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Tiere in der Großstadt - Die Dame und ihr Hund - Nur passende Begleiter - Darf man Luxus treiben ? - Schlemmende Führer - Im Schloß auf Schwanenwerder - Rauscher-Erinnerungen - Nach dem ersten Reimannball.
Die Sehnsucht des Großstädters nach der verlorenen Verbundenheit mit der Tierwelt - unsere Vorväter sprachen, was kein Südländer von Herzen so kann, immer vom "lieben Vieh" - findet heute nur kärglichen Ersatz: Hauskatze, Kanarienvogel, Goldfisch.
In verschiedenen spanischen Hafenstädten fand ich ein Tier, das wir Berliner oder Münchener oder Dresdener noch nie gekannt haben. Das ist die Balkonziege. Sie schläft nachtsüber, das ganze Jahr hindurch, auf diesem kleinen Raum, der von einem eisernen Geländer umfriedigt ist. Tagsüber sucht sie sich draußen vor der Stadt ihre Nahrung und kommt immer wieder rechtzeitig zum Melken die Treppe heraufgetrappelt und poltert an die Tür.
Nur in der schwersten Notzeit des Krieges hatten unsere Großstädter etwas Ähnliches. Man stand vor irgendeinem Schaufenster, auf dem Rost, durch den man gelegentlich einen Zigarrenstummel oder ein Papierknäuel fallen läßt. Da gackerte es von unten her: das war das Kellerhuhn, die Hoffnung der Familie.
Besonders Glückliche - aber das fand sich nur selten - hatten noch ein Badestubenschwein. Das wuchs und gedieh und stank, sorglich behütet vor der Kenntnisnahme durch Nachbarn und Behörden, in der Wanne.
Jetzt ist uns von alle dem nur noch der Etagenhund geblieben. Er bellt, wenn es klingelt, und täuscht so etwaigen "Klingelfahrern" scharfen Schutz des Eigentums vor. Er ist ein bejammernswertes Wesen, denn er wird nur einige Male am Tage auf kurze Zeit ausgeführt und dann wieder heimgezogen, nachdem er kaum ein wenig die Welt hat beriechen können. So abends um 9 Uhr herum steht er immer mit dem ungeduldigen Dienstmädchen oder mit Herrchen oder Frauchen auf der Straße an irgendeinem Laternenpfahl.
Das mag ich keinem Hunde antun. Ich lebe seit langen Jahren völlig tierlos, obwohl dies sozusagen ein Mangel an Visitenkarten ist. "Sage mir, was für einen Hund du hast, so sage ich dir, wes Wesens du bist", pflegte man früher zu zitieren. Schön. Also als junger Mensch habe ich einen stichelhaarigen Jagdhund gehabt und habe Verwendung für ihn gehabt. Später, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, einen Barsoi; aber da hatten wir ein Gärtchen, wohnten am Rande einer Stadt und waren in fünf Minuten auf freier Heide, wo es sich herrlich rennen und springen ließ. Im Kriege hat mich ein Teckel begleitet, ein ganz verschmitztes und sehr menschenverwandtes Tierchen. Ich habe also - schwieriges Problem - drei ganz verschiedene Visitenkarten gehabt. Es ist nicht immer so einfach wie mit der historischen imposanten Dogge Bismarcks oder dem schmeichlerisch aufwartenden Pudel Bülows.
Neuerdings, wo jede Dame von Welt nicht nur schön aussehen, sondern den Eindruck einer Persönlichkeit erwecken will, ist es Mode geworden, daß auch sie sich einen Hund als Visitenkarte zulegt.
Das gab es gelegentlich auch schon früher. Mops, Wachtelhündchen, Pekin, Windspiel. Heute aber wird es eben Mode, und die Mode verlangt Wechsel. Also da taucht eine im übrigen auch reichlich getünchte Dame täglich mehrmals am Kurfürstendamm auf, und immer mit einem anderen Hund. Trotteurkostüm, Sportanzug, Nachmittagskleid verlangen je einen anderen vierbeinigen Begleiter, auch die Farbe der Gewandung erfordert Rücksicht, und es ist natürlich einfach unmöglich, immer das gleiche Tier neben sich trippeln zu lassen, wenn man einmal einen Bisampelz trägt, ein anderes Mal Feh, dann Persianer. Am 11. Februar - andere Sorgen, scheint es, haben wir nicht - soll eine Schaustellung "Die Dame und ihr Hund" in den Festräumen des Zoo stattfinden. Ich weiß nicht, ob ich mich überwinden und hingehen kann. Meine Unbekannte vom Kurfürstendamm hat, wie ich bisher feststellen konnte, elf verschiedene Hunde, und wenn sie demnächst nicht den zwölften kriegt, behauptet sie sicherlich, sie habe - nichts anzuziehen.
Aber man hat solchen Dingen gegenüber doch das Gefühl, wie im besetzten Gebiet nach dem Kriege, wo, weil wir gut hunderttausend Kühe aus dem verarmten Deutschland an die Franzosen und Belgier hatten abführen müssen, unsere Säuglinge vergeblich nach Nahrung schrieen, während jeder französische Leutnantshund zwei Liter Milch täglich von uns geliefert bekommen mußte. Also: auf die Hundetante vom Kurfürstendamm habe ich eine Stinkwut. Selbst wenn es eines Tages herauskommen sollte, daß sie - eine Hundepension hat und davon lebt.
