"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

25. September bis 9. Oktober 1930


4

Kein Hotelzimmer frei - Dabei sonst die Not - Lederkongreß, Ledermesse, Lederausstellung - Nurmis 5000 Meter - Die schönsten Damenbeine - Kongreß für Individualpsychologie - Bei Terfren Laila.

"Leider alles besetzt!"

"Aber ich habe doch vorgestern von Zürich aus mich telegraphisch angemeldet!"

"Bedaure, da war schon jedes Zimmer vorausbestellt, wir haben über achtzig Herrschaften heute abweisen müssen; in den anderen Berliner Hotels ist es ebenso; vielleicht versuchen Sie es in Potsdam?"

Zufällig bin ich Zeuge dieses Gesprächs an der Drehtür des großen Fremdenhofes. Ich erlebe auch noch die Feststellung am Telephon, daß im Palasthotel in Potsdam just ein einziges Zimmer noch frei ist.

"Zugreifen, zugreifen!", rät der Portier dem Reisenden.

Der tut es, schüttelt aber immer noch den Kopf. Jammert nicht das Berliner Hotelgewerbe über schlechten Besuch, vor allem über die Abkürzung des Berliner Aufenthaltes auch durch solche Stammgäste, die früher längere Zeit in der Reichshauptstadt zu bleiben pflegten? Das ist richtig. Die Zahlen sind erschütternd: es ist jetzt schon so arg, daß durchschnittlich nur 42 von 100 Berliner Hotelbetten belegt sind. Das wirtschaftliche Elend Young-Deutschlands muß sich auch an den Gasthöfen erweisen. Im Monat August 1930 hat die Reichsbahn noch keine 20 Prozent der Kohlenmenge verfrachtet, die sie im August 1929 zu befördern hatte, also auch daran erkennt man das Stocken deutscher Arbeit. Und nun dennoch Zimmermangel in den Hotels?

Ja, das ist eben einer der drei oder vier Ausnahmetage im Jahre, wo - wie beispielsweise während der letzten Weltkraftkonferenz - ein plötzlicher Run auf Berlin einsetzt. Das kann man auch anderswo erleben; vor zwei Jahren komme ich einmal in Dresden an, verlange ein Hotelzimmer, und da sagt mir - ich denke, er ist verrückt geworden - kaltlächelnd der Portier, ob ich nicht den Nachtzug nach Tharandt nehmen wolle, da käme ich vielleicht noch unter.

Also diesmal ist der Berliner Lederweltkongreß daran schuld gewesen.

Draußen am Funkturm große Ledermesse (sie hat ausnahmsweise gute Geschäfte gemacht) und Lederausstellung. Die Messe ist für unsereins als Laien ohne Interesse, an den Ständen des Rohprodukts, des Zwischenfabrikats, der Fertigware, der Maschinen sehen wir nicht mehr, als was man auch sonst in Schaufenstern sieht, und ob der Fabrikant Meyer oder Geyer oder Adler heißt, ist einem gleichgültig.

Aber die Ausstellung, die Ausstellung!

In der Messe drängen sich die Fachleute und die Händler aus halb Europa, wie sie es von Leipzig her gewöhnt sind. Dafür genießt das große Publikum den Anschauungsunterricht in der Ausstellung. Vor mittelalterlichen kunstvollen Ledertruhen, vor Ledergefäßen aller Völker und Jahrhunderte, vor der Lederausrüstung für Feuerwehr, Post, Wehrmacht, vor 3200 Jahren alten original-egyptischen Lederschuhen, vor der Fellkleidung eines Eskimo steht man und staunt. Da sind noch tausend andere Dinge, von dem ledernen Buckelschild des Germanenkriegers angefangen bis zum modernen Damentäschchen aus Eidechsenhaut, die ein prachtvoll kulturgeschichtliches Lehrmaterial ergeben. Darin hat es der Reichshauptstädter wirklich gut, und diese historischen Fachausstellungen erfassen nacheinander jedes Gebiet, sodaß man immer wieder sein Wissen ergänzt und bereichert.

Aber der Lederweltkongreß und die Messe und die Ausstellung sind es nicht allein, die in diesen Tagen locken. Es ist überhaupt "sehr viel los". An demselben Tage, an dem 35 000 Besucher durch die Ausstellungshallen fluten, sind 35 000 zahlende Zuschauer - und noch Tausende von Zaungästen drüben auf dem aufgeschichteten Berge - im Stadion des Sportklubs ganz in der Nähe, am Bahnhof Eichkamp, versammelt. Sie wollen Nurmi, das Weltwunder, laufen sehen.

Es gibt auch Speerwurf, Weitsprung, Staffettenlauf, allerlei sonst noch, aber das zieht nicht so. Allenfalls interessiert man sich für den deutschen Meisterläufer Dr. Peltzer, dessen Weltrekord unüberboten bleibt, der aber diesmal einem jungen Franzosen unterliegt.

Im nächsten Augenblick flitzt ein kleines Schulmädchen aus den Zuschauerreihen auf die Bahn, hinüber auf den Innenrasen, und gibt dem Franzosen ein Heft:

"Je vous prie, monsieur, de me donner votre autogramme!"

Schon lösen sich hie und da auch ein paar Gymnasiasten in bunten Mützen aus der Menge, rennen, rasen, entwischen den Aufsehern und umdrängen ebenfalls den Franzosen mit der gestammelten Bitte um seine Namensschrift.

Es ist ganz überraschend gekommen. Schade, daß Turnvater Jahn nicht mehr lebt; er hätte sicher wieder seine historische Ohrfeige bei dieser Gelegenheit angebracht.

Nun endlich: Nurmi. Der Zwischenfall ist vergessen, alles reckt sich auf den Zehenspitzen. Tausende, die auf dem Stehplatz zu 2 Mark in zehn Reihen Publikum eingekeilt sind, sehen überhaupt nichts, lassen sich nur durch Zurufe von vorn belehren.

Was macht's? Man ist doch dabei!

Die Sporthysterie ist auf dem Höhepunkt. Gerade vorher hat der Lautsprecher gedröhnt: "Ein kleines Mädchen hat sich verlaufen, abzuholen auf Zimmer 1 der Sportleitung!" Ein wohliges Lachen rollt durch die Massen, erstirbt aber sofort: da, da, Nurmi! Paavo Nurmi, der Finne!

Er ist alte Garde, sein dunkelblondes Haar schon stark gelichtet, aber die Sehnen und Bänder sind noch immer Stahl. Er federt in den Gelenken, er hüpft etwas im Wechselschritt, er läuft sich ein wenig warm, ehe das Rennen beginnt.

Da, - es geht los!

Von den beteiligten Deutschen hält sich über die 5000 Meter am besten der junge Hannoveraner; überhaupt macht sich Hannover an diesem Tage sehr gut. Aber als er seine Zeit gekommen sieht, an der Uhr am rechten Handgelenk, da läuft Nurmi an dem Führenden wie eine Maschine vorüber. Es ist, als habe er einfach den Hebel für die nächsthöhere Geschwindigkeit gezogen.

Ich bin auch Stehplatz-Proletarier, nicht Tribünengast, kann aber dank kleinerer Vorderleute alles gut übersehen. Nurmis lange Beine stoßen ihn nicht geneigt vorwärts, wie es bei den anderen aussieht, sondern reißen die Bahn an sich. Sein Schritt ist springend, raumgreifend, schwingend; jeder Schritt ein Speerwurf.

Auch Nurmi läuft heute nicht Weltrekord, immerhin aber schafft er die 5 Kilometer in weniger als 15 Minuten, eine für die Zuschauer atemraubende Leistung.

Er selbst bricht danach aber nicht etwa, wie man es so häufig erlebt, ächzend zusammen, wirft sich nicht auf den Rasen, sondern schreitet ruhig einher; der Brustkasten arbeitet nicht so wie ein Blasebalg, das Herz nicht wie eine Pumpe in Schiffsnot. Dieses Wunder heißt Wille. Der finnische Läufer war als Junge ein Nichts, hat aber schon als Junge gewollt, der schnellste Läufer der Welt zu werden. Sein ganzes Leben ist eine einzige Arbeit auf dieses Ziel hin gewesen. Wir haben leicht spotten über die "Muskelintelligenzen", aber in diesem Falle kann man wirklich von einem Siege des Geistes über die Materie sprechen.

Die lachende, schwatzende, strahlende Menge verläuft sich. Eine Wagenburg von Autos schiebt sich zur Stadt. In bis dahin stillen Restaurants ist auf einmal großer Alarmzustand.

Jedes Berliner "Ereignis" ist eine belebende Welle auch für das Vergnügungsgewerbe, das sonst von Tag zu Tag mit wachsenden Sorgen dem nächsten Tage entgegensieht. Auf Mittelchen verfällt man da schon, auf Mittelchen . . .

Also da haben wir die Barberina in der Hardenbergstraße, diese Tanzdiele, die in den "miesesten" Zeiten doch unerschüttert schien, weil sie aus der ganzen Welt die glänzendsten Nummern heranzog. Nun hat die Barberina aber doch schon ihre Valencia-Filiale aufgegeben, ihre Ambassadeur-Filiale zum Kaffeehaus umwandeln müssen und ist schließlich jetzt, im September 1930, nachdem sie schon vorher ihre allabendlichen Nummern internationaler Tanzstars von 12 auf 7 reduziert hat, auf das verzweifelte Mittel von Prämienkonkurrenzen in Vorstadtgeschmack verfallen, wie sie bisher nur in der Neuen Welt in der Hasenheide und ähnlichen Rummeln Mode waren.

Diesmal heißt das Zugmittel: "Das schönste Damenbein von Berlin". Anläßlich der internationalen Lederschau; helfe, was helfen mag.

In der Jury vier bekannte Schauspieler vom Film, zwei Pressemenschen, ein Schuhhausdirektor. Diese Firma stiftet der Siegerin, die die schönsten Beine hat, fünf Paar Maßschuhe "im Werte von je 100 Mark", der zweiten zwei, der dritten ein Paar, und diese Reklame ist nicht einmal teuer. Am Tisch der Jury sehe ich den stets liebenswürdigen, stets aufgeräumten Fritz Kampers, aber der ebenfalls genannte Willy Fritsch fehlt. Wahrscheinlich sagt er sich, er wisse so schon, wer die schönsten Beine habe, nämlich Lilian Harvey, obwohl sämtliche Filmzeitschriften auf Wunsch des glücklichen Paares allwöchentlich im Briefkasten versichern müssen, Willy Fritsch und Lilian Harvey seien wirklich nicht verheiratet. Auch ein anderer der Filmrichter ist nicht da; und die Entscheidung haben ja auch nicht sie, sondern - das Publikum im Tanzkabarett, das zu diesem Zweck Stimmkärtchen bekommt.

Leider hat es aber nicht die Auswahl unter den schönsten Beinen Berlins, sondern nur unter denen - von 20 Tanzmädchen der Barberina.

Schwindel? Bewahre!

Kein Besucher rechnet doch damit, daß etwa Damen der Gesellschaft sich hier stellen; obwohl, ich will es nur verraten, es manche Dame danach juckt.

"Pah, diese da, die den ersten Preis gekriegt hat? Da sollten Sie erst mal, wenn ich . . ."

Nein, nicht vergaloppieren! Beinahe wäre es so weit. Im übrigen ist das keine Konkurrenz, sondern ein Klamauk. Auf der Tanzfläche steht ein Podium, eine Treppe daran zum Aufgang, eine zum Abgang. De 20 defilieren und heben, oben einzeln angelangt, ihr langes Abendkleid - "Höher, noch höher!" ruft das Publikum - gerafft empor, so daß auch die Oberschenkel bis dahin zu sehen sind, wo sie aufhören; und, wo die Strümpfe aufhören, eine Handbreit weiße Haut. Auf diese Handbreit starrt alles hin, obwohl man einen Monat früher im Seebad wahrhaftig mehr zu sehen hatte. Herrschaften: das ist doch Vorstadt! Und doch lächeln viele befriedigt, sagen: "Berlin ist doch Berlin!" und finden, hier sei immer "was los".

Gewiß ist immer was los. So jetzt der Kongreß für Individualpsychologie. Ich gehe aber nicht hin, ich leide nicht an dem "verdrängten Geltungsbedürfnis", über das da debattiert wird. Ich mag den Adler ebensowenig wie den Freud. Für mich sind diese Art Leute doch nur Pseudowissenschaftler.

Dagegen habe ich wiederholt das Haus berannt, in dem Terfren Laila Wohnung genommen hatte, "die weltberühmte orientalische Mystikerin und Professor der okkulten Wissenschaft", die, wie ich neulich erzählte, von einem Politiker der Linken angeblich aus Indien herzitiert worden ist, um wahrzusagen, daß der Nationalsozialismus im Frühling 1931 verschwunden sein werde.

Meine Erkundungen, durch eine geschickte junge Dame ergänzt, haben ergeben, daß Frau Laila in Wirklichkeit Frau Frankel heißt, daß ihr Mann und Impresario aus Czernowitz stammt, sie selbst in Kattowitz erzogen ist, aber offenbar höchst mangelhaft. Beide beginnen ihren Tageslauf mit einem Rührei von zwölf Eiern und schmettern unzählige Eiskümmel hinterdrein, obwohl die gute Terfren Laila doch versichert hat, sie müsse fasten, um richtig in Trance zu kommen.

Der Gebrauch von Messer und Gabel ist ihr ziemlich unbekannt; wohl, weil es damit nicht so schnell geht wie mit den Fingern. Dafür hat diese äußerst umfangreiche Dame denn auch einen Specknacken wie ein Vierzentnerschwein. Am dritten Tage waren Herr und Frau Frankel, die - "um unliebsame politische Zwischenfälle zu verhindern" - die Kommandierung eines Schutzmannes in ihr Sprechzimmer erwirkt hatten und die Anschaffung eines Wachhundes planten, mitsamt ihren vielen Koffern plötzlich verschwunden. Angeblich wegen der feindseligen Haltung der Presse. Die Reklame bei Ullsteins hatte aber doch gewirkt. In den drei Tagen haben Frankels, bestürmt vom "besten" Publikum, über 7000 Mark eingenommen, da jede Befragung mit 25 Mark honoriert werden mußte. Abends drehte Frau Laila dann vor Vergnügen das Grammophon an und tanzte, tanzte, tanzte, meist in Zigeunerart, daß das Haus unter ihrem Gewicht erbebte, trank unentwegt ihre Eiskümmel und lachte wie besessen über die hellen Berliner, denen sie - in Faschingsturban mit Straßagraffe - Hellsehen vorgemimt hatte.

Sie prophezeit aus den Handlinien und aus der Handschrift. Mir ist geweissagt worden, daß ich erst in sehr hohem Alter sterben würde, aber bis an mein Lebensende unverheiratet bliebe. Das ist wirklich eine schwierige Sache. Wie soll ich es nun meinen sechs Kindern erklären, daß sie keinen verheirateten Vater haben?
25. September 1930 (Donnerstag)


5

Pieseckes Stolz auf Berlin - Macht's uns wirklich keiner nach ? - Unkontrolliert in der Großstadt - Die Zentrale für alles - Kunsttempel oder Studienanstalt ? - Am Pergamonaltar im neuen Hause - Oberammergau im Sportpalast - Berliner Range.

Pieseckes in Berlin - sie heißen in Wirklichkeit nicht genau so, aber das macht ja nichts - haben Besuch. "Aus der Provinz". Wie Herr Piesecke diese drei Worte - "aus der Provinz" - herablassend-geringschätzig auf der Zunge schmelzen läßt, übrigens mit deutlich bemerkbarem Wohlwollen, das allein ist schon hörenswert. Der Freund aus Radevormwald, Kreis Lennep im Rheinland, pennt bei Pieseckes auf dem Sofa und soll drei Tage lang Weltstadt genießen. Herr Piesecke schwillt vor Mitteilungsbedürfnis und Stolz.

Zunächst der Überblick, den ich ihm (er ist ein kleiner Geschäftsmann in unserer Nähe) geraten habe, als er mir freudestrahlend erklärte, sein alter Kamerad aus dem Infanterieregiment Vogel v.Falckenstein Nr. 56 Wesel werde ihn besuchen und sei tatsächlich noch nie in Berlin gewesen; der Überblick von der obersten Galerie des Funkturms aus. Mit einer runden Handbewegung, die etwa besagen soll, dies alles sei ihm untertänig, zeigt Piesecke auf Berlin und bemerkt beiläufig, der Funkturm sei das höchste Bauwerk in ganz Deutschland. Daß der Kölner Dom und das Ulmer Münster erheblich höher seien, will Piesecke, leicht verstimmt, seinem Gast nicht glauben. Was wissen denn die in der Provinz überhaupt von sowas?

Dann folgt, was ich ebenfalls allen Besuchern Berlins immer empfehle, der Abstecher in das nahegelegene Wellenbad. Dort treffe ich "zufällig" die beiden. Ich komme aus dem Wasser; sie setzen sich auf die Zuschauerterrasse und bestellen - es ist noch früher Vormittag - zwei Bier. Wieder macht Herr Piesecke seine runde Handbewegung und sagt:

"Sowat macht uns keener nach, wat?"

Es tut mir leid, Herrn Piesecke enttäuschen zu müssen, nachdem ich soeben schon, als Richter in der Sache Funkturm contra Kölner Dom, mich mißliebig gemacht habe. Aber es gibt wirklich auch anderswo Wellenbäder. Das schönste vielleicht im Bergpark des Hotels St.Gellert in Budapest, im Freien, mit direktem Zugang aus den altrömisch-prunkvollen Thermen-Vorhallen des Hotels.

Das Wasser dort ist nicht gechlort und geheizt, sondern sprudelt rein und warm aus der Erde. Rundum lachendes Grün, Bäume, Blumen, Brunnen, Skulpturen, Pergolen, Terrassen mit Korbmöbeln und Liegestühlen. Und, ob Sie es mir glauben oder nicht, lieber Herr Piesecke, trotz des bekannten Rufes, in dem Budapest steht, ist das da nicht solch ein Poussierbad, wie es zu gewissen Zeiten unser Wellenbad in Berlin-Halensee ist.

Am selben Abend sind Pieseckes samt Gast im Berliner Lustspielhaus und sehen sich "Meine Schwester und ich" mit der schon etwas steifen Lori Leux in der Hauptrolle an. Natürlich wollen sie sich ausschütten vor Lachen. "Schmiß, wat?", sagt Herr Piesecke strahlend, als ich ihm tags drauf, während ich etwas bei ihm kaufe, bestätige, daß auch ich das Stück gesehen habe. Nur bin ich zartfühlend genug, ihm zu verschweigen, daß ("in der Provinz") im Hamburger Operettenhaus der gleiche Schwank noch viel schmissiger mit der jungen, sprudelnden, gelenkigen Liane Haid gegeben wird. Ach, überhaupt Hamburg! In der ganzen Berliner Vergnügungsindustrie gibt es nicht etwas so vielseitiges wie den dortigen "Alcazar".

Piesecke ist Typus. Seinen übersteigerten Lokalpatriotismus verübele ich ihm aber gar nicht. Er ist besser als der deutsche Erbfehler des Preisens alles Fremden. Er hat etwas Gemeinsames mit der kindlichen Renommierfreude fast aller Yankees. Auch Berlin hat ja schier amerikanisches Wachstum hinter sich.

Als Großstadt hat es natürlich auch den Vorzug, daß man hier vorurteilsfrei ist und einander weniger kontrolliert; wenn das ein Vorzug ist. Ein Oberregierungsrat aus Münster in Westfalen, dem ich vor Jahren einmal den Betrieb hier zeigte, in den er alsbald kopfüber hineinschoß, sagte mir damals:

"Natürlich gibt es Tanzdiele und Kabarett auch bei uns, aber da können wir von der Gesellschaft doch nicht hin!"

Ja, das ist eben der Unterschied; ein junges Mädchen aus guter Familie, das nach Berlin kommt, kann hier mehr erleben, als der vergnügteste alte Hagestolz in irgendeiner kleineren Stadt.

Aber die wirklichen Vorzüge der Reichshauptstadt liegen auf einem ganz anderen Gebiete; sie hat hundert Jahre lang und länger die Arbeit der Nation konzentriert und ist unter den Augen ihrer Herrscher zum großen Speicher des Erworbenen geworden. Sie ist nicht bloß verwaltungstechnisch Zentrale. Der Kunstfreund mochte früher nach Düsseldorf gehen, ehe es von München abgelöst wurde, der Geschäftsmann kam einst um Augsburg, später um Frankfurt nicht herum, und wer mit der Industrie zu tun hatte, der konnte sich mit Rheinland-Westfalen oder mit Sachsen begnügen.

Heute dagegen laufen fast alle Fäden hier in Berlin zusammen, das kaum mehr zu umgehen ist, und diese ungeheuer rührige und selbst in Elendszeiten optimistische Metropole ist erst in den letzten Jahren sogar zur Messestadt geworden und hat soeben ihre Museumsinsel zu einem Kunstforum vollendet, vor dessen gewaltigem Eindruck die aus allen Ländern der Welt heute herbeigeströmten Gelehrten und Fachmänner erschüttert den Hut ziehen.

Alle diese Dinge hängen irgendwie mit dem Königshause zusammen. Es hat "seinen" Tiergarten einst dem Volk von Berlin geschenkt. Es hat - daher war man auch nach der Revolution so erstaunt über die wenigen Bücher von altem Wert im Schloß - seine literarischen Schätze immer wieder der Staatsbibliothek überwiesen, die eine der besten der Welt ist. Und es hat vor genau hundert Jahren den Grund zu all dem Wunderbaren gelegt, das jetzt auf der Museumsinsel ein geschlossenes Ganzes geworden ist.

Die Reden, die da gestern und heute gehalten worden sind, besonders die ganz taktlose des sozialdemokratischen Kultusministers, zu der die Grauköpfe aus Amsterdam und London, aus Rom und Paris, aus Kairo und Tokio, aus Madrid und Kopenhagen die Köpfe schüttelten, will ich übergehen. Ich habe mich dabei verdrückt. Ich habe nur das Ungeheure in dem Pergamonmuseum und den anschließenden Bauten auf mich wirken lassen.

Irgendwo in Kleinasien tauchte im letzten Kriegsjahr bei uns Fliegern ein Hauptmann der Reserve Dr. Wiegand auf und bat um Luftaufnahmen von Ruinenstätten, falls wir welche hätten. O ja. Luftaufnahmen und Erdaufnahmen. Nicht nur von Baalbek, Troja, Ninive und anderen "gangbaren" Orten, sondern auch von allerlei unbekanntem Trümmerwerk aus hethitischer Zeit. Dieser Dr. Wiegand war nämlich in seinem Zivilverhältnis Berliner Museumsdirektor. Ich erfuhr da zum ersten mal von der intensiven deutschen Kulturarbeit mitten im Kriege, die von Brügge bis Bagdad reichte, überall schützend und erhaltend und fördernd eingriff. Von Berlin aus dirigierte Geheimrat v.Bode, der eine internationale Berühmtheit war; und die Schatzkammer für das Neuentdeckte baute schließlich Messel, unser großer Architekt.

Wir sind im allgemeinen kein Volk von Museumsläufern, denn die Kunstspeicher alter Art sind für uns nur eine Kuriositätensammlung von erdrückender Menge, die ins Riesenhafte vergrößerte Vitrine irgendeines Reichen, zu deren Inhalt wir Gegenwartsmenschen keine Beziehung haben.

Wie anders die Freiluftmuseen in Oslo, in Stockholm, in Helsingfors!

Da lustwandelt im frischen Grün das Volk, da lernt es eigene Geschichte, da ehrt es heimische Kunst. Sonst aber, bei allen Völkern genau so wie bei uns, kennt man nur die eingesargte Kunst in zahllosen Museumszimmern, wo alles eng beieinander geschichtet ist wie die vertrockneten Leichen in Katakomben.

Und dazu noch in heillosem Durcheinander der Motive bei an sich strenger Ordnung nach Zeiten, Ländern, Künstlern. Eine Landschaft ins Weite, ein dämmerndes Interieur, ein Porträt, ein Schlachtbild, ein Stilleben, eine Heiligenlegende, ein freches Weibsbild, ein Seestück, wie soll der Beschauer da überhaupt zu einer einheitlichen Weihestimmung kommen? Es ist so, als wenn man gleichzeitig aus verschiedenen Lautsprechern Mozart und Otto Reutter und einen Fanfarenmarsch hört. Das einzige Ergebnis: man wird todmüde.

Und man sagt sich resigniert, daß die Museen doch nur eine Studienanstalt für Kunstbeflissene oder Kunstverlogene sind, eine treffliche Arbeitsstätte, aber kein erhebender Volkstempel.

Noch nicht die Hälfte der erwachsenen Berliner ist jemals in der Nationalgalerie oder im Alten Museum gewesen. Die Fülle erstickt. So kommt es, daß nicht 10 000 Besucher vor 30 Kunstwerken andächtig werden, sondern dreißig Besucher vor 10 000 Kunstwerken mühselige Katalogarbeit treiben.

Wenn man einmal vor dem Parthenon auf der Akropolis, einmal vor dem Dom in Bamberg gestanden hat, so hat man mehr davon gehabt, als von der ganzen Flucht von Sälen voll Kunstwerken im Prado oder in der Eremitage. Der weite Raum, der fehlt hier; die Erhabenheit der Landschaft oder der architektonische Choral. Da setzte nun Alfred Messel, ganz im Sinne Theodor Wiegands, mit brausenden Akkorden ein. Es sind nicht Bruchstücke in Glaskästen gepackt, sondern in einem gewaltigen Raum von etwa 20 Metern Höhe, glasüberdacht, so daß es strahlend licht wie im Süden ist, erhebt sich, das Echte glücklich durch Nachbildungen ergänzt, der riesenhafte Pergamonaltar mit dem Bildhauerwerk des Gigantenkampfes als Fries. Fast beklommen steht man vor dieser Wucht hellenischer Religion. Der Kampf der Giganten gegen die Götter. Der Kampf der Riesen gegen die Asen. Die Menschenfaust, die sich zum Himmel reckt.

Hier können alle Berliner Pieseckes ruhig, ohne berichtigt werden zu müssen, erklären: so etwas Überwältigendes hat noch keine Museumsverwaltung der Welt geschaffen. In scheuer Hochachtung stehen selbst die reichen Engländer und Amerikaner vor diesem Wunder, das Berlins Gelehrte und Künstler in zwanzig Jahren mit bescheidenen Mitteln geschaffen haben. Dazu noch auf moorigem Grunde, der die Fundamentierung außerordentlich erschwert hat.

Ebenso imponierend die bunte Fabel-Keramik der riesigen Prozessionsstraße aus dem Babylon Nebukadnezars; dann das barocke mächtige Markttor von Milet, alles aus tausend Trümmern mühsam zusammengesucht und ergänzt; und dann von da aus der Übergang in das deutsche Museum, wo sofort die Gotik als etwas Wesenseigenes uns umfängt, bis wir unvermerkt ins Kaiser-Friedrich-Museum gelangen und damit in die Fülle alter Art, der wir durch Flucht entgehen, um nicht die ersten immensen Eindrücke zu verwischen.

Kunst ist Gottesdienst.

Die Alten wußten es, die Neueren haben es vergessen.

So hat die Sehnsucht unsere Vorväter auch in den Kirchen zur Kunst getrieben. Die Sehnsucht ist noch vorhanden. Im Vertrauen darauf wird seit vierzehn Tagen die Passion "in Oberammergauer Art" im Berliner Sportpalast von einer christlichen Festspielgemeinde gegeben. Es sind mehrere hundert Statisten dabei, die Hauptdarsteller aber Berufsschauspieler, darunter der Heiland nach dem Bibelwort "der schönste unter den Menschenkindern", so daß namentlich den weiblichen Zuschauern vor Weh das Herz zerschmilzt. Das ganze ist sehr schön und sehr würdig, ich freue mich, daß es viele Tausende kleiner Leute erhebt, - "aber, ach, ein Schauspiel nur". Nie ist mir so völlig klar geworden, daß Göttliches undarstellbar ist.

Dieser Jesus ist ein Mensch. Mehr noch: ein Schauspieler.

Von Oberammergau dagegen, wo ich selber nicht gewesen bin, habe ich mir erzählen lassen, daß man dort wirklich erschüttert wird. Wer nicht glaubt, lernt glauben, denn gläubige Menschen, wirklich inbrünstige Gottessucher, verkörpern dort die Passion.

Eine Bekannte von mir ist in der Mittagspause wie benommen weggetaumelt und fand sich plötzlich an einem Tisch in einem ganz fremden Gasthause wieder. Amerikanerinnen, die noch suggestiblere Kinder sind, rangen gegen Judas die Hände und beschworen ihn noch auf der Straße, wenn sie ihn da trafen, doch in sich zu gehen.

Das Berliner Oberammergau ist nicht so. Es fehlt die offene Bühne mit der Bergwelt dahinter, die von vornherein die Gemüter in Bann nimmt. Es stören Schminke und Perücke und Scheinwerfer, es stören die Sportpalastzöfchen mit ihrem Angebot von Keks, Nußstangen, Schokolade. Die veranstaltende Vereinigung veröffentlicht im Programm viele Anerkennungsschreiben, darunter solche von Bischöfen und Generalsuperintendenten. Aber in der Presse, der katholischen wie der evangelischen, hat sie keine Resonanz. Das tut mir leid; wenn man sich an der Piscatorhetze in Berliner Theatern verbrannt hat, ist man dankbar für diese Predigt der Liebe, auch wenn sie, ach, nur Schauspiel ist.

Draußen vor dem Sportpalast staut sich die Menge der Hinausflutenden, denn irgendein Auflauf kommt in die Quere, Schutzleute bilden eine Kette. "Mal sehn, mal sehn!", piept es hinter mir. Ich drehe mich um, da steht ein Berliner Knirps, pufft mich und sagt:

"Machense mal Platz, Kleener, sonst atme ick Ihnen ein!"
2. Oktober 1930 (Donnerstag)


6

Nachwehen der Gewerbeausstellung von 1896 - Kaum Farbige mehr in Berlin - Japanisches Gastspiel Tsutsui - Deutsche darstellende Kunst - Die "Czardasfürstin" als Revue - Hinter den Kulissen - Rumpelstilzchen ist gestorben.

Im Jahre 1896 gab es die große Berliner Gewerbeausstellung draußen auf den Treptower Wiesen, sozusagen als Vorübung auf eine richtige Weltausstellung, zu der es Deutschland freilich auch später nie gebracht hat.

Das Symbol jener ersten Riesenschau, die aus dem Erdreich wachsende wuchtige Faust mit dem Hammer, warb Hunderttausende von Besuchern.

Natürlich hatte die Berliner Gewerbeausstellung auch ihren großen Rummel, hatte "Alt-Berlin" mit unzähligen Kneipen, darunter zum ersten Male der des groben Gottlieb, hatte eine ganze Budenstadt mit Vergnügungen, hatte auch zum erstenmal eine Exotenschau, ein afrikanisches Dorf mit lauter Farbigen von quittegelb über kakaobraun bis pechschwarz. Für die Kleinstädterschicht in dem bis dahin sehr binnenländischen Berlin war dieses Dorf eine Sensation, die "nicht ohne Folgen" blieb. Noch heute gibt es Mischlinge in Berlin, Mulatten und Mulattinnen, die aus jener Zeit stammen.

Meist sind sie aber in die weite Welt zerstreut. Ein Farbiger in Berlin fällt auf; wir sind nicht so vernegert wie Marseille oder Paris. Auch der Verlust der Kolonien hat es mit sich gebracht, daß kein christlicher Togo-Neger - das waren meist sehr brave, anständige Jungen - und kein tapferer Asker aus Ostafrika mehr nach Berlin kommt. Hie und da ist noch einer als Kafedschi, als Mokkakellner, in einem Vergnügungslokal tätig, wohl auch als Schlagzeuger in einer Jazzkapelle. Aber die Farbigen hatten vor dem Kriege noch ein Stammlokal in der unteren Friedrichstraße mit einer dunklen Wirtin. Das alles ist zerstoben. In der Dorotheenstraße, so behauptet wenigstens die Mitropa-Zeitung, gebe es eine Negerkneipe, aber das ist ein Irrtum: diese Kneipe ist Artistenlokal, es kommt zwar vor, daß hin und wieder ein Farbiger unter sonst lauter Weißen dort auftaucht, nur ist er dann - als Artist - zufällig im benachbarten "Wintergarten" tätig.

Diese Leute kommen aus Amerika oder aus Frankreich zu uns. Von der Josefine Baker bis zur Zwergin Esther meist als Charlestontänzer. Oder als Sänger, als Musiker, als Exzentriks. Es ist alles Variété.

Nur die innerlich vernegerte Berliner Kritik schwärmt dies als Offenbarung großer Kunst an. Es fällt einem schwer, die Japaner in einem Atem mit solchen Farbigen zu nennen, denn die japanischen Bildner und Darsteller haben wirklich alte und feine Kultur, wenn sie auch ganz fremdartig ist. Aber die kritiklose Berliner Kritik zwingt zur Abwehr. Sie überschlägt sich jetzt wieder in gemachter Begeisterung, wo wir einige Wochen im Theater des Westens das zweifelhafte Vergnügen haben können, für eine Vorstellung der Truppe Tokujiro Tsutsui 20 Mark im ersten Parkett zu bezahlen.

Wir wollen doch ganz offen sein: das sind nicht Schauspieler eines ersten Theaters in Tokio, sondern - Schwerttänzer, Mimiker, Jiu-Jitsu-Springer von einem dortigen Rummelplatz.

Nur die Einkleidung des Ganzen in alte Legenden und mittelalterlich goldstrotzend-bunte Gewänder und stilisierten Ton lockt die Japankenner und - die Snobs vom Kurfürstendamm. Man ist morgens zu Meyers eingeladen, heute ist Tsutsui-Première, Meyers sind nicht da: ha, wie wird man morgen brillieren, wenn man auf der Gesellschaft bei Meyers - im Programmheft steht ja genug davon - über japanische Schauspielkunst orakelt! Der Intendant des Berliner Rundfunks, Dr. Hagemann, hat sich vorher sogar zu der Ankündigung verstiegen:

"Die größte Sensation der letzten Jahrzehnte war das Auftreten der Russen in unseren Hauptstädten, ein weit größeres Ereignis steht uns noch bevor, wenn das japanische Theater mit seinen auserlesensten Kräften Europa bereisen wird."

Alle Achtung vor dem wissenschaftlichen Ernst Hagemanns, aber hier geht auch mit ihm doch die Fremdtümelei durch, unser altes Erblaster; in Wirklichkeit ist an dem japanischen Gastspiel nur der altertümliche Konventionalismus kulturhistorisch interessant, im übrigen aber ist es - Artistik.

Die japanischen Studenten und Doktoren, die mit ihren deutschen Pensionsmüttern im Parkett und im ersten Rang sitzen, sind ein wenig stolz, aber auch ein wenig belustigt, als Tokujiro Tsutsui und die Seinen vom Publikum wie rasend beklatscht werden. Die Japaner selbst wissen ganz genau, daß es sich hier nur um Akrobaten und Fechter handelt; und daß selbst wirkliche japanische Schauspieler von Weltruf, etwa Sada Yacco, klafterweit unter beseelter deutscher Menschendarstellung stehen.

Männer wie Werner Krauß oder Paul Wegner, Frauen wie Agnes Straub oder Lucie Höflich, um wahllos ein paar Namen herauszugreifen, hat kein anderes europäisches Theater aufzuweisen, geschweige denn ein exotisches. Nur haben wir das Unglück, daß seit der Revolution Regisseure wie Leopold Jeßner oder Erwin Piscator uns schlechte oder verballhornte Stücke vorsetzen, die ewige Kunst in ein sogenanntes Zeittheater einspannen.

Dann läuft man schon lieber zur Revue, denn da braucht man sich nicht aufzuregen; man findet da zwar auch keine Erhebung, aber wenigstens Erholung.

Die geplagte Berliner Menschheit, die tagsüber sich abschuftet und absorgt, ist es zufrieden, wenn sie abends in einem Meer von Licht und Farbe auftaucht, mit Schönheit, Musik und Tanz überschüttet wird, einmal vor dem Füllhorn sitzen darf, in dem "Geld keine Rolle spielt". Leider spielt es nur eine Rolle beim Billettkauf. Die Berliner Revuen sind seit Charells Einführung der Großen Operette - Drei Musketiere, Lustige Witwe usw. - auf die Revuebühne viel besser geworden, als es die frühere Nuditätenschau bei James Klein war, aber das zahlende Publikum schrumpft. Jetzt hat der dritte Revueunternehmer Berlins, Haller, nach einer zweijährigen Pause, die durch den polizeilich verlangten Umbau des Admiralspalastes bedingt war, die "Czardasfürstin" des alten ungarischen Zigeunerprimas Kàlmàn neu herausgebracht, prächtig inszeniert, durch Einlagen und sogenannte Attraktionen variétémäßig aufgefüllt.

Er leistet sich im Zwischenakt sogar die berühmte Geigerin und Kapellmeisterin Edith Lorand mit ihrem Orchester, die ich im vorigen Jahr auf dem Fest der Cecilienhilfe bei der Kronprinzessin sah; hier freilich unter den Nichts-als-Vergnügungs-Banausen bleibt sie sozusagen im luftleeren Raum und wirkt nicht.

Er leistet sich einige ausgezeichnete Solokräfte und eine riesige Statisterie von Mädchen mit ausgesucht schönen Beinen, er leistet sich vor allem die für das heute arme Berlin unerhört reiche Gesamtausstattung durch Professor Ludwig Kainer, die allerdings hinter der des Casino de Paris an der Seine notgedrungen stark zurückbleiben muß. Kainer ist Künstler, und seine Farbenorgien in orange-hellblau-silbern oder seegrün-purpurn bestechen jedes Auge. Auch ist der kesse Berliner Hans Albers, der den Grafen Boni spielt, das Entzücken der hellauf lachenden Besucher. Auch hat Haller an das Familienpublikum gedacht, denn die Nacktheiten nach dem Geschmack James Kleins fehlen, und selbst die Saftigkeiten - nur einmal schenkt Graf Boni einem Mädel vom Chantant einen "Keuschheitsgürtel mit Reißverschluß" - sind selten.

Trotzdem: schon ist die Angst vor der Pleite da.

Trotzdem: schon am fünften Tage nach der Première müssen mehrere hundert Freikarten verteilt werden, damit der Zuschauerraum nicht zu leer aussähe.

Es ist furchtbar, wenn in einem Unternehmen, das nur Lust sprühen soll, die Nervosität überhandnimmt.

Vier Wochen lang, den ganzen September hindurch, hat man geprobt, hart gearbeitet, aber auch gehofft. Bei den Jackson-Girls und der akrobatischen Tänzerin Miß Lee klappte fast alles noch von Paris her, mußte nur auf die Musik von Kàlmàn umgestellt werden, aber die vielen Dutzende von neuen Menschen, bis zu den Anfängerinnen herunter, die nur 68 Mark monatlich Gehalt bekommen, waren einzuarbeiten. Oft ging es die ganze Nacht hindurch, einmal bis 7 Uhr in der Frühe, nachdem man schon regelmäßig vormittags angefangen hatte. Immer wieder wurde namentlich an der Dekoration und der Beleuchtung und den Kostümen geändert.

Die Ballettmeisterin aus Wien fraß sich voll Wut. Und doch: Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung! Wenn man Hunderttausende von Mark in eine Revue steckt, kommt doch wohl eine Million Mark wieder heraus, nicht wahr? Diese Geschäftsleute der Vergnügungsindustrie sind auch Opfer der Silberstreifen Stresemanns und des Young-Schwindels der Ullsteiner. Sie ahnen nicht, wie arm Berlin geworden ist. Und nun platzt alles vor Nervosität.

Hinter den Kulissen großer Krach.

Rita Georg, die Operettendiva, hat ihrer Meinung nach zu wenig Applaus von dem recht teilnahmslosen Publikum bekommen und schreit:

"Natürlich, der verdammte Chor, er ist viel zu laut!"

Ein Inspizient drängt sie zur Seite und herrscht die Girls an:

"Schneller auf die Bühne! Ihr laatscht ja alle!"

Da ist Getümmel. "Auah, du trittst mir ja auf die Schleppe, dumme Pute!", kreischt ein Mädel in der Gruppe.

Da sind ihrer 36, die sich - zum Weg in die Garderobe ist keine Zeit - einfach in den Kulissen während eines Szenenwechsels blitzschnell umkleiden müssen. Die Garderobieren werfen ihnen die Sachen hin. Arbeiter gucken zu. Eine zeigt einem von ihnen die Zunge und zischt: "Altes Luder!"

Hans Albers springt daher:

"Spiegel her! Himmeldonnerwetter, mein Zylinder, mein Stock!"

Ein Inspizient fährt wie wild in eine Gruppe und ruft:

"Quasselt nicht so! Maulhalten oder es gibt Strafzettel!"

Und mehr als einmal hört man von Haller, dem "Admiral" selbst, die nachgerade klassischen Worte:

"Das ist ja zum Kotzen!"

Irgendwo jammert ein Chormädel vor dem Aufzug, in dem das Ensemble Girlanden zu schwingen hat:

"Meine Blumen sind weg, meine Blumen sind geklaut!"

Ein anderes Mädel antwortet giftig:

"Das ist dir recht, du olle Petze!"

Die erste heult. Jawohl, sie hat der Ballettmeisterin gepetzt, daß die andere ihre Beine, statt sie mit Lilienmilch einzureiben, nur gepudert hat. "Schneeweiße Beine" werden verlangt, aber Pudern geht schneller, und die Lilienmilch frißt sich so ein, daß sie nachher nur unvollkommen mit Bürste und heißem Wasser zu entfernen ist und die Strümpfe, die man nach der Veranstaltung wieder anzieht, verdirbt.

Das alles stellen sich die meisten Menschen ganz anders vor.

"Hinter den Kulissen", denken sie, stehen Herren im Zylinder umher, Rosensträuße oder Schmuckschächtelchen in der Hand, und tätscheln eine Choristin oder huldigen einer Diva; Herren, die entweder Börsianer sind oder zur "goldenen" Jugend gehören. Ach nein, so ist das längst nicht mehr. In den Revuetheatern ist solcher Besuch überhaupt verboten, nicht einmal ein Dienstmann, der einen Brief oder ein Paketchen zu bringen hat, wird zugelassen, denn wenn er irgendwem in den Weg gerät oder auf irgend etwas tritt oder irgend etwas im Stolpern zerreißt (die moderne Bühne hat viele Nervenstränge), so kann doch die ganze Aufführung umgeworfen werden.

Auch die Tänzerinnen, die nebenbei noch alle im Chor mitsingen müssen und, wenn sie voll ausgebildet sind, 136 bis 220 Mark monatlich verdienen, sind zum großen Teil sehr solide Mädchen. Wenn ihr Verlobter oder Freund sie sehen will, mag er nach Schluß am Ausgang warten.

Einstweilen soll ja, wie man hört, die verfehlte alte Tributpolitik fortgesetzt werden, deren Opfer wir alle sind, nicht nur der Revue-Admiral. Lange wird sich das nicht mehr fortsetzen lassen. So hoffe auch ich noch, wie Moses das gelobte Land von ferne sah, das Morgenrot des freien Dritten Reiches zu erleben. Obwohl ich seit einiger Zeit totgesagt werde. In Buchhandlungen - in Chemnitz, in Stettin, in Eberswalde - sind Kunden mit der Frage erschienen, ob es wahr sei, daß ich nicht mehr unter den Lebenden weilte. Ich bin gar nicht abergläubisch, halte also auch nichts von der Meinung, daß Totgesagte erst recht lange am Leben bleiben, bin auch mangels jeglicher Sterbefurcht jederzeit zum Großen Appell bereit, aber der Buchhandlung von Langewiesche in Eberswalde habe ich doch folgendes Dementi gesandt:

"Ick lach' ma dot. Aber nicht gleich, sondern hübsch allmählich. Also Ihre Kunden behaupten, ich sei gestorben? Denken Sie nur: auch anderswo geht dieses Gerücht um. Dabei erscheint allwöchentlich mein Berliner Allerlei. Oder schreibt das mein manifestierender Geist? Bin ich tatsächlich tot? Mitbürger, Freunde, Eberswalder: gebt mir den Beweis! Schickt mir meinen Totenschein! Erstens zahle ich dann keine Steuern mehr. Und zweitens gehe ich sofort zur Lebensversicherungsgesellschaft und sage: Det Aas is dot, nu raus mit de Pinke! In dieser Hoffnung grüßt Sie Ihr Rumpelstilzchen!"
9. Oktober 1930 (Donnerstag)



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