles, alles, was jemals durch die Etappenhauptorte zog und irgendwie deutsche Bildung repräsentierte, ist dem Verfasser vor die Feder gekommen. Es ist eine ganz andere Welt als die unserer sonstigen Kriegsbücher, aber wenn man sie nicht kennt, kennt man eben nicht die ganze Welt des Krieges.

Der Krieg ist im Hinterlande entschieden worden. Die Front ahnte davon nichts. Im Trommelfeuer las man nicht Spartakus.

Manchmal scheint es einem, als läge diese Zeit schon entsetzlich weit zurück, sei schon alte Geschichte geworden, wie man sie ganz unpersönlich in den Schulen lernt. Es hat ja heute jeder so viel mit sich selbst zu tun und so um das Dasein zu kämpfen, daß die früheren Kämpfe im Felde allmählich verblassen. Aber auch in diesem neuen Kriege in Deutschland selbst, wo es um die Behauptung unserer Wirtschaft und um die Freiheit geht, wird es mehr denn je auf das Hinterland ankommen. Wenn wir nicht die Massen gewinnen, von Spießbürgertum und Pazifismus loslösen, zum Frontkämpfertum an der Wahlurne erziehen, verlieren wir auch die heutige Fortsetzung des Weltkrieges.

Wir brauchen klare Sinne und klare Parolen und klare Ziele. Das Volksbegehren, das endlich die rote Diktatur stürzen könnte, ist solch ein Ziel. Statt dessen aber wird vielfach noch unsere Umnebelung versucht. Dazu gehören die phantastische Zukunftsromane, die von einem Siege Deutschlands durch irgendwelche neuentdeckten Todesstrahlen fabeln. Dazu gehört auch die Anbetung aller angeblichen Deuter und Seher von Schermann bis zu Hanussen, die die urteilslose Menge erschauern lassen und nur noch willenloser machen. Der Hellseher ist in dem sonst doch nicht gerade als abergläubisch verschrienen Berlin überhaupt die große Mode. Er kann uns nicht prophezeien, was im kommenden Jahr aus unserer Tributnot wird, wie er auch 1922 nicht wußte, wie 1923 die Reichsmark stehen würde. Aber begierig hört man zu, was er von einer Reise im Jahre 2500 von Berlin nach Amerika erzählt. Ernsthafte Ärzte behaupten, das ganze Gewäsch, das jeder leidlich intelligente Zeitungsleser ebenso produzieren könnte, habe er in nachgewiesenem Trancezustand, mit der bekannten Schmerzunempfindlichkeit und Pupillenstarre, von sich gegeben.

Also wird man als Bürger der Vereinigten Staaten der Welt - Deutschland hat gerade den Vorsitz - in einem Raketenwagen abgeschossen und landet nach einer Stunde in San Francisco. Dazu geht man in Berlin auf den "Tub". Das ist ein englisches Wort und heißt Waschbütte. Das kann Hanussen also nicht meinen. Er meint in Wirklichkeit "Tube" und sagt in seiner angeblichen Trance, das heiße Bahnhof. Tube ist aber Röhre, Tunnel, das weiß jeder Londoner, wenn er in die "Tube", nämlich in die Untergrundbahn, hinuntersteigt. Das ist nicht gerade der geeignete Schauplatz zum Abschießen eines Stratosphärenflugzeuges, aber der eilige Leser merkt natürlich nichts, sondern staunt und starrt und tröstet sich mit der Aussicht, daß wir nach 569 Jahren das Präsidium der bewohnten Erde haben sollen.

Vor einiger Zeit habe ich mir wieder einmal einen Experimentalvortrag dieses Hellsehers angehört. Wieder einmal mußte ich lächeln, während alles in schrecklichem Ernst mit geröteten Gesichtern um mich herumsaß. Nein, diesen Leuten ist nicht zu helfen! Da berührt mich von hinten leise eine Hand. Keine Geisterhand, sondern die eines lachenden jungen Mädchens. Ich sehe mich verdutzt um, ich kenne die Dame nicht. Da kichert sie:

"Ech sin et Billche!"

Ja, natürlich, die kleine Sibylle, das rheinische Mädel, die eilige Bekanntschaft vom Künstlerfest der "Bunten Laterne" im vorigen Jahr! Und dieses Mädchen ist wie Rita in Fuldas Talisman: während alle Hofschranzen und Professoren gebannt auf das Wunder starren, hat sie mit ihren gesunden Sinnen das bloße Artistentum Hanussens durchschaut.
26. März 1931 (Donnerstag)



Glossen 25 - 27

Jahresinhalt

Glossen 31 - 33

© Karlheinz Everts