"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 16 - 18
18. bis 31. Dezember 1930


16

Kleine Renovierung überall - Das Liegelang - "Russisch-Polen" - Als Christkind unterwegs - Kaiserin Hermines Geburtstag - Im Grammophonladen - Zwei Wochen billiges Autofahren - Die Visitenkartenschale.

Alles neu macht der Mai.

Manchmal ist es aber auch der Dezember, in dem, soviel auch sonst über Absatzkrise geklagt werden mag, die Polsterer und Tapezierer reichlich zu tun haben. Tante Anna kommt oder Onkel Paul, die dürfen doch nicht auf der geborstenen Sprungfeder im Lehnstuhl sitzen. Oder Liesel soll ihr erstes Tanzkränzchen zu Hause haben, ein Zimmer wird dazu größtenteils ausgeräumt, nur das Sofa bleibt an der Wand, und just dieses Sofa hat so arg vergilbte Borten. Oder der Oberkollege des Mannes wird zum Mittagessen am ersten Feiertag erwartet, - was soll der zu der alten geflickten Gardine sagen? Auch das von der Wand abgeplatzte und gedunkelte Stück Tapete über der Heizung müßte ersetzt werden, wenn sonst schon nichts in der Stube geschieht.

Kurz und gut: fast überall in Berlin wird geklopft, bezogen, geklebt. Hie und da kommt wohl auch - nur seltener als in anderen Jahren - ein neues Möbelstück an. Man kann die Muschelornamente von 1890 oder die Jugendlinien von 1900 nicht mehr sehen. Irgend etwas Modernes soll her. Und in tausend Familien heißt es einstimmig: eine Kautsch! Geschrieben: Couch.

In ganz alten Zeiten nannten wir es französisch, nämlich Couchette. Dann kam der falsche Name Chaiselongue dafür auf; das ist ein ganz anderes Möbel, hundert Jahre älter, so eines, auf dem Madame Récamier malerisch posierte. Inzwischen wurde das deutsche Wort Ruhesofa (es ist nur halb deutsch) versucht, es ist aber nichts Rechtes. Man muß so sprachschöpferisch wie Friedrich Ludwig Jahn sein, der - ich denke, es war 1807 - das Wort "Volkstum" für etwas erfand, das wir bis dahin sinnlos mit Nationalität wiedergaben. Da bekomme ich nun dieser Tage von einem jungen Paar einen Brief, in dem es heißt:

"Wir haben uns auch ein Liegelang angeschafft!"

Herrlich, herrlich. Das "Liegelang" kann die Chaiselongue oder Couchette oder Couch gut ersetzen und bürgert sich hoffentlich genau so schnell ein wie der Bahnsteig für den Perron. Geschaffen hat dieses Wort der Dichter Börries v.Münchhausen, wie ich erst eine Weile später erfahren habe.

Bei uns selbst, bei Bücherschreibers, wie die alte Putzfrau sagt, ist auch der Dezember der Monat der Erneuerung. Da ist eine Stube, in der piept es, sagt sie. An der einen Längswand lange, hohe Regale, vollgestopft mit Broschüren, Flugblättern, Briefschaften, Manuskripten. Und diesen Dreck soll man immer wieder viermal jährlich klopfen, abstauben, ordnen? Ein heldenmütiger Entschluß: hinaus damit! Es sind allein 5 Zentnersäcke voll Briefschaften geworden; nur das notwendigste bleibt zurück und sieht nicht mehr so wüst aus. Die alte Putzfrau klopft mir auf die Schulter und sagt:

"Jott sei Dank, det Ruschiß-Polen wech is!"

Trennung ist schwer. Oder, wie diese Alte, die vor 50 Jahren Milchmädchen in einem großen Kuhstall (das gab es damals noch) in der Wilhelmstraße Nr.3 war, drastischer es ausdrückt: "Keener will ausmisten!" Das habe ich jetzt, ach, so häufig, auf den heimlichen Gängen gesehen, die mich zu Leuten führten, denen ich etwas bescheren wollte. Da ist nichts weiter dabei. Ein kleines Dankopfer von einem, dem es noch gut geht.

Also da sehe ich in viele Hofwohnungen von 2 Stuben und Küche hinein, in denen Leute hausen,die früher 6 oder 8 Zimmer mit Vorderaufgang hatten. Die früheren Prachtstücke sind längst verkauft. Geblieben ist vielleicht eine altertümliche Tischuhr, eine gute Bronze, ein Ölgemälde, alles andere aber ist Gerümpel und Nichtigkeit von "Aufstellsachen", wacklige Tischchen mit Deckchen, die ganze Wohnung bis zur Ungangbarkeit verstopft. Freilich: alles ist irgendwie "Erinnerung". Aber niemand, und seien es die Nächststehenden, wird das erben wollen, sondern es kommt, sobald der letzte Bewohner auf dem Kirchhof liegt, zusammengehauen in die Müllgrube.

Da sitze ich bei einem alten Dämchen, das mit der Schwester zusammenlebt, in dem einzigen etwas freien Quadratmeter der Stube. Der Mann war Arzt, wurde aber, weil er nicht mehr felddienstfähig sei, 1914 nicht einberufen. Da schmuggelte er sich als Soldat, als Kriegsfreiwilliger, ein und zog ins Feld. Er behielt das Feld und das Feld behielt ihn. Nun lebt seine Witwe, ein bißchen welke Haut um das Knochengestellchen, ohne Pension dahin, nur freilich - umgeben von lauter Erinnerungen. Ich habe meinen Namen nicht genannt, habe nur gesagt, ich käme als Unbekannter mit etwas Geld im Auftrag des Christkindes. Da taut die alte Dame gerührt auf und schleppt alte Erinnerungen her. Darunter die neueste und liebste: eine Photographie der Kaiserin Hermine aus Doorn mit Unterschrift und Gruß auf der Rückseite, die zugleich mit einer Geldsendung im vorigen Sommer eingetroffen war.

