"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 19 - 21
8. bis 22. Januar 1931


19

"Auf dem Vulkan" - Der Tanz in der Straße Unter den Linden - Tanzwut, Tanzlust, Tanzsport - Holiday - Unser Hausball - Erich Kohler und der Weltrekord - Brüning als falscher Prophet - Menzel-Erinnerungen - Dreißig Jahre Portier.

Alle Welt sagt, daß wir auf einem Vulkan tanzen. Haben Sie schon jemand auf einem Vulkan tanzen sehen? Das Bild ist, glaube ich wenigstens, nicht dem Leben entnommen. Es ist eine papierene Erfindung.

Trotzdem ist das Bild von dem Tanz auf dem Vulkan sehr eindrucksvoll.

Einmal, im Winter von 1918 auf 1919, ist es mir am deutlichsten in Erscheinung getreten. Den Tag weiß ich nicht mehr. Jedenfalls knallte es überall in Berlin, die Reichskanzlei war belagert, Ebert telephonierte aus einem Versteck dringend um Entsatz durch "Offiziere von der alten Sorte", nicht die durch ihn eingeführten von der Truppe gewählten, und Scheidemann war ausgerissen. Ausgerissen vor - wie er es im November genannt hatte - dem Volke, das auf der ganzen Linie gesiegt hatte. Also überall knallten Gewehrschüsse oder explodierte irgend etwas, kurz, tausend kleine Vulkane schienen sich aufgetan zu haben. Verängstet und frierend hasteten Leute an den Häuserwänden entlang, suchten gelegentlich Schutz in den Hauseingängen, - oder auch nicht, denn es war einem ja schon fast alles gleichgültig, daheim herrschte Kohlenmangel und Nahrungsmangel: "Wir gehen doch alle kaput!"

In dieser Lage und in dieser Stimmung hört man plötzlich, Unter den Linden in der Nähe der Universität, die Musik eines Leierkastens. Ein Marsch, ein Volkslied, dann Tänze. Und urplötzlich umfaßt ein Fremder eine Fremde, Unbekannte finden sich zusammen, drehen sich, - tanzen. Nicht Alter, nicht Stand sind Schranke, ein junger Student tanzt mit einer weißhaarigen Aufwärterin, ein gutgekleideter älterer Herr mit einem verfrorenen kleinen Kinde, eine stattliche Dame mit einem Postboten, auch mehrere Soldaten miteinander, und das ist so ansteckend, daß jeder Passant mit hereingezogen wird.

Wenige hundert Meter weiter wird geschossen. Die Berliner wirbeln ihren Totentanz. So beginnen die seither verflossenen zwölf Irrsinnsjahre.

In der Inflationszeit ist die Tanzseuche dann bis in das fernste Dörfchen gedrungen. Sie ebbt nachher etwas ab, ist nicht mehr so verbissen, nicht mehr so fratzenhaft, auch nicht mehr so gemein. Es wird weniger geschoben und gewackelt, auch der Charleston, den sogar ein Mann wie der Generaldirektor Dr. Klönne mühsam erlernt hat, verschwindet wieder. Aus der Tanzwut ist Tanzlust geworden; auf einem Seitenast sproßt aus der Tanzlust der Tanzsport.

Manchmal in diesen Jahren habe ich mir gesagt, ich wollte keine Zeile mehr über das Tanzen in der Reichshauptstadt schreiben. Aber es ist nun einmal "das" tägliche Vergnügen geworden. Früher hatte man drei- oder viermal im Jahr das Kränzchen oder den Ball und damit fertig. Heute im Zeitalter des Achtstundentages, wo schon nachmittags um 4 die Bureaus ihre jungen Angestellten beider Geschlechter heimschicken, saust alles in die Tanzcafés. Oder dreht sich zu Hause, auch wo nur zwei Freundinnen beisammen sind, zu Grammophon oder Rundfunk. Dann hört man nicht das Grollen des Vulkans. Das geht durch alle Stände hindurch.

Mit unseren nunmehr großen Jungs sind wir zum Silvesterabend in eine befreundete Familie eingeladen, wo - selbstverständlich - getanzt werden soll. Das mag bis etwa 2 Uhr nachts dauern. Und da fragen die zu den Ferien erlebnishungrig heimgekehrten Jungs:

"Und was machen wir nachher? Können wir noch anderswo eine Sohle drehen?"

Nein, meine Lieben. Diesmal nicht. Auch wenn der 1. Januar ein Feiertag ist und gemeiniglich zum wüsten Ausschlafen benutzt wird. Ein verquollener Tag. Es ist nicht schön, wie die meisten Deutschen den neuen Lebensabschnitt beginnen. In England kennt man diesen Feiertag nicht, sondern arbeitet. Auch Karfreitag, Himmelfahrt, Bußtag werden dort überschlagen. Der Engländer kennt nur den ersten Montag im August als holiday neben dem Weihnachts-, Oster- und Pfingstmontag, sonst keinen Feiertag. Nur noch die zwei Minuten jeweils am 11. November um 11 Uhr vormittags zum Gedenken der deutschen Waffenstreckung.

Also, liebe Jungs, wirklich nichts zu machen. Sowieso seid Ihr am 2. Januar mit zwei bekannten jungen Damen auf einer Tanzdiele; und am 3. Januar steigt unser alljährlicher einziger Hausball. Wie? Ob ich nicht selber schon mehrere öffentliche Bälle mitgemacht hätte, während Ihr in Euren Garnisonen Dienst tatet? Nein, in dieser Saison - meine Leser nehmen es mir schon übel - bin ich bisher nur auf einem einzigen Wohltätigkeitsfest gewesen. Dafür soll unser Hausball aber urgemütlich werden.

