"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 13 - 15
27. November bis 11. Dezember 1930


13

Aus der Unrast in den Frieden - Vorweihnachtstimmung - Keine Bleibe für Kinder - "Emil und die Detektive" - Das schluchzende Mädchen - "Geborene" und "Gewisse".

Arbeit und Betrieb, Unrast und Lärm: man sollte meinen, es gäbe in dem großen Babel schier kein Fleckchen mehr, wo noch Gottesfriede lebt. Es gibt solche Fleckchen. Nur hat unsereins keine Zeit für sie. Aber nun muß ich einmal den tosenden Kurfürstendamm hinunter, über die Halenseer Eisenbahnbrücke, weiter in die Königsallee, die immer noch nicht Volksbeauftragtenallee heißt, um dort jemand zu fragen, wie es ihm vor wenigen Wochen während der Revolution in Brasilien ergangen ist. Ich soll um 1 Uhr mittags da sein, es sind aber 10 Minuten vorher, da kann ich mich noch etwas in den Villenstraßen nebenan ergehen. Und da ist auf einmal holdester Gottesfriede. Es ist still. Es stinken keine verölten Zündkerzen, sondern die Erde duftet, wie man es nur an einem Sonnentag im Spätherbst erleben kann. Von Not und Hatz ist nichts zu spüren. Zwar weiß man, daß fast jedes dritte Haus zum Verkauf steht, aber auch davon merkt man nichts. Junge Mütter holen ihre Kinder von der Schule heim.

"Du, Mutti, ich wünsch' mir eine Puppe, sooo groß!"

"Und ich einen Christbaum mit lauter Wachsengelchen!"

Es sind selber leibhaftige Engelchen, die beiden kleinen Mädel, die neben der strahlenden Mutter dahertrippeln. Man muß ihnen zulachen. Man wird so froh. Ein bißchen Wehmut ist ja dabei, man sagt sich:

"Warum steht die Zeit nicht still, warum wächst um uns alles heran, warum kann ich nicht immer ein paar Kinder, ach, eines nur, so klitzeklein behalten?"

Und gleich darauf kommt die große Traurigkeit. Wir haben unser Teil wenigstens gehabt, haben sechsmal das Aufblühen und Gedeihen eines Menschenkindes beglückt anstaunen dürfen, aber da ist just an diesem Vormittag die Minna - alle früheren Dienstmädchen besuchen uns mal - bei uns gewesen, die, nachdem sie uns ein paar Jahre betreut hatte, geheiratet hat, und sie antwortet mit zuckenden Mundwinkeln, als ich sie nach "Familie" frage:

"Familie, Familie! Wir haben doch immer noch keine Wohnung gekriegt. Wir haben ein möbliertes Zimmer. Da heißt es immer: Haben Sie Radio mit Lautsprecher? Haben Sie ein Kind? Werden Sie auch keins kriegen? Und wenn man nicht dreimal ehrlich Nein sagt, kann man gleich türmen. Da gibt es für uns kein Zimmer."

Am Jüngsten Tage wird das Heer der Ungeborenen wider unsere Politiker und Staatsmänner aufstehen, und vor dem Chorus ihrer Anklage kann dann keiner von ihnen sich rechtfertigen.

Aber die noch lebenden Kinder merken zum Glück wenig von der Verkümmerung des Daseins und vom Selbstmord der Nation. Das Leben glitzert ja so herrlich aus jedem Schaufenster. Schon ein Wunschtraum wird zur Befriedigung. Und für sehr viele Großstadtkinder geht in dieser vorweihnachtlichen Zeit zum ersten Male das Sehnen in Erfüllung, einmal in einem "richtigen" Theater gewesen zu sein. Zum ersten Male habe da auch ich in einer Kindervorstellung etwas anderes gesehen als das übliche, revuemäßig verkitschte Märchenspiel. Im Theater am Schiffbauerdamm gibt es nachmittäglich ein ganz modernes Stück, ein aus dem Leben gegriffenes Stück, das in Neustadt an der Dosse seinen provinzlerischen Anfang hat und in zehn Bildern über die weltbedeutenden Bretter von Berlin jauchzt und tobt: "Emil und die Detektive" von Erich Kästner.

"Ich kenne ihn, das ist so ein kleiner, fieser Kerl aus der Mischpoke, vom Montag Morgen!", sagt mir einer.

Einerlei: Hut ab vor Kästner! Schön, er gehört also nicht zu uns, ebensowenig wie etwa Max Reinhardt, aber wenn einer so ein herrliches Talent hat, die Kinderseele in uns - von der achtjährigen bis zur achtzigjährigen - zu hellem Erklingen zu bringen, so gut und so schalkhaft spricht, ein Wilhelm Busch des Theaters, dann wollen wir uns ganz vorurteilslos daran erfreuen. Es ist auch ein netter Einfall von ihm oder von dem Regisseur Karlheinz Martin, zwischen den Szenen, vor dem jedesmaligen Hochgehen des Vorhangs, die kleinen Zuschauer durch Laterna-Magica-Schrift, also durch die gewohnte filmische Art, in die Geschehnisse kurz einzuführen, mit den Helden bekannt zu machen, zu spannen und zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Für diejenigen Kleinen, die etwa noch nicht lesen können, vermittelt gleichzeitig eine Stimme aus dem Weltenraum das Verständnis.