Es muß viele Leute geben, die aus Doorn etwas bekommen, denn allein in Berlin habe ich auf meinen Gängen schon vier verarmte Familien kennen gelernt, denen dies geschah. Der größte Teil der Bitten, die an den Kaiser oder an die Kaiserin gelangen, muß natürlich aus Mangel an Mitteln abschlägig beschieden werden, aber was hergegeben werden kann, wird hergegeben. Im vorigen Jahre waren es zusammen 59 000 Mark, das ist im Vergleich zu dem noch verbliebenen Einkommen des Herrscherhauses weit mehr, als irgendein sogenannter Wohltäter in Deutschland spendet.

Und es wird individuell gegeben, nicht repräsentativ gegeben. Es wird auch ganz heimlich gegeben, ohne jedes Trara. Das ist alles abgefallen. Doorn ist heute ein ganz schlichter - nur leider neblig-feuchter und nicht ganz gesunder - Landedelsitz, der von schlichten und guten Menschen bewohnt ist. Der Hausherr ist ein Verbannter, dem die liebe Heimat, der jeder Gedanke gilt, verschlossen bleibt. Aber seine Frau hält wenigstens als sein Kurier und Vertrauensmann die persönliche Verbindung durch Besuche aufrecht, so mit dem Kinderheim in Ahlbeck, das er gegründet hat und dem sein ganzes Herz und seine ganze Sehnsucht noch heute gehört. Weilt die Kaiserin Hermine so als Sendgraf in Deutschland, fällt die gemeinsame Teestunde von 5 bis ½7 in des Kaisers Turmzimmer also aus, so sorgt seine Gattin doch dafür, daß er nicht allein ist. Ihr jüngstes Töchterchen schlüpft mit einer Handarbeit herein und setzt sich artig und fröhlich da hin. Oder "zufällig" kommen just in dieser Zeit interessante Gäste, Professoren, Künstler, Techniker. In Doorn ist trotz Nebels immer Sonne, das versteht diese tapfere und kluge Frau ausgezeichnet.

"Wissen Sie, daß die Kaiserin Hermine heute Geburtstag hat?", fragt mich das alte Dämchen, bei der ich an diesem Dienstag, dem 17.Dezember sitze.

Gewiß weiß ich. Ich weiß aber auch, daß der Geburtstag der verstorbenen Kaiserin Auguste Viktoria von dem Kaiserpaar in Doorn stets gemeinsam und herzlich begangen wird. Ich weiß noch mehr. Nämlich, daß durch die Kinder seiner zweiten Frau ein gut Stück Heimat - nämlich: deutsches Familienleben - in das Haus kommt. Wenn sie mit den Kindern Quartett oder Schwarzer Peter oder Ball spielt, ist sie ebenso ganz bei der Aufgabe, wie wenn sie, die Vielbelesene, dem Kaiser als Gesprächspartnerin dient. Wenn sie etwas haben will, springen alle Kinde, auch die erwachsenen, auf und stürzen davon. Und nicht nur den eigenen, sondern auch den Kindern der Dienerschaft, die im Dorf untergebracht ist, leuchten die Augen, wenn sie der gütigen Herrin ansichtig werden. Den größten Jubel erlebt man zu Ostern, dann versteckt sie ihnen allen die bunten Eier im Garten; und da gibt es keinen Unterschied des Standes oder der Geburt.

Heute, kurz vor Weihnachten, wo man in jedem Hause enger zueinander rückt und bald alles von nah und fern unter dem Christbaum versammelt ist, macht uns der Gedanke froh, daß auch Wilhelm II. zwar in der Fremde - früher sagte man: im Elend - hausen muß, aber doch wenigstens eine treffliche Gattin und Hausfrau zur Seite hat. Man denkt auch sozusagen bürgerlicher nach seinem Heim hin als früher, der alte Nimbus ist zwar weg, aber man ist in gemeinsamer Landesnot menschlich einander nähergekommen.

Wie groß auch materiell die Not ist, das wird man sehen, wenn im Januar Bilanzen gezogen werden. Einstweilen ist noch der Goldene Sonntag die große Hoffnung. Wirkliches Gedränge ist heute schon in den Läden, in denen Grammophonplatten verkauft werden. Nicht mehr der Likör, aber die Musik gilt als der Sorgenlöser.

Mit den Massen lasse ich mich in ein solches Geschäft in der Leipziger Straße hineinspülen. Aus 16 oder mehr gläsernen Kabinen dringen hold-unholde Töne, von der klassischen bis zur atonalen Musik und von dem Weihnachtschoral bis zum Revueschlager; und 16 oder noch mehr Grammophone stehen davor in freiem Raum und quäken durcheinander. Wenn das kühne Bild gestattet ist: meine Ohren laufen Spießruten. Aber die Kaufliebhaber stört das nicht. Da hört einer den Pilgerchor aus dem Tannhäuser, während daneben ein anderer sich den Schlager spielen läßt: "Mein Bruder macht beim Tonfilm die Geräusche." In einem besonderen Saal werden nur Weihnachtslieder - in 60 verschiedenen Nummern, Chor, Quartett, Streichmusik, Blasmusik - vom Morgen bis zum Abend hintereinander geprobt. Vermutlich kommen die jungen Verkäuferinnen nach dem Fest in eine Kaltwasserheilanstalt. Auch Kindermärchen gibt es da. Ich lasse mir "Rumpelstilzchen" durch den Lautsprecher vordröhnen, möchte aber alsbald aufspringen und "Falsch! Falsch!" rufen. Das Märchen ist nämlich arg verkürzt. Es fehlt u.a. meine Lieblingsstelle, wo die junge Königin den Gnom schelmisch fragt:

"Heißt du am Ende Rippenbiest?"