Er ist es in der Tat geworden. Wenn man auch den Billardtisch im Speisezimmer deckt, sind 24 Personen unterzubringen. Junges Volk her! Wir empfangen es festlich, ich im Smoking, meine Frau und meine Schwägerin im Abendkleid. Alles ist in der großen Bücherstube versammelt. Dann lassen wir unsere Gäste wenige Minuten allein: blitzschnelle Verwandlung, die beiden Damen erscheinen wieder, aber in kurzem schwarzem Servierkleidchen mit weißer Schürze, knixen und bitten zu Tisch, ich selber throne in weißer Kellnerjacke als Getränkesteward ob dem Ganzen, meine Frau und meine Schwägerin bedienen die Gäste. Hat mächtigen Spaß gemacht. Unser alleiniges Mädchen für Alles hätte es doch nicht schaffen können, und zum Mieten von zwei Lohndienern sind wir nicht protzig genug. Na also. Es geht auch so.

Ein lustiger blutjunger Oberleutnant zur See hält eine launige Tischrede auf die Gastgeber, ich antworte " in Vertretung des abwesenden Hausherrn", der mich, den Diener, beauftragt habe, nach dem Rechten zu sehen und vor allem selber nichts zu trinken.

Wie es sich gehört, speisen wir als Gesinde nachher. Sind nun allen Zwanges ledig, so daß ich mich entsprechend benehmen und eine meiner Mitbediensteten ruhig in die Backe kneifen kann.

Gott sei Dank, das Essen und Trinken hat gereicht. Nur mit dem Rauchen habe ich mich verkalkuliert. Das junge Volk, das schon längst tanzt und dies bis ½4 Uhr morgens tut, greift in den zwei Minuten Pause zwischen jedem Tanz immer sofort nach der Zigarette, tut ein paar Züge, läßt das Rauchröllchen dann weiterkokeln, wovon am Lendemain noch je ein Brandloch auf einem Tischchen und im Teppich zeugen, und nimmt sich in der nächsten Pause wieder eine Zigarette.

Auf diese moderne Art bin ich altmodischer Mensch aber nicht gefaßt gewesen; noch in der Nacht müssen wir uns schnell aus der nächsten Kneipe 150 Zigaretten besorgen. Ich gönne sie den jungen Leutchen. Bin doch selber alter Rauchsünder, nur daß es bei mir die Zigarre ist. Jedenfalls sind wir bis zum Schluß unter allerlei Scherz und Spiel pudellustig.

Früher pflegten wir zu sagen, Tätigkeit sei ganz schön, nur dürfe sie nicht in Arbeit ausarten; dabei haben wir natürlich unser Lebtag tüchtig geschuftet. Heute nun kann man sagen, Tanzen sei ganz schön, nur dürfe es nicht in Arbeit ausarten; dann ist es sehr traurig.

Heute Nacht habe ich mir den Angriff auf den Weltrekord im Dauertanzen angesehen, im Parkrestaurant Landhaus in der Kaiserallee. Das ist eine Tanzdiele wie die übrigen auch, mit einem Publikum, das im Durchschnitt etwa aus Ladenangestellten sich zusammensetzt, ein nettes verhältnismäßig bescheidenes Lokal. Da wird allabendlich "die schönste Dame" mit bar 10 Mark prämiiert, ein ganzes Vierteljahr hindurch geht diese Auslese, und dann bekommt die Schönste der Schönen die Hauptprämie, nämlich eine sechstägige freie Reise nach Paris. (Pfui Deibel; doch dies nur nebenbei.) Die allabendliche Prämiierung irgendeines doch wohl berufsmäßig hier verkehrenden Mädels zieht anscheinend nicht mehr genug, also hat man jetzt die neue Attraktion gewählt: Erich Kohler, früher bekannter Boxer, vermutlich Feder- oder Bantamgewicht, dauertanzt hier um den Weltrekord, will 8 Tage und 8 Nächte hindurch diesem Menschheitsziel nachjagen, täglich nur mit einer Pause von 3 bis 6 Uhr morgens, wovon aber fast eine Stunde auf Ganzmassage, Bad, Nahrungsaufnahme, Wäschewechsel und dergleichen abgeht.

Ein blasser kleiner Mensch, nicht viel größer als etwa 1,55 Meter, ist dieser Kohler. Er wandelt in der 124. Stunde seines Dauertanzes daher wie ein Trunkener oder wie ein Gelähmter, der vorsichtig geführt wird.

Ist das noch Tanzen?

In der Turniersatzung des "R.V.D.S." - was Eindruck in Deutschland machen will, versteckt sich in Buchstaben - also in der Satzung des "Reichsverbandes Deutscher Sporttänzer", die in Wirklichkeit nur Schausteller sind, wird lediglich "rhythmische Bewegung" verlangt. Sie muß mit der Musik klappen. Schön. Aber man kann einen Takt auf zwei zerdehnen, also das Tempo um 100 Prozent verlangsamen.

Schleppenden Schrittes schiebt dieser Erich Kohler einen Fuß nach dem andern vor, und es sind ganz kleine Schritte, während er mit beiden Händen sich auf die Schultern der ihn überragenden jeweiligen "Tänzerin" stützt, die ihrerseits ihn mit beiden Händen um die Hüften faßt. Sein Gesicht ist müde, blaß, starr, nur wie im Traum kommt gelegentlich ein Wort über die Lippen.

Das ist kein Mensch mehr. Das ist eine verbrauchte Maschine, die gerade noch etwas klappert. Zur Erfrischung - des Publikums wird gelegentlich durch Megaphon etwas Klamauk gemacht.

Da heißt es: "Meine Herren, wieder ist eine Prämie von 5 Mark für unseren Kohler eingetrudelt!"

Oder: "Die soeben prämiierte schönste Dame stiftet ihre 10 Mark unserem lieben Erich Kohler!"

Kohler versucht zu lächeln. Es wird aber nur eine schmerzhafte Gesichtsverzerrung. Die Tänzerin, die ihn gerade führt, eine Dicke, die seine Mutter sein könnte, hebt ihn buchstäblich empor und trägt ihn zum Jurytisch, wo ihm die 10 Mark in die Hosentasche gestopft werden, dann wankt er weiter, nun schon in die 126. Stunde hinein.