Aber hier ist der Punkt, wo man auch leicht zu weit gehen kann. Soll man eine Kapuzinerpredigt wider jedweden Luxus halten? Wenn wir allesamt "wegen der schweren Not der Zeit" von jetzt ab nie mehr ein Restaurant aufsuchen, nicht mehr rauchen, Kleider nur noch von der Stange kaufen, vom Polstersessel auf den Schemel abkommen, Theater und Kino meiden, zu keinem Pferderennen oder Boxkampf mehr gehen, dann haben wir alsbald - anderthalb Millionen Arbeitslose mehr noch als bisher; denn diese leben von dem hoffärtigen und von dem bescheidenen Luxus. Und wenn gar alle unsere Frauen sich mit Wandervogeltracht begnügten, wären es gut drei Millionen. Also wo ist da die Grenze? An sich muß das Geld rollen, damit es seinen Zweck erfüllt. "Und jeder hatte Geld, weil jeder es hinauswarf", heißt es in Hamerlings Homunculus, dem besten satirischen Zeitepos, das ich in der Literatur aller Jahrhunderte und aller Völker gefunden habe. Also die Grenze, meine ich, ist da, wo das Geldausgeben, das an sich verdienstvoll ist, anfängt, aufreizend zu wirken.
Das Taktloseste ist das Schauschlemmen. Wenn neben dir ein Mensch täglich nur 2000 Kalorien Nahrung für sich beschaffen kann, brauchst du nicht 5000 in dich hineinzustopfen, bis die Kiemen triefen. Das widerlichste in Berlin ist da die Schabbesfresserei bei Kempinski am Kurfürstendamm. Dann doch lieber ins Rheingold in der Bellevuestraße. Da trifft man auch bessere Gesellschaft.
Wer auf dem Standpunkt steht, daß Luxus überhaupt ein Übel sei, also nicht der Auffassung jenes alten Franzosenkönigs ist, der jedem Untertan sonntags das Huhn im Topf wünschte, wer vielmehr der Meinung ist, wir alle sollten uns auf das Existenzminimum zurückziehen, nun gut, der soll auch darnach leben.
Einst hat das Proletariat gedacht, seine Führer würden so handeln.
Sie denken nicht daran. Neulich hat ein Blatt die Rechnungen für Sekt und Kaviar veröffentlicht, die die Besuche des preußischen Wohlfahrtsministers Hirtsiefer - und das ist ein Zentrumsmann - in Luxuslokalen verursacht haben. Eine Antwort ist nicht erfolgt. Und was sozialdemokratische Würdenträger allein bei Kannenberg in der Dorotheenstraße verschmaust haben, das geht auf keine Kuhhaut. Soll man diese zum Teil grauhaarigen und dickbäuchigen Genießer als die Verführten hinstellen? Kann man, kann man. Sie haben sich eben immer an die spendablen östlichen Genossen herankristallisiert und ihnen die Millionen durchbringen helfen, an die Sklarz, Helphand, Kutisker, Barmat, Sklarek. Die letzteren beiden haben schon wieder eine Prachtvilla. Da geht es hoch her. Aber am üppigsten ist es doch bei dem sozialdemokratischen Kriegsgewinnler Parvus-Helphand auf Schwanenwerder am Wannsee gewesen, da mästete und betrank sich die gesamte rote Führerschaft.
Die alten Erinnerungen daran tauchten kürzlich wieder auf, als Ulrich Rauscher starb, auch einer der Stammgäste. Was er dort mit der Familie Scheidemann gehabt hat, das habe ich schon früher einmal erzählt; es steht außerdem in gewissen Ehescheidungsakten. Es war sehr fidel auf Schwanenwerder. Nur einmal fast tragisch, als der rote Kultusminister Hänisch in die Havel rutschte. Der war wenigstens dankbar. Er erklärte öffentlich, man dürfe Helphand seine Weibergeschichten nicht verübeln, denn er sei nun mal eine Renaissancenatur. Ulrich Rauscher, einst Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung, während des Krieges Annektionspolitiker, nach dem Kriege Novembersozialist und als Pressechef der Regierung Verfasser vieler Ebert-Reden, wollte in die Diplomatie hinüberwechseln. Heute kann ja jedermann alles. Er wäre gern nach Athen als Gesandter gegangen, um am Fuße der Akropolis klassisch zu träumen und herben Hymettos zu trinken oder süßen Mavrodaphne. Aber es war "in der Gegend" nur weiterhin etwas zu haben, der Gesandtenposten in Tiflis in dem neubegründeten kurzlebigen Georgier-Freistaat im Kaukasus. Eigentlich paßten Kreß v.Kressenstein oder v.d.Schulenburg besser dahin, aber man muß doch für seine Leute etwas tun, auch wenn sie keine Ahnung haben. Der Konsul Altvater wird zu Rauscher in die Schillstraße 2 geschickt, um ihn über den Kaukasus zu informieren. In der Schillstraße aber heißt es:
"Seine Exzellenz sind auf Schwanenwerder."
Also auf zu Parvus-Helphand. Der empfängt den Konsul, es ist noch Vormittag, auf dem Altan des Schlosses, wo ein Diener in Escarpins Sherry und Sandwiches anbietet. Frau Hänisch, die rote Ministerexzellenz, sitzt auch da, wird aber Frau Lehmann angeredet. "Die Domestiken brauchen doch nicht alles zu wissen!" Schließlich kommt Rauscher, schon sternhagelvoll, und fragt burschikos:
"Wo liegt das Ding denn eigentlich, dies Georgien?"
Wohlvorbereitet wird der Herr Gesandte dann nach Tiflis verfrachtet. Nach einiger Zeit rücken die Bolschewiken dort ein. Rauscher flüchtet nach Batum. Er bekommt vom Auswärtigen Amt den Befehl, auf seinen Posten zurückzukehren, tut es, reißt aber nach kurzer Zeit wieder aus, nach Kadschori, bis er endlich abberufen wird und einen behaglichen europäischen Großstadtposten erhält, als deutscher Gesandter in Warschau.
