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Aber wir leben gut - Mäßige Ballsaison - Grzesinski, Böß und Weiß - In der Berufsschule - Cläre v. Gruner - Die interessanten Grauhaarigen.
Schon damals, als wir noch keine Volksrepublik waren, aber unser bescheidenes Auskommen hatten, pflegte man im Rheinland schmunzelnd zu sagen:
"Mer sin jo ärm, awer mer leve jod!"
Nach 1918 hat die Armut außerordentlich zugenommen. Trotzdem versuchte jedermann, gut zu leben. Aber auch das hat nun seine Grenzen. Es kommt ganz unvermerkt. Man hat, wie der Luftschiffer sagt, keinen Auftrieb mehr. So kommt es mir eben erst zu Bewußtsein, daß ich trotz aller Chronistenpflicht in dieser jungen Saison noch auf keinem Tanzfest gewesen bin, denn gerade poltert ein Bekannter:
"Sie waren ja nicht auf dem Luftfahrtball! Seit wann sind Sie unter die Frackschoner gegangen?"
Richtig, Luftfahrtball.
Die Einladungen für uns waren gekommen. Aber wir hatten uns gesagt, die Welt habe nichts verloren, wenn wir dieses sympathische Fest schwänzten. Auch andere dachten so. Es waren nur noch, wie ich höre, etwas mehr als die Hälfte der vorjährigen Besucher da.
Sehen wir uns mal an, was es im November in Berlin für Bälle gibt, soweit sie schon angezeigt sind: Weinheimer Corps, Vereinigung für Kunstpflege, Kanu-Verband, Haus- und Grundbesitzer, Feuerwehr, Verein Deutscher Studenten, Alte Landsmannschafter, Katholischer Frauenbund, Ruderverband, Baltisches Rotes Kreuz, Technik, Türken, Deutscher Automobilclub, Reichsbanner, Seglerbund, Pharmazeutische Gesellschaft, Post, Rheinländer, Rudolstädter S.C., Universität, Alte Turnerschaften, Polizei, Städtische Oper, Mecklenburger, Juristen, Filmindustrie, Kolonialgesellschaft, Burschenschafter, Skagerrak-Gesellschaft, Feldjäger, Boston-Club, Motorradfahrer, Ausländische Presse, Lawn-Tennis-Club Rot-Weiß, Württemberger.
Das kann man in einem Atemzug gar nicht sagen. Dabei ist es nur ein Teil.
Und doch sind schon eine Menge großer Bälle, die in anderen Jahren stattgefunden haben, abgesagt worden, in der Philharmonie nicht weniger als 15, während die Krollsäle einen Rückgang um 25 Prozent verzeichnen, im Sportpalast überhaupt nur 4 Bälle angemeldet sind und sämtliche Festlokale erklären, daß die verbleibenden Bälle einen um mehr als ein Drittel verringerten Besuch aufweisen.
Mer leve nit meh jod . . .
Aber das macht nichts. Wenn es nur unseren Berliner roten und rötlichen Götzen gut geht und sie nicht vom Postament gestoßen werden, sind wir schon zufrieden. Der Sozialdemokrat Grzesinski, dessen Laufbahn in einem roten Arbeiter- und Soldatenrat begann, wurde vor einem halben Jahr aus beamtenrechtlichen Gründen als Minister entlassen, ist aber trotzdem jetzt wieder als Polizeipräsident Chef einer Behörde mit annähernd 20 000 Untergebenen geworden. Und Böß hat unweigerlich und inappellabel seine 29 500 Mark Pension jährlich, weil die Disziplinarbehörde - nur einen kleinen Teil des gegen ihn vorliegenden Materials zum Gegenstand der Anklage hatte.
Wie man so was heute schiebt? Das werden wir wohl nur dann erfahren, wenn einmal eine Mehrheit der Rechten in Reichstag und Landtag sitzt und an die große Reinigung geht.
Seinen "Wohltätigkeitsfonds für arme Künstler" hat Böß u.a. dazu benutzt, um von seinem Parteifreund, dem Millionär Max Liebermann, für 45 000 Mark ein Bild zu kaufen, das angeblich "zur Fremdenwerbung" in der städtischen Oper aufgehängt werden sollte, dann aber in dem Bibliothekszimmer des Magistrats seinen Platz fand. Dieser demokratische Oberbürgermeister Böß ist 14 Tage lang mit seiner Frau nichtzahlender Gast des Hoteliers Elschner in dessen Villa und verschafft ihm dann, obwohl die Stadtbank es abgelehnt hat, vom Magistrat 300 000 Mark Bürgschaftskredit. Strafrechtlich hat dies zu einem Verfahren wegen Bestechung nicht ausgereicht, disziplinarrechtlich wäre es vor 1918 völlig genügend gewesen. Ein hoher Berliner Verwaltungsgerichtsbeamter erzählt neulich, man wisse schon seit drei Jahren, wie faul es in der Reichshauptstadt aussehe. Auf die Frage, warum man das nicht dem Ministerium gemeldet habe, erwidert er entrüstet:
"Das konnte ich meinem Freunde Böß doch nicht antun!"
Und nun das Allerneueste. Der sozialdemokratische Polizeivizepräsident Weiß lehnt das Gesuch eines Gastwirts um eine Nachtkonzession ab. Der Wirt zahlt an Weiß' Bruder eine Summe von 2000 Mark, - und acht Tage später hat er die Konzession.
Diese Dinge wären vielleicht nicht einmal so aufreizend, wenn wir Hochkonjunktur hätten und alle Welt gut verdiente, nicht bloß die Bonzen. Aber heute kämpft doch jeder mit Nägeln und mit Zähnen um sein bißchen Existenz. Das fängt schon früh an, schon bei den der Volksschule eben Entwachsenen. Das Erfreuliche dabei ist, daß man sie wenigstens mit guten Waffen für den Lebenskampf zu versorgen sucht.