Und es sollen 168 werden. Der Menschheit ganzer Jammer faßt uns an.

Warum macht das dieser Erich Kohler?

Er ist 27 Jahre alt, ist verheiratet, will mit seiner Frau doch von etwas leben. Er bekommt das ganze Eintrittsgeld, 50 Pfennige von jedem Besucher, das während des Turniers erhoben wird, aber in der heutigen Nacht beispielsweise waren nur noch 60 Besucher da. Dazu kommen noch hie und da Prämien von 3, von 5, von 10 Mark. Dafür muß er den Masseur bezahlen und Speise und Trank für die 8 sich ablösenden Partnerinnen, also bestenfalls verdient er in diesen 8 Tagen etwa 200 Mark und hat für viele Wochen sein Nervensystem ruiniert, wenn er nicht überhaupt einen Knacks für das ganze Leben davonträgt.

"Aber wenn man nu keene andre Arbeit hat?", sagt mir als ich sie anspreche, eine seiner Tänzerinnen; vielleicht ist es seine Frau selber.

Wenn man keine Arbeit hat . . .

Am 28. Juni 1930 sagte der Kanzler Brüning, die Regierung rechne mit durchschnittlich 1,6 Millionen Arbeitsloser und werde diese Ziffer halten. Heute haben wir 4 Millionen Arbeitslose. Täglich begegnet auch mir der Schrei nach Arbeit. Der ehemalige Fabrikbesitzer, der ehemalige Gutsbesitzer, die ehemalige Lehrerin oder Sekretärin stellen sich vor, jetzt auch ein alter Bekannter, der - ehemalige Portier des Café Josty, Herr Stöwer, ein Prachtkerl, einst Grenadier bei den Franzern, dann 30 Jahre lang, dreißig Jahre, Portier bei Josty und jetzt "abgebaut", noch in voller Rüstigkeit nach dreißig Jahren untadeliger Dienstzeit entlassen, weil gespart werden muß.

Das Arbeitslosengeld für die dreiköpfige Familie langt nicht hinten und nicht vorn. Uhr und Kette hat Stöwer schon ins Leihhaus gebracht. Ein Stück nach dem andern wandert dorthin. Man will doch seine Miete bezahlen. Das Arbeitslosengeld reicht gerade für kärglichstes Essen.

Hier, zunächst ein bißchen Geld. Nicht danken, lieber, guter Stöwer! Und nun wollen wir mal beraten. Vielleicht finde ich einen Verleger für Ihre Erinnerungen. "Dreißig Jahre Portier am Potsdamer Platz", das muß als Titel doch ziehen! Was, Sie haben sich an Jannings gewendet, von wegen "Letzter Mann", und keine Antwort bekommen? Nehmen Sie es ihm nicht übel! Wir alle ersticken in solchen Briefen.

Dann tauschen wir die alten Erlebnisse aus. Auch ich habe den berühmten Menzel, den Fridericus-Maler, noch erlebt. Wenn er im Restaurant Habel oder anderswo sein Mittagessen, nicht zu knapp, denn die kleine Exzellenz hatte großen Appetit, zu sich genommen hatte, kam Menzel immer zu Josty. Auf dem Wege dahin hatte er den ihm auflauernden jungen Straßenhändlern gutmütig Streichhölzchen abgekauft. Manchmal hatte er alle 17 Taschen seines Anzuges und Mantels, in denen schon Skizzenbücher steckten, mit den Büchschen vollgestopft, die dann zu Hause im Korridor Körbe füllten. An der Normaluhr am Potsdamer Platz Halt, die Taschenuhr hervorgezogen und gestellt, dann kam schon immer Stöwer, denn es war täglich die gleiche Minute, und geleitete Adolph v.Menzel herüber. Der kleine alte Herr, der nach dem Kaffee auch immer etwas einnickte, war eine Sehenswürdigkeit für das Lokal, umgekehrt waren aber auch für ihn die Gaffer eine Sehenswürdigkeit. Er skizzierte sie. Er zeichnete wohl auch mal die Hunde, die beim Portier Stöwer abgegeben waren.

Ganz Potsdam und auch die Berliner und die auswärtige Gesellschaft verkehrte bei Josty. Stöwer war der Kleinbankier manches jungen Leutnants. Er hat an keinem Offizier etwas verloren, nur bei Studenten gelegentlich etwas in den Rauch geschrieben. Namen in Unzahl tauchen auf. Wir fragen uns, ob ich, ob er den und jenen gekannt habe. Jawohl, jawohl. Da saß der Graf Strachwitz. Da saß der Generalarzt Leu. Da saß die jetzige Kaiserin mit dem Prinzen Carolath. Da Ernst Günther von Schleswig-Holstein. Siegfried Wagner und Graf Zeppelin jedesmal, wenn sie in Berlin waren. Tausend Geschichtchen vom Potsdamer Platz weiß Stöwer, vom Einzug der Kronprinzenbraut bis zu Eberts Begräbnis. Und als er weggeht, seufzt er:

"Ja, wenn noch mein alter Kompagniechef von den Franzern lebte, dann wäre sicher alles für mich anders!"
8. Januar 1931 (Donnerstag)


20

Die Reklamereise durch den Osten - Sterbende Großstädte - Bei den Juryfreien - Kostümball der Hebeammen von Lichtenberg - Was Charité-Ärzte erleben - Film und Publikumsgeschmack - Ein moderner Werkstudent - Pension Grams.