Die Polen fanden ihn sehr angenehm. Er gewöhnte sich, ohne durch deutsche Forderungen lästig zu fallen, sehr schnell an das Burschikose und Schlampige, empfing Besucher zuweilen, wenn er sich von einem nächtlichen Fest noch nicht ganz erholt hatte, in rosa Hemd ohne Kragen und in Pantoffeln. Die zur Gesandtschaft in Warschau kommandierten jüngeren Herren staunten Bauklötze über die Dienstbelehrung durch ihn:
"Nicht immer Akten erledigen, sondern leben, leben sollen Sie, feste leben! Ich will durch Sie immer wissen, wer mit welcher Frau ein Verhältnis hat!"
Unter Umständen ist das keine üble Taktik. Jedenfalls kannte Rauscher alle Schwächen der polnischen Großen, nur hat er sie leider nicht genügend ausgenutzt, wenn er überhaupt Politik auf dieser Basis gemacht hat.
Der Chef des Auswärtigen Amtes während der letzten Jahre, Stresemann, der unverbesserliche Illusionist, hatte viele Fehler und Torheiten. Aber das eine sei ihm zu seiner Ehre nach seinem Tode noch nachgesagt, daß er sich dagegen gewehrt hat, die ganze Diplomatie mit solchen Parteibuchbeamten wie Pfeiffer in Wien oder Müller in Bern oder Rauscher in Warschau zu besetzen. Dazu hatte er vor den "Gelernten" doch zu viel Hochachtung. Er selber war zu gründlichem Aktenstudium nicht geboren und entschied alles feuilletonistisch; und aus der Erkenntnis dieses eigenen Wesens heraus setzte er sich dafür ein, den richtigen diplomatischen Nachwuchs aufrücken zu lassen. Auch sein Nachfolger Curtius wird den Warschauer Posten jetzt wohl Herrn v.Moltke oder einem anderen Fachmann anvertrauen, nicht irgendeinem fröhlichen Hallodri.
Bis auf ganz enge Kreise interessiert sich die Berliner Gesellschaft für dergleichen aber nicht mehr.
Man hat sich daran gewöhnt, daß Deutschland überhaupt kaum mehr auswärtige Politik macht, nur eine Bauernfigur auf dem Schachbrett der Westmächte ist. In der Reichshauptstadt macht sich eine Stimmung breit, für die das historische Wort kennzeichnend ist: !Nach uns die Sintflut!"
Einstweilen ist die große Flut noch nicht da. Einstweilen haben die Schneiderinnen noch Maskenkostüme zu bauen. Der erste Reimannball war wieder das große Ereignis. Aber zum erstenmal seit seinem Bestehen machten sich auf ihm Elemente breit, die sein Ende als bestes Kostümfest der Berliner Gesellschaft bedeuten können: man sah "Herren" in Damenkleidern tanzen, weibisch geschminkte und parfümierte "Herren" aus dem Eldorado-Milieu.
29. Januar 1931 (Donnerstag)
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Alter Pasewalker - Weiterer Rückgang des Alkoholkonsums - Presseball-Schau - Auf dem Reitturnier - Die neue Kaiserhymne - Ein Steuerkuriosum.
Er nähert sich schon den Achtzig, der famose Rittmeister a.D., der einst in Pasewalk den Pallasch schwang. Heute kann er nur noch den Humpen schwingen; trinkfest ist er geblieben, da bin ich ihm gegenüber ein mäßiger Waisenknabe, Und er schenkt ein und sagt:
"Französischer Cognac, meinen Sie? I, wo werde ich denn! Erstens überhaupt, und zweitens, dazu langt es bei mir nicht. Nee, machen wir nicht. Aber das ist auch nicht irgendein üblicher Marken-Weinbrand aus Deutschland. Soll ich denn dem Generaldirektor Katzenellenbogen, dem Edelkommunisten, was zu verdienen geben oder sonst einem Spritwerk solcher Leute? Die Pulle hier ist Alter Pasewalker, verstehen Sie! Schauen Sie mal her: Kürassier-Kasino Pasewalk, Weinhandlung, Inhaber K. Chr. v.Knobeldorff, der General, war der letzte Kommandeur der Königin-Kürassiere. Der Knabe Christian, sein Sohn, der tüchtige Turnierreiter, hat nun die alten Bestände des Kasinos übernommen und ist Firma geworden. Dieser Cognac, Format Burgunderflasche, kostet nur sechs Mark fuffzig. Und es ist noch so viel da, daß wir keine Bange zu haben brauchen. Prost, kippen wir noch einen!"
Schön, wir kippen. Nur ich mache "Brr!", denn ich bin kein Schnapstrinker. So seit 1917, denke ich. So kalt wie damals in Rußland und so naß wie damals in Flandern habe ich es seither niemals wieder gehabt. Bei uns im Hause ist Cognac nur Medizin. Freilich, wie das so geht: jetzt habe ich selber eine Flasche von dem Alten Pasewalker da, und da wollen unsere Söhne, wenn sie daheim sind, immer Medizin haben. Als Vorbeugung natürlich gegen die Grippe.