Ach, man ist ganz "drin"! Die Kinder machen Zwischenrufe, sie quieken vor Vergnügen oder vor Mitgefühl.

Emils verwitwete Mutter, die in Neustadt als Friseuse ihr winziges Geschäft betreibt, damit der Junge die Realschule besuchen kann, verdient damit eine Mark und eine Mark und eine Mark ("Drei Mark!", kreischt ein Bübchen im Parkett) am Tage, schickt ihn in den Ferien - der Zug fährt richtig pfeifend auf der Bühne ab - nach Berlin zur Großmutter. Im Wagen sitzt außerdem noch "der Herr mit dem steifen Filzhut". Der klaut dem Emil seine Barschaft. Während die Großmutter vergeblich am Bahnhof Friedrichstraße wartet, stürzt Emil schon am Bahnhof Zoo, wo er aufgewacht ist, hinaus, weil er, selbst ohne Geld ("Schrecklich!", seufzt ein Mädel in der Orchesterloge) den Herrn mit der Melone gerade durch die Sperre verschwinden sieht. Ihm nach! Auf die Straßenbahn! Ohne Geld! Ohne Berlin zu kennen! Verfolgung bis zum Kaffeehaus, zum Hotel, zur Wechselstube!

Was tun? Einen Schutzmann um Hilfe bitten? Wer wird dem kleinen Emil denn glauben, daß er das Geld nicht verloren, sondern daß der feingekleidete Herr es gestohlen hat? Am Ende gibt's nur Backpfeifen und dann: per Schub nach Hause!

Aber zum Glück prallt Emil mit Gustav, Gustav von der Kaiserallee, zusammen. Gustav hat einen Roller, Gustav hat eine Hupe, Gustav hat im Turnen eine Eins, und wenn Gustav, der anerkannte König seines Viertels, auf den Höfen die Hand in die Hosentasche steckt und hupt, lassen die Jungens alles stehen und liegen und prasseln die Treppen hinunter.

Im Handumdrehen hat Gustav auch im Falle Emil eine riesige Rasselbande zusammen.

Die ganze Bühne wimmelt von Berliner Jungs, auch ein paar Mädels sind darunter. Sie brauchen nur sich selber zu spielen, so wie sie sonst auch Räuber und Gendarm oder Indianer spielen. Sie beschleichen den Feind, sie stellen Relaisposten aus, sie haben eine Telephonzentrale, sie verproviantieren sich für den Kriegszug, sie halten Kriegsrat am Nikolsburger Platz ab.

Einer von ihnen beobachtet als Hotelboy den Feind; am nächsten Morgen wird er dann zur Strecke gebracht. Lausejungens, famose! Noch ohne Harm und Arg, noch ohne soziale Schichtung, der kleine Sohn des Landgerichtsdirektors neben dem schlaksigen Neffen des Portiers. Herz, was willst du noch mehr?

Das ist nicht "Zeittheater", nicht Leitartikel, nicht Märchenpracht, sondern Leben, Leben, Leben! Ursprünglich ist "Emil und die Detektive" - es spielen übrigens auch ein gutes Dutzend Erwachsene mit - als Buch bei Williams & Co., Berlin-Grunewald, erschienen, schon im 20. Tausend (als Roman für Kinder) und schon in acht Fremdsprachen übersetzt, obwohl es lange nicht so amüsant ist wie das Spiel. Es kann als Theaterstück die Welt erobern. Denn die Jungs sind ja überall gleich. Und in Berlin kommen von Tag zu Tag auch mehr Erwachsene hin und lachen sich einmal von Herzen gesund an der Jugend.

Das ist gesunde, unverdorbene, großstädtische geweckte und trotzdem romantische Jugend.

Wenn man die Augen aufhält, erlebt man auf Berliner Straßen immer wieder Romane; gute und schlechte. Am Café Vaterland staut sich etwas. Was ist los? Da steht ein vielleicht sechzehnjähriges blondes Mädelchen, schlicht, sauber, nett, Wachstuchpaket im Arm und schluchzt.

"Was ist los?", fragt der und jener.

Keine Antwort; nur Weinen. Schließlich stehen schon etwa 20 Menschen herum, von der Verkehrsinsel drüben lugt ein Schutzmann her.

"Meine - Handtasche - huck - gestohlen, das ganze - huck - Geld weg!"

"Wieviel denn?"

"Einundzwanzig Mark!"

Ratlosigkeit ringsum; etliche verkrümeln sich nach Stillung der Neugier. Da drängt sich ein hochgewachsener Herr im guten Marengo-Paletot durch und sagt:

"Herrschaften, wir wollen hier nicht Maulaffen stehen! Helfen wir lieber der Kleinen! Hier, ich gebe 5 Mark!"

Jetzt öffnen sich auch andere Geldbeutel; wer sonst 10 Pfennige gegeben hätte, geniert sich und gibt 50 Pfennige oder 1 Mark oder gar 2 Mark. Das Mädchen lächelt unter Tränen (eine Filmdiva könnte ob des Bildes neidisch werden), knixt, dankt und geht getröstet von dannen.

Es gibt doch noch gute Menschen, nicht wahr? Einige Minuten weiter aber, in der Leipziger Straße an der Porzellanmanufaktur, pürscht sich der Hochgewachsene wieder an das Mädchen heran. So ein Schmutzian, nicht wahr? Für seine lumpigen 5 Mark, die das Publikum auf annähernd 20 aufgefüllt hat, will er sich anscheinend das Kücken kaufen.