Von der Reklamereise im Salon-Blitzzug durch Ostdeutschland sind Kanzler und Minister still nach Berlin zurückgekehrt. Jeder Tag, jedes Auftreten hat einen Verlust an dem Vertrauen eingebracht, um das die Brüning und Genossen für ihre Regierungskoalition warben. Im Frühsommer 1932 muß der preußische Landtag neugewählt werden. Da bekommen die Novemberlinge ihre Quittung, da erleben wir die Wende. Soweit wir sie noch erleben. Eine ehedem blühende Großstadt wie Breslau macht schon heute den Eindruck einer sterbenden, wenn man aus dem galvanisch noch krampfenden Berlin hinkommt. Die Geschäfte verarmt und verödet, weil die Landkundschaft ausfällt und Schlesien zu einer schmalen Halbinsel verkleinert ist; und der Verkehr so verkümmert, daß man meist erst zum Bahnhof laufen muß, wenn man eine Autodroschke haben will. Dazu an Feiertagen frohlockend die rote Fahne des sozialdemokratischen Oberpräsidenten, der sich noch nichts abgehen zu lassen braucht: das gibt gut vorgekochte Wahlen, darauf können die Herrschaften Gift nehmen.

In Berlin fängt es auch schon an. Noch ist nicht Fastnacht, aber schon graut Aschermittwoch. Jedes "Vergnügen" ist des Zeuge.

Der Kostümball der Juryfreien, jener sezessionistischen Künstlervereinigung, an deren Spitze Professor Sandkuhl steht, ist für sämtliche Räume der Philharmonie angezeigt. Das ist in früheren Jahren eine ausgelassene Sache gewesen. Diesmal machen schon die Garderobefrauen sorgenvolle Gesichter. Nur der große Saal - ohne obere Galerien - braucht geöffnet zu werden, "sämtliche" anderen Räume liegen im Dunkel; und auch im großen Saal ist noch reichlich Platz.

Da schwenkt sich paarweise die erschienene Menschheit, alle Paare verabredet, da es früher hier "doch so nett war". Für Alleingänger ist der Anschluß schwierig, denn dir korybantische Lust fehlt völlig. Hie und da sieht man die blonde schweifende Bestie: einen Mann in den sogenannten besten Jahren, der irrigerweise geträumt hat, hier werde man von Schaaren junger Mädchen umringt. Lieber Freund, wer hat, hat; die jungen Mädchen sind alle vergeben.

Hie und da sieht man, ebenfalls einsam, die Frau im gefährlichen Alter an den Wänden herumstehen, das Gesicht tief beschattet vom breitkrämpigen Hute, die übrigen Körperteile etwas offenherziger; auch sie wird um ihren Roman enttäuscht.

Die übrigen Besucher tanzen fleißig, fragen sich aber vergeblich, wozu man eigentlich ein buntes Kostüm dabei nötig habe. Nirgends taucht lustige Narretei auf. Man spricht vom Abgebautwerden und davon, ob es wirklich einen Esel gebe, der 8 Mark Eintrittsgeld für dieses Fest bezahlt habe. Es gebe doch Künstler-, Ehren- und Hintenherumkarten genug.

Zwei Damen verschnaufen sich etwas an dem Tisch, an dem ich mit einem Bekannten vom Bau sitze. Wir bieten ihnen höflich ein Glas von unserem Wein an. Da meint die eine der beiden entgeistert: "Zu welchem Zweck?" Zum Durststillen genügt 1931 doch auch Selterswasser. Etwas faschingsartiger wird es, als mein Bekannter mich als berühmten Frauenarzt vorstellt, ich ihn als berühmten Kriminalverteidiger. Vor wem sollen sich die Damen mehr hüten oder zu wem dürfen sie mehr Vertrauen haben? So gibt es bei uns schließlich doch noch eine beschwingte kleine Ecke, während das Gros Stunde um Stunde, bis 6 Uhr früh, darauf wartet, daß es am Ende vergnügt werde. Die meisten Paare warten auf den Treppenstufen sitzend darauf und umarmen sich derweil, was sie zu Hause viel bequemer hätten, aber hier eigens deswegen öffentlich tun, um mit dem bißchen Illegitimität zu protzen. Wenn ein Bildhauer diese Gruppe sähe, könnte er auf den Gedanken kommen, es sei eine Allegorie der Darmverschlingung.

Da möchte man wahrhaftig lieber in einer Kleinstadt irgendeine Harmlosigkeit mitmachen. Gesagt, getan. Für 25 Pfennige Straßenbahn ist man schon in einer anderen Welt. Also bin ich die nächste Nacht in Kerns Festsälen im äußersten Osten. Auf dem Ball des Vereins der Hebammen von Berlin-Lichterberg. Das ist einer der nettesten Abende, die ich je in Berlin verlebt habe.

Mir war gesagt worden, heutzutage entsprächen diese "weisen Frauen" nicht mehr dem Bilde, das man sich früher von ihnen gemacht habe. Sie seien auch für schlanke Linie. Es gäbe welche unter ihnen mit Gymnasialbildung, mit perfektem Parlieren in mehreren Fremdsprachen, aus durchaus vornehmen Familien. Jawohl. Vielleicht im Berliner Westen. Hier aber, in Lichtenberg, sehen sie fast alle so rund und gütig aus, daß man "Mutterken" zu ihnen sagen möchte.

Mit einer Ausnahme. Ich habe an dem Tisch Platz gefunden, an dem die Delegierten der Schwestervereine sitzen, meine Dame ist aus Berlin-Neukölln - ooch 'ne dufte Jejend -, ist in dem Normalalter von 60 Jahren, fühlt sich aber wie 40 und fühlt sich auch noch so an, ist elegant im Maulwurfscape erschienen und sagt, bis 70 wolle sie jung bleiben, wolle sie tanzen und lieben. Die Lebenslust kracht ihr nur so aus den Augen. Ja, die hat's gut, flüstert mir eine Kollegin zu, die empfindet die Konkurrenz der Krankenhäuser und die Verringerung der Geburtenzahl noch nicht so, denn sie hat nebenbei noch ein gutes Zigarrenlädchen.