Wer Sorgen hat, hat auch Likör, sagt der unsterbliche Busch, aber er irrt sich. Entsprechend der steigenden Not ist der Schnapsverbrauch in Deutschland in einem Jahre um nahezu die Hälfte gesunken. Selbst die Ostpreußen, bei denen die Not am größten ist, können nicht mehr so wie früher sich "halb Pfundche" oder Maitrank gönnen. Auch Bier und Wein gehen zurück. In Köln fällt diesmal am 16. Februar der Rosenmontagszug aus, der die Schaulustigen immer weindurstig machte, und verschiedene nationale Verbände haben überhaupt jedes Fest abgesagt. Auf dem Sozialistenball am letzten Dezember im Vereinshaus in der Kurfürstenstraße ging es allerdings noch hoch her, und die rote Presse berichtet behaglich über schöne entblößte Damenbeine und über knallende Sektpfropfen. In der sogenannten bürgerlichen Welt ist diesmal der Ball der Bälle, der Presseball, auch noch "hochnobel" gewesen, nur mit etwas weniger Besuchern als sonst, nicht ganz 5000 Menschen. Er ist ja kein Ball, sondern eine Schau. Man will die Prominenten von Regierung, Heer, Politik, Presse, Theater, Film, Kunst, Wissenschaft, Bankwelt einmal aus der Nähe sehen. Oder man will umgekehrt selber gesehen werden.
Am vorigen Sonnabend war alles im Marmorsaal von Kopf bis Fuß auf Marlene Dietrich eingestellt. Von wegen "Blauer Engel" wurde dieser Engel in Weiß stundenlang von einer Menschenmauer angestarrt.
Ähnlich erging es allen Film- und Theaterlieblingen. Dazwischen beäugte man die Amtsketten der Rektoren unserer Hochschulen, die päpstlichen Orden einiger Reichsminister, die Bronzehaut einer exotischen Tänzerin, das Gewand einer japanischen Frau Botschaftsrat, die Frackbrust des massigen Arnold Rechberg, die Uniform zweier spanischen Offiziere, - oder man stellte fest, daß in der Ehrenloge mindestens vier Anwärter auf die Reichspräsidentschaft säßen. Die Kleiderpracht war nicht ganz so groß wie sonst, wenn es auch in der Bankenloge, in der Gegend Guttmann und da herum, noch kostbare Hermelinmäntel gab. Einzelne Damen von Bühne und Film waren sogar ganz schlicht erschienen, betont kindlich schlicht Toni van Eyck, in einem ganz billigen Spitzenkleidchen auch Gerda Maurus; nur daß sie diesmal den größten Rückenausschnitt hatte, ein Vorzug, den früher Lil Dagover sich nicht streitig machen ließ. Man schränkt sich leise ein.
Immer wieder die Frage: soll man oder soll man nicht? der berühmte englische Nationalökonom Keyes hat kürzlich darauf die Antwort erteilt:
"Wer täglich 5 Schillinge sozusagen unnütz ausgibt, der bewahrt einen Menschen vor der Arbeitslosigkeit."
Also das haben wir auch getan: zum zweiten Mal in ihrem Leben hat meine Frau ein "großes" Abendkleid für den Presseball von der geschickten Erna Domke gemacht bekommen. Eine verwegene, leuchtende Sache, orange und weiß, der Ballmantel aus Panne. Wie unbeteiligt, fast unwillig, läßt das Opfer es über sich ergehen. Wir sprechen wochenlang vorher über eine wichtige Sache, den Kragen an dem Mantel.
"Macht, was Ihr wollt, ob ich als Maria Stuart oder Jungfrau von Orleans auf den Presseball gehe, ist mir ganz egal!"
Nun sind wir da, bescheiden im Bankettsaal, wo man nicht gesehen wird wie im Marmorsaal, aber alle Vorüberflutenden sehen kann. Wir sitzen zusammen mit der Witwe eines früheren Kriegsministers und ihrer Tochter, die sich uns, um über die passierenden Koryphäen informiert zu werden, anschließen zu dürfen gebeten haben, und einem Jungen aus der eigenen Familie. Zu sehen gibt es wahrlich genug. Nur schade, daß die ganz Prominenten stundenlang wie angenagelt im Marmorsaal sitzen und dort allmählich nervöse Beine bekommen. Wie wäre es, wenn sie das nächste Mal in einer großen Polonäse durch alle Säle wandelten? Dann gäbe es nicht das ewige Gedränge vor den Logen. Und bunte Reihe, bitte! Regierung und Film und Diplomatie und Kunst durcheinander.
Gerade streicht der Prinzgemahl Heinrich der Niederlande an uns vorüber.
"Guten Abend, Königliche Hoheit!"
"Pst, bitte, bin hier bloß Herr Hendrik!"
Ob man nicht einmal, wie sonst wohl auch, in die Logen geht und einige bekannte Prominente begrüßt, denen man beruflich verpflichtet ist? Da trifft mich ein flehender Blick meiner Frau:
"Bitte, lieber nicht, ich habe ein zu schönes Kleid, ich schäme mich ja so!"
Na, dann nicht; wenn mich die Leute für unhöflich halten, will ich es also ertragen.
Dafür kann man umso freier sich in diesen Tagen bei dem Frühjahrs-Reitturnier am Kaiserdamm bewegen, da gibt es keinen auffälligen Behang, da ist die Gesellschaft ganz homogen und vornehm schlicht, und da gibt es auch - fast gar keine Berliner, abgesehen von den wenigen, die mit dem Heer, mit dem Lande, mit der Reiterei irgendwie versippt sind. In den ersten Tagen war es in der großen Autohalle II, die als Riesenmanege hergerichtet ist, hundeleer, aber mit dem Augenblick des Einsetzens der "Grünen Woche" war auch allnachmittäglich und allabendlich jeder Platz ausverkauft. Man kennt einander. Ein Teil kennt einander über den Gotha hinweg, ein Teil über die Rangliste, die meisten wohl über landwirtschaftliche Versammlungen. Da ist kaum einer ohne Pferdeverstand. Nur abends, wo beim Preisspringen der Totalisator klappert, erscheinen auch Großstadtjünglinge mit ihren Dämchen; und die Rennplatz-Habitués aus gewissen Kneipen.