Aber jedenfalls ist mir vor Weihnachten auch zum Tanzen zu Mut. Heute back' ich, morgen koch' ich, übermorgen hol' ich mir der Königin Kind! So ungefähr. Zum Beinausreißen ist nachher im Bilanzmonat noch Zeit genug. Vorläufig wird gebacken (schon die vierte "Portion" Spekulatius) und gekocht und allerlei geholt. Leichter als sonst entschließt man sich auch zu einer Autodroschke. Die fuhren in den letzten 14 Tagen um die Wette billig, mit 20 Pfennigen oder mit 10, 15, 20 Prozent Nachlaß. Vorgestern geriet ich in eine 15prozentige. "Wieviel macht's?" Da rechnet der Mann, kommt nicht zu Rande, sagt schließlich: "Moment mal, ick sehe in mein Alphabet nach!" und zückt die Tabelle mit den Rabatten.

Jedermann, auch der Ärmste, hat in diesen Tagen doch 15 Prozent mehr Fröhlichkeit als sonst.

Unser seit einem halben Jahr neues Mädchen - das vorige war vier Jahre bei uns - sagt, es verzichte auf Weihnachtsurlaub; Weihnachten sei hier immer so schön, habe die Putzfrau erzählt. Da kommen die großen Kinder, da kommt in den Tagen darnach auch viel Besuch, nicht wahr?

Da schellt es.

Die Donna geht hinaus in den Flur und bringt mir in erhobener Faust, nicht auf dem Tablett, zwei Visitenkarten.

Nachher führe ich das Mädchen vor die kleine flache Nickelschale auf dem Spiegelbrett im Flur und frage sie, ob sie wisse, wozu dieses Tablett da sei. Da strahlt sie und erklärt:

"Jawohl, das hat mir die Putzfrau auch schon gesagt! Da legen Gäste Trinkgeld für mich hin!"
18. Dezember 1930 (Donnerstag)


17

Wer den Christbaum hat - Die Urlauber kommen - Unsere Postpakete - Aus China für ein blondes Mädel - Haben wir noch Vitalität ? - Das Flötenkonzert von Sanssouci.

"Qui a - a!", ruft mir jauchzend ein Junge zu, der, eine kleine Tanne unter den Arm geklemmt, nach Hause eilt. Er ist Quartaner in der Realschule, also stolz darauf, das berlinische "Wer hat - hat!" auf seine Art französisch sagen zu können.

Natürlich lasse ich mich nicht lumpen und antworte in dem gleichen Küchenfranzösich: "Un si gros arbre - as tu des tons?" Auf Deutsch: so'n jroßer Boom - haste Töne? Der Junge grinst. Er hat verstanden und schiebt glücklich weiter. Wer hat - hat! Diesmal sind, mit Rücksicht auf die erliegende Kaufkraft, 40 000 Christbäume weniger als sonst nach Berlin geschafft worden.. Da heißt es, sich heranhalten.

In dem vorweihnachtlichen Trubel lasse ich mich gern umhertreiben. Freilich, da kommt jemand aus dem äußersten Thule Deutschlands, genießt staunend das Leben auf der Tauentzien, läßt sich aber doch nicht blenden und fragt mich:

"Warum haben eigentlich alle Berliner so gequälte Gesichter?"

Ja, mein Lieber, entweder fürchten sie, daß sie die richtige Untergrund nicht mehr erwischen, wenn der feurige Elias - der Halensee-Omnibus - ihnen gerade davongestoben ist, oder sie fürchten, daß sie im nächsten Jahre abgebaut werden, oder sie fürchten - wenn sie "Chef" sind - das Eingehen des eignen Geschäfts.

Will man alle diese gequälten Gesichter nicht sehen, sondern frohe Mienen, dann muß man in diesen Tagen vor den Bahnhöfen bummeln, wo die Urlauber herausströmen. Es ist nicht mehr so farbig wie ehedem, wo die buntesten Husaren und Kürassiere und Dragoner und Ulanen, verschwitzt, verschlafen und glücklich, Helmtüte und Köfferchen in der Hand, die Bahnsteige belebten, man sieht nur noch feldgrau und marineblau, und es sind ihrer nur wenige. Aber sie kommen mit großen frohen Kinderaugen. "Jetzt muß Berlin mal Kopp stehen!" ist darin ganz deutlich zu lesen.

So die letzten Tage vor dem Weihnachtsurlaub sind in der Garnison kaum mehr auszuhalten. Ein bißchen Bammel vor Berlin haben die jungen Soldaten natürlich auch, denn wie leicht kann man da, wenn man in Uniform ist, "auffallen", während die freundliche Provinz, sagen wir beispielsweise Stralsund, ihrem zweierlei Tuch gütig alles nachsieht. Wenn man in Berlin in einen Volksauflauf hineingerät? Oder wenn man Groener nicht rechtzeitig erkennt? Oder wenn plötzlich - der Chef der Wasserleitung vor einem steht, wie die "Fünfundachtziger" vom Landheer in der Kommißsprache den Chef der Marineleitung nennen? Ja, die Kommißsprache hat es in sich. Die Urlaubermütter müssen sich wieder an sie gewöhnen. Steht da einer der Urlauber strahlend vor seiner Mutter und sagt: "Du bist wirklich eine Pfundsfrau!"

Mit unseren eigenen Jungs muß ich heute, am Tage vor Heiligabend, wir alle in Räuberzivil, auf den Potsdamer Güterbahnhof. Bewaffnet sind wir mit Beil, Säge, Stemmeisen, Hammer. Es sollte 1930 - endlich und unwiderruflich - nur noch ein kleines Bäumchen, auf den Tisch zu stellen, gekauft werden. Begründung: "Ihr seid ja alle schon groß!" Aber da hat ein Christkindchen aus dem Harz uns gratis einen Riesenbaum geschickt, den wir im Lagerschuppen des Güterbahnhofs erst verkleinern müssen. Ich wohne doch nicht in einer Kirche! Da überschätzt uns die Frau Oberförster wirklich. Zwar ist mein Zimmer, in den Giebel 1½ Stock hoch hineingebaut, ein sehr hohes sogenanntes Atelier, aber einen 7-Meter-Baum, der laut Frachtbrief 118 Kilo wiegt, können wir doch weder aufstellen noch ungebrochen die 4 Treppen um die Ecken heraufschleppen.

Gleichzeitig ist aus Köln-Lindenthal eine Kiste Zigarren gekommen, anonym, aber ich kenne die liebe Geberin. Und von bisher Unbekannten aus Pommern ist ein Korb voll - wie wir in Ostpreußen zu sagen pflegten - "Fettigkeiten" uns ins Haus geschickt worden, zwei Spickgänse und verschiedene Würste. Einige Rezensionsexemplare davon werden wir uns munden lassen, das übrige aber an Menschen verteilen, denen es schlecht geht und denen ein solches Geschenk den Lebensmut wiedergibt. Auch 100 Mark schickt mir eine Dame für wirklich Notleidende.

So, und nun will ich von der allerallernettesten Sendung erzählen. Von etwas ganz ausgefallenem, ganz überraschendem.

Schon vor Wochen kriege ich einen unheimlich großen, dicken, weichen Brief aus dem Auslande. Es kleben 24 chinesische Briefmarken darauf. Diese behalten wir für uns. Meine Frau hat nämlich schon vor langen Jahren das Briefmarkenalbum unseres Jüngsten geerbt. Er wollte auf einmal nicht mehr. Es war von einem großen Vetter die Rede gewesen, was für einen Sport der wohl betreibe. Da sagte ein junges Mädel spöttisch: "Der? Der treibt nur Briefmarkensammelsport!" Seither sieht unser Junge keine Briefmarke mehr an. Schade. Uns Eltern aber machen sie Spaß. In dem besagten Brief nun liegen ein Fächer und 5½ Meter feinste chinesische Seide für ein Damenkleid, dazu etwa folgende Begleitzeilen:

"Im Deutschen Krankenhaus in Shanghai hatte ich sehr böse Tage zu verleben, aber in schmerzfreien Stunden gaben mir Ihre Bücher wieder Mut und Stimmung. Dafür möchte ich mich der Reihe derer anschließen, die Ihnen gelegentlich behilflich sind, hier eine Freude zu machen, dort eine Not zu lindern. Ich habe mir nun einen Fall ausgesucht, für den Sie allerdings nie appelliert haben. Es ist mir bekannt, daß es dringendere Notstände in der Heimat gibt, dem trage ich bei anderen Gelegenheiten auch Rechnung. Heute aber möchte ich nur der reinen Freude gedenken. Alljährlich kehrt in Ihren Berichten die Schilderung beispielsweise des Baltenballes wieder und der Freuden und der kleinen Triumphe, die dort die hübschen blonden Mädel erleben. In der Annahme nun, daß Sie irgendein solches Mädel kennen, das brennend gern zu dem großen Ereignis möchte, das aber - nichts anzuziehen hat, weil die Gelder leider für dringendere Ausgaben benötigt werden, schicke ich Ihnen hier ein Stück schöner Chekiangseide. Laut Versicherung einer mich beim Einkauf beratenden und in deutschen Verhältnissen wohl erfahrenen Gattin eines hiesigen Ministers ist das zu einem Ballkleid geeignet. Auch in der Farbe, meint diese chinesische Exzellenz, besonders geeignet für ein deutsches - hübsch soll es nach Möglichkeit auch sein - blondes Mädel. Zur Begleichung der Zollkosten erlaube ich mir, Ihnen hier in blanco ein Überweisungsformular zu senden, das Sie mit der nötigen Summe ausfüllen und beim Postscheckamt sich auszahlen lassen wollen."

Tagelang hat uns das Herz im Leibe gelacht. Wir hatten Weihnachtsfreude schon lange vor Weihnachten. Ein blondes hübsches Mädel aus guter Gesellschaft, das arm ist? Nichts leichter als das! Also schicke ich, eilends über Sibirien, dem mir bis dahin völlig unbekannten lieben Leser am Stillen Ozean eine kleine Liste derer, unter denen ich die Wahl hätte. Von Nr.1, der Erkorenen, sogar ein Bildchen dazu, eine Strandaufnahme von diesem Sommer aus Zinnowitz. Also, Kinder, das wird das schönste Kleid ihres Lebens! Ein bißchen Straßband und sonstige Zutaten schenke ich ihr dazu.

Und nun, rechtzeitig vor Weihnachten, trifft noch ein Brief aus dem fernen Osten ein. Mit Nr.1 einverstanden, auch wenn es keine Ostelbierin ist, sondern ihr Blondhaar am Rheine wuchs. Aber warum sollen Nr.2 und Nr.3 leer ausgehen? Also kommt noch was Chinesisches für die eine; und für die andere ein Blankoscheck, wofür in Berlin ein gutes Kleid gekauft werden könne.

Diese drei stehen in dem sonst für Damen sehr empfehlenswerten Alter von 17 bis zu 23 Jahren, wo einem noch der Himmel voll Geigen hängt. Aber die eine hat nichts, die anderen haben noch weniger. Die eine findet nachts keinen Schlaf, weil sie sich immer fragt, was werden soll, wenn sie im April keine Stellung bekommt, die anderen haben Arbeit, aber blutwenig Verdienst. Zur Zeit können sie sozusagen gerade ihr nacktes Leben bestreiten. Aber man muß auch ein bißchen Lebensfreude haben, wenn man etwas leisten soll, und die ist nun da. Es ist schön, wenn man aus eigenem oder aus zur Verfügung gestelltem Gelde helfen kann, wo grause Not herrscht, Mangel an Nahrung sogar, aber es ist herrlich, auch da Freude zu vermitteln, wo es noch nicht Versinkende sind.

Einem einst berühmten Manne, dessen Fassade noch in Ordnung ist, da er eher hungert, als daß er mit zerfranstem Kragen herumliefe, habe ich ein paar Flaschen guten Weines und ein Kistchen exquisiter Zigarren verehrt. Wohlerwogen gerade dies, nicht etwa abgelegte Kleider oder Geld. Denn nun fühlt er sich gehoben, nun erwacht vielleicht erneut die Schaffenskraft, nun rappelt er sich am Ende hoch. Draußen im Reich, "in der Provinz", stelle ich mir dies alles viel einfacher vor, aber Berlin ist eine erbarmungslose Mühle. Da wird man leicht zerrieben. Da kommt es darauf an, die Vitalität zu stärken.

Die Vitalität, die Lebensenergie, hat in der Reichshauptstadt, von wo aus man den Maßstab nur anlegen mag, überall nachgelassen. Vor zehn Jahren gab es in Berlin noch 11 eheliche Kinder auf 10 Eheschließungen, heute nur noch 7; vor dem Kriege gab es Jahre, in denen bei 10 Eheschließungen durchschnittlich 16 Kinder registriert wurden. Es gibt aber auch noch Zeichen von ungebrochenem Lebenswillen und ökonomischem Mut, vor allem ein starkes Aufbegehren nationalen Stolzes in bewußtem Widerspruch zu den Kreisen, die für Knochenerweichung und Würdelosigkeit sind. Es bleibt nicht bei der Negation, es bleibt nicht etwa bei Straßenkundgebungen gegen schlechte Filme, sondern es wird positiv gearbeitet; es werden von der Ufa Filme herausgebracht, die uns, ohne daß sie eine aufdringliche Tendenz zeigen, vaterländisch wieder aufrichten.

Neulich hat eine Studentenschaft gegen einen der üblichen süßen Heidelberg-Filme protestiert, wie ja überhaupt die Ufa "des Herrn Hugenberg" sich über Mangel an Kritik nicht beklagen kann. Nun ist Hugenberg aber ebensowenig Produktionsleiter als bei Scherl Redakteur; ob er auch nur jeden hundertsten Film oder hundertsten Leitartikel nach Erscheinen überhaupt sieht, ist mir, der ich die viel wichtigere sonstige Arbeitslast des Mannes kenne, sehr zweifelhaft. Selbstverständlich muß ein Unternehmen, das auf Kunden angewiesen ist, auch auf deren Geschmack Rücksicht nehmen, wenn nur die Grundrichtung nicht verlassen wird, die Erziehung des Publikums zu deutschem Freiheitswillen. Also wenn ein historischer Film, der uns das Herz freudig erbeben läßt, gegeben wird, wie jetzt "Das Flötenkonzert von Sanssouci", so darf er nicht ein Kolleg über deutsche Geschichte sein, sondern muß eine Spielhandlung enthalten, die sentimental ist und die auch Aufregendes bringt. Ganz entzückend launig rokokohaft ist in diesem Sinne der neue Otto-Gebühr-Film, in den hinein nur in wenigen Szenen die große Geschichte wetterleuchtet.

Man hat einen frohen Abend verlebt. Die köstlich schalkhafte Szene, wo der König die hübsche junge Frau des Majors v.Lindeneck, während ihr Gatte als Feldjäger auf Tod und Leben von Dresden nach Berlin galoppiert, auf dem Pfade der Tugend erhält, von dem sie abzuirren im Begriffe stand, ist einzigartig in ihrer Galanterie im besten Sinne. Berückend schön die Bilder von dem Galafest des sächsischen Staatsministers Grafen Brühl, atemraubend die Stafettenjagd zwischen den beiden Hauptstädten. Und zum Schluß das für unsereins schönste, wenn das kleine Preußen, umstellt von einer Übermacht, angefallen von Rußland, Österreich, Sachsen, Frankreich, seinen Wehrwillen wiederfindet und vor der gegen das Licht stehenden Silhouette des großen Königs seine Soldaten mit wehender Adlerfahne defilieren, umdröhnt von den an- und abschwellenden alten Märschen.

Da bricht lang Verschüttetes wieder in uns hervor. Da jubelt alles Volk. Da hört man auch nicht mehr die Störer.

Es sind dumme Leute. Bei dem Ritt des Majors von Lindeneck, der sonst für die Galerie "das" Ereignis an Spannung wäre, rufen sie:

"Das sind ja Karl-May-Geschichten!"

Mit Verlaub: es ist historische Tatsache. Und wenn dann der König mitten im Flötenkonzert sein Instrument absetzt und hastig-halblaut Befehle für das Erscheinen der Generale gibt oder mit einem guten Wort an den Posten vor Gewehr herangeht oder die Preußenfahnen rauschen läßt und derweil die Zuschauer und Zuhörer in Begeisterung geraten, rufen die Störer:

"Das sind endgültig gewesene Sachen!"

Es sind wirklich dumme Leute, diese paar Abkommandierten. Die Roten, die Ligisten für Menschenrecht, die pazifistischen Erfüller, die Ullstein-Journaille, die Intellektuellen haben keinen großen Resonanzboden mehr.

Der Rheinländer Otto Gebühr, Sohn eines kleinen Dorfschulzen, als junger Mensch dann Korrespondent für Englisch und Französisch in einem Berliner Handelshause, bis unser Herrgott ihn den Weg zur Bühne finden ließ, ist allmählich zu einer Inkarnation des großen Königs geworden. Er lebt in ihm. Und das prägt sich, wie bei Eheleuten, die Jahrzehnte lang ineinander aufgegangen sind, in immer größerer Ähnlichkeit der Gesichtszüge, der Haltung, der Bewegungen aus. Und nicht zuletzt in der Art der Lebensführung. Otto Gebühr lebt in preußischer Schlichtheit in einer Künstlerwohnung im vierten Stock, lebt da der Musik und der Malerei, hat sein Sanssouci auf Hiddensoe und ist in seiner alten Kleidung daheim manchmal salopp wie der große Vorgänger.

Wir haben uns "Das Flötenkonzert von Sanssouci" zweimal angesehen. Beide Male wurden Skandalmacher an die Luft gesetzt. Bei den Engländern oder irgendeinem andern selbstbewußten Volk wären sie bis zur Unkenntlichkeit verhauen worden. Hier gab es nur bei Widerstand Keile. Ein junger Rotgardist wurde allerdings übel zugerichtet und stolperte mit verschiedenen Schrammen im Gesicht hinaus. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Draußen empfingen ihn die Genossen mit dem Zuruf:

"Du hast dir woll im Sägewerk rasieren lassen?"
23. Dezember 1930 (Dienstag)


18

Glückwunsch-Schreiberei - Verlobungen zu Weihnachten und Silvester - Der ewige Deutsche - Nationalhymne verlangt - Ein Protzenfest - Nepp - Vom Theater - Nur mit Parteibuch - Die Wende naht.

Egal schreibt man Glückwünsche! Man hat ja schon Schwielen am Finger!

So hat manch einer vor dieser Jahreswende geknurrt, aber es ist wirklich nicht so schlimm, denn die Sitte der Neujahrsbriefe ist doch nicht mehr Zwang. Alles nur Konventionelle hat stark nachgelassen. Es gibt sogar schon viele Familien, die die übliche Geselligkeitssteuer, die von den Gästen mitgebrachten Blumen, vor dem großen Tage in netter Form ablehnen. Sie selber sorgen für die Füllung der Vasen. Der arme Junggeselle soll sich nicht in Unkosten stürzen.

Trotzdem, trotz aller bewußten Lockerung des Hergebrachten, hat man noch genug Glückwünsche zu schreiben, denn immer wieder - verloben sich junge Leute just unter dem Christbaum. Und da kann man natürlich nicht, wie es vor zwanzig Jahren bei der Überlastung um Neujahr vielfach üblich war, die "Gratulation ablösen", indem man zu wohltätigen Zwecken eine Summe einzahlt und seinen Namen in einer langen Liste im Lokalblättchen veröffentlichen läßt. Ein Brautpaar hat immer Anspruch auf den Brief oder das Telegramm; in diesem Fall wäre Unterlassen eine grobe Lieblosigkeit.

Schön. Also auch wir haben diesmal mehrfach telegraphiert und geschrieben. Darunter an ein junges Mädchen aus reichem Hause, das mit einem ebenfalls sehr wohlhabenden jungen Überseedeutschen sich verlobt hat. Er ist schon "drüben" geboren, hat aber in Deutschland seine Schulbildung genossen. Tags darauf machen die Beiden uns ihren Besuch. Ich strahle die Braut an und sage ihr, wie froh ich sei, daß sie, wenn sie auch ins Ausland gehe, doch einen Deutschen heirate. Da erwidert sie eilig, ehe er selber ein Wort sagen kann:

"Nein, mein Verlobter ist kein Deutscher, aber sehr deutschfreundlich!"

Natürlich will sie nur sagen, er sei nicht deutscher Reichsangehöriger. Aber es klingt arg. Ein Wunder, daß ich nicht zerplatze.

Kinder, Kinder!

Wenn ich irgendeinen Wunsch für 1931 habe, dann ist es der, daß wir Deutschen endlich mehr Selbstachtung lernen. Und daß wir ewig Deutsche bleiben, auch wenn wir - mit Rücksicht auf das Fortkommen - in den Vereinigten Staaten "die ersten Papiere" nehmen oder brasilianische Staatsangehörige werden oder gezwungen, um nicht alles zu verlieren, für Polen oder die Tschechoslowakei optieren. Kein Engländer verleugnet je seine Herkunft. Vor gut fünfzig Jahren ließ sich ein Mister Grove in Berlin nieder und begründete hier ein gutgehendes Installationsgeschäft, das noch heute besteht. In ungezählten Hotels und Privathäusern rauschen die Wasser durch sein Porzellan. Sein Sohn ging nun, wenn ich recht berichtet bin, als er heiraten wollte, nach London und holte sich dort seine Frau. Ich glaube, niemand kann sich vorstellen, daß sie etwa ihren Freundinnen erzählt hätte:

"Mein Verlobter ist kein Engländer, er ist in Deutschland geboren, aber er ist sehr englandfreundlich!"

Man hätte sie für verrückt gehalten. Nicht einmal eine englische Frau, die einen wirklichen Ausländer heiratete, verlor nach dem früheren englischen Gesetz ihre Nationalität. Brite bleibt Brite, auch noch im dritten, im vierten Geschlecht in der Fremde. So sollte es auch bei uns sein. Das "Ich bin ein Deutscher!" muß wie ein Freudenfeuer in unserer Seele flammen.

Auch wenn wir noch ärmer werden. Auch wenn es uns noch schlechter geht. Der erste Januar des neuen Jahres hat allein in Berlin für über 4000 Ladenangestellte die Entlassung bedeutet. Es ist alles mehr oder weniger nur noch Fassade, auch die "herrlichen" Auslagen in den Schaufenstern, von denen die Fremden schwärmen, auch das Dionysische in dem "Betrieb" des Hauses Vaterland am Potsdamer Platz, obwohl kein geringerer als Buster Keaton gesagt hat, das sei das lustigste und schönste, was er in der Welt gesehen habe. Halt: Betrieb Vaterland. Da sei gleich eingefügt, was ein Besucher aus dem Reiche entrüstet mir schreibt. Er sei auch dagewesen. Im Grinzinger und überall. Zuletzt habe er im Löwenbräu daselbst von der Kapelle das Spielen des Deutschlandliedes verlangt, das sei ihm aber abgeschlagen worden. Die Beschwerde beim Geschäftsführer sei auch vergebens gewesen. Solle man als selbstbewußter Deutscher sich das gefallen lassen? Könne man ein solches Lokal überhaupt noch empfehlen?

Mit Verlaub: dieses Verlangen patriotischen Tschingtaras ist kein Patriotismus.

Zu Beginn des Krieges, ehe ich an die Front durchbrannte, war ich für kurze Zeit zur Marine-Luftschiffabteilung nach Hamburg-Fuhlsbüttel kommandiert. Kam man von einer Übungsfahrt mit L 4 zurück, hatte man seinen Dienst hinter sich, ging man abends in Zivil dann etwa in den Alsterpavillon, so verlangte irgendein fetter "Unabkömmlicher" aller Augenblicke die Wacht am Rhein oder die Nationalhymne, und alles brüllte: "Aufstehen! Aufstehen!" Das war lästig und nahezu würdelos.

Ein anderes Mal, noch vor dem Kriege, traf ich im Piräus vor Athen, eine mehrhundertköpfige Horde deutscher Vergnügungsreisender, die die Bootsleute nicht bezahlen wollten, aber nächtlicherweile auf den Straßen "Deutschland, Deutschland über Alles" gröhlten. Seither schätze ich den musikalischen Patriotismus nicht allzu hoch ein.

Außerdem: was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Wie nun, wenn im Haus Vaterland andere Leute die Marseillaise oder die Internationale verlangen und die Besucher sich abwechselnd erhitzen?

"Fern bleibe bechernder Männer Gespräch Politik, die leidige Hexe", hat ein Dichter einmal gesagt. Ich bin ganz seiner Meinung.

Das Reich Gottes kommt nicht im Sturm, sondern im linden Sausen. Auch unser Drittes Reich wird nicht mit Tschingtara geboren.

Manche fürchten, vielleicht mit Recht, diesen Augenblick. Das sind die Nichts-als-Genußmenschen. Kurz gesagt: die sogenannten Kurfürstendammer, auch wenn sie anderswo in Berlin oder seinen Vororten wohnen. Einer dieser Berliner hat sich kürzlich geradezu überschlagen, als er jede bisherige Festivität ausstechen wollte. Er lieh sich - Leihgebühr für den einen Abend 25 000 Mark einschließlich der Einrichtung - eine heizbare glasüberdeckte Halle, die mit allen Künsten zum Lido von Venedig umgewandelt war. Da gab es verschließbare Badehütten, Capanni, in denen die Damen ihre kostbaren Umhänge ablegen konnten, um dann in phantastischen Schwimmanzügen wieder herauszutreten.

Aber auch andere Berliner lassen um Neujahr, wenn auch nicht Zehntausende von Mark, so doch etliche Taler gern springen. Ich glaube nur, daß diesmal der Brauch, Silvester bei einem Festmahl im Hotel oder Restaurant zu feiern, eine erhebliche Einschränkung hat erfahren müssen. Bleibe zu Hause und nähre dich redlich! Die in den Zeitungen veröffentlichten Speisenfolgen der Gaststätten ähneln sich sehr, haben aber außerordentlich verschiedene Preise. Die einen sind angemessen, die anderen sind - Nepp. Hier seien nur zwei Beispiele aus zwei verschiedenen Lokalen angeführt:

(Preis: 3 Mark)

(Preis: 12 Mark)

Klare Schildkröte in Sherry.
Spiegelkarpfen blau.
Junge Pute.
Silvester-Bombe.

Klare Ochsenschwanzsuppe.
Frischer Hummer.
Mast-Poularde.
Silvester-Halbgefrorenes.