Die überall emporschießenden Berufsschulen - früher sagte man Fortbildungsschulen, und das war eine noch unentwickelte Urform - leisten tüchtige Arbeit. An je einem Tage in der Woche müssen die vierzehn- bis achtzehnjährigen Erwerbstätigen für ganze 7 Stunden von früh bis nachmittags in die Schule, haben eine Turnstunde, vier Stunden Fachkunde (Rechnen, Kalkulation, Stofflehre) und zwei Stunden Lebenskunde (Gesundheitslehre, Staatsbürgerunterricht, Wirtschaft), und da sie um den Ernst der Zeit genügend Bescheid wissen, sind es nicht mehr Radauklassen von Aufsässigen wie in der Ära der Fortbildungsschulen, sondern fast durchweg in Selbstdisziplin sich straffhaltende aufmerksame Zuhörer, dankbar ihren aufopferungsvollen Lehrern und Lehrerinnen.
Vielleicht ist es anderswo in Deutschland nicht ganz so. In Berlin gibt es jedenfalls Musteranstalten. Ein wenig habe ich in die eine oder andere hineinblicken können.
Natürlich muß man lächeln, wenn da eine Vierzehnjährige auftaucht, von der Schülerbibliothek erfährt und keck fragt:
"Sind hier nur klassische Sachen? Oder kann man auch was Reelles haben?"
Aber im allgemeinen ist die Lernbegier und die Wißbegier groß. Es wird alles praktisch durchgeprobt, vorbildlich auch für ausländische Besucher, die von deutschem organisatorischem Geist sich befruchten lassen wollen. Über Säuglingspflege z.B. werden nicht etwa nur theoretische Vorträge gehalten, sondern es ist eine richtige Kinderstube mit Bettchen, Körbchen und allem Nötigen da, nur daß als Versuchsobjekt zum Einwindeln und Waschen und Pflegen nicht wirkliche Säuglinge gestellt werden, sondern lebensgroße Puppen.
Auch der staatsbürgerliche Unterricht wird anschaulich, praktisch gestaltet.
"Wie stellt ihr euch den Reichstag vor?", werden Fünfzehnjährige gefragt.
Sie antworten: da sei eine Rechte, ein Zentrum, eine Linke.
"Wollen wir da mal ein Beispiel durchführen?"
Au fein. Also die Sitzung wird eröffnet. Die Deutschnationalen beantragen, die Straßen, die zum Grunewald führen, sollten sonntags besser beleuchtet werden. Die Kommunisten sagen, das sei Quatsch, lieber solle man das Geld dafür verteilen.
"Was nun?", fragt die Lehrerin.
Den Kindern fällt es nicht ein, daß man abstimmen muß. Eine sagt:
"Ja, nun sagt der Reichstagspräsident entweder, sowas machen wir nicht, oder er bringt den Antrag zu Hindenburg, und der unterschreibt."
Da greift die Lehrerin ein, erklärt, spielt das Gesetzemachen einmal durch. Au fein. Da haben es alle sofort begriffen.
Manchmal ist die Sache ja auch schwerer.
Da soll eine vierundzwanzigjährige junge Lehrerin in Gesundheitslehre über Geschlechtskrankheiten unterweisen. Sie hat schon die Nacht über nicht geschlafen. Sie ist tags vorher zu einer Ärztin gelaufen. Sie steht blutrot vor ihrer Klasse und verflucht innerlich "die Anforderungen der modernen Zeit", und das sehen die Göhren ihr auch an und haben nun - Kinder sind immer grausam, Berliner Kinder frühwissend - die knifflichsten Fragen für sie.
Luft, Luft!
Sowieso ist die Luft trotz hoher Räume immer schlecht. Die Kürschnerinnen bringen Fellgeruch ins Haus. Die jungen Friseusen, schon mit wegrasierten und nachgemalten Augenbrauen, riechen stark nach allen Düften der Welt. Und eine Lehrerin sagt mir:
"Wenn ich irgendwo eingeladen bin, und es gibt Kaperntunke, dann wird mir übel; ich habe nämlich ein kleines Laufmädchen in der Schule, das die ganze Woche Kapern packen muß, und den Geruch werde ich überhaupt nicht mehr los!"
Wenn man in die Klasse eintritt, weiß man manchmal, ohne nach dem Lehrplan zu sehen, sofort, wer da ist.
"Aha, heute sind es die Buchbinderlehrlinge, es riecht so nach Kleister und Leim!"
Der Unterricht ist schulgeldfrei, die Lehrmittel sind reichlich, für alle nur denkbaren Berufe. Abends gibt es gegen eine kleine Gebühr freie Kurse, etwa im Kleider- und Wäschenähen, die von Frauen und Mädchen aller Altersstufen besucht werden. Man schaut gläubig zur Lehrerin empor. Die weiß sicher alles, auch außerhalb ihres Fachs, nimmt man an.
"Sie, Frollein, wie mach' ick det, det ick mir scheiden lasse? Wat mein Oller is, der looft alle Dage mit eene annere rum."
Die Jugend, die noch berufsschulpflichtig ist, denkt, nachher werde das Leben immer schöner. Aber gerade die Älteren müssen schwer ringen. Bis sie heute, manchmal auf vielen Umwegen, ihren wahren Beruf entdecken. Eine Tochter von mir ist - weit, weit weg von Berlin - Lehrerin an einem Gymnasium und hat es immer mit Kehlkopf und Stimmbändern zu tun, ist jahrelang immer müde und heiser gewesen. Da führt ihr ein gütiges Geschick die Stimmbildnerin Cläre v.Gruner, die ständig in Berlin-Halensee wohnt, im Sommer ins Haus, und heute ist das Mädel in Ordnung. Stimmbildnerin? Habe ich diese Cläre v.Gruner nicht schon einmal als Schauspielerin bei Reinhardt gesehen, so vor acht oder neun Jahren?
Ei ja doch. Es ist noch ganz das alte liebe Gesicht mit den klugen und suggestiven Augen, nur daß etliche Krähenfüßchen sie heute schon flankieren. Und seit Reinhardt? Allerlei. Übersetzerin im Auswärtigen Amt, allein ohne Dienstmädchen kochende Pensionsinhaberin, Rezitatorin, Leiterin eines Antiquitätengeschäftes, Besitzerin eines Ateliers für handgenähte Luxuswäsche, Empfangsdame in der Rackowschen Handelsschule, Propagandistin bei Cords, Privatbibliothekarin. Und jetzt seit einigen Jahren, nach Vorbildung bei dem allerersten Meister in diesem Fach, Stimmbildnerin, die schon alle möglichen Leute von Nervosität, Heiserkeit, Stottern befreit hat. Das harte Muß hat sie bis hierher gebracht.
Wie in tausend Fällen: die ehedem wohlhabende Familie hat alles verloren. Eine sehr bekannte Familie. Der Großvater v.Gruner war unter Bismarck Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, befreundet mit dem alten Kaiserpaar, zweimal wöchentlich regelmäßiger Gast bei den berühmten Tee-Abenden im Roten Zimmer. Dessen Vater aber war in und nach den Befreiungskriegen Mitarbeiter von Stein und Hardenberg und wurde der erste Oberpräsident der Rheinprovinz.
Das Enkelkind, eben diese Cläre v.Gruner, hat nun in tapferer Arbeit ihren Weg gefunden und wird in ihrem Stübchen in der Katharinenstraße brieflich und telephonisch von allen Leuten, die die ganz teure Kur bei dem "Meister" sich nicht leisten können, um Hilfe angegangen. Politikern, Lehrern, Anwälten, Sängern, Schauspielern, Auktionatoren, Pfarrern - auch Stammlern aus Nervosität, die berufsmäßig nicht so viel zu sprechen haben - bringt sie die Stimme ins richtige Geleise.
Ich habe ein angenehmes Stündchen mit ihr verplaudert. Ich habe mich nur immer dabei geräuspert. Sollte ich am Ende auch . . . Ach was, noch langt die Stimme zum Andonnern einer Brigade. Aber man wird doch nachdenklich. Die Zigarre und das Glas Wein blinzeln mich so höhnisch an.
Noch ist man ja kolossal gesund. Aber manchmal sehen einen die Frauen doch so ein bißchen kritisch an. Wenn nämlich ein noch Strotzenderer zu sehen ist.
"Sieh mal den Herrn da! Einfach fabelhaft, nicht wahr? Er ist nicht jung, hat schon graues Haar an den Schläfen. Aber diese frischen Wangen, nicht ein Fältchen im Gesicht! Und welche Sportfigur!"
Ich knurre Zustimmung. Mein ganzer Stolz auf das noch nicht graue Haar ist dahin. Tags darauf sehen wir bei einem großen Empfang in einem fremden Hause sogar drei solcher Herren mit Schläfen wie ein Generaldirektor, die aber im übrigen wie ein Leichtathlet aussehen. Um welcher Frau willen haben sie wohl die weißen Härchen vor und über den Ohren bekommen? Junge Damen schmachten sie an. Diese Männer schlagen alles aus dem Felde, sind einfach die Löwen im Salon.
"Und hast du gehört, wie er lachte, als man ihn nach seinen Erlebnissen in Paris fragte? Der hat wohl alles erlebt, was man erleben kann. Und sieht dabei noch so wohlerhalten aus, so fabelhaft jugendlich, möchte ich fast sagen!"
Kunststück. Zufällig habe ich gestern in einem unbewachten Augenblick in das umfangreiche Färbebuch eines Friseurs im Berliner Westen hineinsehen können. O, o, o! Da stehen verschiedene sehr junge Herren drin, die sich allwöchentlich das Schläfenhaar, um sich interessant zu machen, weiß tünchen lassen.
6. November 1930 (Donnerstag)
11
Immer die Reichsfarben - An der "Wohnung" verstorben - Das Kind im Bilde - Godard und Langhorst - "Das weiße Rössel" als Revue - Preissenkung - Der Herr Doktor als Schutzmann - Es gibt noch Abschlüsse.
"Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein!"
Etwa in dieser Form erbittet die staatliche Hierarchie unter Josef Wirth und Genossen unsere Liebe, indem sie mit Gefängnisstrafe, Zeitungsverboten, Geldentziehung für alle Nichtliebenden schnell bei der Hand ist, ob es sich nun um Einzelpersonen handelt oder um Länder wie Thüringen und Braunschweig. Wo bleibt denn das notwendige positive Werben? Es beschränkt sich auf die Propaganda mit den Reichsfarben, die bei jeder Gelegenheit so aufdringlich uns nahegebracht werden, daß das Gegenteil der geplanten Wirkung erreicht wird. Sogar das kürzlich vom Ministerium herausgegebene "ABC des Reichsrechts", Gesamtverzeichnis zum Landes- und Reichsgesetzblatt von 1867 bis 1929, ist mit zwei schwarzrotgelben Lesebändern, die am Buchrücken angeheftet sind, ausgestattet. Man merkt die Absicht; das ist alles.
Würde die staatliche Hierarchie von heute, die die angeblich unfähige des alten Systems abgelöst hat, statt dessen in mütterlicher Sorgfalt uns bessere Lebensbedingungen schaffen, so hätte sie ganz andere Erfolge.
Aber sie ist im Gegensatz zu allen anderen Großmächten Europas, Rußland allein ausgeschlossen, noch nicht einmal imstande gewesen, in zwölf Friedensjahren des Wohnungselendes Herr zu werden. Glaubt man, jene Berliner Arbeiterfamilie, der die Wohnung soeben das jüngste sechswöchige Kind gemordet hat, werde sich nun für die Idee Schwarzrotgold begeistern? Diesen Erwerbslosen war ein Lagerraum in einem Keller angewiesen worden, lichtlos, luftlos, neben einer stinkenden Müllgrube, mit der bloßen Erde als Fußboden, auf den das Regenwasser täglich hereinsickerte . . .
Manchmal quält man sich mit der Frage, was aus unserem Volke werden soll, wenn es sich immer mehr zum Einkind- oder Keinkind-System entschließt. Man bekommt gewöhnlich die bittere Antwort, das Kind sei heute eine Wohnungsfrage.
Nicht doch, sagt der Verein der Künstlerinnen zu Berlin: das Kind ist ein Wunder! Und lädt uns zu seiner Ausstellung am Schöneberger Ufer ein, dort, wo im vorigen Jahr Frau v.Kardorff-Oheimb "Die Frau" aller Berufsarten chaperonnierte. Diesmal sollte Frau Käte Stresemann, die bis in ihr Alter hinein fröhliches Tanzgirl und trotzdem vorbildlich gute Mutter geblieben ist, die Ausstellung "Das Kind" als Zugkraft eröffnen, war aber durch die jetzt übliche Herbsterkältung daran verhindert. In ihrem Namen sprach eine andere Dame die einleitenden Worte. Niemand verstehe die Seele des Kindes so wie die Frau, niemand könne daher wie sie das Kind auch darstellen; es sei beispielsweise nur an die berühmte Malerin Vigée-Lebrun erninnert.
Das durfte nicht kommen!
Wer an jene Malerin der entzückenden Schönheit aus alten Zeiten zurückdenkt und dann "Das Kind", wie die Kleckserinnen von 1930 es uns vorstellen, in etlichen Dutzend Bildern und Plastiken hier am Schöneberger Ufer sieht, der ist je nach Temperament nur betrübt oder entrüstet. Allenfalls den Backfisch mit schwarzen Zöpfen, den Julie Wolfthorn gemalt hat, möchte man sich ins Zimmer hängen. Fast alles andere weckt Grausen. Der alte Professor Heck vom Zoologischen Garten ist am Eröffnungstage auch hier, geht von Bild zu Bild, schmunzelt vergnüglich und sagt sich sicherlich:
"Da sind meine Paviane im Zoo doch schöner!"
Es ist offenbar nicht mehr wahr, daß die Kunst nach Brot geht. Auf diesem Wege bekommt sie es nicht. Wer ein Porträt haben will, der wünscht doch kein Gestammel von Strich und Farbe. Das ist das ganze Geheimnis, warum in der Hauptsache nur die Maler alten Schlages lohnende Aufträge bekommen, denen es mehr auf Ähnlichkeit als auf Häßlichkeit ankommt. In Frankreich gibt es sehr viele berühmte Impressionisten, aber Staatsmänner, Feldherren, Industriemagnaten, Könige, Päpste und schöne Frauen und schöne Kinder in ganz Südeuropa lassen sich von dem Pariser Professor Godard malen, der von Impressionismus nichts wissen will, sondern mit Liebe und Gewissenhaftigkeit "akademisch" arbeitet.
In Deutschland und allen germanischen Ländern aber ist es der Professor Langhorst aus der Hohenzollernstraße in München, mit dem die hypermoderne Kritik nichts anzufangen weiß, der aber trotzdem "der" Porträtist unserer Tage ist und bis nach England und Amerika hin zu Sitzungen bestellt wird. "Ein echter Lenbach!", sagen die Männer begeistert, "Ein echter Kaulbach!", sagen die Frauen beglückt, die von ihm gemalt sind. Und Engländer und Amerikaner erklären: "Besser konnte auch Romney es nicht!" Dabei ahmt er nicht etwa nach, sondern ist ein durchaus Eigener. Außer vielen älteren Bildern von seiner Hand, zu denen alle großen Männer und schönen Frauen der Vorkriegszeit gesessen haben, habe ich kürzlich auch sein neuestes Porträt gesehen, das der jungen Daisy Freiin v.Freyberg, und das ist so, daß man sich "davon nicht losreißen kann", wenn man das Gesicht und das Goldhaar ansieht; nur in der Figur ist das Porträt zu stämmig geraten, die junge Daisy ist in Wirklichkeit ganz unwahrscheinlich schlank. Im übrigen: ein wunderherrliches Bild. Ich weiß wirklich nicht, ob irgendeiner der allzu Heutigen dergleichen überhaupt noch fertig bekommt.
Ein Glück, daß wenigstens unsere Theaterunternehmer und Revuekönige uns nicht mit einer Abnormitätenschau kommen, keine Tänzerin mit rachitisch verkrümmten Gliedern, keine Naive mit grauviolettem Gesicht oder schmutzig-verklebten Haarsträhnen auftreten lassen, keinen jugendlichen Liebhaber mit schielenden Augen oder grünem Schopf. Shakespeares "Sommernachtstraum" in der neuesten, nun schon dritten Inszenierung Reinhardts, zuerst im Deutschen Theater gegeben, füllt jetzt allabendlich das Lessingtheater mit Zuschauern, die sich an holder Poesie, an Farbe und Bewegung sattrinken. Etwas Duftigeres als das Huschen und Springen und Gleiten der Elfen im Tanz ward noch nicht gesehen.
Mit etwas gröberen Mitteln, für die Massen des Großen Schauspielhauses berechnet, aber auch noch stellenweise sinnberückend, kommt uns Charell mit dem alten Schwank "Das weiße Rössel, der hier zur Revue umgearbeitet ist. Allein die beiden entzückenden Solotänzerinnen, die junge, in ihrer Kunst aber sehr reife Marianne Winckelstern, und die noch fast kindhaft-herbe schlanke Tamara Desni, machen einem das Herz schon froh. Dazu eine Fülle guter Darsteller, eine in Form und Farbe fabelhafte Inszenierung und - die einen sagen: leider, die anderen: herrlich - die sogenannten tausend süßen Beinchen vom Revueballett, die im Grunde gar nicht in den Schwank hineinpassen.
Noch weniger paßt dazu das erzwungene Auftreten eines "hohen" Besuchers des Weißen Rössel, des alten Kaisers Franz Joseph.
In der Uraufführung - später hat man von dieser Geschmacklosigkeit abgesehen - ließ man den braven, aber doch historisch ledernen und hölzernen alten Herrn sogar ein Couplet singen! Wenn das so weitergeht, erleben wir nächstens noch eine Revueoperette, in der der Kanzler Fürst Bismarck als Charlestontänzer auftritt.
Die Charell-Revue im Großen Schauspielhaus kostet noch mehr als die Haller-Revue im Admiralspalast. Soll sie ein Geschäft sein, dann müssen einige Monate lang täglich 3000 Plätze verkauft werden. Das ist heutzutage ausgeschlossen. Man bekommt in einem Berliner Theaterwinter nicht mehr Hunderttausende zahlender Besucher in ein Stück; schon am dritten Tage, an dem ich da war, klafften Lücken. In einer Zeit, in der allen Arbeitnehmern eine Gehalts- oder Lohnherabsetzung droht, alle selbständigen Geschäftsleute zu Preissenkungen gezwungen werden sollen, in einer solchen Zeit der allgemeinen Neukalkulierung von Einnahme und Ausgabe muß auch das Gewerbe, das für unser Vergnügen oder unsere Unterhaltung sorgt, sich den Riemen enger ziehen.
Einstweilen wird mit der Preissenkung, die uns angeblich aus allen Nöten erlöst, Reklame gemacht.
Es gibt Häuser in Berlin, die quer über die ganze Front ein Riesenschild mit der Aufschrift tragen: "Ungeheurer Preissturz!" Man läuft herzu, sieht, vergleicht, ist enttäuscht. Und wo irgendwo eine Fassade neu verputzt wird, hängt sicher am Baugerüst ein Plakat: "Während der Malerarbeiten 10 Prozent Extrarabatt!" Aber das Weihnachtsgeschäft läßt sich schlecht an. Sonst wurden um diese Zeit, Mitte November, in Berliner Läden bereits die ersten Hilfskräfte eingestellt. Diesmal aber haben einige große Berliner Warenhäuser sogar noch am 1. November abgebaut. Dafür sollen die Bleibenden ihre Liebenswürdigkeit auch gegenüber schwierigen Kunden verdoppeln. Als Lohn winkt, von einem Mosseblatt ausgeschrieben, das "Blaue Band der Höflichkeit". So etwas ist gar nicht nötig, trifft auch fast nie den rechten. Schon die Höflichkeitswoche vor einigen Jahren war ein Hereinfall, war nur Propaganda für die veranstaltende Zeitung. Not lehrt beten, sagt man, Not lehrt aber auch am besten Höflichkeit.
Der Berliner aller Stände ist tatsächlich im letzten Jahrzehnt höflicher geworden. Sogar der Schutzmann, einst das Symbol der Bärbeißigkeit, weiß heute, daß er "Dienst am Kunden" zu versehen hat. Besonders der mit Armbinde als polyglott gezeichnete, aber im Gehalt dafür nicht etwa mit einer Zulage bedachte sprachkundige Schutzmann ist froh, wenn er seine Kenntnisse bei einem Engländer oder Argentinier anbringen darf, und gibt zuvorkommend und gentlemanly Bescheid.
Ein Holländer, der sich auf deutsch nicht verständlich machen kann, redet einen Polizisten dieser Tage französisch an und bekommt prompt Bescheid. Er wundert sich. Er fragt den Posten nach Nam' und Art und erfährt, daß er - einem Dr.jur. sich gegenübersieht, der, wegen Überfüllung seiner Laufbahn, bei der Polizei mit Aussicht auf Beförderung eingetreten ist.
"Und an der nächsten Straßenecke steht ein richtiger Dr.med.!" sagt er.
Stimmt. Auch einen cand.theol. zählt die Berliner Schutzmannschaft zu den ihren, obwohl der Theologenberuf noch nicht so überlaufen ist, und mehrere Dr.phil., während das Gros freilich sich aus dem braven "einfachen Muschko", wie man früher zu sagen pflegte, zusammensetzt.
Heute muß man ja überall auf Verblüffendes gefaßt sein. Ein junger Bekannter von uns, der bisher die Berliner Universität besuchte, hat sein Fach gewechselt.
"Ich studiere jetzt Gastronomie", sagt er.
Waaas?
Ja, Gastronomie. Er wolle höherer Hotelangestellter werden, vielleicht einmal Direktor eiens Welthauses im Ausland, augenblicklich sei er Kochlehrling in einem Weinrestaurant in der Hardenbergstraße, denn man müsse alles durchmachen. Da staunste, Puppchen.
Die Jagd nach Prüfungen und Berechtigungen wird in Young-Deutschland immer toller, obwohl man gerade dem alten Deutschland stets die Überspannung des Examenwesens vorgeworfen hat. Nur im Kaufmannsstande ist - trotz der immer stärker besuchten Handelshochschulen - noch die persönliche Tüchtigkeit, das eigene Geschick, in der Hauptsache entscheidend. Wer heute nachmittags in irgendeiner Berliner Hotelhalle sitzt, um bei einer Tasse Kaffee in Ruhe die ersten Abendzeitungen zu lesen, der ist erstaunt, in dem Geschwirr um ihn herum immer von großen Geschäftsabschlüssen zu hören. So etwas gibt es also doch noch. Und die Leute sprechen alle so laut und so ungeniert. An dem einen Nachbartisch höre ich die ganze Geschichte der Verkaufsangebote von Junkers' G 38 an die verschiedenen fremden Mächte. Hinter mir werden mit allen Einzelheiten die Aussichten des Naphtavorkommens in der norddeutschen Tiefebene diskutiert. Und vor mir lacht einer laut auf und erzählt behäbig:
"Der Kurdenoberst war ein riesig netter Kerl, mit dem zusammen haben wir in Stambul mächtig einen geschmettert. Aber der große dicke Pascha, der weiß, wo die Hintertüren offenstehen, der ist schwer im Bilde. Nur ihm was in die Hand drücken, nein, solche Menkenke machen wir diesmal nicht!"
"Aber bitte, wenn wir an der Schose 50 000 verdienen, können wir doch 20 000 ranhängen!"
"Nein, haben wir nicht nötig, wir kommen ganz reinlich in's Geschäft, auch wenn die Jugoslaven billigere Armeepferde anbieten. Unser Oldenburger Blut macht uns keiner nach. Wir haben die Wagen ganz schwer beladen, und die Türken tanzten vor Freude wie die Indianerhäuptlinge, als die Pferde so ihre 15 bis 20 Zentner ins Geschirr legten!"
Gott sei Dank, es gibt noch einige Abschlüsse . . .
13. November 1930 (Donnerstag)
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Im Pfandhaus - Freiwillige Auktionen in Berlin W - Marcel v. Nemes' Erbschaft - Verschleuderung von Kunstschätzen - Bode und der Kaiser - Ball am Bußtag - Der König der Eintänzer.
Draußen im Nordosten der Stadt, in der Schönhauser Allee, befinden sich die Höhlen, in denen der Drache seine Schätze häuft, wollte sagen, die Speicher, in denen die Gerichtsvollzieher alles das einlagern, was zur Zwangsversteigerung kommt.
Rundum Händler wie die Hyänen des Schlachtfeldes. Armseliger Hausrat oder ein Grammophon oder irgend ein Posten Ware, woran Verzweiflung klebt, wird im Pfandhaus ausgeboten und geht um ein Butterbrot ab. Ein Laie kann da nichts kaufen, denn der Ring der Händler treibt dann sofort den Preis in ungemessene Höhen.
Anders ist es auf den "freiwilligen" Auktionen, die meist im Berliner Westen stattfinden, möglichst in einem gerade unbewohnten vornehmen Hause.
Da hat man nicht den Eindruck, am letzten Akt eines Dramas der Not teilzunehmen. Da ist es so, als gäbe der Reichtum etwas ab, weil vielleicht eine Erbschaft nicht leicht anders zu regulieren ist. Manche Berliner haben den Auktionsfimmel, gehen überall hin und tun so, als könnten sie täglich einen echten alten Empire-Salon oder etliche Chinoiserien aus dem 14. Jahrhundert kaufen, womöglich etwas, was aus "hochfürstlichem" Besitze stammt, also für den Neuerwerber eine Geschichte hat. Die Auktionatoren kennen das und locken mit entsprechenden Anzeigen. In der Villa Bendlerstraße, Ecke Tiergartenstraße, große Auktion: Gesamteinrichtung, Bilder, Teppiche usw. eines Haushaltes aus Zarskoje Selo kommen zum Angebot. Das zieht. Ob wohl ein Großfürst sein letztes Besitztum zu Gelde macht? Oder ein bolschewistischer Bonze Raubgut verschärft? An Ort und Stelle erfahre ich, über die Herkunft der gehäuft und stillos dastehenden Möbel, Porzellane, Skulpturen, Gemälde könne man nichts sagen, sie stammten von "verschiedenen" Besitzern; gewohnt habe in dieser Villa vor Jahren mal ein Bankier Friedberg.
Schön. Wenn man dann die Wucht der Teppiche sieht, die hier zur Versteigerung kommt, weit über hundert Stück, so weiß man: es handelt sich um zusammengetragene Auktionsware, und Zarskoje Selo ist bloß Aushängeschild für einen winzigen Bruchteil. Immerhin, wenn man nicht den Fimmel hat, unbedingt kaufen zu müssen, was man nicht braucht, was aber billig ist, so kann man gelegentlich zu etwas kommen. Ich bin mit 40 Flaschen 1921er Oppenheimer Schloß zu 2 Mark die Flasche abgezogen Creszenz Gillot. Sache!
Vielleicht sagt mir einmal ein freundlicher Leser aus Rheinhessen, ob das ein Geniestreich oder ein Hereinfall ist, damit das beweislose Gespöttel in der Familie endlich aufhört, wenn Vater hundert Mark in der Tasche habe, mache er immer eine Dummheit.
Aber auch die wirklich großen Auktionen, von denen die Welt spricht, werden in Berlin häufiger.
Die Stadt wird zu einer Art Zentrale des internationalen Austausches von Kunstwerken. Händler und Museumsdirektoren aus ganz Europa, aus Amerika und Asien geben sich hier ein Stelldichein.
Angeblich "fiebert" man schon der nächsten entgegen, die den Nachlaß eines "ungarischen Maecens", wie die Zeitungen ihn nennen, auf den Markt bringt. Des Barons Marcel von Nemes.
Ich lese in der Vossischen Zeitung:
"Er stammte aus dem Gutsadel, aus den Kreisen des Landes; und hinter seiner Kultur stand ebensoviel von der Hartnäckigkeit wie von der Schlauheit des Bauern. Urwüchsigkeit in Glacéhandschuhen!"
So wird's gemacht. Dieser ungarische Baron, dieser Fünfzig-Kreuzer-Magyar, wie man die Sorte früher bezeichnete, hieß in Wirklichkeit bei seiner Geburt - im Jahre 1866 in Jánoshalma - noch Moses Klein, war der Sohn eines Kantors, verließ mit 12 Jahren die Schule und wurde, weil er schon im Synagogenchor mitgewirkt hatte, zunächst Bänkelsänger in Kaffeehäusern. Dann war er Schnellmaler, Liebesbriefsteller für Dienstmädchen, Kohlenhändler, Winkelmakler für Getreide und allerlei sonst noch, bis er auf die große Entdeckung kam, daß sich auch mit Kunsthandel etwas "machen" ließe. Nur muß man wissen, wie es gemacht wird. Der kleine Moses wußte es. Man kauft, möglichst mit fremdem Gelde, alles auf, was sich von irgend einer bis dahin wenig beachteten Größe auf dem Markt befindet, stößt dann durch die "ergebene" Presse in Wien, Budapest, Berlin in die Reklametrompete, und binnen kurzem hat man für seine Ware eine Wertsteigerung von tausend und mehr Prozent.
Wer wußte vor 30 Jahren viel von el Greco?
Herr Klein-Nemes kaufte in der Stille. Dann hub der "berühmte" Kunstschriftsteller Meyer an zu posaunen, Meyer-Gräfe, der Liebling der Mosses und Ullsteins, der nach seiner eigenen Aussage "die haarigen Teutonen nicht leiden" konnte, Böcklin verriß, auch einen so göttlich großen Indogermanen wie Velasquez nicht gelten ließ, aber Greco hochlobte. Der war das für sein Jahrhundert und sein spanisches Gastvolk, was für uns heute Max Liebermann ist: ein begabter, aber flackeriger Nachempfinder. Doch das Greco-Geschäft war gemacht. Baron Marcel von Nemes besaß alles von ihm, was greifbar war. So wie er zwanzig Jahre später und bis zu seinem jetzt erfolgten Tode alles an Meßgewändern, was aus dem 16. Jahrhundert und von früher her stammt, aufkaufte.
Eines Tages würde man eben auch daraus die große Mode machen! Wozu hat man denn "seine" Presse, wozu wäscht eine Hand die andere?
Reklame ist alles. Noch im Tode. In seinem Testament hat der Mann bestimmt, daß aus seiner Hinterlassenschaft, zu der auch das fabelhafte Schloß Tutzing seit der Inflationszeit gehört, nach der Schuldenregulierung und nach der Herausgabe von einer Million Mark an die Angehörigen, der ganze Rest (dank den Andeutungen der Presse träumt man von Millionen) dem ungarischen Staate und dortigen und Münchener Künstlern zufallen solle. Ich wette: es wird da einmal sehr lange Gesichter geben. Herr Moses Klein, dessen Nachlaß wir also jetzt auf der Berliner Versteigerung zu sehen bekommen werden, wird nicht als Maecen oder als Wohltäter der Menschheit im Gedächtnis fortleben, sondern höchstens um einer kleinen Anekdote willen. Schauplatz: Tutzing. Ein Angehöriger des Königshauses, der katholischer Priester ist, besucht das Schloß, findet die Kapelle dort wunderbar schön. Da klopft ihm der große Spekulant auf die Schulter und sagt:
"Wissen Sie was, Königliche Hoheit, werden Sie mein Hofkaplan!"
Man muß Konjunkturen ausnützen, man muß Konjunkturen auch schaffen können. Aus der Verarmung der Fürsten hat das Spekulantentum den größten Nutzen gezogen. So wurden Kunstschätze von Hohenzollern-Sigmaringen verschleudert. Eine gutmütige Empfehlung durch den Kronprinzen Rupprecht von Bayern hatte den Weg geebnet, und es fand sich ein Hofkammerpräsident in Sigmaringen, der dem sterbenden Fürsten noch wenige Tage vor dessen Tode die Unterschrift unter den Vertrag entriß.
Pfarrer und Fürsten sind die betrogensten Menschen, weil sie die gläubigsten und gütigsten sind. König Humbert von Italien hat einmal gesagt: "Es gehört zu dem Beruf der Könige, daß man Attentate auf sie macht." Er fiel auch einem Mordbuben zum Opfer. Am meisten gehört zu dem Metier aber das Getäuschtwerden. Ich spreche hier nicht von dem Fall Wilhelm II.-Fürst Bülow, der alle anständigen Menschen, gleichviel welcher Partei, so erregt, sondern nur von dem Ausschlachten des Kunstbesitzes, das gegenwärtig die große Konjunktur ist. In Berlin nutzt sie ein ehedem sehr unbedeutender Händler in Kunst, ein Herr Moser, der früher Moses hieß und u.a. für noch nicht 7000 Mark einen Tizian aus kaiserlichem Besitz erwarb, den ihm dann das Kopenhagener Museum für 360 000 Mark abkaufte. . .
Ein noch berühmterer Watteau, für den die Franzosen gern 1½ Millionen Mark gäben, sollte ähnlich verschleudert werden. Herr Moser hat die Empfehlung des Grafen Platen-Hallermund für sich. Da kannst du halt nix machen, liebe Schatullenverwaltung oder lieber Museumsdirektor. Der Generaldirektor unserer Museen, Herr v.Bode, hatte noch vor seinem Tode in einem geharnischten Briefe an den Kaiser diesem die Augen geöffnet. Wilhelm II. ersah daraus wieder einmal, daß er, wie schon so oft, mißbraucht und ausgenutzt worden war. Seine Randbemerkungen waren sehr deutlich. Der Brief Bodes mit diesen Bemerkungen ging an den Grafen Platen, der nahm das Papier zu Bode mit, schmetterte es auf den Tisch und rief:
"Ihr seid ja verrückt, Ihr mit eurem blöden Antisemitismus!"
Damit hat die Sache, damit hat Bode wirklich nichts zu tun. Also Exzellenz v.Bode schwoll die Zornader, er herrschte Platen an:
"Ich verbitte mir, daß Sie in meinem Hause sich so benehmen!"
Das hat Bode jedem, der es hören wollte, erzählt, das hat noch nachher seine Witwe bestätigt. Aber veröffentlicht, wie der Brief an den Kaiser, wurde es nicht mehr. Bode hat sich einfach gesagt, den Fürsten sei nicht mehr zu helfen, sie fielen doch immer wieder auf ihre Ausnützer herein. Damit ist natürlich nicht ein Mann wie der Graf Platen gemeint, der sicherlich das Beste im Auge hat, aber augenscheinlich nicht weiß, wie man für die Dinge aus kaiserlichem Besitz angemessene Preise bekommen und sie doch auch Deutschland erhalten kann; sondern gemeint sind die Kunstgeschäftemacher, die den großen Ausverkauf arrangieren und dabei fett werden.
Man kann das kleine Landhaus Doorn nicht zum Kunstspeicher machen, es ist also verständlich, daß die Hohenzollern das, was sie noch an wertvollen und sonst unverwertbaren alten Bildern, Skulpturen, Möbeln, Porzellanen in Potsdam besitzen, da es der Staat ihnen nicht abkauft, anderweit veräußern. Auch ungezählte Privatleute, die einst Sammler waren, stoßen ihren Kunstbesitz heute ja ab, weil die böse Zeit das Erhalten verbietet.
Aber, bitte, nicht verschleudern! Bitte, nicht alles den Hyänen hinwerfen!
Wenn man so ein erfolgreicher Güterschlächter ist wie Herr Moser, dann kann man natürlich eine Tiergartenwohnung haben, die jährlich 24 000 Mark Miete kostet, und alle Berliner Genüsse stehen einem offen. Es gibt überhaupt eine große Schicht von Leuten, die es auch heute noch fertig bringen, reich zu werden. Man hat von Kriegs-, Revolutions-, Inflations- und Deflationsgewinnlern gesprochen, also immer gewisse für Parasiten günstige Zeitumstände als entscheidend angegeben, aber es muß wohl mehr an den Menschen als an den Zeiten liegen.
Augenblicklich sind wir als Volk am Verelenden, geht der Konsum, auch der Vergnügungskonsum, ständig zurück. Trotzdem amüsiert diese eine große Schicht sich mehr denn je, bevölkert die Luxusstätten und findet sogar am Bußtag Gelegenheit, in "geschlossener Gesellschaft" die Beine wie immer zu schlenkern.
Nämlich - auf dem Ball der Eintänzer von Berlin.
Treuherzig versichert die Einladung, daß diese Leute, sonst täglich an das Berufstanzen auf den Dielen gefesselt, an dem einen Tage, dem Bußtage, samt und sonders frei seien, weil da doch Tanzmusik verboten sei. Also könnten sie, ohne geschäftlich behindert zu sein, an der Konkurrenz teilnehmen, in der "der König der Eintänzer" gewählt werde. Auf zu diesem Ball, Eintritt nur 2 Mark! Ich denke, da kommen mindestens hundert Tanzprofessionals hin, da wird man allerlei Sehenswertes sehen, ich bewaffne mich daher mit einer dreiundzwanzigjährigen jungen Partnerin, damit sie praktisch für mich die Fähigkeiten der Professionals erproben könne, und schiebe mit ihr hin.
Mein Teil innerer stiller Einkehr am Bußtag habe ich hinter mir; der Himmel wird mir den abendlichen Berufsgang nicht verübeln.
Aber im Europa-Pavillon füllt den Saal und die Logen im Grunde das gleiche Publikum der einen großen Gewinnlerschicht, das man auch sonst oft trifft. Die Eintänzer sind eine kleine Minderheit, eine etwas mißvergnügte Minderheit, da sie den einen Tag der Ruhe (im ganzen Jahr sind es nur 4) nun hat hergeben müssen. Mit Mühe und Not sind für die Konkurrenz - ganze 7 Eintänzer aufgetrieben worden; und von der sechzehnköpfigen Prominenten-Jury glänzen 10 Preisrichter durch Abwesenheit. Einerlei, im Vestibül wartet schon der Photograph, in den Zeitungen wird es nachher eine große Sache. Für das Lokal und für den Erwählten eine glänzende Reklame.
Wollen mal sehen, wer von den Professionals, abgesehen von denen des Hauses, da ist.
Richtig, der da ist vom Esplanade-Hotel. Und der da aus der Königin-Bar. Und der da, war er nicht früher in der Barberina?
Er begrüßt uns, er tanzt ein paar Mal mit meiner Begleiterin. Jetzt sei er am Europa-Pavillon angestellt, aber er erinnere sich sehr gut, vor etwa einem Jahr seien wir beide und noch zwei Damen - meine Frau und meine Schwägerin - einmal in der Barberina gewesen, und da habe er die Ehre gehabt, mit dem gnädigen Fräulein, dem auffallend hellblonden, einige Tänze absolvieren zu dürfen.
Günther Mertens heißt der gut aussehende, elegante junge Mann, seit vier Jahren ist er Berufstänzer, vorher war er auch nicht "Leutnant bei den Husaren", sondern kaufmännischer Angestellter in der Autobranche. Jetzt lebt er mit seiner alten Mutter zusammen, die er von seiner Beinarbeit mit erhalten muß.
Ein paar Stunden später sind wir in freudigster Erregung. Ausgerechnet dieser nette Kerl wird nach der Prüfung der Paare in je drei Tänzen von der Jury zum König der Eintänzer von Berlin erwählt. Er strahlt. Von einem anwesenden Impresario wird ihm sofort eine Tournée für das Rheinland angeboten. Und der glückliche junge Mertens sagt:
"Ich habe auch nicht im Traum an diesen Erfolg gedacht! Was wird meine Mutter sich freuen, wenn ich heute Nacht nach Hause komme und erzähle!"
20. November 1930 (Donnerstag)
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