Es ist eine rührende und erhebende Sache, wie dieses arme Deutschland immer noch das Reiterliche, das Ritterliche pflegt. Heute bis in die Kreise schmalwangiger Werkstudenten hinein, die froh sind, wenn sie ein paar richtige Reitstiefel erschwingen können, und im übrigen einfach im Sporthemd einreiten.
Nehmen wir eine beliebige Konkurrenz, etwa das Tandemfahren, zweie lang. Der Ausländer, der das so sieht, denkt, in Deutschland ist ja noch alles da; ihm fällt es nicht auf, daß kaum mehr Zivilisten sich daran beteiligen, die meisten Gespanne von der militärischen Fahrschule Hannover gestellt sind.
Viel bejubelt wird die Prinzessin Friedrich Sigismund von Preußen, die im Sattel mit Passion und Pflichttreue das Werk ihres Mannes fortsetzt, der einst den Reitertod fand. Viel bejubelt werden auch die vier jungen Reichswehroffiziere, die in Amerika bei den dortigen großen Turnieren siegreich über alle Nationen blieben. Aber den größten Sturm der Begeisterung erlebt man bei einer Schaunummer, Reiterei einst und jetzt, wo zuerst Kürassiere in friderizianischer Uniform (freilich mit Säbel statt Pallasch) und Husaren aller Art aus derselben Zeit, Kesselpauker und Musik voran, einreiten und Quadrillen und Kämpfe mimen, dann die jetzigen in Feldgrau allerlei Reiterspiele vorführen und schließlich eine Maschinengewehrabteilung wie das leibhaftige Donnerwetter daherfährt und schießt. Fridericus Rex, unser König und Held, erschallt es und stärkt die heute so matt schlagenden Herzen. Und es wäre, in dieser Gesellschaft, durchaus nicht so undenkbar, daß die ganze Versammlung sich erhöbe und "Heil dir im Siegerkranz" sänge. Und im Unglück nun erst recht. Gerade jetzt. Gerade nach den Denkwürdigkeiten Bülows, die das Gegenteil von dem erreichen, was der Verfasser und die Ullsteins sich versprochen haben.
Die alte Hymne geht jetzt in neuer Form im Volke um. Eine deutsche Frau in Greifswald in Pommern - Emma Medem - hat froh und hochgemut den Text verfaßt, der, ohne je gedruckt worden zu sein, von Hand zu Hand und von Mund zu Mund eilt:
1. |
Kaiser, wir grüßen Dich, Kaiser, wir denken Dein treu immerdar; ob Dich der Feind verbannt, ob Dich die Welt verkannt, zu Dir hält unverwandt der Treuen Schar. |
2. |
Treue ist Vätersaat, Treue ist Mannestat, ist heil'ge Fron. Ob wir auch Welt vergehn, wanken und stürzen sehn, Treue wird aufrecht stehn vor Gottes Thron. |
3. |
Die heil'ge Flamme glüh', glüh' und verlösche nie, sie schüren wir. Daß Gott Dir Kraft verleih, daß er Dein Schützer sei, ist unsres Herzens Flehn: Heil, Kaiser, Dir! |
Vor ein paar Jahren sagte ein Abgeordneter, einer der Separatisten der Rechten, die Monarchie sei nur noch eine Filmangelegenheit; so wie Groener in Spa erklärte, der Fahneneid sei nur noch eine Idee. Aber man täuscht sich. Noch nie war seit 1918 die Sehnsucht nach dem Verlorenen so stark wie heute, und wenn die Erfolglosigkeit alles Tuns der heutigen Regierung in arithmetischer Progression wie bisher weiter geht, ist der Tag nicht mehr so fern, wo die Mehrheit des Volkes ihren Willen zum Ausdruck bringt, lieber wieder monarchisch regiert zu werden, und da laut Verfassung "alle Gewalt vom Volke ausgeht", wäre dies durchaus verfassungsgemäß. Einstweilen hat die große Masse bei uns, zumal da wir keine allgemeine Wehrpflicht mehr haben, zu dem Staat im wesentlichen nur noch persönliche Beziehungen über Polizei, Gerichtsvollzieher, Arbeitsamt, Steuerkasse. Diese Behörden haben schon viel zugelernt, sind stellenweise sehr umgänglich geworden, besonders auf den Finanzämtern sitzen vielfach Leute von gesellschaftlichem Schliff, die Stotternden gegenüber gern den Berater spielen. Aber manchmal gibt es auch da noch, "weil das Gesetz es befahl", die sonderbarsten Ereignisse.
Mit einem solchen hat sich jetzt in letzter Instanz der Finanzminister in Berlin zu beschäftigen. Eine unter dem 8. Januar 1931 ihm zugeleitete Beschwerde erbittet seine Entscheidung.
Also in Bremen ist am 8. April 1929 Fräulein Caroline Heidsieck gestorben. Sie soll aber nun die lange nach ihrem Tode, am 26. Juli 1930, durch Brünings Notverordnung festgesetzte Ledigensteuer bezahlen. Die hat offenbar rückwirkende Kraft auf Lebendige und auf Tote. Der Mahnzettel, auf 11 Mark 80 Pfennige lautend, ist im Himmel leider unbestellbar; dort gibt es keine dienstlich tätigen Vollziehungsbeamten mehr. Infolgedessen präsentiert das Finanzamt Bremen-Ost die Rechnung dem noch lebenden Neffen. Der erhebt Einspruch. Wenn auch die Ledigensteuer formell keine neue Steuer sei, sondern ein "Zuschlag" zur Einkommensteuer, so habe doch über Tote "selbst die Finanzbehörde der Republik vom November 1918 keine Macht"; man könne das am 8. April 1929 verstorbene Fräulein Caroline Heidsieck nicht rückwirkend mit einem neuerfundenen Zuschlag belasten. Aber Bremen-Ost beharrt auf dem Paragraphen.
So ist die Sache nunmehr nach Berlin gelangt. Bis an die Triarier, sagt der Lateiner. Sie müßte eigentlich bis vor den Reichstag kommen. Man will doch auch was zu lachen haben.
Im Jahre 1929 versicherte der Finanzminister entgegen dem Volksbegehren, daß der Youngplan ein Segen sei; er ermögliche uns 700 Millionen jährliche Ersparnis. Im Jahre 1930 erlebten wir statt dessen ein Minus von über 2000 Millionen. Helfe, was helfen mag: das müssen jetzt auch verstorbene Jungfrauen decken.
5. Februar 1931 (Donnerstag)
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Die Nachtsitzung - Unter dem Republikschutzgesetz - Passage in Marmor - Beim letzten Reimann - Die Besessene - Kostüme aus dem Lettehaus - Vati ist entrüstet.
Mitunter, wenn auch sehr selten, hat unsereins die Möglichkeit, jemand ein Schauspiel zu vermitteln, das mit Geld nicht erkauft werden kann.
Karten zur Reichstagstribüne, das meine ich nämlich, sind, wenn ein "großer Tag" statt der üblichen kleinen Langeweile sich ankündigt, für gewöhnliche Sterbliche, die keinen Minister oder Reichsboten in der Verwandtschaft haben, unerreichbar. Aber es gibt Ausnahmefälle, Gelegenheiten, die erst in letzter Stunde sich offenbaren.
Also in der Nacht zum Dienstag, während die Regierenden von heute ihre Herrschaft betonieren, weil sie die Regierenden von morgen, die nationale Opposition, sonst nicht mehr niederhalten können, nehme ich eine Dame in den Reichstag mit, den sie in meiner Begleitung schon vor dem Kriege einmal kennengelernt hat. Sie ist einigermaßen entgeistert, denn das geht wahrhaftig noch über Piscator-Theater, und morgens gegen 3 Uhr, als wir mit den Abgekämpften zur letzten Atzung ins Restaurant gehen, gibt sie ihre Eindrücke mit den Worten wieder:
"Als nationaler Deutscher soll man sich nicht mehr bekennen dürfen, aber sonst darf man von Schwein bis Nazimörder alles sagen!"
Es ist nicht ganz so, aber es ist ungefähr so.
Mit allen Mitteln, die bis zur Vertagung des Parlamentes auf lange Monate gehen, während inzwischen der Rundfunk von unbeantworteten Agitationsreden der Rotversippten widerhallt, werden Debatten über Kriegsschuldlüge, Youngvertrag, Versaillesrevision, Aufrüstung verhindert. Äußert sich außerhalb des Reichstages ein Volksbegehren, so versucht man es durch Terror niederzuknütteln oder zum mindesten durch sogenannte legale Schikane. Es ist unzweifelhaft, wie schon die Hindenburg-Wahl es erwies, daß die Schwarzweißroten im deutschen Volke die relative Mehrheit haben, nach ihnen erst die Roten und die Sowjetgesichelten kommen, die Schwarzrotgelben eine ganz kleine Minderheit sind. Aber unter deren nomineller Führung durch Brüning hält alles gegen Schwarzweißrot verzweifelt zusammen, umso verzweifelter, als seit dem 14. September 1930 dieses an Anhängern rapide zunimmt, besonders das schwarze Hakenkreuz im weißen Kreise des roten Feldes, aber auch das "reine" Schwarzweißrot der Deutschnationalen, seit unter Hugenberg die bläßlich Entfärbten vor die Tür gesetzt worden sind.
In dem altparlamentarischen England tritt in solchen Fällen die nur noch fiktive Mehrheit bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurück, nachdem sie Neuwahlen angeordnet hat, weil sonst der Sinn der Demokratie ja verdreht würde. In Deutschland aber klammern die Fiktiven sich an die Ministerstühlchen und versuchen durch Verstraffung der Geschäftsordnung im Reichstage, wogegen an sich, da hat Löbe im Rundfunk ganz Recht, nichts zu sagen wäre, ihre unberechtigte Herrschaft zu verlängern.
Natürlich brandet die Leidenschaft hoch auf. Aber auch der Spott, ja der Klamauk kommt zu seinem Recht. Gegen 2 Uhr morgens erscheint an der Ja-Tür ein Fraktionsdiener mit Decken und Kissen im Arm. Schlafen? Nein, daran denkt in Wirklichkeit kein Mensch. Sogar Frau Kathinka v.Kardorff-Oheimb, nunmehr vom dämonischen Vampirtyp endgültig zum Mütterfach hinübergewechselt, hält um ihres Mannes willen bis zuletzt als Zuhörerin aus. Er ist zwar noch nicht als Kathinkus IV. zur Reichspräsidentschaft aufgerückt, so daß auch sie noch immer nicht die langersehnte Rolle der "ersten Dame der Republik" spielen kann, aber in dieser Nacht ersitzt er sich wenigstens den Posten als Vize für Löbe, den Stöhr verlassen hat. Am nächsten Tage verläßt die Rechte, 151 Mann, geschlossen den Reichstag zum Zeichen des Protestes gegen die Undemokratie, um erst wiederzukehren, wenn die Rückkehr als Kundgebung oder zum Eingreifen als nötig sich erweist. Es läßt sich nicht leugnen: der damit verbundene freiwillige Verzicht auf die Diäten während der Tagungen des Reichstages, ein in unserem parlamentarischen Leben einzig dastehender Vorgang, macht starken Eindruck im Volke.
In den Beschlüssen der anoch regierenden Mehrheit von der Sozialdemokratie Gnaden liegt System. Man merkt das ja auch außerhalb des Hauses. Im Jahre 1930 hat die Zahl der auf Grund des Republikschutzgesetzes Angeklagten 9481 erreicht. Das ist ein Zeichen der Schwäche. Unter dem Kaiserreich hat es ein Monarchieschutzgesetz nicht gegeben. Sogar der Majestätsbeleidigungsparagraph wurde unter Zustimmung Wilhelms II. aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.
Kommt man jahrelang um diese Zeit täglich vom Reichstag die Linden herunter, so denkt man wohl, die Zeit stehe still und es verändere sich nichts. Dabei ist nichts so ständig als die Veränderung. Wer weiß noch, daß erst vor zehn Jahren der Reitweg Unter den Linden, neben der Mittelpromenade, unter einer neuen Asphaltdecke verschwunden ist? Wer weiß noch, wie es war, als an Stelle des heutigen Hotels Adlon das alte Palais Graf Redern stand und gegenüber die Länderbank auch noch nicht erbaut war? Jetzt hat die Passage von den Linden zur Ecke Friedrich- und Behrenstraße ihr architektonisches Kleid gewechselt, das in seiner mit Ornamenten sehr überladenen Renaissancepracht aus dem Jahre 1873 stammte. Alles auf einmal glatt, sachlich; nur noch breite unverzierte Flächen in grauem Kunstmarmor.
Trotzdem: auch im neuen Gewande wirkt die Passage, wenn man sie in Gedanken etwa mit der domhohen weiten Galeria Umberto in Mailand vergleicht, immer noch provinzlerisch.
Da haben ganze Generationen aus Treuenbrietzen oder Finsterwalde sich am Schlusse eines Berlinbummels ihre "Mitbringsel" und "Souvenirs" von unglaublicher Geschmacklosigkeit geholt und können es noch heute. Da gibt es immer noch den "Kunstmaler Professor Fischer" mit einer lockenden Ausstellung seiner Arbeiten; schon für 100 Mark, Teilzahlung gestattet, kann man sich da seine Photographie lebensgroß in Öl übermalen lassen. Immer noch gibt es gegenüber den Laden mit Gummiartikeln, nebenan die Buchhandlung mit sogenannter erotischer Literatur, nur daß man heute schon offen in der Auslage sieht, was früher hinten im Dämmer verkauft wurde. Der damalige Inhaber, Marcus, ein alter Mann mit priesterlichem Weißbart unter der fleischigen Nase, bekam einmal 6 Monate Gefängnis dafür. Inzwischen ist freilich das Käuferpublikum fast ausgestorben. Wenn man erotische Romane mit größter Leichtigkeit erleben kann, braucht man sie sich nicht zu kaufen. Und die einst so verführerischen Waden- und Badebilder bleiben Ladenhüter, da man heute auf jedem Kostümfest viel besseres sehen kann.
Auf dem Künstlerfest der "Bunten Laterne" soll es diesmal übermünchnerisch frei hergegangen sein. Da sei man "richtig auf seine Kosten gekommen", erzählen die Libertiner männlichen Geschlechts. Ich kann aus eigener Kenntnis nichts dazu sagen, denn ich war nicht da; aber der Reimann-Ball am nächsten Tage, das kann ich bezeugen, war für Berliner Verhältnisse sehr anständig und künstlerisch eine Augenweide. Der "letzte", sonst immer überfüllte Reimann-Ball des Jahres, der allmählich alles an sich zieht, was einst als "Gesinde" oder "Böse Buben" sich tummelte. Nur brauchte man diesmal den Kaisersaal des Zoo und etliche andere Räume nicht hinzuzunehmen, es ging auch so, denn die Besucherzahl ist doch zusammengeschrumpft; und das relativ stark vertretene Ausland fällt fast wieder so auf wie in der Inflationszeit, wo der Einheimische sich fast nichts mehr leisten konnte.
Gegen Morgen sitzen wir auf dem Rande eines Musikpodiums. Einander ganz Fremde, zufällig Hergewehte. Rechts neben mir eine junge Amerikanerin in holländischer Tracht mit schwerem Goldzierat an der Spitzenhaube, nach ganz gewaltigem Sektkonsum, durch den sie sich in der einen Nacht für lange "trockene" Heimatjahre entschädigt. Links neben mir eine Estin aus Reval. Daneben ein Norweger, lang, schlank, aber dunkel, also nach modernem Sprachgebrauch noch nicht genügend aufgenordet. Dann ein Berliner Girl, das sich ein chinesischer Student der Medizin mit seinen (seinen, nicht ihren) zarten Kinderhänden gegriffen hat. Auf der anderen Seite weiterhin ein italienischer Marquis, den man überall in Berlin trifft und der schon recht gut deutsch spricht. Er möchte gern zwischen seinen Nachbarinnen sitzen, zwei Lehrerinnen, aber die haben Augen nur für einander und verachten die Gattung Mann.
Weshalb wir alle hier gestrandet sind? Ein faszinierender Anblick hat uns hergezogen.
Auf einem ausgesparten Quadratmeter des Podiums hat stundenlang, buchstäblich stundenlang, ein junges Mädchen allein getanzt. Wie eine Besessene. Immer Charleston. Zu jeder Musik Charleston.