Aber fidel, harmlos fidel, sind sie alle. Die Hebammen sind ja zu der optimistischen Weltanschauung prädestiniert, daß alles Weh und alle Wehen sich schließlich in Glück und Freude verwandeln. Es geht so eine behäbige Lebensfreude von ihnen aus. Sie sind natürlich mit Töchtern und Nichten und jungen Bekannten gekommen, damit jedermann was fürs Herz hat. Aber anständig, anständig. Im Verein der Hebeammen von Berlin-Lichtenberg wird nicht geknutscht wie bei den Juryfreien oder in der Kunstakademie oder auf dem Reimannball, vastehste.

Und alles drum und dran ist nett, aber billig. Für die drei schönsten und originellsten Kostüme sind Preise ausgesetzt, je eine Schachtel Pralinen zu 1½ Mark, die von dem Preisrichterkollegium verteilt werden, in dem ein Arzt, eine Hebamme und ein Mann einer Hebamme sitzen. Einen dieser Preise erhält eine Dicke, Frohe, Gute, die ihr Braunseidenes lediglich mit Babybildern und einer Milchreklame besteckt hat. Vor Freude mensendieckt sie uns etwas vor. Wenn sie hüpft, denkt man, ein Braukessel schwappe über; aber man muß ihr "herzegutt" sein, wie die Schlesier sagen.

Mit den Töchtern und Nichten, mit denen das Tanzen natürlich etwas leichter ist, spricht man hochdeutsch. Mir gegenüber sitzen zwei so nette Kätchen, zwar nicht aus Heilbronn, sondern aus Neukölln und Lichtenberg, die eine in Matrosenbluse, die andere in Flügelkleidchen, daß ich gleich der Ritter Wetter vom Strahl sein möchte. Mit den "weisen Frauen" selbst aber berlinert man. Die meine im Maulwurfscape ist unerschöpflich im Erzählen:

"Zu'n Jeheimrat Bumm ha' ick jesaacht, Herr Jeheimrat, ha' ick jesaacht, wennse ooch mal mir mit's kalte Messer an'n Bauch wollen, denn wer' ick jiftig, un da hat Jeheimrat Bumm jesaacht, beruhigen Se sich man, Frau Fromm, for Ihnen laß' ick det Messer extra wärmen!"

Ich sitze Rücken an Rücken mit einem Tisch, an dem sich 4, 6, 8 junge Ärzte von der Frauenklinik der Charité versammelt haben. Sie treffen zu verschiedenen Zeiten ein, auf der Rückfahrt von irgendwoher, wo sie einem Kinde ins Leben verholfen haben. Dauernd sind sie unterwegs, besonders nachts. Ein Österreicher ist unter ihnen, wie ich an der Sprache merke; er volontiert an der Charité. Dann ist da ein junger Doktor, dessen Vater deutscher Gesandter im Auslande ist; er hat das Parteibuch der Sozialdemokratie. Die Ärzte unterhalten sich, ehe "derTanz in seine Rechte tritt", kurz über ihre Fälle. Sie sind alle mit Passion bei dem Handwerk des Helfens. Ich fange manches davon auf, und mir wird auf einmal klar, weshalb die Berliner Kinder nicht an den Storch oder, wie es in meinem eigenen Elternhause hieß, an den Engel glauben, der die Babies bringe.

Sie sind nämlich - fast immer dabei.

Da kommt einer der Doktoren eben aus einer Laubenkolonie. Ein Raum, ein bullernder kleiner Kanonenofen, drei Betten. Darin ein altes Arbeiterehepaar, drei junge Kinder, die älteste Tochter mit ihrem Mann. Diese hat in der Nacht ein Kind geboren. Die Geschwister stehen herum. Man kann sie doch nicht in die Kälte hinausjagen.

Ein ähnliches Bild vom Wedding, Hinterhof, drei Treppen. In einem Raume ein Haufen Menschen. Nicht weniger als sechs Mietparteien hausen um den Korridor. Die werdende junge Mutter schreit in ihren Schmerzen. Da poltern immer wieder Fäuste außen an die Tür:

"Halt doch endlich die Schnauze! Keen Aas kann schlafen!"

Oder von einer Zille, einem Spree-Lastkahn, ist der Ruf an die Charité ergangen. Im Dunkeln, über vereistes Gelände, stolpert ein Arzt mit zwei jungen Ärztinnen daher. Der Schiffer empfängt sie, stutzt und sagt:

"Ihre Mächens können woll drieben in de Kneipe warten!"

Er wird dann aufgeklärt und turnt mit den dreien über Stege, Leitern, hochbordige Kähne an Ort und Stelle, wo auch die ganze Familie dasteht.

Einer der Herren kommt aus einem Zigeunerwagen. Mit einer Schmutzkruste und alten Mänteln und Lumpen zugedeckt, liegt die Kreißende da. Als der Arzt sich seinen weißen Kittel anzieht, erhebt das ganze Zigeunerlager bis zum dreijährigen Kinde herunter ein Zetergeschrei, denn Weiß bringe Unglück. Sonst muß man, wenn auch nicht den Charité-Arzt, so doch wenigstens das Verbandmaterial bezahlen, das er mitbringt. Hier aber will eine Diva "zum Dank" dem Arzt weissagen, er solle seine Hand herreichen, ein Geldstück darauf legen und es anblasen, und schon ist es - fortgeblasen, im Ausschnitt der Wahrsagerin gelandet.

Wie gesagt, unter solchen Verhältnissen ist es schwer, märchengläubig zu bleiben, Oder überhaupt gläubig. Man versteht es, wenn alle diese Leute, die das Wohnungselend doch zum Halbtier machen muß, nur die eine Erholung kennen, im Kino auf Bilder zu starren, wo in hohen Sälen elegante Menschen tafeln. Oder wo ein Milliardär ein Friseurmädchen freit. Oder wo Studenten unbekümmert trinken, singen, lachen, lieben. Ob die Zuschauer ahnen, daß so überhaupt nicht mehr getafelt wird, daß wir Milliardäre nicht mehr haben, daß die Studenten heute fast samt und sonders in harter Werkfron stehen? Gelegentlich, ganz verschämt, künden ja auch die Filme die bittere Alltagswahrheit, die die Besucher nicht mögen. Es war wohl in dem Mondfilm der Ufa, in dem das Hungerleben eines Gelehrten erschütternd dargestellt wurde. Vielleicht wäre es gut, wenn einmal auch der Werkstudent darankäme, damit der Arbeiter nicht immer denkt: das sind die Söhne der Reichen, die brauchen bloß das Geld von Hause zu versaufen, und wenn es alle ist, dann gibt man ihnen in jedem Monat neues.

Einen Studenten habe ich jetzt kennen gelernt, der ist das Sonderbarste an Student, was mir je vorgekommen ist. In einem weichen Gesicht stehen zwei stahlharte Augen, die zu funkeln anfangen, wenn von der Hoffnung auf das Dritte Reich die Rede ist. Er glaubt so fest an dieses Reich wie ich.

Ein "Werk" von ihm habe ich im vorigen Jahre zitiert, ohne zu ahnen, wer der Verfasser sei. Es war - ein Schlagerlied. Der 22jährige junge Mann, Boris Grams, ein kernfester Ostpreuße, hat nämlich bei Otto Urack, dem trefflichen früheren Kapellmeister der Staatsoper, Frontoffizier, musikalischem Begleiter des Kronprinzen, Harmonielehre betrieben und will über den Schlager (etwas anderes zieht zunächst nicht) zur guten Unterhaltungsmusik kommen. Für seine Sachen, von denen ich "Champagner", "Meine Oma", "Liebe kommt", "Elga" kenne, hat er jetzt wagemutig sogar einen eigenen Verlag gegründet. Bisher glaubte ich, diese ganze Musik samt Texten käme fast ausschließlich aus Galizien, obwohl freilich Walter Kollo und Robert Stolz ("Zwei Herzen im Dreivierteltakt") auch reindeutsch sind. Nun habe ich den dritten Deutschen kennen gelernt. Und dieser junge Mann hat nicht nur in einem Monat - einem, wirklich einem - das Latein von vier Jahren nachgeholt, um nachträglich die Reifeprüfung zu bestehen, sondern arbeitet zur Zeit auf den Doktor der Staatswissenschaften hin, um einst dem Volke in entscheidender Stunde mit etwas anderem als mit leichter Musik helfen zu können.

Und zum Schluß das Verwunderlichste: in Berlin W, Motzstraße 44, direkt am Prager Platz, befindet sich seit wenigen Wochen - die Pension Boris Grams. Freilich kocht nicht der junge Musiker und Doktorand. Das macht seine Mutter. Aber die Energie des Tag- und Nachtarbeitens ist von ihm. Auch wohl die Kühnheit.

Mich überschauert's, wenn ich an diesen übernächtigen Werkstudenten und sein Risiko denke. Es ist eine der elegantesten Pensionen, mit zehn saalartig großen Zimmern, die monatlich zusammen 600 Mark Miete kosten. Vermietet werden sie einzeln für 70 bis 100 Mark monatlich, Frühstück einbegriffen. Bei voller Pension entsprechend mehr. Wenn ich wieder mal wie diesmal vor Weihnachten Maler und Tapezierer und Schuttberge im Hause habe, weiß ich, wohin ich durchbrenne. Zu diesem Werkstudenten, über dessen vielgestaltigem Leben flammend doch nur die eine Inschrift brennt: Vaterland!
15. Januar 1931 (Donnerstag)


21

Vom Ehedem - Stadt ohne Uniformen - Was aus Traubes Diele geworden ist - Kolonialball und Bühnenball - Mein Alter Fritz - Am 18. Januar in Potsdam.

Früher zogen in den Fremdenstraßen der Reichshauptstadt Uniformen die Blicke auf sich. Uniformen der Berliner, Potsdamer, Spandauer und sonstiger märkischer Regimenter, aber auch Uniformen von Offizieren aus dem ganzen Reich, die zu der Kriegsakademie oder anderen militärischen Instituten kommandiert waren. Unter den Linden und in einigen anderen Straßen durfte man Sonntags nur im Helm erscheinen; Rauchen in Uniform war da verboten. Die Ausländer machten lange Hälse und verdrehten sie nach jedem Leutnant.

Auch in der Königlichen Oper und im Schauspielhaus sah man täglich abends Gardelitzen und überhaupt zweierlei Tuch leuchten und das gesellschaftliche Bild farbig machen, denn aus der Königlichen Privatschatulle wurden eine Anzahl Freibillets für die Berliner und die nach Berlin kommandierten Offiziere zur Verfügung gestellt. Damals bin auch ich, sogar mit Frau, gelegentlich Freibillettler gewesen und habe, als ich noch jung und morgenschön war, den ersten Rang mit beleben helfen. Lang, lang ist's her.

Heute hat schon jeder Stabsgefreite die Erlaubnis, in Zivil auszugehen. Berlin hat nur noch ein Wachregiment, Offiziere in Uniform sieht man kaum je, es sei denn in der Nähe des Reichswehrministeriums, in der Königin-Augusta-Straße. Da sausen Autos am Ufer des Landwehrkanals vom Zentrum zum Westen oder umgekehrt, aber da flaniert man nicht; die Fremden sind enttäuscht.

Da hat es "die Provinz" viel schöner. Besonders, wo es noch Fähnriche gibt. In München, in Dresden, in Hannover, in Flensburg. Wenigstens diese Fähnriche tragen noch fast immer Uniform; nur daß sie nicht mit dem Schleppsäbel über den Bürgersteig rasseln, wie in den ganz alten Zeiten, die etwa mit 1890 abgeschlossen sind. Die Fähnriche sind noch heute der Verzug der Bevölkerung. In München, in Dresden, in Hannover, in Flensburg; auch in Stralsund und anderswo, wo sie kürzere Gastspiele geben. Ganz eingesessen ist ein Fähnrich erst, wenn er sagen kann: "Ich hab' ein Mädchen mit Abendbrot!" Nämlich eine kleine Tanzfreundin aus guter Familie, in die er Sonnabend um Sonnabend eingeladen wird, ohne daß man Hintergedanken an eine etwaige Heirat dabei zu haben braucht. Die Fähnriche sind ja noch so jung; und erst mit 27 Jahren, also gemeinhin als Oberleutnants, sind sie in dem militärisch erlaubten heiratsfähigen Alter. Ohne dabei immer heiratsfähig zu sein, denn ein "Kommißvermögen", auch wenn es nicht mehr verlangt wird, gehört doch dazu, sonst gibt es bei dem schmalen Gehalt Heulen und Zähneklappern. Aber der Staat, der das Heiraten vor einem gewissen Alter verbietet, nimmt den jungen Herren trotzdem die Junggesellensteuer als Strafe für ihr Unbeweibtsein ab.

In Berlin sieht man, wie gesagt, sie alle, die Fähnriche, die Leutnants, die Oberleutnants, nur in Zivil, es sei denn, daß sie irgendeine Staatsvisite machen.

Wo gibt es denn hier noch ein Lokal, das man in Uniform aufsuchen kann? Selbst in den großen Hotels setzt man sich in dieser Zeit unter Umständen mehr als nur erstaunten Blicken aus. Außerdem wechselt die Zusammensetzung des Publikums eigentlich von Monat zu Monat. Wenn der junge Offizier früher Verwandtenbesuch vom Lande bekam, ging man zu Hiller oder Dressel. Nach dem Kriege tafelten da nur Erzberger, Höfle, Bauer, Sklarek und Genossen. Dressel zog um, in die Mauerstraße, konnte sich da aber in den letzten Jahren nicht mehr halten und ist eingegangen, Dressel, die altberühmte Gaststätte, die früher in jedem "mondänen" Berliner Roman einmal vorkommen mußte.

Vorher existierte hier Traubes Diele, bis zum Kriege der eleganteste Fünf-Uhr-Tee der Hauptstadt, wo lautlos die Kellner im violetten Frack und seidenen Kniestrümpfen bedienten. Und heute? "Billig, billig!", lautet die Parole, also hat sich da ein Café Hecht aufgetan, das für 1,30 Mark Kaffee, Kuchen, Musik und Tanz in den alten Luxusräumen bietet und wo, nur sehr vereinzelt, nach Bureauschluß in der City die Pärchen sich treffen. Manchmal auf sechs Kellner nur sechs Pärchen. Wenn die Kapelle nicht gerade spielt, ist es so still, daß man sich scheut, selber ein lautes Wort zu sprechen.

Nur aus dem Gang hinten zur Küche dringt es zuweilen vernehmlich heraus. Da äußert sich der Galgenhumor der Angestellten über die schlechten Zeiten. Da ist auch das Telephon, das der eine oder andere der Angestellten zu einem Gespräch "mit zu Hause" benutzen kann. Und die Pärchen verstummen vollends, wenn es von dorther messerscharf erklingt:

"Iß doch mal 'n Tach jarnischt! Wer hat denn früher von Essen wat jewußt? Keen Mensch! Höchstens nimmste mal 'n Konjak!"

In den Zeitungen stehen die Ballberichte aber wie ehedem und erzählen von Lust und Glanz; und die Leserschaft merkt es nicht, daß eine ganze Anzahl Bälle diesmal ausfällt. In zwei habe ich auf je ein Stündchen hineingeguckt, den Kolonialball und den Bühnenball. Sie unterscheiden sich äußerlich dadurch, daß es auf dem Kolonialball für angemessen gilt, Orden anzustecken, auf dem Bühnenball dagegen, Orden wegzustecken. Auf dem ersteren traf ich aber einen alten Herrn, der von seinen zwei Halsorden nur einen trug, der ihm von einem Monarchen verliehen war, dagegen nicht das Rote Kreuz, das er im vorigen Jahre von dem heutigen Staat erhalten hat. Endlich mal ein Mensch, der die Weimarer Verfassung respektiert! Denn die verbietet doch die Annahme von Orden. Was nicht verhindert hat, daß Ebert sich die Sonne von Peru, Stresemann den Stern von Abessynien, Marx den Herzogsmantel von Afghanistan anhängen ließ. Die Eitelkeit ist eben stärker als die Verfassung.

Auf dem Bühnenball erschien man also schlichter, obwohl hier der Frack dominierte, während auf den Kolonialball, angesichts aller unserer alten Gouverneure und vieler in Krieg und Frieden verdienter Afrikaner, das junge Volk ruhig im Smoking kommen kann. Hier wie dort, im Zoo und bei Kroll, waren die Räume gegen früher verkleinert, so daß man Überfülle vortäuschen konnte. Besonders arg war das Gedränge im großen Saal bei Kroll, der von lauter "Prominenten" in den Logen umsäumt war; um die zu sehen, hat man doch sein Eintrittsgeld bezahlt.

Und sie sitzen alle da wie die Spatzen auf dem Telegraphendraht.

Gleich beim Eintreten falle ich in Maria Paudlers Grübchen. Und drüben scherzt Mady Christians mit Christa Tordy, zwischen beiden Harry Liedtke. Und da, und da: Camilla Spira, Marianne Winckelstern, Tamara Desni, sogar der kleine Gustl Stettenbauer. Schon bin ich eingekeilt. Ich habe mich aber doch mit einem jungen Doktor verabredet, Tisch 269 nebenan im sogenannten Empfangssaal, da muß ich hin. Da gibt es nur ein Mittel.

"Achtung, Mayonnaise!", rufe ich.

Im selben Moment habe ich eine Gasse wie die Juden im Roten Meer. Alles quetscht und staut sich entsetzt zu beiden Seiten. Wird der Stuartkragen dabei zerdrückt, so ist das immer noch besser, als wenn Tunke auf die ganze Robe kleckert. Wer bisher nur die Bühnengrößen anstarrte, der schaut sich jetzt nach dem "Kellner" mit der Mayonnaise um. Der ist nicht mehr zu entdecken. Sein Ruf ist von besorgten Herren der Gesellschaft prompt weitergegeben worden. Ich kann glatt hindurchschreiten und spare mir eine halbe Stunde Stehen und Drängen.

In diese Zeit der Bälle und des erfrorenen Lächelns, wo jedermann auf die Frage, wie es einem gehe, antwortet: "Danke, so durchwachsen!", fällt diesmal ein großes nationales Fest. Das heißt: hätte es werden könne. Nämlich die Feier des sechzigjährigen Bestehens des Deutschen Reiches, die die Offiziellen zu einem Propagandatag für Schwarzrotgold und für die Brüning-Politik machten. Dafür feierten umso inniger die Nationalen und um so ernster die Reichswehr, während das Gros der Wähler der heutigen Regierungskoalition, von Scheidemann bis Westarp, überhaupt nicht feierte. Aus diesem zerrissenen Berlin habe ich mich am 18. Januar gedrückt, um wieder Potsdamer gute Luft einzuatmen. Das bißchen Übernächtigkeit von den beiden Bällen des 17. Januars ist frühmorgens schnell abgestreift, in aller Herrgottsfrühe bin ich schon auf der Fahrt.

Potsdam, Garnisonkirche. Wo der Alte Fritz ruht. Gerade hat mir Professor Langhorst-München, der treffliche Porträtist, ein Bild des großen Königs mit einer launigen Umschrift geschickt. "Von seinem wohlaffektionierten König, gegeben 1931 im Elysium. Auf Allerhöchsten Befehl: Professor Langhorst, Königlich privilegierter Hofmaler." Nun stehe ich vor Friedrichs II. Grabesdom, der Garnisonkirche.

Da strömen ja die Leute schon heraus? Was ist los? Der Gottesdienst etwa vorverlegt?

Ach nein. Bloß ist die Garnisonkirche schon zehn Minuten vor Beginn überfüllt. Wollen sehen. Es geht schon, es geht schon. Auf dem obersten Chor, Nr. 8, finde ich noch ein Eckchen hinter der Menschenmauer. Andere scheuen es, denn da wird man weiß an der gekalkten Wand. Tut nichts. Auch daß ich nur gerade, hoch oben an den Pfeilern, unsere ruhmreichen alten Fahnen sehe, genügt völlig. Wohl noch nie war die Garnisonkirche so voll; und auf der Straße stehen noch gut zweitausend Menschen. Herrlich, wie soldatisch und deutsch der Generalsuperintendent D. Dibelius von der Kanzel über den 18. Januar spricht. Kurz und kernig.

Unsere Könige wußten, was sie taten, als sie anordneten: länger als 20 Minuten darf hier die Predigt nicht dauern. Es mag Bauerndörfer geben, wo man "was haben will für sein Geld", wo der Pastor eine Stunde sprechen muß und wo jeder Choral in schleppendem Tempo zerdehnt wird. Hier aber hat alles Marschrhythmus. Man denkt: diese forsche Orgel haut dir ins Genick, wenn du nicht mitkommst! Das ganze zivile Potsdam ist da, aber auch die ganze Garnison, zwar viel, viel kleiner als früher, aber doch noch "alles da", Infanterie, Kavallerie, Artillerie. Und wer morgens schon von 5 Uhr ab Pferde gefüttert und geputzt und Stallrevision gehabt hat, der schaut doch mit hellen Augen zur Kanzel, denn bei den Worten, die von dorther kommen, kann man einfach nicht einnicken. Selten habe ich von einer Predigt - hoffentlich wird sie gedruckt - so viel gehabt, denn diese gab Antwort auf die Frage, die uns alle bewegt: Hat Gott unser Volk wirklich verstoßen, oder was will er damit, wenn er das Unrecht über uns triumphieren läßt?

Nachher die Parade, draußen im Lustgarten vor dem Stadtschloß, König Friedrich Wilhelms I. altem Exerzierplatz.

Die alten Fahnen!

Jedermann entblößt sein Haupt, obwohl gerade Schneetreiben einsetzt, erst später die Sonne wieder durchbricht. Wie die Mauern stehen Bataillone, Schwadronen, Batterien. Hier ist Tradition lebendig. Von Fehrbellin über Bellealliance und Sedan und Tannenberg bis zu den noch kommenden neuen Schlachten. "Fahnen - Marsch!"   "Standarten - Marsch!"" Im Stechschritt werden die Feldzeichen zu den Truppenteilen gebracht, die dann zum Parademarsch antreten. Vor dem Standortältesten, einem Generalmajor. Eine Ansprache aus seinem Munde, kurz, keine zehn Sätze, hallt über das Feld. "Hurrah! Hurrah! Hurrah!" Das ist das Hurrah, vor dem im Kriege ganze Nationen ausrissen, bis in unserem eigenen Rücken das "Nieder! Nieder! Nieder!" aus deutschem Munde erscholl. Nun öffnen auch die vier Geschütze der Salutbatterie, die hinter dem Wäldchen aufgefahren ist, ihren ehernen Mund. Der Donner rollt und grüßt das alte Reich. Das Band ist für jeden Alten, der einmal Soldat war, und für jeden Jungen, der einmal Soldat werden will, unzerreißbar; der 9. November 1918 hat da nichts zerschnitten, nichts neu angeknüpft.

Auf dem Altar in der Garnisonkirche lag dieselbe rotseidene Decke mit eingesticktem eisernen Kreuz, die vor sechzig Jahren im Spiegelsaal zu Versailles den Altar geschmückt hat.

Hütet sie gut. Wir werden sie noch brauchen.
22. Januar 1931 (Donnerstag)



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Glossen 22 - 24

© Karlheinz Everts