Als wir noch ein reiches Volk und als die Genüsse noch billiger waren, mochte solch ein Menu, das damals für weniger als einen Taler zu haben war, noch als ein nicht ungewöhnliches Theatersouper gelten. Heute ist man im ehedem behäbigen Mittelstande schon froh, wenn man überhaupt sich einen Theaterbesuch ohne nachfolgendes Souper leisten kann.

Aber die Programme reizen leider immer weniger. Wird einmal in Berlin ein klassisches Stück, nach dem man sich sehnt, neu einstudiert, dann hat es Jeßner oder sonst wer sicher verschandelt. So auch jetzt wieder die Jungfrau von Orleans, die uns zwar ein Wiedersehen mit Toni van Eyck bringt, dem lieben, natürlichen Geschöpf, im übrigen aber in "neuer Sachlichkeit" erfriert; es ist nichts mehr von Schillerschem Pathos und Ethos darin. Nicht alle Berliner Theaterdirektoren kann man als subjektiv Schuldige an dem Niedergang bezeichnen. Sie müssen doch Geschäftsleute sein, also bringen sie das, was denen gefällt, die die Plätze im Parkett und den Rängen noch bezahlen können; und denen gefällt kein Stück, sondern die Problematik und - der Star, der Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein ist. Nur das erklärt den einstigen Aufstieg von Alexander Moissi, dessen nasaler Vorbeterton uns anderen auf die Nerven fällt; und nur das erklärt auch die Beliebtheit von Elisabeth Bergner, obwohl sie nur einen Ton in der Kehle hat, den der Tonlosigkeit, und ihre Stimme spröde klingt wie gesprungenes Glas.

"Wenn die Elisabeth
Bergner doch bloß Stimme hätt'!"

möchte man in Anlehnung an einen bekannten Foxtrott-Schlager trällern, aber der Wunsch ist unerfüllbar. Dabei ist dieses dürftige Persönchen in ihrer Art natürlich eine große Artistin, wie ja überhaupt unsere darstellende Kunst bei weitem die anderer Völker übertrifft.

Das haben wir in den letzten Wochen durch Vergleiche mit den Darbietungen Fremder feststellen können. Da war u.a. ein Pariser Ensemble, sogar mit Agnes Sorel, bei uns in Berlin, nach unseren Begriffen äußerste Provinz; und von den übrigen ausländischen Truppen war auch die schwedische, obwohl den unserigen schon eher verwandt, doch auch rückständig in ihrem Ausdrucksvermögen, um von der unbeholfenen englischen nicht erst zu sprechen.

Heute kann nur noch ein Bruchteil des gebildeten Mittelstandes solche Vergleiche anstellen, weil für die meisten Menschen - wenigstens in Berlin bei den wahnsinnigen Preisen bis zu 20 Mark für einen Parkettplatz - der Theaterbesuch zu teuer geworden ist. Im abgelaufenen Jahr gingen in Deutschland täglich rund 33 000 Wechsel zu Protest, erfolgten täglich 35 000 Pfändungen, davon über ein Drittel fruchtlos, wurden täglich fast 8000 Offenbarungseide verhandelt; solche Ziffern sagen genug.

Den roten Bonzen ist das gleichgültig. Hauptsache: immer noch ist das Parteibuch der Schlüssel zu allen Pöstchen. Eine junge Krankenschwester bewirbt sich in Berlin-Schöneberg um eine Anstellung. Auf die Frage der Oberin: "Was ist Ihr Vater?" antwortet sie: "Major a.D.", und bekommt den Bescheid: "Dann kann ich Sie nicht empfangen." Auf eine erstaunte Zwischenfrage nochmals: "Eine Majorstochter, nein!" Auf Berliner Arbeitsämtern, die unter roter Aufsicht stehen, wird von arbeitslos gewordenen Schwestern vielfach die Vorlegung eines Parteiausweises verlangt. In Berlin-Neukölln gibt es Krankenpflegerinnen, die je nach der Bezirksmehrheit oder der politischen Einstellung des Dezernenten entweder das sozialdemokratische oder das kommunistische Parteibuch aus der Tasche ziehen. Dafür wächst unter allen diesen Gezwungenen aber auch die rasende Wut gegen das Heute. Die Bonzen mögen sich vorsehen.

Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde.

Am Altjahrsabend 1930 ist es uns fest geworden, werden viele einst sagen. Da haben wir es endgültig unserem Lande, unserem Volke geweiht. Seither ficht uns keine Verfolgung mehr an, mögen "Verein der Gottlosen" oder "Republikanische Beschwerdestelle" auch Krämpfe kriegen.

So stehen wir fest im neuen Jahre; und gehen leicht und frei durch den unholden Großstadtlärm mit seinen Zuckungen einer versinkenden Welt. Da machen die roten Bonzen noch ein großes Haus. Da wühlt die Kommunistin Katzenellenbogen, geboren Tilla Durieux, noch in Millionen. Aber es geht schon ein Erschauern, ein Erzittern auch durch diese Kreise. Sie werden von Tag zu Tag nervöser; es gibt immer wieder Familienkrach, wenn einer an das Dritte Reich auch nur denkt. Die Leute sehen scheu um sich, glauben sich von lauter höhnischen Fratzen umgeben und fahren schon zusammen, wenn an der Straßenecke vor dem Zeitungsstand der fliegende Händler ruft:

"Die glückliche Ehe statt einer Mark nur zwanzig Pfennige! Die glückliche Ehe statt einer Mark nur zwanzig Pfennige!"
31. Dezember 1930 (Mittwoch)



Glossen 13 - 15

Jahresinhalt

Glossen 19 - 21

© Karlheinz Everts