Ich frage den Kapellmeister: "Ist das eine Berufstänzerin?"
Er antwortet: "Nein, sie hat bloß einen Schwips!"
Es ist wohl mehr als das. Sie tanzt, wie ich nur Derwische in Kleinasien und im Kaukasus tanzen sah: bis zur Bewußtlosigkeit. Wenn sie einmal das Bein bis in Höhe der ausgestreckten Hand wirft, wird sie durch ihren Schnürchenrock dabei gestört. Also reißt sie sich ihn vom Leibe. Nun hat sie nur noch einen schmalen Büstenhalter, einen schmalen Lendenschurz und die Tanzschuhe an.
Und tanzt weiter. Immer Charleston. Zu jeder Musik Charleston. Schaut verzückt in die Weite und verneigt sich, wenn die Musik pausiert, nach allen Seiten, oder setzt sich ans Klavier, um für sich selber Musik zu den immer noch zuckenden Beinen zu machen.
Sie ist wirklich keine Berufstänzerin, sondern Malschülerin - sie ist Landschafterin, möchte aber Modezeichnerin werden - bei Reimann. Der Vater, in Berlin N, ist Maschinenmeister in einer Fabrik, der kann ihr das Geld für die Reimann-Schule nicht geben. Also ist sie Werkstudentin. Sie verdient sich etwas durch technische Zeichnungen, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Will sie hier Aufsehen erregen, auf diesem Wege einen Maecen finden? Ich glaube nicht. Sie folgt nur ihrem Daimon, oder, wie unhöfliche Leute sagen: sie hat den Satan im Leibe.
Sie ist von Musik und Tanz besessen.
Als sie schließlich völlig erschöpft auf einen Stuhl sinkt und, ohne mich überhaupt anzusehen, "Eine Zigarette, bitte!" haucht, hat sie schwere dunkle Schatten unter den Augen.
Ihre beiden inneren Knöchel sind blutig, weil sie sie beim Charleston aneinandergeschlagen hat.
Gemerkt hat sie nichts. Es ist, als sei sie im Trancezustand. Über einen jungen Herrn, der sich ihr vorstellt und sich um sie bemüht, sieht sie hinweg. Nun ist an ihr auch nichts Lockendes mehr. Man möchte sagen, daß sie in einer Minute sichtlich welkt.
Zum Anschauen der übrigen Herrlichkeiten ist mir wenig Zeit geblieben. Aber nicht ich allein, sondern auch die sechs Damen, mit denen ich mich in langen Pausen an unserem Tisch treffe, von der eigenen Frau bis zu dem kleinen "aus der Provinz" hergeflogenen Mädel, urteilen übereinstimmend, daß erstens unsere Jungmädchenwelt dank Sport und anderen Dingen sich gegen früher fabelhaft entwickelt hat, größer, schlanker, anmutiger geworden ist, und daß wir zweitens noch nie ein Künstlerfest mit so schönen, reizvollen Kostümen erlebt haben. Der Dr. cost., der akademische Kostümberater, wird am Ende noch ein lohnender Beruf. Ich treffe einen Bekannten, der sich sonst vielleicht mit Russenkittel oder Domino beholfen hätte, in einem ganz fabelhaften Phantasieanzug, frage ihn, woher er den habe, und höre: aus der Letteschule. Jawohl, im Lette-Verein am Viktoria-Luise-Platz Nr. 6, in diesem Riesen-College, in dem unter Leitung der Direktorin Dr. Hauff bis zu 3000 junge Damen auf alle möglichen Berufe vorbereitet werden, gibt es jetzt auch große Werkstätten für Bühne, Film, Tanz, die Frau Müller-Stempel (früher an der Staatsoper) unterstehen und wo Fräulein Lotte Wernekink als Modeberaterin waltet.
"Nichts wie hin!" sage ich mir. Hei, da habe ich aber Augen gemacht. Schon in der Spritzerei, wo gerade ein junges Mädchen, die Farbenspritzpistole in der Hand, ein fertig zugeschnittenes Gewand "indianisch" zurichtet. Dann in der Ausstellung historischer, landsmannschaftlicher und Phantasietrachten. Donnerwetter, das Ding da, Krinoline mit Spitzen und Taille und Jäckchen dazu, das könnte Kaiserin Eugenie getragen haben. Kostenpunkt? Ich falle fast auf den Rücken: dank billigen Stoffen und Spritzverfahren nur 65 Mark! Schon beziehen große kunstgewerbliche Geschäfte in Berlin, Köln, Hagen, Dresden, München vieles von hier, auch einzelne Künstler und Privatleute immer mehr. Ich gehe in die Kunststickerei, wo kostbare chinesische Arbeiten und echte Teppiche restauriert werden, muß auch erleben, daß ein Besteller, der natürlich nicht Katholik, aber auch nicht Protestant ist, eine Bischofsmütze zu einem Kaffeewärmer umarbeiten läßt, ich sehe mir alle Betriebe (still: auch die netten jungen Mädchen) genügend an und bin mächtig begeistert.
Ob es nicht manchmal Ärger bei der Kostümberatung gebe?
Doch, auch das, sagt die Dame.
Da kommt am Tage nach dem Reimann-Ball entrüstet ein Herr an:
"Ich wollte doch ein recht fesches, jugendliches Kostüm von Ihnen, nich? Darin stehe ich nun im Marmorsaal, lächle und fordere ein hübsches Mädchen zum Tanze. Und was sagt sie? Lieber nich, Vati, hat sie gesagt! Dafür lasse ich mir aber kein Kostüm bei Ihnen machen, daß die jungen Mädels Vati zu mir sagen!"
12. Februar 1931 (Donnerstag)
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