Sie trennen sich aber bald wieder. Die Kleine hat dem Herrn etwas in die Hand gegeben.

Zehn Minuten später, in der Wilhelmstraße, an der Ecke des Hauses Herpich: da staut sich etwas, es gibt wieder einen Auflauf, das Mädchen schluchzt, der Hochgewachsene erscheint und sagt: "Herrschaften, wir wollen hier nicht Maulaffen stehen!" und die übrige kurze Litanei. Es wird wieder gesammelt.

Ergebnis wieder ungefähr das gleiche. Das Geld liegt wirklich auf der Straße. Gelingt dem Paar, ehe es einmal verhaftet wird, hundertmal dieselbe Szene in verschiedenen Stadtteilen, dann sind 1500 Mark gewonnen.

Ich gebe nie etwas auf der Straße. Ich gebe nie etwas an der Haustür. Es sei denn, daß es sich um einen in Not geratenen ehemaligen Frontsoldaten handelt, der es mir nachweisen kann, daß er bis zum letzten seine Pflicht getan hat und danach auch nicht etwa der roten Fahne gefolgt ist. Die meisten verdrücken sich nach der ersten Frage. Aber ich habe viele "Hausarme", die ich kenne und denen ich, vor Weihnachten besonders gern, auch mal reichlich etwas zukommen lasse. Darunter sind manche Leute, die früher auf den sogenannten Höhen der Menschheit wandeln konnten. Das war damals, als noch das Wort "herablassend" in Romanen und in Lokalnotizen der Zeitungen vorkam.

Es ist Gott sei Dank im Verschwinden. Die gemeinsame Not hat uns doch alle einander nähergebracht. Abgesehen von dem engen Kreis der neuen Bonzen wird doch die Leistung heute mehr geschätzt als der Titel.

Wir haben eine gute, liebe Bekannte, eine Gräfin, die nie "so" war, es niemals für eine Herablassung hielt, wenn sie ihr Herz für Nichtneunzackige weit aufmachte, und auch heute noch viel Gutes tut. Aber rot geworden, rot geworden für ihre ganze Sippe, ist sie doch, als ich sie neulich lächelnd fragte:

"Wissen Sie noch, Frau Gräfin, wie es war, als man die Geborenen von den Gewissen unterschied?"

Ja, sie weiß es. Das war damals, als man einem Bekannten etwa sagte:

"Also der Regierungsrat, der ist mit einer geborenen v.Arnim verheiratet; und der Oberstleutnant, der hat eine gewisse Ackermann zur Frau."

Heute haben von den Geborenen manche sich auf den republikanischen Boden der Tatsachen gestellt; und von den Gewissen arbeiten viele an der Erweckung des Dritten Reiches.
27. November 1930 (Donnerstag)


14

Seine Hoheit der Käufer - Das Blaue Band - Keine Landkundschaft mehr - Israel, Cords, Hertzog und ihre Angestellten - Markthallenhumor - Der erste Advent auf Hermannswerder - Redslobs Feste.

Ist denn die Pest ausgebrochen? Berlin kommt einem so entvölkert vor.

Am späten Nachmittag, zur Haupteinkaufszeit, kommen wir in ein großes Spezialgeschäft. Der Pförtner bugsiert uns in die Drehtür, der Empfangschef dienert, ein betreßter Junge stellt Stühle für uns hin, hinter zwanzig Ladentischen leuchten Augenpaare auf. Aber wir sind die einzigen Besucher. Was für Wünsche wir hätten? O, bitte, im ersten Stock! Der Liftboy stürzt, ein zweiter Empfangschef schätzt sich glücklich, oben geleitet uns ein Herr mit den Allüren eines Hofmarschalls, ein Diener trägt meine Mappe und meinen Hut feierlich wie eine Trophäe im Siegeszug.

"Du hättest doch lieber deinen guten Wintermantel anziehen sollen!", flüstert meine Frau mir zu.

Es ist wie im Märchen, als sei man plötzlich Königliche Hoheit geworden, mindestens wird man so behandelt, als habe man draußen einen 80pferdigen Maybach stehen. Wir brauchen nur eine Kleinigkeit, aber die Verkäuferin bedankt sich, als hätten just wir sie vor dem Abgebautwerden zum Januar gerettet. In ihrem Heftchen stehen erst zwei ganz kleine Ziffern, zu denen sie mit zitterndem Finger die unsrige hinzuschreibt, nachdem sie den Kassenzettel ausgefertigt hat.

An der Kasse wieder überströmend höflicher Dank. Dann werden wir von den obersten Hof- und Oberhofchargen wieder hinausgeleitet, der Pförtner salutiert, der letzte Rayonchef wippt mit dem Cutaway.

Wenn ein Boulevardblatt kürzlich zum Wettbewerb um das Blaue Band der Höflichkeit eine Reklame für sich entfesselt hat, so ahnte es wohl nicht die Fülle des in Betracht kommenden Menschenmaterials.

"Wie bitte? Selbstverständlich, jede gewünschte Änderung auf unsere Kosten! Die Herrschaften belieben - bar zu zahlen? O, o, bitte gehorsamst! Aber wir haben auch Ratensystem, ohne jede Anzahlung. Wie befehlen? Natürlich, auf Wunsch Umtausch binnen vier Wochen, wird gern gemacht!"

Es ist direkt unheimlich. Man schämt sich bei so viel Entgegenkommen.

Die berühmte Leere des Schlachtfeldes, von der alle Manöverberichterstatter immer erzählen, ist nichts gegen die diesjährige Leere im Weihnachtsgeschäft. Vielleicht kommt die Fülle noch. Hoffentlich. In unserem Hause haben wir noch keine wesentliche Etatkürzung vom Christkind zugestellt bekommen. Auch andere Berliner Familien haben sich eher sonstwo Sparsamkeit auferlegt, nur um nicht die Schenkfreude eindämmen zu müssen.

Aber es fehlen in Berlin die Landkunden. Zum erstenmal so gut wie ganz. Frau Rittergutsbesitzer von Soundso und Frau Gutsbesitzer Soundanders waren sonst Anfang Dezember immer zu Einkäufen mehrere Tage hier. Sie können nicht mehr. Auch die Hotels und Pensionen stehen leer. Wie die allzusehr verzögerte Agrarhilfe des Reiches nach der Ruinierung der Landwirtschaft durch Zoll- und Handels- und Steuergesetzgebung, wie die auf Kreditabwürgung hinarbeitende Preußenkasse unter dem roten Herrn Klepper auch die Einnahmen der städtischen Kaufmannschaft überall verheert, das weiß man nicht nur in Berlin. Daß wir nach den nächsten Wahlen einen völligen Systemwechsel erleben werden, ist klar. Kein Kaufmann, kein Gewerbetreibender, kein Handwerker kann noch für irgendeine der Regierungs- oder Splitterparteien stimmen, und sogar für Millionen von Arbeitern, die am schwersten unter der Absatzstockung leiden, ist der Tag von Damaskus nicht mehr fern.

Zwei Häuser weiter von uns ist ein kleines Drogengeschäft. Die Besitzerin hat das letztemal, von einem Lieferanten dazu überredet, der ihr einen ausgiebigen Kredit einräumte, Staatspartei gewählt. "Nie wieder!", sagt sie. Sie wird fast nur noch Seife in billiger Geschenkpackung los, mit ihren guten Parfüms bleibt sie diesmal sitzen. Sie sorgt sich um Ladenmiete und Steuern.

Wer es kann, wälzt die Mehrkosten ab. Auf die Kunden? Ausgeschlossen. Also auf die Angestellten! Das ist der diesjährige Jammer.

Die Annahme von Hilfskräften, die in früheren Jahren um diese Zeit begann, stockt völlig. Sogar große Warenhäuser nehmen im Gegenteil Entlassungen vor. Von älteren Angestellten natürlich, damit man deren höhere Bezüge spart. Ich habe mich überall danach umgesehen. Am rigorosesten scheint das Kaufhaus Israel zu verfahren, dort herrscht Heulen und Zähneklappern. Das ist die Firma, die noch vor zehn Jahren von einer Berliner Tageszeitung verlangte, sie solle ihren des Antisemitismus verdächtigen Theaterkritiker Erich Schlaikjer entlassen, sonst gebe es keine Inserate mehr. Natürlich wurde er nicht entlassen. Wer nicht inseriert, schädigt nur sich selbst. Besonders in knappen Zeiten ist die Zeitungsanzeige das einzige, was noch Kunden bringt.

Es gibt in Berlin viele Firmen, in denen jeder Angestellte, auch der beste, weiß, daß er spätestens im 9. Dienstjahr seine Kündigung bekommt. In einzelnen aber, so besonders bei Rudolph Hertzog, wird Arbeit und Treue geehrt, findet man jahrzehntelang dieselben Verkäufer wieder und sieht sie schließlich in gehobener Stellung.

Die zufriedensten Gesichter treffe ich in dem alten, aus dem Rheinlande stammenden Hause Cords, in dem es Stoffe aller Art, Tücher, Spitzen, Kinderkleider und anderes gibt. Da ist man vorbildlich "sozial". Mir wird berichtet, daß sogar die während der Inflation in Papier zerflatterte private Pensionsanstalt dieser Firma von den Besitzern hundertprozentig in Gold aufgewertet worden sei.

Hier kann ich nur von Berlin erzählen. In Dresden, Hamburg, München, Stuttgart und anderen deutschen Städten kann man sicher unter der Hand Ähnliches erfahren und - seine Schritte vor Weihnachten danach einrichten. Wir sollten nicht so blindlings in die Geschäfte rennen, sondern uns vorher darüber unterrichten, was sie für uns als Volksganzes bedeuten. Wo noch gute Tradition herrscht, da wollen wir unser Geld hintragen.

Der Kampf um den Kunden, der zum Dienst am Kunden wird, ist uns Käufern natürlich sehr angenehm. Aber unter der Glättung der Formen verschwindet auch viel rauher Humor, der, selbst wenn er in Grobheit ausartete, uns früher doch schmunzeln ließ. Sogar in den Markthallen ist man heute überhöflich und erbietet sich, einem das Päckchen ins Haus zu schicken, während es noch 1924 hieß: "Wer keenen Korb hat oder keen Packpapier mitbringt, der kriegt nischt!" Da wurden keine schüchternen Einwände geduldet. "Wat, zu kleen is de Jänseleber? Steckense se in'n Blumentopp, denn wächst se noch! Sie selber ham woll 'ne jrößere innen?" Eine Dame möchte Freitags ausnahmsweise mal eine schöne Rotzunge kaufen, sie ist ihr aber zu teuer. "Zu teier? Denn päppelnse Ihren jeehrten Jatten doch in de Volksküche mit Stockfisch un belästijen nich anstännige Leite!" In der Abteilung für Kochgeschirr wählt eine junge Frau sehr lange und ersteht schließlich für wenige Pfennige ein kleines Töpfchen. Mit grimmigem Lächeln bemerkt die Standinhaberin: "Soll ick zu diese Ihre Aussteier noch'n Bräutjam beipacken? Sonst nimmt Ihnen doch keener!" Das gleiche Theater früher fast alltäglich in der Blumenhalle, wo kleine Leute etwas für's Kind zum Geburtstag oder den Mann im Krankenhaus aussuchen. "Tjawoll, for Ihre Lausejroschen kriegense 'n janzen Palmenwald mit Affen und eene Filla dazu! Veleicht stellense mir dort als Schwester in, ick vastehe mit Idioten umzujehn!" Verschwundene Zeiten. Heute wird auch niemand mehr mit "Madameken" herablassend tituliert; jedes einigermaßen aufgemachte Ladenmädchen avanciert zur Gnädigen Frau, um die man scharwenzelt.

Der Umschwung ist nicht etwa ein Zeichen dafür, daß unsere Erziehung besser geworden ist. Ach nein. Nur die Käufernot ist größer geworden. Man erliegt. Eben erst hat Finanzminister Dietrich im Reichstage zugegeben, daß die letzte Steuererhöhung für Branntwein nicht eine Steigerung, sondern eine Verringerung der Steuererträge erbracht habe. Sind wir etwa weniger trinkfroh geworden? Ach nein. Nur kann sich selbst der Arbeiter den Sorgenbrecher nicht mehr so leisten. Einen Stand aber gibt es, der zum Glück von alle dem noch nichts merkt, wie ich immer wieder feststellen kann: die Kinder. Ihnen hängt der Himmel voll Geigen, sie hören auch in den dürftigsten Umständen die Weihnachtsmusik heraus.

In der Großstadt weiß man kaum mehr etwas von alten Adventssitten. Der Tannenkranz, mit Lichtchen und Zapfen geschmückt, mit rotem Band umwunden, findet sich nur noch in sehr wenigen Häusern. Auch St. Nikolaus schrickt vor den Autobussen zurück und bleibt außerhalb des Weichbildes der Stadt.

Aber weiter hinaus, da ist noch der ganze süße Zauber der Adventszeit lebendig. Schon wiederholt habe ich, wenn Auslandsdeutsche mich fragten, welcher Erziehungsanstalt in Deutschland sie eine Tochter anvertrauen sollten, ihnen zu der "Hoffbauer-Stiftung" auf Hermannswerder bei Potsdam geraten. Das ist eine große Märcheninsel mit einzelnen zwischen Park und Wiese und Feld und Wäldchen verstreuten Schul- und Wohnbauten, Kirche und Krankenhaus, mit Schwimmbad und Rudersport; und wer hier jemals die erste Adventsnacht erlebt hat, der erbittet gelegentlich noch in späteren Jahren Urlaub vom Ehegemahl für den einen Sonntag, um ihn hier poesieumrauscht und selig, wie man es nur als kleines Pensionatsmädel oder angehende Abiturientin oder Gewerbelehrerin oder Säuglingspflegerin sein kann, zu verbringen.

Die Gäste - diesmal waren es ihrer 67 in einem einzigen, dem "Birkenhaus", die Ziffer der übrigen weiß ich nicht - lassen sich abends gehorsam gleichzeitig mit den Schülerinnen und Lehrerinnen zu Bett schicken, was bei dem großen Andrang nicht einmal immer ein Bett ist, sondern nur ein Matratzenlager. Alle Räume sind vorher mit Tannengrün umwunden, das die Kinder auf kleinen Handwagen in ungeahnten Mengen, mit hoher Genehmigung natürlich, aus benachbarten Forsten herangeschleppt haben. Die Lehrerinnen haben die Arbeitssäle und Klassenzimmer, die Mädchen die Zimmer ihrer Lehrerinnen und Erzieherinnen geschmückt. Kann man in einer solchen Nacht, der Heimlichkeit und Erwartung voll, überhaupt schlafen? Die Lichtwache hat es schwer, für Ruhe zu sorgen; überall wird gewispert und geraunt, hie und da werden noch von einem Grüppchen, das bei Kerzenlicht auf den Matratzen kauert, Pfeffernüsse geknabbert, unter die sich wohl auch mal eine Wurst oder eine Salzgurke verirrt, überall tauschen Alt und Jung Erinnerungen aus, bis die eine einnickt, die andere in Traum versinkt, in jedem Schlafsaal allmählich alles wirklich schläft.

Da, da: die Mitternachtsstunde schlägt!

Von der obersten Treppe des Hauses erklingt mächtig und sieghaft das alte Adventslied: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegn' ich dir."

Zwölf junge Mädchen der obersten Klassen, in weißen Gewändern, meist mit offenem langen Haar, brennende Kerzen in der Hand, ziehen singend feierlich durch die weiten Flure.

Alle Türen öffnen sich.

Alles strömt in den verschiedenartigsten Hüllen heraus, die Backen noch rot vom Schlaf, staunt überwältigt das Wunder an, hört die frohe Botschaft.

In der großen Säulenhalle erklingt als letztes: "Stille Nacht, heiligen Nacht".

Am nächsten Morgen staut sich die Schar vor den geheimnisvoll versperrten Türen des Speisesaals. Sie öffnen sich, - ah! An den Tischreihen strahlen 295 Kerzen über Tannengrün, Pfefferkuchen und Äpfeln.

Die gemeinsame Feier der ganzen Insel ist am Nachmittag in der Kirche. Sie liegt im Dunkel. Nur am Altar leuchtet die Inschrift der Verheißung: "Das Volk, das im Dunkel wandelt, siehet ein großes Licht." Eine Kerze, eine einzige, wird an dem Tannenbaum von einem Kinde entzündet. Andächtiges Schweigen, innige Versunkenheit. Dann strömt die Schar herzu, jeder nimmt Licht von der einen Kerze, bald erstrahlt die ganze Kirche. Über die Weißgekleideten rauscht das ewige Wort, rauscht Orgelspiel und Gesang dahin. Die tiefe, schöne Symbolik erfüllt alle Herzen.

Nun verstehen wir, warum die "Ehemaligen" ihr Hermannswerder immer wieder aufsuchen.

Dieser Tage hat der Reichskunstwart Redslob einen lehrhaften und seelenlosen Vortrag über deutsche Feste gehalten, nämlich 1) Volksfeste mit staatlicher Unterstützung und 2) Staatsfeste mit Beteiligung des Volkes. Das alles aber sind gemachte, nicht gewachsene Dinge. Auch mit Zangen und mit Schrauben wird man aus der alljährlichen Verfassungsfeier niemals etwas seelisch Erhebendes für unser Volk fabrizieren können. Volkstümlich sind Siegesfeiern, so früher jahrzehntelang der Sedantag, volkstümlich sind Gedenkfeiern für die Toten, volkstümlich ist der Geburtstag des Landesherrn, der aus der häuslichen Ehrung jedes Familienvaters seinen Ursprung nimmt, volkstümlich ist auf dem Lande - in glücklicheren Zeiten - immer das Erntedankfest gewesen, volkstümlich ist Neujahr und Carneval und jede militärische Parade. Aber auch die Sonnenwendfeiern der "Jugendbewegten" und überhaupt alles Deutsche und Christliche haben Massen hinter sich, denen das ein großes Erleben bedeutet.

Schade, daß Redslob nicht beispielsweise die Adventsnacht auf Hermannswerder oder die Umzüge der heiligen drei Könige in deutschen Dörfern kennt. Dann würde er seinen ganzen Kram einpacken und sich für den überflüssigsten Menschen in Deutschland erklären.
4. Dezember 1930 (Donnerstag)


15

Der Remark-Film - Vor dem Polizeiknüttel auf dem Wittenbergplatz - Der Aufbruch der Nation - Zarnows "Gefesselte Justiz" - Abzahlungsketten.

Der Held des Remark-Films "Im Westen nichts Neues", Bäumer, kommt auf Urlaub nach Hause, wird von seinem alten Gymnasialprofessor Kantoreck gebeten, in der Klasse etwas vom Weltkrieg zu erzählen und eine kurze patriotische Ansprache zu halten, lehnt dies aber ganz verbissen ab und sagt, wörtlich so in der Originalfassung des Films:

"Es ist schmutzig und widerwärtig, für sein Vaterland zu sterben!"

Da gerinnt einem wahrhaftig das Blut und beginnt im nächsten Augenblick zu kochen.

Diese kotige Gemeinheit haben Millionen von Ausländern sich angehört und angesehen und haben innerlich solche Deutschen anspeien mögen. Nun wird die verfilmte Ullsteinerei auch uns in Berlin, mit einigen wenigen "geschäftlich noch tragbaren" Auslassungen, vorgesetzt, und der rote Polizeipräsident Grzesinski bietet nicht weniger als acht Hundertschaften Schutzleute auf, um das Gesudel vor der Empörung der deutschen Frontkämpfer und der Hinterbliebenen unserer Gefallenen zu schützen. Remarks Buch, das für die Ullsteins ein Millionengeschäft geworden ist, hat zu Helden diejenigen in jedem Volksheer natürlich auch vorhandenen Leute, die den "inneren Schweinehund" nicht in sich unterdrücken, sondern nur die Parole kennen: Wanst und Weib. Nicht weniger als 113 Kinotheater in Berlin haben freiwillig auf die Aufführung von "Im Westen nichts Neues" verzichtet, aber auf dem Nollendorfplatz und rundherum steht eine Polizeimauer um die dortige Filmbühne, die das Ding spielt, denn auch das Auswärtige Amt unter der genialen Leitung des Herrn Curtius hatte - es ist zum Kotzen: aus Gründen internationaler Höflichkeit - Bedenken gegen ein Verbot dieses in Amerika gedrehten Remark-Films.

Im Reichstage beantragten die Deutschnationalen das Verbot. Die Mehrheit des Kabinetts Brüning, des Kabinetts der "Frontkämpfer", lehnt es ab, diesen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch die Fraktion der Deutschen Volkspartei lehnt es ab. Nur Generaloberst v.Seeckt schämt sich und stimmt gegen seine Fraktion.

Ward je ein solcher Skandal erhört?

"Auf die Straße! Auf die Straße!", gellt es durch viele tausend Herzen.

Nationalsozialisten, Stahlhelmer, Deutschnationale rotten sich am Montag dieser Woche zusammen. Goebbels hat den Heerruf ausgestoßen. Er ist eine von Grund auf revolutionäre Natur, nur - das ist unser Glück - zur Zeit nicht mit rotem Vorzeichen.

"Wir werden nicht ruhen noch rasten, bis der Schandfilm verschwunden ist!"

Ich nehme mir ein Auto, warte an der Ecke Hedemannstraße, in der NBähe von Goebbels' Hauptquartier. Jetzt kommt er, flitzt in seinem Wagen davon. Hinterher! Schon in der Bülowstraße ganze Gruppen von Schutzleuten. Schon sieht man, wie Publikum abgedrängt wird.

Kurz vor dem Nollendorfplatz: Halt!

Goebbels ist gerade noch durchgewischt. Mein Droschkenlenker bremst hart. Drei, vier Schutzleute springen auf das Trittbrett, schwingen ihre Gummiknüttel. Ich sehe in verzerrte Gesichter. Ich kenne das. Genau so sahen im Kriege die Gegner aus, wenn sie in unsere Stellung einbrachen, die Stielhandgranate hoch in der Rechten. Du oder ich! Auch diese Schutzleute treibt ein Befehl vor. Sie tun ihre Pflicht. Ich kann sie nicht beschimpfen, ich stimme in das Gebrüll "Kuhjungs!" nicht ein, das die getriebene Menschenherde drüben erhebt.

"Wer sind Sie?", keucht einer der Schutzleute mich an.

"Presse!", sage ich und will meinen Ausweis zeigen.

"Danke sehr!" Sie springen ab und geben den Weg frei.

Nun bin ich auf dem Nollendorfplatz. Die Hälfte des Platzes bis zum Mozartsaal hin ist hermetisch abgesperrt. Die Menge strebt zum Wittenbergplatz, wohin Goebbels gefahren ist. Schnell bilden sich Marschkolonnen, es geht im Gleichschritt weiter, das Sturmlied dröhnt, ein diszipliniertes Heer meist junger Leute, Student und Studentin, Arbeiter und Arbeiterin, ist in Bewegung, auf dem Wittenbergplatz ballt es sich, bekommt neuen Zuzug, es mögen 8000, es mögen 10 000 Menschen sein.

Wie der langgezogene Gebetsruf eines Muezzins vom Minarett herab erschallt es: "Einst - kommt - der - Tag - . . ."

". . . der Rache!", antwortet schlagartig, wie Donnerkrach nach dem Blitz, die Menge.

Und dann die beiden anderen Responsorien: "Deutschland - erwache!", "Juda - verrecke!" Bis weit in den Kurfürstendamm hinein werden Fenster dunkel, rasseln Rolläden herunter. Schlotternde Angst wirft hier ihre Wellen.

"Wann kommt Ihr Drittes Reich?", fragt mich mit flackernden Augen ein sehr flüchtiger Bekannter, der das nächste Mal auf keinen Fall mehr Demokratische Staatspartei wählen will.

Inzwischen hat das bekannte Schauspiel begonnen, das man Säuberung eines Platzes nennt. Zwölf berittene Schutzleute traben gegen die Tausende an. Ich kann mir nicht helfen: in diesem Augenblick bin ich mit meinem Herzen ganz bei den Schutzleuten. Prachtvoll, ganz prachtvoll, wie sie ihre Pflicht tun, die armen Kerls. Sie werden, wenn einmal das Rad sich bei uns gedreht hat, unter - anderem Oberbefehl noch mit ganz anderer Lust und Liebe dienen, als es jetzt unter Grzesinski der Fall ist. Natürlich könnten die Tausende das Dutzend überwältigen. Aber keine Hand rührt sich. Die Schutzleute reiten bis auf den Bürgersteig durch, nun sind im Laufschritt und in Autos auch viele unberittene Polizisten hinzugekommen, die Gummiknüttel sausen auf das Publikum, das laut Reichsverfassung doch ein "Recht auf die Straße" hat, die nur nach unserer alten Auffassung lediglich dem Verkehr und nicht Kundgebungen zu dienen hatte.

Wer geschlagen wird, sich aber nicht wehren will, der flüchtet. Alte Sache. Man rennt, man stürzt, mal hierhin, mal dorthin, denn die sogenannte Säuberung ist planlos und ziellos.

Ich stehe im Wagen und kann alles überschauen. Es ist keine Säuberung, sondern es sind einzelne Attacken, als lege es die Obrigkeit nur darauf an, Märtyrer zu schaffen, rasende Wut zu erregen. Keine Sorge, es wird ihr schon gelingen! Als die Menge wieder einmal ins Fluten kommt, brandet sie an meinen und andere Wagen, Frauen werden heftig gegen den Kühler gequetscht und schreien auf. Endlich gibt die Polizei das nutzlose Hetzen auf, es wird still, man hört reden. Nun ist auch ein Lautsprecherwagen da. Das Sturmlied. Ein Militärmarsch. Zum Schluß: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!

Das hört man straßenweit. Über den Dächern der großen Kaufhäuser schlagen die Töne zusammen. Bei dem geordneten Abmarsch vernimmt ganz Berlin W den Gesang. Bis zum Fehrbelliner Platz geht im Marschtempo ein Zug von Tausenden.

Auch die Wacht am Rhein schmettert daher, das alte heilige Verteidigungslied deutscher Heimat. Es singen Arbeiter mit, die vor Jahr und Tag noch knallrot waren. Weltwende? Daß sie kommt, fühlen dumpf die Massen; der Aufbruch der Nation beginnt. Es ist schön, dieses erste Brodeln der neuen deutschen Völkerwanderung in Berlin erlebt zu haben. In diesem Berlin, das die Süddeutschen einen Sauladen nennen. Wer sich der Bewegung entgegenstellen will, der wird zerrieben. Auch die "Abgesplitterten", die Weltgeschichte machen wollten, indem sie Hugenberg ein Bein zu stellen versuchten. Was die Menge jetzt dumpf fühlt, das ist, daß unser alter sauberer Staat zu einem Parteistaat geworden ist, zu einem Ausbeutungsobjekt für Bonzen; und das ist doch wahrhaftig nicht der Sinn der Weimarer Verfassung gewesen. Das schlimmste: man hat das Gefühl, daß auch die Justiz zur Magd der Parteipolitik wird. Nur können die Massen darüber nicht Rechenschaft ablegen.

Einer kann es. Einer hat jetzt ein Buch geschrieben, das "Gefesselte Justiz" heißt, bei Lehmann in München erschienen. Dieser eine, Gottfried Zarnow nennt er sich, beschwört damit einen vielleicht stärkeren Sturm herauf, als seinerzeit Zola mit seinem "J'accuse!" Das Buch ist das Lebenswerk eines Mannes; und um dieses Werkes willen war sein Leben nicht umsonst.

Ich kenne ihn seit Jahren. Er hat fanatisch das lautere alte Beamten-Deutschland geliebt und er haßt fanatisch seine Verderber. Wenn man ihn so vor sich stehen hat, mit dem kantigen großen Kopf zwischen den Schultern, mit den gepreßten Lippen, dann sieht er wie das Urbild eines Prozeßhansl aus, wie ein Mensch, mit dem schwer zu verkehren und nicht gut Kirschen zu essen ist. Seine ganze Liebe und seinen ganzen Haß hat er zwölf Jahre lang auf diesen seinen inneren Prozeß um die Reinigung des Landes konzentriert, hat mit ungeheurem Fleiß und Spürsinn unwiderlegliches Material gesammelt, das wir entweder vergessen oder nie gewußt haben, und nun schlägt seine "Gefesselte Justiz" wie ein Hammer an das Brett vor unserem Kopf. Unsere ganze Kutisker-Barmat-Sklarek-Zeit ist auf einmal erhellt, selbst die dunkelsten Kapitel, so das des Falles Hoffmann-Magdeburg, liegen so offen vor uns, daß wir erschauern.

Es ist nicht immer leicht, einen Spezialkenner zu lesen, auch Gottfried Zarnow stellt manchmal starke Anforderungen an unsere Konzentrationsfähigkeit, aber man liest sich in das Buch hinein, man frißt sich hinein, bis sich einem die Haare sträuben. Und wenn man es aufatmend bei Seite legt, dann hat man das Triumphgefühl: das, gerade das hat uns gefehlt, das ist das Waffenarsenal, das wir brauchen, das wird jeder gebildete nationale Deutsche bei sich haben wollen, daraus kann der Marxismus sein tödliches Geschoß empfangen.

In der vorigen Woche lagen erst die Aushängebogen des Werkes vor. Heute sind, wie ich höre, bereits 12 000 Stück des Buches verkauft. Gegen Weihnachten wird vielleicht schon keines mehr zu haben sein. Nachher muß gleich eine Neuauflage gedruckt werden.

Der Büchermarkt ist in Berlin überhaupt der einzige, der schon sein richtiges volles Weihnachtsgeschäft hat.

Sonst klagen alle Ladenbesitzer mit Ausnahme derer, die man früher Bazare nennen. Die amerikanische Woolworth-Company hat eine ganze Anzahl von Filialen in Berlin aufgemacht, in der es billigen Pofel zu Einheitspreisen von 25 und 50 Pfennigen gibt. Da laufen nicht nur sogenannte kleine Leute hin, sondern auch Damen von Welt und kaufen sich unnützes Zeug, nur weil es "so billig" ist.

In Läden, wo es teure Sachen gibt, nimmt das unbare System immer mehr zu. Mancher Menschenfreund fragt sich, weshalb unter den, vorsichtig ausgedrückt, "verwahrlosten" Mädchen so wenige in die bürgerliche Ehrbarkeit zurückkehren. Die richtige Antwort lautet: weil sie "stottern" müssen. Es gibt Ausstattungsgeschäfte, die diese Mädchen vom Kopf bis zum Fuß elegant einkleiden, ihnen bis zu 1000 Mark Kredit einräumen (mancher brave Handwerker hat es nicht so leicht), ohne nach einer Sicherheit zu fragen, dafür aber monatlich 55 Mark Ratenzahlung fordern. Selbstverständlich ist die Risikoprämie mit einem Aufschlag von manchmal 30 Prozent einkalkuliert. Auch die Tanzmädchen der Kaffeedielen haben meist einen solchen Sklavenvertrag am Bein.

Es ist immer so: je weniger Geld einer hat, desto mehr muß er zahlen. Am Heiligen Abend, wenn die Erinnerungen kommen, ringen Tausende solcher gefesselten Mädchen in der Großstadt die Hände und schluchzen:

"Mutter! Mutter!"

Die Mutter aber ist bestenfalls gestorben.

Armes deutsches Volk.
11. Dezember 1930 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts