"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 7 - 9
16. bis 30. Oktober 1930


7

Der Gummiknüttel bei der Reichstagseröffnung - Zörgiebel und Waentig - Der Verkehrsschutzmann - Das Auto Nr. 1 - Première in der Staatsoper - Rudolf v. Laban - In der Schlager-Ära - Kommt die Morgenröte ?

"Au fein, da gibt's Senge!" jauchzen vier Gymnasiasten an der Ecke Linkstraße und rennen zum Potsdamer Platz, um zuzusehen, wie die Schutzleute das Publikum auseinanderjagen.

Wer läuft, hat ein böses Gewissen, sagt sich die Polizei.

Also rennt ein Schutzmann hinterher und gibt den vier, die laut aufheulen, mit dem Gummiknüttel eins ins Kreuz oder auf den Kopf.

Das war am Montag, zur Feier der Eröffnung des neuen Reichstages. Jetzt schreit alle Welt über die Brutalität der Polizei, weil sie wahllos auf friedliche Spaziergänger losgeschlagen und auch junge Leute verhaftet habe, die weiter nichts getan hätten, als "Heil!" zu rufen; und das ist doch weder in der Verfassung noch im Republikschutzgesetz verboten. Aber was soll der arme Schutzmann machen? In der guten alten Zeit, unter der Monarchie, sagte der Berliner Polizeipräsident v.Jagow klar und unmißverständlich: die Straße gehört dem Verkehr. Also wurde der friedliche Verkehr nicht behindert, dagegen wohl Aufmärsche zu Demonstrationen. Der neue Staat hat aber sofort das Recht auf die Straße für alle Kundgebungen proklamiert, die Menschen zu "Heil!" und "Pfui!", zu "Hoch!" und "Nieder!" und der ganzen Brüllaffen-Politik ermächtigt, ausgenommen nur in der sogenannten Bannmeile, damit die Parlamentarier und Minister in ihrer Verdauung nicht gestört werden.

Innerhalb dieser Bannmeile, das weiß der Schutzmann, darf er demonstrative Ansammlungen nicht dulden. Was ist eine Ansammlung? Wenn drei oder mehr Menschen zusammen stehen oder gehen. Hat eine ausgeschwärmte Hundertschaft den Befehl, die Ansammlung auseinanderzutreiben, so drischt sie eben darauf los. Schon in der Bibel steht ungefähr, daß die Polizei den Knüttel nicht umsonst trägt. Wehe dem Schutzmann, der in dieser Lage nicht den Gummiknüttel sausen ließe, sondern dem Publikum gut zuspräche; er wäre die längste Zeit Beamter gewesen. Nicht der Schutzmann in unserer guten Republik ist brutal, sondern das System.

Einmal wurde übrigens sogar der Berliner Polizeivizepräsident Weiß, der in Zivil bei einem Tumult eingreifen wollte und von den Schutzleuten nicht erkannt wurde, unter dem Ruf: "Stopft dem Juden das Maul!" von ihnen jämmerlich verprügelt.

Also die Polizei ist, auch in Berlin, wirklich unparteiisch, nicht etwa durchweg knallrot, wenigstens die Unterbeamten. Von etlichen der oberen wollen wir lieber schweigen. Unter den Schutzleuten gibt es sogar Nationalsozialisten, die trotzdem ohne Ansehen der Person ihren Dienst mit dem Gummiknüttel tun, ihn regnen lassen auf Gerechte und Ungerechte, gehorsam dem Befehl der Obrigkeit. Ein Berliner Krankenhaus, belegt nur mit Polizei, bildete am 14. September 1930 einen eigenen Wahlbezirk, in dem kein Nichtpolizist wählte. Und siehe da: als zweitstärkste Partei erwies sich die Hitlers, als drittstärkste die Hugenbergs, nur Kommunisten waren sehr vereinzelt, sonst aber alles vorhanden, auch Mittelparteiler und Splitterparteiler etwa im selben Prozentsatz wie im sonstigen Berlin.

Nein, schmäht mir den Schutzmann nicht! Er wird durch die sonderbarsten Befehle hin und her gehetzt, erbärmlich schlecht bezahlt und steht immer nahe vor der Entlassung, wenn er sich im parteipolitischen Labyrinth verlaufen hat. Er muß heucheln; und dabei schlüge er doch - er ist jung, er ist kräftig, er hat häufig das Sportabzeichen - am liebsten den ganzen heutigen "Zustand" in Klump. Es ist klar, daß auch er jetzt einen Umschwung erhofft.

Diese Stimmung ist seinen Parteibuch-Vorgesetzten bekannt. Denen schlottern schon die Hosen, also entdecken sie plötzlich ihr Wohlwollen für den Bobby. Häufiger als sonst reicht der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel den Beamten die Hand, wobei sein tätowierter Unterarm sichtbar wird und sie pflichtgemäß ihr Lächeln unterdrücken müssen. Neulich nach der Reichstagswahl, die besondere Anstrengungen erfordert habe, gewährte Zörgiebel jedem Schutzmann 2 Tage Extraurlaub, und da kam hinterher der Minister des Innern in Preußen, der Sozialdemokrat Waentig, sagte: "Das ist noch viel zu wenig!" und fügte großmütig und berechnend von sich aus 3 Tage hinzu.

Der Schutzpolizist, der irgendeiner "Bereitschaft" zugeteilt ist, wo sie zu viert in Kasernenstuben hausen, hat jeden fünften Tag - von Mittag bis Mittag - frei, aber dazwischen ist er Tag und Nacht im Anspann.

Der Verkehrspolizist, an dessen Schulter das Wehrgehenk zerrt und den Pistole und Knüttel belasten, ist auch halblahm, wenn er einige Stunden lang mit den Armen Freiübungen gemacht hat.

Am Christabend ist dafür Erntetag für ihn. Aus vielen Privatautos, die er im Laufe des Jahres hat durchschlüpfen lassen, auch wenn nach der grünen schon die gelbe Laterne aufleuchtete, werden ihm Zigarettenschachteln zugeworfen, in denen sich außer den Zigaretten noch ein Zehnmarkschein befindet.

Amerkanische Zustände?

Ach, Kindchen, deutsch sind wir ja längst nicht mehr. Einen Schutzmann habe ich letzten Weihnachten gesehen, der war von kleinen und großen Paketen so umgeben, als ob er lebendig eingemauert werden sollte.

Wenn einer von ihnen in Berlin eingestellt wird, dann ist es das erste, was ihm eingetrichtert wird, daß er die Autos mit der Nummer 1 bis 500 nicht belästigt; denn die fahren entweder Minister oder sonstige republikanische Größen oder diplomatische Vertreter des Auslandes. Einer dieser Bevorzugten vergeht sich gröblich gegen alle Verkehrsregeln. Der Verkehrsschutzmann eilt herbei. "Ihren Führerschein, bitte!", sagt er dem Chauffeur. "Brauch ick nich", sagt der, "ick bin exterritorial, ick fahre den Gesandten von Bolivien." Der Schutzmann greift an den Tschako: "Entschuldigen Sie bitte!"

Am frechsten sind die Chauffeure, die einen Berliner Polizeigewaltigen fahren. Die holen als Kennzeichen aus der Tiefe ihres Führersitzes einfach eine Art Signalstab hervor, der denjenigen der Bahnhofsvorsteher ähnelt, und lachen den Verkehrsschutzmann aus.

Aber Nr. 1 selbst gehört nicht zu den Prominenten. Diese Nummer führt das Privatauto des Inhabers der Firma Rudolph Hertzog. Hertzog war der erste, der überhaupt in Berlin ein Auto besaß.

Gelegentlich hat der Schutzmann auch seine kleinen Freuden. Er bekommt mehr zu sehen als der Durchschnittsberliner, und zwar umsonst. Er hat Nurmi laufen und Udet fliegen sehen, er tut im Zirkus Busch Dienst und er fällt nachts in elegante Spielklubs ein, er kennt die Kriminalhelden und in den Theatern hat er allabendlich reihum einen Platz. Irgendwo ist irgendeiner an der Reihe.

Nur selten habe ich das Gesicht eines wackeren Polizisten so froh gesehen als dieser Tage das meines Vordermannes in der Staatsoper.

Nach dem zweiten Akt der Berliner Erstaufführung der Borodinschen Oper "Fürst Igor" die Polowezer Tänze unter Leitung des neuen Ballettmeisters Rudolf v.Laban. "Donnerwetter!", entfährt es leise dem Schutzmann, der das Sportabzeichen trägt. Donnerwetter: das ist Kraft, das ist Anmut! Etwas ganz anderes als das Gehopse oder die Nacktplastik in den Kabaretts. Etwas ganz anderes als die gedankliche Verkrampftheit der Wigman, obwohl sie bei Laban gelernt hat. Aber auch etwas ganz anderes als die weichlich-weibische Choreographie unter dem früheren Ballettmeister Max Terpis. Etwas ganz anderes als der übliche Kasatschok der russischen Variététänzer. Und himmelweit entfernt von der formelhaft erstarrten Kunst der Balletteusen im Gazeröckchen.

Das Konversationslexikon, der Große Meyer, wagt es schon zu sagen, daß der Tanz heute eine deutsche Angelegenheit geworden sei; und Laban, der jetzt Achtundvierzigjährige, ist der große Umschöpfer geworden. Er sagt einmal, in dem Vorwort zu Dr. Schuftans Handbuch des Tanzes:

"Die neue durchgeistigte Körperlichkeit ist ein Symbol der gesamten europäischen Kulturwandlung; Sport, Körperbildung und Kunsttanz haben einen Zweck, ein Ziel: Höherbilden und Weiterschaffen unserer Rasse."

Er hat bisher, außer theoretischen Werken, allein 11 abendfüllende Tanzspiele neben einer Unzahl kleinerer Kammertänze geschrieben. Wirklich geschrieben: in einer von ihm erfundenen Tanzschrift, die durch Druck so vervielfältigt wird wie Noten, so daß die Sachen erhalten bleiben. Praktisch arbeitet er als Körperbildner und Einstudierer und ist in dreifacher Tätigkeit nun endlich an die Berliner Staatsoper gekommen, nachdem er einst in Paris hinausgeworfen, in München mit faulen Äpfeln beworfen worden war, in Zürich und Hamburg und anderswo inzwischen private Tanzschulen und Tanzbühnen geleitet hatte.

Unendlich viele Anregungen von ihm haben die bekanntesten Tänzer und Tänzerinnen der Gegenwart befruchtet und befreit. Nun sehen wir in den Polowezer Tänzen, die das russische Djagilew-Ballett vor einigen Jahren uns wild und schier asiatisch brachte, diesmal den formvollendeten Ausdruck gebändigter Kraft des Kriegers und beglückender Anmut der Frau statt der damaligen Raserei. Wie die Gruppen der Mädchen gleiten und wogen, huschen und schweben, wie zwei Solotänzer vor dem Zelt des tatarischen Großchans sich mit Pfeil und Bogen anspringen, drei Solotänzerinnen durch ein paar zarte Bewegungen im Hüftgelenk den orientalischen Bauchtanz keusch andeuten, das Ganze sinnberückend schön und doch erhebend, nicht sinnlich verwirrend ist, das wird - der wackere Schutzmann vor mir fühlt es freilich nur, kann es sich sicher nicht erklären - geradezu ein Triumph unserer Rasse.

Nach dieser seelischen Versunkenheit möchte man mindestens einen Monat lang nicht wieder unter englisch-amerikanischen "Girls" unsanft erwachen. Die Girls: das ist eine geölte Tanzmaschine mit 16 Pleuelstangen, weiter nichts. Nach dem ästhetischen Genuß bei Laban erscheinen einem auch die meisten anderen Darbietungen als schal. Wenn ich das faustisch-deutsche Streben nach dem Höchsten erlebt habe, fröstelt es mich, wenn gleich darauf Schlager mich umkreischen, wie: "Eine Woche hält die Chrysantheme, eine Woche bleibt die Liebste treu." Diese Schlager großenteils galizischer Herkunft sind das Gegenteil dessen, was Rudolf v.Laban auf seinem Gebiete erstrebt, sind rassischer Niedergang. Sie sind manchmal harmlos, manchmal abgeschmackt, manchmal vergnüglich, aber meist doch nur Auflockerung der Sitte, Emanzipation des Fleisches, Vergoldung der Untreue, Erniedrigung der Frau zum bloßen Weibchen. Sie sind es bewußt. Die früheren "Couplets" waren manchmal auch saftig, das ist wahr. Aber sie waren nicht so zielsicher auf die Verderbnis der Rasse eingestellt.

Zum Glück stehen wir auch in diesen Dingen wohl schon am Anfang des Wiederaufstiegs. Unsere Frauen und Mädchen werden tatsächlich wieder weiblicher, die Haare werden länger, Locken locken, und "man trägt wieder Herz", statt Kaltschnäuzigkeit zu spielen. Politik und Kultur stehen immer in Wechselwirkung. Es hat den Anschein, als ob wir uns fortan nicht nur endlich der Not entgegenstemmen, sondern auch wieder ein kultiviertes Volk werden wollen.
16. Oktober 1930 (Donnerstag)


8

Großstadtherbst - Der Arbeitstag der Löwenbabies - Hirsche schreien - Nur nicht giften - Von der Politik - Kein Geschäft mehr - Oktoberfest in der Tiroler Klause - Buffichen - Neuer Damenbehang.

Ein paar wirklich goldene Herbsttage sind uns beschieden gewesen, die den Großstädter noch mehr als das Frühlingswunder staunen lassen.

Andächtig schaut er im Tiergarten, im Victoriapark, im Friedrichshain, im Plänterwald in das Geriesel der bunten Blätter. Überall segeln sie beglückt zu Boden, zur Mutter Erde, schaukeln und gaukeln im Sonnenglast und huschen und rascheln dann bei dem leisesten Windstoß eilig-lustig über die Parkwege. Es ist wirklich gar nichts Melancholisches dabei.

Es ist, als wüßten sie um das Auferstehen Bescheid.

Und Vater Baum ist ein wissentlicher und sorglicher Haushaltungsvorstand, der rechtzeitig, lange vor dem ersten Frost, seinen Blättern schon die Saftzufuhr gesperrt hat, damit sie sich leicht vom Stengel lösen und er sich für den Winter eindecken kann. In dem immergrünen warmen Süden kennt man diesen Wechsel nicht, weiß man nichts von dem herbstlichen Farbenrausch unserer Zone. Am schönsten ist er in Deutschland wohl am Rhein. Aber der Berliner findet es schon im Wildpark vor Potsdam herrlich, und wenn er dann hinaustritt und die seeartig breite Havel vor Werder vor sich hat, über die blanke Segel gleiten, schwillt ihm das Herz vor Freude. Eine Ahnung davon bekommt er schon mitten in der Stadt, wenn er den Zoo besucht, der in London und in Kopenhagen in entfernten Vororten sein Heim hat, in Paris kümmerlich und dreckig ist, aber in Berlin im Knotenpunkt des Hauptverkehrs liegt und doch von wundervoller Naturarchitektonik ist.

Man lernt ihn nie aus. Er ist einer der reichsten zoologischen Gärten Europas, fast allwöchentlich wird wieder eine neue Erwerbung gemeldet, die seltensten Großtiere kann man hier studieren, bis zu dem fast einzigartigen See-Elefanten. Mir haben es ganz kleine Tiere angetan. Wenn ich einmal Zeit habe, kann ich eine halbe Stunde vor dem Gehege der Zieselhörnchen stehen. Dieses exakte Wuppdich, mit dem sie aus schnellstem Lauf zum Halten und plötzlichen Aufrichten kommen, zur bewegungslosen Statue, kriegte auch der beste Soldat des früheren Lehrinfanteriebataillons beim "Stillgestanden!" nicht fertig.

Am bedauernswertesten finde ich die drei oder vier jungen Löwchen, die sich aus dem "Ach Gott, wie süß!" der Damen nichts machen, nicht so eitel sind wie Hunde oder Papageien, sondern nur mißmutig über die ihnen, den Königskindern, zugemutete Statistenarbeit.

Der Löwe ist ein Nachttier. Da macht er seine weiten Kriegsmärsche, da geht er auf Jagdnahrung aus. Am Tage schläft er.

Hier aber werden seine Kleinen gezwungen, auf einem abgesperrten Rasenplatz von einem auf den anderen Damen- oder Kinderschoß sich schleppen zu lassen, auch wenn sie immer wieder entwischen wollen, und dann photographiert zu werden. Meist lassen sie sofort den Kopf sinken. Man ist doch Kind, man kuschelt sich, wo es warm ist, man ist auch müde. Aber dann knallt der Wärter zwei Bretter aneinander oder erschreckt sie auf andere Weise, denn Geschäft ist Geschäft, und dieses Photographieren ist ein Zugstück des Zoo. Kopf hoch! Kopf hoch! Und wenn es irgend geht: Rachen aufsperren, Beißerchen zeigen! Denn sonst werden die Bilder nicht "natürlich" genug.

Abends nach solchem Achtstundentag mit vielleicht hundert Aufnahmen, als ob man wahrhaftig Komparse im Filmatelier wäre, sind die Löwenbabies abgerackert und ganz böse auf diese dumme Welt. Schon nachmittags möchten sie am liebsten weinen. Wenn aber wenig Publikum da ist, der Zoo-Photograph nichts zu tun hat, dann purzeln sie selig übereinander, recken sich, aalen sich und blinzeln vergnügt in die Sonne.

Manchmal horchen sie auf. Es ist jetzt die Zeit, wo die Hirsche brünstig schreien. Das ist aufreizend wie Trompetenstoß. Herrlich in freier Wildbahn; hier im Gittergarten ist es Gefangenenruf, der nach Freiheit drängt. Aus der Ferne antwortet der gleiche Ruf. Der Achtzehnender bäumt sich. Schreit drüben auch ein Hirsch? Es ist zum Verwechseln ähnlich. Aber nein: dort schreien Kamele. Ein alter Dromedarhengst ist nicht zur Ruhe zu bringen.

Überall sitzen Kunstschüler oder ganze Volksschulklassen beim Zeichnen. Überall drängt sich irgendeine ganze Untertertia und quiekt und knufft sich. Die Lehrer haben als Ordner reichlich zu tun. Einer mit der Schülermütze ist mit einem fremden kleinen Laufburschen oder Lehrling aneinandergeraten. Die beiden Vierzehnjährigen messen sich und reden bedächtige Worte. Sie sind Berliner. Der Berliner "giftet sich" nie. Man kennt dieses Wort hierzulande überhaupt nicht. Die Wut, das kann einem jeder Arzt bestätigen, ist tatsächlich eine Art Selbstvergiftung, die sogar böse Verdauungsstörungen im Gefolge haben kann. Der kleine Berliner ist frei davon und sagt, ehe der Lehrer den Tertianer von ihm trennt, gelassen:

"Mensch, veleicht kriegst du einen herzlichen Händedruck von mir; mitten in't Jesichte!"

Etwas von dieser Jungenhaftigkeit, von der Freude an homerischem Geschimpf, findet man auch bei unseren Großen im Reichstage, obwohl sie nur zum Teil Berliner sind. Sie haben Spaß daran. Es ist Theater. Ich habe die ersten Tage im neuen Parlament miterlebt, bis in die Nacht zum letzten Sonntag hinein den Klamauk mir angehört und angesehen. Es ist gelegentlich wohl auch flammender Zorn dabei, der gesund ist und befreit. Richtige Wut ist draußen. Da, wo Messer gezückt werden. Da, wo Schwarzweißrot und Schwarzrotgelb wider einander stehen, Hakenkreuz und Sowjetstern sich reiben. Jede Vergewaltigung, körperlich oder geistig, ruft Wut hervor. Unsere gesamte Jugend wird so schon vergiftet. Die verfassungswidrige Maßregelung derer, die im vorigen Herbst für das Freiheitsgesetz eintraten, hat die Zwanzigjährigen rasend gemacht, die Verbote gegen Stahlhelm und Braunhemd haben ein übriges getan, die Freisprechung des Oberbürgermeisters Böß und das Versanden der Rechtsprechung in den Fällen Barmat und Sklarek hat die dumpfe Erbitterung in die Jugend sich tief einfressen lassen.

Der Wahltag machte es offenbar. Selbst in den dem Zentrum nahestehenden Verbänden organisierter Jungwähler haben sehr erhebliche Teile, wie erschrockene katholische Würdenträger jetzt nach Rom berichten, nationalistisch gewählt. Die Strömung ist unaufhaltsam. Und wenn dann, wie dieser Tage geschehen, der Genosse König, der Allmächtige im brandenburgischen Provinzialschulkollegium, den Schülern das Singen der Strophe "Deutschland über alles, und im Unglück nun erst recht!" verbietet, oder wenn die Sozialdemokratie, die aus ihrer ersten großen Niederlage nichts gelernt hat, jetzt als Unterdrückungs-Spezialisten wieder ihren alten Severing aus der Mottenkiste holt, so wird natürlich die Jugend erst recht rebellisch. Ein Ozean von Zorn, aber auch von Wut brandet auf.

Soll uns Deutschland nicht über alles gehen, auch wenn es für die Nichtbonzen keine Futterkrippe ist, auch wenn es tief im Unglück steckt? Sollen wir wirklich auf Kommando rufen, daß es uns alle Tage besser geht, seit vor zwölf Jahren das rote Regieren begann?

Etwas seit Menschengedenken Niegesehenes fällt uns in den Berliner Straßen auf. Viele Litfaßsäulen, die sonst vor Plakaten sich nicht retten können, zeigen heute weite freie Flächen. Das Geschäftsleben liegt so darnieder, daß es immer weniger anzuzeigen gibt. "Der Schornstein raucht nicht mehr." Das Frachtgeschäft der Eisenbahn, auch der Personenverkehr, gehen sprunghaft zurück. Der Alkoholkonsum ist im letzten Jahre in Deutschland um 50 Prozent gesunken; die Monopolverwaltung weiß nicht, was sie mit ihren auf 1 937 000 Hektoliter angeschwollenen Beständen machen soll. Wir sind über das Stadium "Wer Sorgen hat, hat auch Likör" schon hinaus. Wir sind wirklich schon sehr, sehr ernüchtert.

Man sinnt nun nach. Die Gastwirte strengen sich an und kommen auf die ausgefallensten Ideen. An der Ecke Kantstraße und Bleibtreustraße ist die Tiroler Klause, in der es guten und billigen Wein, aber auch schon Bier gibt, der altbekannte Treffpunkt der akademisch Gebildeten von Berlin W, vor allem der Charlottenburger Juristen, aber auch der "Ehemaligen" vom Großen Hauptquartier im Kriege. Diese Klause bedürfte doch wahrhaftig keines besonderen Zugmittels. Aber da schickt sie mir und tausend anderen eine besondere Einladung zum - Oktoberfest; mit der fröhlichen Aufforderung:

Der Nebel steigt, es fällt das Laub,
Schenkt ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja, vergolden!

Also versuchen wir es. Die altvertrauten Räume mit Urväter-Hausrat sind nicht voller als sonst. Der Herr Oberbaurat, der Herr Staatsanwalt, der Herr Studiendirektor, der Herr Medizinalrat, die in einer Ecke am runden Tisch ihren Skat spielen, schauen ärgerlich auf. Sind die Leute da drüben in der einen Stube denn ganz und gar von allen guten Geistern verlassen? Da werden an einem Tischchen neckische Papiermützen verkauft. Da steht mitten herein ein sonst ganz unmotiviertes Klavier, daneben ein Geiger, und der Kammergerichtsreferendar tanzt mit der Frau Senatspräsident, der Regierungsassessor mit der Frau Oberverwaltungsgerichtsrat. Es ist schrecklich provinziell und entspricht so ganz und gar nicht dem Genius dieses Kneiplokals, dieses Ortes geistvoller Gespräche gebildeter Männer. Auch mit angekündigter Oktoberfeststimmung hebt man in Young-Deutschland nicht mehr den Weinkonsum, lockt man keine Völkerscharen mehr herbei.

Nur dort, wo diese Stimmung eingebürgert ist, jeder Vorörtler, jeder Fremde sie bestimmt antrifft, sind "Massen" noch einigermaßen zu ballen. Doch, wie ich schon immer geraten habe, man darf in den Kempinski-Betrieb des Hauses Vaterland nicht ganz nüchtern einfallen. Nun pflege ich seit Jahrzehnten einmal im Monat mit meiner Frau "aus essen" zu gehen, mit Vorliebe ins Rheingold in der Bellevuestraße, dessen Besitzer sehr national sind und als einzige unter den vielen großen Gaststätteninhabern sich u.a. geweigert haben, Herrn Böß, der zu dem Ehrenausschuß des roten Reichsbanners gehört, mit einer Spende baren Geldes "entgegenzukommen". Früher gingen wir immer an jedem Monatsersten aus essen, das war also der herrliche Tag, an dem die Hausfrau daheim kein Abendbrot zu richten hatte, während sie sonst alltäglich dreimal in der Küche steht. Neuerdings verlegen wir diesen Ausflug immer ins letzte Monatsdrittel, denn, nicht wahr, Sie verstehen doch, man kann nicht wissen . . .

Also da sind wir wieder einmal, da essen wir einen Hummer au gratin und lassen ihn in einer guten Flasche Rheinwein schwimmen.

Ha, wie wär's, wenn wir jetzt in den Betrieb am Potsdamer Platz hinübergingen?

Gesagt, getan. Vielleicht nur zu einem Schlußmokka in das türkische Café. Da bedient ein brauner Ägypter, stud.med. seines Zeichens, der sich zum Frauenarzt spezialisiert, tagsüber in der Klinik lernt, nachts das Geld dazu sich hier als Kellner verdient.Da bedient auch der stämmige Kameruner, der so gut deutsch spricht. "Kein Wunder", sagt er, "ich bin doch seit meinem 18. Jahre in Deutschland, bin Reichsdeutscher, habe bei den Elfern in Breslau gedient!" Aber auf einmal sind wir nicht mehr da, sondern im Grinzinger, wo bei einem Liter Heurigen - oder, besser noch, Alten - um Mitternacht das Leben immer am lautesten schäumt.

"Buffichen, komm' doch wieder her!", ruft ein einsamer Ehemann an seinem Tisch.

Aber Buffichen will noch nicht. Buffichen steht mit ausgebreiteten Armen vor der Wiener Damenkapelle und bettelt:

"Noch ein Schwänzchen bitte, noch ein langes Schwänzchen!"

Da spielt die Kapelle wieder. Buffichen findet auf einmal mich in ihren Armen, schon tanzen wir zwischen den Stühlen und Tischen. Buffichens Mann streichle ich im Vorbeigleiten das Kinn. Dann ein Dreher am Tisch meiner Frau. Buffichen sagt:

"Sind Sie böse? Ihr Gatte tanzt ja so himmlisch!"

Buffichen hat keine Ahnung, kann das gar nicht mehr beurteilen. Buffichen weiß nur: mein rechter Unterarm ist wie ein eisernes Geländer, das hält sicher und fest, da kann man nicht, wie der Berliner sagt, aus den Pantinen kippen.

Buffichen wohnt mit ihrem Mann in Reinickendorf-Ost, das erfahren wir, als wir nachher zu viert fidel beieinander sitzen. Damit ist diese harmlose Geschichte, eine der unzähligen um Mitternacht aus dem Grinzinger, aber auch schon zu Ende. Buffichen hat für einen Monat wieder Lebensmut. Wir werden Buffichen kaum je wiedersehen. Ist ja auch gar nicht nötig.

Es gibt natürlich viel vornehmere Tanzgelegenheiten in Berlin als hier im Kempinski-Betrieb die Osteria, die Bodega, den Palmensaal, den Grinzinger und Wildwest. Aber in den vornehmeren ist keine bacchantische Lust. Man sieht fast lauter Tanzernste statt der Tanzlustigen; so, als müßten sie dauernd schwer darüber nachsinnen, ob sie das Kind auch richtig schaukeln. Und das Kind ist meist zu sehr aufgemacht. Motto: Frisch gemalt ist halb gewonnen. Dazu ein so teurer Behang, daß auf die Tanzabende der großen Hotels sich immer weniger Deutsche wagen, nur noch Ausländer und Kurfürstendammer hinkönnen. Chinchilla, Zobel, Hermelin. Und die Täschchen nicht mehr Rindleder und Krokodil, ebenso wie die Schuhe auch nicht einmal mehr Schlange oder Eidechse, sondern neuerdings Frosch, Vogel Strauß, Chamäleon.

Eine Dame hat sich ein Täschchen aus Chamäleonleder gewünscht und bekommen. Es ist grau. Es bleibt grau.

"Nanu", sagt sie, "ich denke, nanu, denk' ich, das Chamäleon ändert doch immer seine Farbe? Jetzt habe ich mein weinrotes Spitzenkleid an, aber das verdammte Chamäleon ist immer noch grau!"
23. Oktober 1930 (Donnerstag)


9

Provinzkücken in der Reichshauptstadt - Im Hindustan-Haus - Tagore hynotisiert ein junges Mädchen - Indisches Essen - Chempakaraman Pillai - Erinnerungen aus dem "Schwarzen Ferkel" - Von neuen Tonfilmen - Das Aktienpaket der Emelka - "Nix rohe ßwein!"

Aber Inge!

Die junge blonde Inge - ich denke natürlich nicht daran, zu verraten, wo in Deutschland der väterliche Gutshof liegt - ist vor wenigen Tagen in der Reichshauptstadt eingetroffen.

Sie will sich für irgendeinen Beruf vorbereiten, Lettehaus, Säuglingspflege oder so. Es gibt Tausende solcher Inges, die alljährlich nach Berlin kommen. Diese, die ich meine, ist noch so ungroßstädtisch, daß sie sich helfen lassen muß, wenn sie den Fernsprecher benutzt. Wie macht man das, wenn man "Dönhoff 3256" haben will? Aber so gewitzt ist Inge - fast alle Inges sind es - doch schon, daß sie weiß, wie frei man ist, wenn man einfach eine "Bude" mietet, ein möbliertes Zimmer, statt in volle Pension zu einer bekannten Familie zu ziehen.

Also kann Inge über Mittag, statt am Familientisch zu sitzen, im Hindustan-Haus am Uhlandeck köstliche Stunden verbringen. Unter leibhaftigen indischen Studenten, die hier ihr Klubheim haben, das aber als billiges Restaurant auch Fremden offensteht.

Mein Gott, wie interessant!

Diese Inder, dunkelhäutig, aber von europäischem Gesichtsschnitt, haben Augen wie tiefe Märchenbrunnen. Man sieht in leidvolle Abgründe hinein. Manche Schwärmer sagen etwas blasphemisch: in Christusaugen.

Da sitzt nun an einem Tischchen Inge gegenüber der lange Tagore, der sich - mein Gott, wie interessant - als Neffe des indischen Dichters bezeichnet. In Wirklichkeit ist er moskowitischer Sowjetagent. In Indien gibt es kaum eine kommunistische Partei, nur in Berlin gibt es drei oder vier sogenannte indische Kommunisten, die von Moskau ressortieren. Dieser Tagore, in Russenjoppe und langem Haar bewußt nonchalant, während die anderen indischen Studenten sehr adrett und sehr gepflegt sind, versenkt seine Augen in Inge und führt sie in die Grundbegriffe des Marxismus ein.

Er spricht, weil sie doch vom Lande kommt, vom Bauernelend in Indien.

Ja, Bauernelend kennt sie schon von daheim her; die Leute leben zu Mittag nur von Kartoffeln und Roggenkaffee. Im eigenen Elternhause ist es ja noch anders, aber immer wird von Politik gesprochen, gräßlich, gräßlich, Vater hat Hugenberg gewählt, Mutter hat Hitler gewählt. "You know?" Natürlich versteht er. Er weiß auch in Deutschland Bescheid, von Hugenberg bis Thälmann. Und Inge kann ganz leidlich englisch plaudern, auch wenn ihr hin und wieder ein Wort, zum Beispiel "Stiefelabsatz", im Englischen fehlt.

Man kommt auf dies und das. Schließlich auf das Hypnotisieren.

Tagore erzählt, das könne er natürlich gut.

Inge lacht hellauf. So ein Unsinn! Wenn sie nicht will, kann keiner.

Na, na! Wieder senken sich des Inders Augen wie ein Lot in ihre Tiefen und Untiefen. Schon meint sie, man könne es ja mal versuchen. Aber bitte, wie lange ist man dann im Schlafzustand? "Oh, perhaps six months." Was, sechs Monate lang? Entsetzlich! Da lächelt Tagore und sagt, von ihrer Trance merke sie ja nichts, sie könne wie sonst studieren oder sogar Fußball spielen, nur daß sein Wille eben dann in sie übergehe.

"Geht es nicht auf kürzere Zeit?"

"Oh yes, drei Monate, einen Monat, vierzehn Tage."

"Gut, Mister Tagore, wollen wir es gleich versuchen?"

Inge muß ihm starr in die Augen sehen. Er sieht faszinierend in die ihrigen. Dabei wedelt er dauernd mit der rechten Hand so vor ihren Augen herunter, als wolle er mit den gespreizten Fingern die Luft kämmen. Eine Minute, zwei Minuten, schon fünf Minuten. Bedrückende Stille. Inge hört nicht mehr das Knistern im Ofen, hört nicht mehr das Ping-Pong-Spiel zweier Inder im anderen Zimmer. Inge atmet nach acht Minuten stoßweise; sie fängt an zu schnaufen. Dann hört Tagore auf, lacht.

Na?

"Ach", sagt Inge, "ich hab' so Herzklopfen, und mein Kopf ist ganz benommen. Das muß ich mal Hilde erzählen."

Dann kommt auch Hilde. Weniger schlank und elegant. Auch Säuglingspflege oder so. Ich selber aber verschwinde geräuschlos.

Das Mittagessen hat, wie hier üblich und alltäglich, aus einem Berg Reis bestanden, der mit Tunke und Gemüse genossen wird, die ungeheuer scharf mit Paprika und Curry gewürzt sind. Dazu eine Fleischbeilage. Ein großes Glas Trinkwasser steht daneben, zum Löschen, wenn man das Gefühl hat, sich Zunge und Gaumen verbrannt zu haben. Für unser europäischen Mägen ist das nichts, aber wer einmal draußen gewesen ist, der mag es auch hier nicht mehr missen.

Hier in der Uhlandstraße 179 in Berlin ist, abgesehen vom gepfefferten Reis, das Essen im Hindustan-Haus recht unindisch, da eine brave Berliner Köchin es unter dem Zwange des "Billig, billig!" zubereitet. In London ist es anders. Da bekommt man seinen Pilaw: Reis in Butter mit Hammel- oder Hühnerfricassé. Und Chutny: eine Mango oder andere Frucht, süß-scharf. Und Papdam: ein flaches Brot aus Linsenmehl in Öl gebraten, das man zum Schluß zu Buttermilch und Reis genießt. So schöne Sachen haben während des Krieges auch unsere gefangenen Inder natürlich nicht bekommen, von denen rund 4000 im Lagen Berlin-Wünsdorf konzentriert waren.

Dafür hörten sie allerlei Wissenswertes durch ihren Landsmann Chempakaraman Pillai, der schon lange vor dem Kriege zu uns übergesiedelt ist, während des Krieges seinen Stammesgenossen Vorträge hielt, nach dem Kriege es in deutschen Kreisen tut.

Dieser Tage im "Nationalen Klub" gegenüber dem Reichstage. Über Gandhi und seinen Kampf für die Befreiung Indiens von der englischen Herrschaft.

Sehr lehrreich. Da hören wir, weshalb die Engländer unbedingt schon jetzt mit ihrem "R 101", der in Frankreich strandete, nach Indien fliegen wollten. Nämlich um dem aufsässigen 350-Millionen-Volk zu imponieren, jenem Volk, das immer noch davon träumt, daß eines Tages der Deutsche Kaiser im Zeppelin nach Indien kommen und dem Volke die Freiheit bringen werde.

Pillai gibt einen geschichtlichen Rückblick über die Zeit der blutigen Unterdrückung in zwei Jahrhunderten und über die Aussichten der jetzigen Bewegung. Das Bureau Reuter wolle es noch nicht wahr haben, aber tatsächlich sei die Einigung der 350 Millionen, während bisher Hindus und Mohammedaner sich zerfleischten, weit vorgeschritten. Des Hindu Gandhi Stellvertreter sei der Mohammedaner Abbas Tyabji, studierter Jurist wie Gandhi. Und auch der Kastenunterschied verblasse vor der Größe der nationalen Aufgabe. Gandhi selbst habe einen armen jungen Paria, einen "Unberührbaren", der ihn nach früherer Ansicht doch unrein gemacht hätte, adoptiert.

Nur eine Minute vom Nationalen Klub entfernt, in der Dorotheenstraße gleich links, liegt das "Schwarze Ferkel", das einst, als es noch in der Neuen Wilhelmstraße hauste, von August Strindberg, dem großen nordischen Dichter, so benamst worden ist. Damals glänzte es schon durch seine guten Weine, auf die der schwarze Ziegenschlauch über der Haustür (daher Strindbergs Namengebung) hinwies, aber die Hauptsache war die fast vollständige Kollektion aller europäischen und außereuropäischen Schnäpse, von dem Likör, den die spanischen Mönche auf dem Montserrat verfertigen, über den kleinasiatischen Raki bis zu dem Sake-Branntwein der Japaner.

Wegen des Sake kam allerdings der japanische Oberleutnant Hidikata, der damals zu unserem 1. Gardefeldartillerieregiment kommandiert war, nicht hin, sondern erstens wegen des Champagners, zweitens wegen der berückenden Gesellschaft von Strindberg und seiner Tafelrunde, zu der außer Hansson, Drachmann, Lidforst und sonstigen Skandinaviern auch deutsche Größen wie Dehmel, v.Wolzogen, Professor Schleich, Hartleben und andere gehörten.

Es wurde gezecht und musiziert und, trotz des "Weiberhassers" Strindberg, der gerade zum erstenmal geschieden war (ca. 1892, d.Hrsgb.), auch wohl geschäkert, wenn "der kleine blonde Satan" oder sonst etwas Weibliches sich hinzugesellte.

Von der nahen Kriegsakademie her verirrte sich zuweilen einer der Kommiß-Studiker ins "Schwarze Ferkel", selten irgendein anderer Militär, der auf Besuch in Berlin weilte und etwas Besonderes sehen wollte. In jener Zeit bin ich als blutjunger Soldat, aber natürlich in Zivil, auch etliche Male dagewesen und habe, während eines Urlaubs, eine "ganz unauffällige" Szene miterlebt.

Hidikata hatte bis morgens gegen 7 Uhr - es gab keine Polizeistunde - mit Strindberg etliche Flaschen Heidsieck geleert, denn er bekam von Tokio her einen offenbar recht großen Monatswechsel. Da stürzte sein deutscher Bursche, der vom Kupfergraben her die Dorotheenstraße entlanggerast war, keuchend herein: ob der Herr Oberleutnant denn ganz das Salutschießen am heutigen Tag vergessen habe? Wie der Wind war Hidikata weg, saß rechtzeitig in Paradeuniform im Sattel, aber mittags um 1 Uhr war er wieder im Schwarzen Ferkel und sagte trocken:

"Die nächste Flasche Heidsieck bitte!"

Heute ist das Schwarze Ferkel ein Weinrestaurant wie alle übrigen auch, immer noch trefflich in Küche und Keller, wenn auch ohne Schnapslager-Rekord und ohne jede Völlerei, dafür mit einigen "zuziehbaren" Kojen und einer Strindberg-Nische, in der noch das von dem Dichter gestiftete - vielleicht auch von ihm gemalte - Ölbild "Die Woge" hängt: ein dunkler drohender Schwall, von dem ersten Frührot überglänzt, das Strindberg so oft gesehen hat.

Auch heute noch trifft man hie und da in Berlin auf ganze Gruppen von Ausländern, aber sie sind, abgesehen von den Russen, kaum mehr Kolonie, nicht mehr so seßhaft, und finden in der Not der Gegenwart auch nicht mehr deutsche Zechkumpane.

Für die Fremden ist Berlin seit dem Regimewechsel viel uninteressanter geworden.Sie sind meist nur noch "geschäftlich" hier, lassen es sich dann aber auch nicht entgehen, einen Einblick in das künstlerische Leben zu nehmen. Gewöhnlich werden sie ja von den Hotelportiers in irgendeine Revue verfrachtet. Zahlreich findet man sie in jeder Filmpremière, so gestern wieder in der "Singenden Stadt" mit den wechselnden Bildern aus Neapel, Pompeji, Capri und dem in Wahrheit kaum mehr vorhandenen lebemännischen Wien. Brigitte Helm, die erst vor wenigen Jahren als kleines Pensionatsmädel in einem Berliner Vorort für "Metropolis" entdeckt wurde, ist zu einer Künstlerin von außerordentlicher Ausdrucksfähigkeit gereift; und der slawische große Tenor, Jan Kiepura von der Scala in Mailand, dessen italienisch gesungene Lieder den ganzen Tonfilm erfüllen, läßt uns hoffen, daß wir einst auf der Leinewand alles Schöne der Erde sehen und - rein und lauter hören werden.

Noch ist es nicht ganz so weit. Der deutsche Tonfilm berückt immer noch mehr durch Idee, Handlung, Bild als durch Geräusch, Musik und vor allem Wort. Den letzten Jannings-Tonfilm zum Beispiel, "Der Liebling der Götter", hätte ich genau so sehr oder noch mehr als stummen Film genossen; denn Jannings' Spiel, nicht seine knarrende Stimme ist das Entscheidende. Noch immer ist alles, namentlich aus Frauenmund, eine Oktave zu tief. Aber man kann freilich zu der Ufa, man kann zu der Apparatur von Tobis und Klangfilm das Vertrauen haben, daß sie die Kinderkrankheiten überwinden.

Der Haß gegen alles, was in den Händen irgendeines Mannes der Rechten ist und dort aufblüht, hat die Regierung veranlaßt, seiner Zeit ein Paket Emelka-Aktien zu erwerben, um Hugenbergs Ufa mit der Emelka niederzukonkurrieren. Mit einem Minus von 4 Millionen Mark hat sich das Deutsche Reich jetzt aus der Affäre gezogen, und die Aktienmehrheit der Emelka gehört dem "Franzosen" Kohen aus Paris.

Einige der Pariser Herren sind neulich in Berlin, wollen nachher nach Abschluß langer Beratungen in einem Restaurant eine Kleinigkeit essen, studieren verzweifelt die Speisekarte auf solche Kleinigkeiten hin.

Ich kenne das. Ich hatte mir 1912 etliches im französischen U-Boot-Hafen Dünkirchen angesehen, hatte nachher im Bahnhofsviertel Lust zu ein bißchen Rührei, kam aber ums Verrecken nicht auf das Wort.

Also die Herren zeigen auf eine Stelle in der Karte, wo Schinken mit Kartoffelsalat steht, und bekommen ein paar große Scheiben rohen, geräucherten Schinken. Entsetzt rufen sie:

"Nix rohe ßwein! Bitte gekockte ßwein!"

Der Kellner:

"Gentlemen wanted boiled ham?"

Die Fremden, erleichtert:

"Si, si!"

Und da hatten wir wieder einmal die große Völkerverständigung.
30. Oktober 1930 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts