"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 1 - 3
4. bis 18. September 1930


1

Unsereins ohne Sprachkenntnis - Junge Berliner auf der Walze - Pensionsgespräche - Lord Dschises - Neuer Reklametrick auf der Tauentzien - Von wem der "Rosenmontag" ist.

Wenn man von der Mutter her deutsch spricht, in der Schule lateinisch, griechisch, französisch, englisch gelernt, später seinen russischen Dolmetscher gemacht hat und italienisch leidlich radebrechen kann, so kommt man, sollte man meinen, mit diesen Kenntnisse als Ferienreisender leicht durch ganz Europa.

Aber das ist ein Irrtum. Man muß auch bayerisch können.

Im Juli sandte das gütige Geschick mir ein Büchlein ins Haus, das "999 Worte bayerisch" heißt, außerordentlich amüsant und sehr lehrreich ist. Wer der Verfasser und wer der Verleger ist, müßte ich erst wieder in einer Buchhandlung erfragen. Leider habe ich, schon im Juli, das kleine Buch unter meinen ungezählten anderen verkramt, so daß ich darin nicht büffeln konnte, wie ich beabsichtigt hatte. Das hat sich denn auch prompt gerächt. Ende Juli stand ich nicht wie ein gebildeter Mitteleuropäer, sondern wie ein Eskimo-Analphabet in 1700 Meter Höhe in den oberbayerischen Bergen vor einer guten Frau in einer Arbeiterkantine, ohne mich mit ihr verständigen zu können.

Auf die Frage, was man zu essen bekommen könne, antwortete sie:

"Greicherz!"

Da stehste machtlos vis-a-vis.

Ich hole tief Atem und frage langsam und deutlich:

"Was für ein Herz ?"

Denn das weiß ich doch schon von früheren Entdeckungsreisen her, daß es da oben allerhand komische Sachen gibt, Kalbsherz, Lüngerl, Haxen und so. Da glaubt die gute Frau, ich wolle sie frozzeln; ich sei ja offensichtlich ein Berliner, und die haben bekanntlich immer ein ungewaschenes Maul. Also wiederholt die Frau, schon etwas feindselig:

"Greicherz!"

Da sage ich denn in Gottes Namen, sie solle mir das bringen, und kriege ein vortreffliches großes Stück - "Geräuchertes", nämlich, wie man es in Berlin nennt, Kasseler Rippspeer; dazu Kartoffeln und Sauerkraut.

Es hat herrlich geschmeckt. Aber leichter verständigt habe ich mich nach der ersten Ferienhälfte, die ich kraxelnd am Eibsee und da herum verbrachte, in der zweiten Hälfte mit der kroatischen Bauerfrau auf dem Markt in Dubrownik oder mit dem albanischen Beamten in Tirana oder mit den Dorfbuben bei Paläocastrizza auf Korfu.

Da unten irgendwo traf ich auch die ersten beiden Berliner auf der Reise. Junge Leute. Der eine, aus der Reinickendorfer Straße in Berlin N, kommt im Herbst auf die Gärtnerschule in Oranienburg. Der andere ist Bildhauer und hat auch kein Geld. Zusammen hatten die beiden Blondschöpfe 26 Mark, als sie im Mai von Berlin sich aufmachten. Dann sind sie zu Fuß durch die Tschechoslowakei, Ungarn und Südslavien getippelt, "fechtender Weise", sind als Deckpassagiere von Durazzo in Albanien nach Bari hinübergefahren und wandern soeben durch Italien und die Schweiz wieder heim.

Ich habe oft genug gesagt, wie peinlich überall im Auslande bettelnde deutsche Wanderburschen wirken, aber das hier war mal eine Ausnahme. So was Frisches, so was Blütensauberes! Der englische Oberst a.D., 25 Jahre Dienstzeit in Indien, am Schluß des Weltkrieges mir gegenüber in Mesopotamien, den ich in Durazzo traf, hielt die beiden - trotz ihrer "sonderbaren Nationaltracht" - für Passagiere 1. Klasse. Ich verschaffte ihnen einen Tag Fettlebe auf dem Schiff. Gab ihnen obendrein ein Zehrgeld für den schlimmsten Tag, den sie in dem überlaufenen Italien doch bald erleben würden. Sie waren eine Erfrischung für mich.

In dem Skizzenbuch des Bildhauers habe ich geblättert. Armes Kerlchen: in dem heutigen Deutschland geht die Kunst vergeblich nach Brot. Eine Unzahl von Talenten verkümmert und muß notgedrungen nach voller Ausbildung den Beruf wechseln.

Ein paar Schlußtage in Abbazia. Wunderbar das Schwimmen in der Adria. Hier spricht alles noch deutsch, der Gepäckträger, der Droschkenkutscher, das Ladenfräulein, die Zeitungsfrau, der Strandphotograph, der Bootsmann, die Kellnerin; die paar Italiener sind Fremdlinge. Überall auch noch deutsche Schilder und Aufschriften. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist der Besuch aus Deutschland, Ungarn, Österreich auch so stark.

In unserer Kurhaus-Pension allein drei Dutzend Berliner.

Hilf lieber Himmel.

Eine, wie sie angibt, sehr nationale Dame am Nebentisch sagt: "Das wissen Sie nicht, daß alle Kinder der Hermine in Wirklichkeit vom Kaiser sind ?" Es ist ein Wunder, daß ich nicht wegen schwerer Körperverletzung im Untersuchungsgefängnis von Abbazia sitze. Ein Wunder der Selbstbeherrschung. Ich habe der Dame nur mündlich Bescheid gegeben, was ich von dieser deutschen Art halte, sinnlosen verleumderischen Klatsch zu verbreiten. Dieser Klatsch jeder Art ist schon vor dem Kriege und im Kriege von oben nach unten gesickert und hat dort den Haß erzeugt, an dem wir dann zerbrochen sind.

Gott sei Dank, daß ich als steinerner Gast mit meiner Frau einen Einzeltisch habe und nicht Konversation zu machen brauche. Sonst wäre es um alle Erholung geschehen. Aus der üblichen Pensionskonversation fliegen nur einige Fetzen zu uns herüber:

"Nein, danke, Rotwein stopft."

"Ich nehme jeden Tag vier Kissinger Pillen."

"Reizen die nicht zu sehr ? Sennes-Abguß soll besser sein!"

"Mein Mann lebt nur von Pfefferminztee."

"Normacol ist doch das beste!"

Gesegnete Mahlzeit. Dann bin ich wirklich schon lieber unverstandener Wanderer in Oberbayern. Wo es da nicht gar zu einsam ist, kommt man übrigens mit Englisch gut durch. Am liebsten hätte ich auf der Hinfahrt schon in Bayreuth Halt gemacht, aber wenn unsereins, meist erst wenige Tage vor Reisebeginn, Termin und Strecke weiß, dann sind die Eintrittskarten zu den Wagner-Aufführungen schon längst ausverkauft. Wegen Oberammergau schwankte ich dann lange. Aber die vielen englischen und amerikanischen Misses, die auf der Suche nach dem "Lord Dschises", dem Herrn Jesus, herumwimmelten, haben es mir verleidet. Auch der englische Ministerpräsident Macdonald, der von der Arbeiterpartei, der innerhalb 40 Jahren nun schon zum vierten Mal das Passionsspiel aufgesucht hat, zog mich nicht. Jetzt tut es mir nachträglich leid. Aber da ist nichts mehr zu ändern.

Man ist für annähernd elf Monat wieder in Berlin angenagelt. Erster Rundgang: wieder haben manche Läden und Lokale für immer geschlossen. Andere machen unter neuem Namen und in neuem Gewande unerhörte Anstrengungen, um aufzufallen, um Kunden und Gäste zu bekommen.

Abends auf der Tauentzien. Ich ziehe gerade mein Schnupftuch aus der Tasche, da klirrt etwas zu Boden, ein Fünfmarkstück, wie es scheint. In dieser Tasche habe ich aber doch nicht . . . Nein, wirklich nicht. Es ist eine Schaumünze aus blinkendem Blech. "Sehr gutes Lokal, sind eben dagewesen!", sagen zwei Herren, die gerade neben mir aufgetaucht sind. Ich drehe das Blechding hin und her. Auf der einen Seite ein Männerpaar, auf der anderen Seite ein Frauenpaar im Tanze, - es handelt sich also um einen "schwule" Angelegenheit. Nun folge ich unauffällig den beiden Herren. Eine ihnen begegnende Dame öffnet gerade ihren "Pompadour". Da klirrt wieder etwas zu Boden. Dieselbe Szene, dieselben Worte: "Sehr gutes Lokal, sind eben dagewesen!" Ich habe den Vorgang dann noch neunmal erlebt; und jedermann steckt nachdenklich die Blechmarke ein.

Nein, ich lasse mich da nicht einfangen.

Ich will ja zu einer Tonfilm-Première in die Ufa, zu dem "Rosenmontag", nach der gleichnamigen Tragödie aus dem Leben der Vorkriegs-Leutnants von Otto Erich Hartleben. Als das Stück vor 25 Jahren erschien, wurde es heiß umstritten; es gab viele Offiziere, die sich dagegen aufbäumten, daß das Schicksal des weichmütigen jungen Rudorff etwas "typisches" sei. Aber es war ein Bombenerfolg, in den Kassenrapporten ein Seitenstück zu Meyer-Försters "Alt-Heidelberg", eben um seiner Romantik willen. Nur ist es in Wahrheit viel wahrer, ist ganz fabelhaft echt in Aufbau und Führung, und das ist uns ruhigen Beobachtern auch damals schon klar gewesen. Man mußte sich nur von dem Gedanken frei machen, daß es überall solche Oberleutnants v.Ramberg gebe, überall ein Leutnant Rudorff an ihnen zugrundegehe.

Der jetzige Tonfilm rührt wieder stark; genau so wie der vorhergegangene stumme, genau so wie das Stück vom Sprechtheater. Aber nicht die holde und so tragisch ausgehende Liebesgeschichte. Da versteht man den Oberleutnant v.Grobitzsch heute besser, der achselzuckend sagt: "Pah, wenn ich nach jeder Weibersache ein halbes Jahr Urlaub kriegen sollte!"

Nein, das, was auch den anwesenden jungen Mädchen die Pulse schneller schlagen und schließlich das Wasser in die Augen treten läßt, das ist die vergangene Herrlichkeit, die selbst aus dieser Offizierstragödie um das Ehrenwort herum herausklingt. Das ganze ernste, männliche Drum und Dran. Die eiserne Disziplin trotz allen Leutnants-Frohsinns. Dieses prachtvolle Verhältnis zwischen Regimentskommandeur und Offizierkorps. "Und dann - die Grenadiere!", wie es bei Liliencron heißt. In dem Film marschieren sie uns direkt ins Objektiv herein; und alles jauchzt.

Das alles ist so gut gesehen, daß sich schon manch einer gewundert hat, wie just Otto Erich Hartleben den "Rosenmontag" fertig bringen konnte. Gewiß, er war eine starke dichterische Begabung, geliebt und angeschwärmt auch von allen Geschwistern, obwohl er doch nur verunglückter Referendar und nachher Bohemien geworden war. Sachen wie die humorvolle und etwas verfängliche Geschichte "Vom gastfreien Pastor", die wir alle einmal schmunzelnd gelesen haben, lagen ihm besser. Vom lieben Kommiß hatte er so gut wie keine Ahnung.

Der Rosenmontag - ist auch gar nicht von ihm.

Obwohl es in allen Literaturgeschichten steht. Sondern von seinem Bruder, dem königlich preußischen Hauptmann a.D. Hartleben.

Mit dem bin ich - er ist 1928 gestorben - lange Jahre befreundet gewesen, dem ernsten, schönen, leicht angegrauten Mann, der dabei doch voll Güte, voll Verstehens, voll Humor war; im übrigen als Berliner Vertreter der Firma Krupp in den letzten Jahrzehnten genau so pflichtgetreu und in seinem Urteil unbestechlich wie einst als aktiver Offizier. Sechs Geschwister Hartleben waren in Clausthal geboren und wurden nach dem frühen Tod des Vaters im Hause des Großvaters erzogen, des Senators Angerstein in Hannover. Sie gediehen alle unter dem festen Regiment des alten Patriziers und unter der Leitung der Mutter. Allenfalls war Otto Erich das Sorgenkind, weil ihm der Genuß über der Pflicht zu stehen schien, aber er war doch nun mal der Begabte und Verwöhnte. Eines Tages kommt er, der Quintaner, zu seiner Mutter und sagt: "Ach, Mama, kann ich mir nach der Schule nicht immer eine Droschke nehmen ?"

Sein Bruder wählt die soldatische Laufbahn, wechselt die Pflichtatmosphäre in Hannover mit der einer kleinen Garnison in Elsaß-Lothringen und wird schließlich nach Köln versetzt, wo er sich als Oberleutnant auch seinen Hausstand gründet. Eine Welle rheinischen, bis dahin nie gekannten Frohsinns schlägt über ihm zusammen, auch das tragische, das so nahe dabei liegt, wird ihm aus Kameradenkreisen offenbar, die Lust zum Fabulieren erwacht, und alsbald - wird der "Rosenmontag" von der ersten bis zu letzten Zeile fertig aus einem Guß.

"Nenn' mir doch mal so einen richtigen, netten, rheinischen Mädchennamen!", bittet er seine Frau.

"Na, - Trautchen!", sagt sie sofort.

So kommt Trautchen Reimann in das Stück.

Ein aktiver Offizier kann aber nicht gut als Dramatiker in die Öffentlichkeit. Also fährt der Oberleutnant Hartleben zu seinem Bruder Otto Erich nach Andreasberg und gibt es ihm. Der bringt es unter dem eigenen Namen heraus und widmet es Liliencron. Es ist der einzige große Kassenerfolg seines Lebens gewesen. Es gibt Jahre, wo das Geld scheffelweise kommt; es ganz klein wenig - man darf eigentlich gar nicht sagen, wie viel - läßt der nominelle dem wirklichen Verfasser davon ab, denn er selbst brauche einen gehörigen Batzen in Salo am Gardasee. Hauptmann a.D. Hartleben, eine der vornehmsten Naturen, die ich je kennen gelernt habe, hat es stets abgelehnt, sich etwa einen Anwalt zu nehmen und mehr von dem Namensverfasser zu erstreiten.

Auch die Familie schwieg. Ihr war natürlich alles bekannt. Otto Erich bestätigte es selber.

Der ist nun schon seit fünfundzwanzig Jahren tot. Auch der Bruder Hauptmann a.D. ist zur großen Armee heimberufen. Da kann man schon etwas zur Korrektur der Literaturgeschichte tun.

Es waren doch schönere Zeiten damals. Heute spielen zwei Berliner Theater kommunistische Leitartikel gegen die alte Wehrmacht.
4. September 1930 (Donnerstag)


2

Die große Fremdenkolonie - Junge Tänzerinnen - Piscators Kulis - Von Cassirer zu Katzenellenbogen - Sechs Äppel - Und der Mann ? - Das Marimbophon auf dem Hof - Ein neues Flottenbuch.

Ganz bestimmt, nun weiß ich es, ich bin wieder in Berlin; denn überall hört man russisch sprechen.

Vielleicht ist das hier die größte Ansiedlung von Emigranten, die wir überhaupt in Europa haben. Und doch gibt es in Berlin im Verhältnis zur gesamten Einwohnerschaft noch nicht so viele Russen, als früher Deutsche - Deutschrussen, Balten, Reichsdeutsche - in Petersburg wohnten, wo sie fast 10 v.H. der Bevölkerung betrugen. In dem Stadtteil Wassiljewski Ostrow gab es ganze Häuserblocks, in denen man kaum je ein russisches Wort vernahm. Rundum deutsche Bäcker, Fleischer, Schuster, deutsche Pfarrer, Ärzte, Lehrer; deutsche Kirchen, deutsche Gymnasien; dazu zwei große deutsche Tageszeitungen, die eine davon unter der Leitung Paul v.Kügelgens, des Großneffen jenes "alten Mannes" Kügelgen aus dem Anhaltischen, dessen Erinnerungen seit Jahrzehnten ein deutsches Hausbuch sind.

Es gab Deutsche in Petersburg, die dort schon 25 Jahre wohnten und noch keine zehn Worte Russisch konnten. Es gab ein Kaiserlich russisches Hoftheater, das deutsch spielte.

In jenem guten alten Rußland unter Alexander II. fühlten unsere dort wohnenden Landsleute sich so wie zu Hause. Es ist ohne unser Zutun nun eine Art geschichtlicher Ausgleich, daß jetzt Zehntausende russischer Flüchtlinge in Berlin eine Heimat gefunden haben.

Manche von ihnen leben noch in den erbärmlichsten Verhältnissen. Die Not der Staatenlosen unter ihnen in den Baracken auf dem Tempelhofer Felde und in Spandau ist noch genau so groß wie damals, als ich sie - vor zwei Jahren - zu schildern unternahm. Viele aber haben sich in das bürgerliche Erwerbsleben hineingefunden und sind rangiert. Im Berliner Westen sind sie dieselben gutgekleideten Mitteleuropäer wie wir und leben meist von einander und für einander, nur zu geringem Teil auch von uns, soweit sie in der Musik, im Film, im Tanz Verwendung gefunden haben.

Namentlich ihre Tänzer und Tänzerinnen bevölkern die ganze Welt. Das Elegische und das Wilde, unvermittelt nebeneinander, liegt in ihrem Blut. Vor dem Kriege schon war der "Sterbende Schwan" der Pawlowa das Entzücken aller Erdteile. Seither hat in Berlin die Tanzschule der Eduardowa, die zuerst in Reinhardts Sommernachtstraum sinnberückend daherwirbelte, eine Menge tänzerischer Talente aufgezogen. Augenblicklich begeistert im großen Schauspielhaus die blutjunge Tamara Desni (Desnizkaja heißt sie in Wirklichkeit russisch) die Zuschauer; sie ist die Tochter der bekannten Filmdiva Xenia Desni. Bis zum letzten Tanzbums herunter: überall junge Russinnen. Übrigens, Gott sei's geklagt, auch bis zur letzten eindeutigen Spelunke in Marseille oder Konstantinopel, in die Matrosen einfallen, die nach langer Seereise wieder einmal Mädchenfleisch sehen wollen.

In den Berliner Tanzstätten zweiten Ranges, besonders in der Friedrichstadt, werden die heute üblichen sogenannten Nacktskulpturen, wie sie schon jede europäische Mittelstadt kennt, nur Spanien und Italien nicht, meist von Berlinerinnen gestellt, die dafür einen Taler oder gar nur 2 Mark täglich bekommen, während wirklich gut ausgebildete Solotänzerinnen vielfach russischer Herkunft sind. Da haben wir beispielsweise die Schwestern Petrowa, 21 und 17 Jahre alt, bildschön, die, hätten wir andere Zeiten, wohl schon längst in Marmor oder Bronze in den Kunstläden stünden wie einst die Cléo de Mérode. Jetzt tanzen sie für 7 Mark täglich in einem Kabarett, mit der Verpflichtung, von ½5 Uhr nachmittags bis 3 Uhr morgens anwesend und vor und nach ihrer Nummer bereit zu sein, mit dem oder jenem Gast eine Flasche Wein zu trinken.

"Wir hatten auch schon in Oslo ein längeres Engagement", sagen sie, "aber so etwas wurde in Norwegen von uns nicht verlangt."

Wenn ich von Russen und Russinnen in Berlin spreche, so meine ich die Emigranten, die durch den Umsturz heimatlos geworden sind, wirklich russische Emigranten, vor dem Bolschewismus Geflüchtete. Auch der Vater der Schwestern Petrowa, die mit ihrer Mutter in Berlin ansässig geworden sind, ist irgendwo verschollen; einst war er Gymnasialprofessor. Die Bolschewiken selbst machen in Berlin auch eine sehr stattliche Zahl aus, nur sehen sie, auch wenn sie russisch sprechen, gar nicht russisch aus, sondern eben nur "östlich", und sind entweder in den Luxuslokalen des Westens, etwa im "Tscherkeß", oder in der Grenadierstraße (noch vor ihrem Aufstieg) oder - bei Piscator zu finden, dem kommunistischen Theatermann.

In dem zur Zeit von ihm gepachteten Lessingtheater werden jetzt "Des Kaisers Kulis" von Plivier gegeben. Den Namen dieses Verfassers - aber Piscator selbst hat sein Stück nach Pliviers Roman stark umfrisiert - bitte übrigens nicht französisch, sondern deutsch-holländisch auszusprechen; vom Großvater her stammt der alte Matrose Plivier aus Amsterdam. Des Kaisers Kulis - gemeint sind die Mannschaften unserer alten kaiserlichen Marine - erlebten ihre Erstaufführung schon vor Wochen, als ich noch fern von Berlin weilte, aber ich habe sie mir dieser Tage noch nachträglich angesehen. Nicht etwa vom spärlich besetzten Parkett aus, in dem die bereits arrivierten Bolschewiken und Kurfürstendammer saßen. Nein, ich bin für eine Mark auf die Galerie gegangen, in den 3. Rang, ganz oben in den "Olymp", den ich seit meinen Jungenjahren - aber da ging ich zu "Wilhelm Tell" oder zur "Jungfrau von Orleans" - kaum mehr gesehen habe. Nur da, dachte ich, träfe ich es diesmal ganz echt. Eine Expedition, die von den Meinen nur mit Sorge angesehen wurde; denn da werde doch vielleicht (da muß ich wirklich lachen) mit Stuhlbeinen gedroschen.

Kein Gedanke. Es ist hundeleer.

Im 2. Rang von den vier Sitzreihen nur die Hälfte der ersten besetzt, im 3. Rang nicht viel mehr; das ist also keine erhitzende, sondern eine erkältende Angelegenheit.

Hinter mir wird von Schwarzgelockten russisch gesprochen, in einiger Entfernung rechts von mir auch, nur links sitzt einsam ein junger Deutscher mit blondem Schopf, der fast wie der Boxer Breitensträter aussieht, etwas zarter freilich.

Am Schluß der Aufführung, die darin ausklingt, daß der nationale Verteidigungskrieg ein Verbrechen, die Revolution eine Schlappheit war, der kommende blutige Bürgerkrieg aber das einzig wahre sei, gibt es fanatischen Beifall. Bis dahin lähmende Stille, öde Langeweile. Die Aufführung, mit einem kindlich primitiven szenisch-maschinellen Apparat, wird nämlich immer wieder durch Filmtexte unterbrochen, auf denen uns auseinandergesetzt wird, wieviel ein Torpedoschuß koste oder wieviel Krupp an den Kanonen verdient habe oder wieviel Mannschaften auf den einzelnen Schiffen in der Skagerrakschlacht (die in einen deutschen Sieg "umgelogen" worden sei) ihren Tode gefunden hätten. Flugblatt, Aufruf, Statistik, Statistik, Statistik. Und diese mit sehr vielen, na, sagen wir, Druckfehlern, so der ungeheuerlichen Behauptung, daß der große Sowjetfeind England jetzt 120 000 Kriegsschiffe baue. Es ist zum Auswachsen. Man gähnt.

Der erste Akt, in der Wilhelmshavener Matrosenkneipe, mit dem wüsten Frauenzimmer, das den Namen Gonokokke führt, ist sehr "realistisch", das übrige - die Szenen auf dem schematisch angedeuteten Linienschiff und vor dem Kriegsgerichtsrat - äußerst kümmerlich, die Behauptung, daß es den meuternden Heizern nur auf besseres Essen und die Erzwingung eines "Verständigungsfriedens" angekommen sei, hinterläßt einen faden Nachgeschmack, und sogar der letzte Reißer, das Niederholen der kaiserlichen Kriegsflagge und das Hissen des roten Tuches, peitscht die ermüdeten Zuschauer nicht hoch. Man fragt sich nach diesem Beweis der Talentlosigkeit Plivier-Piscators vergeblich: wozu das alles? Wer hat ein Interesse daran, Deutsches zu verunglimpfen? Wer bezahlt das leere Theater?

Piscator bezahlt es nicht. Seine luxuriöse Wohnung ist vor den Gerichtsvollziehern sicher. Aber Piscators Kulis,, die Schauspieler, waren bei seinen bisherigen Halb- und Dreiviertelpleiten immer stark die Leidtragenden. Er selbst hatte alsbald immer wieder Geld für neue rote Experimente. Ob es von Cassirer oder Weil oder Katzenellenbogen kam, war ihm gleich. Die Hauptsache: ein Aufruf Lenins wird zu Beginn des Stückes auf die Leinewand projiziert. Das Theater habe nur die Aufgabe, die Straßenschlacht vorzutreiben.

Die für solch ein Programm Geld hergeben, wollen aber selber weder schlachten noch vor allem geschlachtet werden. Der in Selbstmord geendete Salonkommunist Cassirer, der bekannte Berliner Kunsthändler, war persönlich durchaus ein Drückeberger. Seine Witwe, die Schauspielerin Tilla Durieux, die aus einer in Hamburg ansässigen alten Refugiés-Familie stammt, hat in einem Bekenntnisroman auseinandergesetzt, wie schwierig für sie das Zusammenleben mit einem Juden gewesen sei. Trotzdem hat sie jetzt ihren Freund Katzenellenbogen geheiratet, den Finanzgewaltigen der Likör- und Bierindustrie. Dessen geschiedene Frau aber, Estella Katzenellenbogen, reicht Herrn Veilchenfeldt die Hand, der Mitinhaber der Cassirerschen Kunsthandlung ist. Die Geschichte geht also bei diesen Berliner Edelkommunisten - der vorher genannte Weil ist Frankfurter - einigermaßen im Kreise herum; das Geld bleibt sozusagen in der Familie, das ist das wesentliche an der Geschichte.

Natürlich führt nicht etwa nur die Politik diese Menschen zusammen. Es muß noch etwas anderes stark Anziehendes da vorhanden sein. Also nach heutiger Ausdrucksweise: sex appeal. Was der Berliner mit "sechs Äppel" verdeutscht. Käthe Dorsch ist beispielsweise nach seiner Meinung sehr lieb und nett, hat aber gar keinen Appel; die alte Ottilie Godeffroy aber (Tilla Durieux) habe immer noch mindestens acht Äppel. Ganz früher sagte man von einer Frau mit starker Anziehungskraft auf das männliche Geschlecht, sie hätte "ein gewisses Etwas". Eine schon rüdere Zeit sagt: sie hat Wildgeruch. Und heute sind wir auf das englische Modewort dafür herausgekommen und brauchen es kaltschnäuzig überall, obwohl in dieser Einschätzung der Frau lediglich nach "Äppeln" doch etwas Herabwürdigendes liegt.

Warum werden umgekehrt die Männer nicht auch so rangiert? Ich glaube, weil die Frauen im großen Durchschnitt immer noch anständiger und schamhafter sind, sich auch lieber vorreden, daß die führende starke Persönlichkeit oder die Güte oder das Talent sie anziehen, nicht irgendein Akkord im Sexus. Außerdem ändert sich da im Laufe der Zeit das Ideal; als unsere Mütter jung waren, da faszinierte noch der Frauenarzt mit dem schönen Vollbart oder irgendein Svengali mit hypnotischem Blick, während man heute über solche Erscheinungen lächelt.

Eine kurze Zeit, jene vier Jahre während des Krieges hindurch, war noch der feldgraue "Held" der Mann, der das gewisse Etwas hatte. Nur ihm selber war die Bezeichnung als "Held" meist peinlich und schmerzlich; daheim wollte er nur Mensch sein.

Vielleicht kommen einst wieder Tage, wo die Frauen fragen, ob wir auch im September 1930 unseren Mann gestanden haben, und wo ihre Augen hart und böse funkeln werden, wenn sie von dem und jenem hören, er habe seine Kraft verzettelt, statt die große Entscheidung zwischen links und rechts vorzubereiten.

Das Männliche zieht an, nicht das Schwankende. In meinem Hause und in meiner Umgebung wissen wir alle unseren geraden Weg, der seit 1918 unverändert geblieben ist. Wir wollen heraus aus dem roten Sumpf, wir folgen niemand, der sich mit ihm abfindet. Je lauter die Not Deutschlands zum Himmel schreit, desto deutlicher wird uns das Ziel, desto dringender der Vormarsch.

Eben erst habe ich mit einem Blinden darüber gesprochen, der doch mehr ein Sehender ist als Millionen von Volksgenossen, die noch Augen zum Lesen haben. Alle fünf Wochen etwa erscheint er auf unserem Hof und in der Nachbarschaft, geführt von einer Begleiterin, die dann die gespendeten Groschen aufsammelt, und spielt zur Freude aller Hörer auf seinem Marimbophon. Schöne Sachen, aus Carmen, Troubadour, Mignon, Cavaleria, Meistersingern, nicht moderne Schlager. Er hat ein Berliner Technikum besucht, war in einem Ingenieurbureau angestellt, im Kriege Monteur bei einer Seefliegerabteilung in Flandern, wo ihm die linke Hand verstümmelt wurde und eine schwere Gasvergiftung ihn auf langes Krankenlager warf. Nach dem Kriege - er sagt, infolge der Gaskrankheit - erblindete er. Seine Frau verließ ihn. Der Staat, der willig Franzosen und Griechen und Haitianern Tribute zahlt, hat kein Geld, um ihm eine Pflegerin zu stellen. Für sich und sie muß er das Geld erspielen. Er hat ein Grammophon, auf dem er sich neue Platten vorspielen läßt, das setzt er im Kopfe für sein Instrument um, übt sich die Musik ein und bringt sie auf die Höfe.

Ich habe ein extra großes Scherflein gespendet, bin dann mitgegangen und habe überall feststellen können, wie karg heute gegeben wird. Da war es vor ein paar Jahren noch anders, als ich selber einmal, um dieses Milieu zu studieren, einen Tag lang in alter Kluft durch Berlin NO mit einem Wimmerkasten zog.

Dieser Hofmusikant aber gehört nicht zu den Piscatorgläubigen. Die schönste Freude, die ich ihm machen kann, ist das Geschenk eines neuen Buches, das bei Lehmann in München soeben herausgekommen ist: "Die Hochseeflotte ist ausgelaufen!" von Peter Cornelissen. Ein Deckname. Ich kenne den wackeren Korvettenkapitän a.D., der das Buch geschrieben hat, und bin stolz auf diese Bekanntschaft. Endlich einmal "das" Kriegsbuch auch von unserer Marine. Da zerflattert der ganze Piscatorspuk.
11. September 1930 (Donnerstag)


3

Sonderbar ruhige Wahl - Erwacht und ausgeschlafen - "Partei gegen Alkohol" - Das große Schlottern - Terfren Laila prophezeit - Der falsche Doktor - Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer - Unsere Sendung.

Sonst war es wie ein Rausch. Lastautos voll von schreienden, gestikulierenden Menschen, geschwungenen Fahnen, hinausgefeuerten ganzen Paketen von Flugblättern, die sehr bald als greulicher Kehrichthaufen Straße und Bürgersteig bedeckten. Das waren die Berliner Wahltage.

Diesmal ist die Reichshauptstadt aber wie ausgewechselt.

Der Ozean von Druckerschwärze und Papier brüllt nicht. Nur leise Wellen schlagen an den Bord. Man wird nicht von Tobenden mit Flugblättern beworfen, sondern bekommt still eine mehrseitige Wahlzeitung irgend einer Partei angeboten. Man lehnt entweder ab oder nimmt sie mit nach Hause.

Noch nie waren seit 1919 vor und nach einer Wahl die Berliner Straßen so sauber.

Am Sonntag selbst ist es fast feierlich, nirgends wird gegröhlt, nirgends belagern Apachenhorden ein Wahllokal. Und jeder einem Begegnende hat ein versonnenes Lächeln im Gesicht, in dem geschrieben steht:

"Ich habe gewählt! Wen? Ihr habt keine Ahnung!"

Die berufsmäßigen Aufwiegler haben es schwer. Das Volk ist erwacht und ausgeschlafen, es taumelt nicht mehr daher wie ehedem, wenn auch Millionen das rote Brett vor dem Kopfe noch nicht losbekommen haben.

Es ist eine ganz fabelhafte Veränderung. Die Lokalreporter haben es freilich nicht bemerkt, sie verzeichnen nur gleichmütig wie immer, wieviel polizeilich Sistierte es in der Wahlnacht gegeben hat. Das ist aber diesmal nicht das Charakteristische; einige hundert Sistierungen gibt es alljährlich auch zu Silvester in der Viermillionenstadt. Es ist fast unheimlich, das stellt die ausländische Presse fest, wie zielbewußt die Massen diesmal gewählt haben. Hallende Hammerschläge an verrammelte Tore! Das deutsche Volk will hinaus in die Freiheit, hinaus aus der doppelten Umklammerung durch die heimische und die fremde Internationale. Oder, anders herum: fast zwei Drittel der Nation sind bereit, dem Schwindel des demokratischen Parlamentarismus, so oder so, ein Ende zu machen.

Natürlich gibt es auch noch Nichtausgeschlafene. Die trotten immer noch hinter den Bonzen her oder wählen, wenn sie besonders pfiffig zu sein glauben, irgendeine neue Splitterpartei. Da klebt an unserer Anschlagsäule ein Wahlplakat der "Partei der Christen, Biochemiker und Homöopathen" und wird von alten Damen lorgnettiert. Sie ist wie auch noch zwei oder drei ähnlich kuriose klanglos unter den Tisch gefallen, die für sie abgegebenen Stimmen sind verloren. Auch die etwas stärkeren Heerhaufen der aus den großen Parteien Ausgebrochenen haben schlechte Geschäfte gemacht; die Volkskonservativen haben in keinem einzigen der 35 deutschen Wahlkreise die Mindestanzahl von 60 000 Stimmen auch nur für einen ihrer Kandidaten erreicht.

In meinem Wahlbezirk, in dem ich abends die Zählung mitmache, hat es unter den 1094 gültigen Stimmen 2 für die "Partei gegen den Alkohol" gegeben.

Ich bin's wirklich nicht gewesen!

Aber ich bringe keinen Spott über die beiden Sonderlinge zu Wege, obwohl sie und ihre paar hundert Mitläufer im Reiche völlig unnütz zur Urne gegangen sind, ihr Votum, um den Ausdruck vom Turf zu gebrauchen, nur unter "Ferner liefen" untergeht. Vielleicht sind es zwei abgehärmte Frauen gewesen, die Rettung ihrer Männer vor dem Alkoholteufel durch die neue Partei erhofften. Doch es ist alles eitel. Kein kleines Grüppchen kann uns helfen, für welche Not es sich auch spezialisiert. Der große Aufmarsch um die Entscheidung zwischen rechts und links hat endlich begonnen, und was noch in der Mitte wimmelt, das wird zerrieben. Klarer als vielfach sonstwo ist dies in der Reichshauptstadt geworden.

Am Montag in Berlin-West, wo es am östlichsten ist, graues Entsetzen. Die Pantalons schlottern. "Kriegen wir nu Progrome?", fragt eine Rundliche, die in bebenden Fingern ein Blatt mit den Wahlergebnissen hält. Ein junger Arbeiter, der neben der Gruppe steht, hat es gehört. Er sagt seelenruhig und etwas höhnisch:

"Wischen Sie Ihre Tränen man ab, ich kann Ihnen ein Stück Schmirgelpapier dazu geben!"

Die Antwort der Frau ist keine Schimpfkanonade, sondern ein stilles Sichdrücken.

Gewisse Leute in Berlin sind in diesen Tagen überhaupt auffällig bescheiden geworden. Und das Entente-Ausland, nervös gemacht durch den deutschen Ruck nach rechts, eröffnet, zum ersten Male seit dem Versailler Frieden, die Diskussion darüber, ob er nicht am Ende irgendwie abgemildert werden müsse. Nur unsere eigene bisherige Regierung, die der Herren Wirth und Genossen, tut noch so, als wenn sich nichts verändert hätte. Es gibt die bekannte Wanzentaktik des Sichtotstellens. Umgekehrt hält das Ministerium Wirth-Treviranus sich lebendig, obwohl es erschlagen ist, und erhofft seine Galvanisierung durch die Sozialdemokratie, die im neuen Reichstag übrigens nicht mehr 31, sondern nur noch 25 Prozent der Gesamtzahl der Abgeordneten umfaßt.

Was tut man in der Angst?

Man läuft zur Kartenlegerin oder zum Hellseher.

Die Angst der Ullstein-Berliner ist so groß, daß sie sich eine Prophetin aus Singapore, die zufällig "greifbar" in Europa lagert, telegraphisch verschrieben haben. Sie heißt mit ihrem Sehernamen Terfren Laila, ist bereits in Berlin eingetroffen und hat dem "prominenten deutschen Politiker", der "aufs äußerste beunruhigt durch die gegenwärtige Situation" sich an sie gewendet hat, schon vorläufig Trost gespendet. Also: im Dezember gibt es einen wirtschaftlich-industriellen Aufstieg, im Frühjahr ist das Arbeitslosenproblem restlos gelöst, und bald darauf werden die Nationalsozialisten, nach einem verunglückten Putsch oder Pogrom, "von der Bildfläche verschwinden".

Da kann der Kurfürstendamm ja aufatmen. Terfren Laila hat ihr Honorar ehrlich verdient. Ihre eigentlichen, umfassenden Aussagen will sie nach sechstägigem Fasten in völligem Trancezustand erst anfangs nächster Woche machen, in einer Sitzung, die von führenden politischen Persönlichkeiten kontrolliert werden soll. Also nur Geduld; wenn nichts anderes mehr hilft, hilft die Prophetin aus dem fernen Osten.

Irgendein Schwindel muß helfen. Das Volk vergißt ihn nachher schnell, kann ihn nicht nachprüfen, aber der Eindruck der Sensation, des immer wiederholten, stets veränderten Schwindels bleibt; damit rechnen unsere Internationalisten. Soll die Ära Kutisker-Barmat-Sklarek vertuscht werden, so erfindet man die Verleumdung, der Kaiser habe, weil er privatim davon geschäftlichen Vorteil gehabt hätte, im Bunde mit Krupp die deutsche Artillerie - mit schlechten Kanonen beliefert. Ein anderes Ullstein-Blatt schrieb im vorigen Jahre, Hugenberg sei politisch und persönlich erledigt, es bleibe ihm nach dem Zusammenbruch nur noch übrig, sein verfehltes Leben durch Selbstmord zu beenden. Und nun vor den Wahlen verbreitete die gesamte rote Presse das Märchen, der nationalsozialistische Minister Dr. Frick sei als Schwindler entlarvt, irgendeine Doktor-Dissertation von ihm existiere nicht.

Als Berliner Plauderer erzählte man lieber vergnüglichere Dinge, aus dem nichtpolitischen "Strudel" der Weltstadt, aber in dieser politischen Wahlwoche muß einmal auch die andere Bilanz aufgemacht werden. Und da will ich als Gegenstück zu dem Märchen über Dr. Frick die wahre Geschichte von einem falschen Doktor berichten, die von der Presse der Linken seinerzeit selbstverständlich mit Stillschweigen übergangen ist.

Also im preußischen Landwirtschaftsministerium Braun wirkt der "Dr." Grimme als Referent und regierte so unbekümmert - natürlich sozialistisch - ins Land hinein, obwohl er dazu keine amtliche Legitimation in seiner Stellung besaß, daß die ältesten Ministerialräte in helle Wut gerieten. Sie stöberten in seinen Personalakten, und, siehe da, sie waren alle gefälscht, sämtliche Prüfungszeugnisse, ja sogar die Geburtsurkunde. Der Mann - übrigens sehr geschickt, sehr befähigt - war schon als Untersekundaner aus dem Gymnasium geschaßt worden und hatte seither keine Schule und keine Universität besucht. Aber in der Uniform eines braven Kriegers vom Grenadierregiment 80 stellte sich 1915 ein junger Herr Grimme, angeblich alter Student, auf der Universität vor und erklärte: er habe gerade drei Tage Urlaub, er müsse gleich wieder zurück zu seinem Regiment an die Marne, da erwarte ihn wohl der Heldentod, aber vorher wolle er, in diesen drei Tagen, noch unbedingt seinen Not-Doktor machen.

Eine Anfrage beim Ersatzbataillon ergab, daß das Regiment weder an der Marne stünde noch einen Kriegsfreiwilligen namens Grimme habe. Der junge Mann blitzte also ab. Er fertigte sich dafür das Doktordiplom selber an, das er dann später neben den gefälschten übrigen Zeugnissen und, selbstverständlich, dem sozialdemokratischen Parteibuch als Hauptsache, dem Ministerium Braun vorlegte. Als dies alles herauskam, ließ man ihn still verschwinden. Kein Staatsanwalt wurde mit einem Verfahren wider den falschen Doktor bemüht.

Das dumpfe Gefühl, daß wir zwölf Jahre lang beschwindelt, ausgesogen, in den Sumpf und ins Elend geführt worden sind, ist nun zum erstenmal richtig zum Durchbruch gekommen. Wir wollen die sozialistische Mißwirtschaft nicht mehr. Auch die Hilfsstellung der Mittelparteien dabei soll aufhören. Aber die Regierung verstopft sich noch die Ohren. Immer noch bramarbasiert der derzeitige Minister Josef Wirth im Rundfunk für die Große Koalition. Wenn er das noch eine Weile so betreibt, wenn das Zentrum und die übrigen Mittelparteien jetzt nicht nach rechts umlernen, dann wird die nächste Wahl ihnen das Handwerk vollends legen müssen. Die Rechte wird dann zur Lawine.

Die Art, wie die "derzeitigen" Herren sich am Rundfunk erlustieren, der doch parteilos und kulturfördernd sein soll, ist schamlos. Der Rundfunk dient immer mehr der roten Propaganda und dem Kulturbolschewismus. Der Freund der Marinemeuterer, Dittmann, darf immer wieder zu uns sprechen. In einer Werberede von 25 Minuten wird der tote Liebknecht verherrlicht. Tränenselig werden die Zuchthausbriefe eines Vatermörders verlesen, der nur den einzigen Vorzug hat, Halsmann zu heißen. Ein Parteibuch-Professor macht Reklame für einen sozialistischen Radio-Bund. In einer Abendunterhaltung über "Des Kaisers neue Kleider" wird in einer ganz infamen Weise die monarchische Idee verrissen und die Geschichte der Kriegsursachen gefälscht. Irgend eine kleine Hetze wird fast in jeden Vortrag von den Zerstörenden eingeschmuggelt.

Daß da den Hörern, die das doch bezahlen müssen, und es sind fürstliche Honorare, die die Intellektuellen der Linken bekommen, die Geduld reißt, ist zu verstehen.

Wie es heißt, haben im letzten Halbjahr viele Tausende gekündigt. Damit schafft man es aber nicht, sondern nur, genau so wie in der parlamentarischen Politik, wenn man eine Macht wird. Man wird es nicht durch gesondertes Abbestellen, sondern durch Zusammenschluß der bleibenden Hörer. In diesen Tagen hat sich der Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer für Kultur und Volkstum - Geschäftsstelle: Berlin SW68, Wilhelmstraße 30/31 - gebildet, der alle deutschdenkenden Hörer zu einem Massenheer sammeln will, das seine Ansprüche dann auch durchsetzt. Ich bin kein Vereinsmeier. Ich bin durch und durch antiparlamentarisch eingestellt. Aber diesem "Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer" trete ich noch heute bei, wie ich ja auch einer Partei meine Beiträge zahle, weil ich einsehe, daß in einer Zeit der vorgeblichen Massenherrschaft die wirkliche Bonzenherrschaft nur durch eine Massenbewegung gebrochen werden kann. Der Monatsbeitrag in dem Reichsverband beträgt, nach einer einmaligen Aufnahmegebühr von 1 Mark, ebenfalls nur 1 Mark, wofür man allwöchentlich die jetzt neu erscheinende Zeitschrift "Der deutsche Sender" bekommt, die alle deutschen Programme und die wesentlichen europäischen enthält, dazu guten Unterhaltungsstoff nebst Romanbeilage, gute Bilder und vor allem die Tendenz für alles gut Deutsche gegen den Kulturbolschewismus. Ich hoffe, daß Tausende meiner Leser desgleichen tun, auch dem Reichsverband beitreten. Sollten wir es nicht schaffen, ihn binnen Jahresfrist auf eine Million Mitglieder zu bringen und damit zu einer unwiderstehlichen Macht zu machen? "Das wäre gelacht!", sagt der Berliner.

Also vorwärts. Vorwärts auf jedem Gebiet, in konzentrischem Vormarsch. Die Organisation deutschdenkender Hörer kann nebenbei zur Wohltäterin zahlreicher Volksgenossen werden. Wir haben viele hervorragende Vortragsmeister, Gelehrte, Literaten, Dichter, Erfinder, Musiker, Humoristen, die heute trotz aller Begabung in kärglichsten Verhältnissen leben. Beim Rundfunk, der monatlich mehrere Millionen Mark Honorare zur Verfügung hat, kommen sie nicht an. Der ist nur Futterkrippe für volksfremde Intellektuelle und für Parteibuchmenschen. Das kann anders werden, wenn eine Millionenfaust dreinschlägt.

Kürzlich ist bei einer Haussuchung zufällig die gedruckte "Anweisung für den Straßenkampf" gefunden worden, die geheime Felddienstordnung der Rotfrontler. Sehr militärisch, sehr ordentlich. Darin allerdings auch das offene Eingeständnis, daß der revolutionäre Zivilist in diesem Kampfe nicht vollwertig sei; ihrer zehn entsprächen nur der Kampfkraft eines einzigen Reichswehrsoldaten. Aber von der Wahl erhofften die Roten ihre Verdopplung, deren Mobilmachung und Dirigierung dann einfach durch Rundfunk erfolgen könne:

"Nach dem 15. September steht in Berlin der rote Sender!"

Es ist anders gekommen. Sorgen wir dafür, daß unsere deutsche Sendung, am 14. September zum erstenmal durchgebrochen, zum Siege gelangt, auf allen Gebieten.
18. September 1930 (Donnerstag)



Jahresinhalt

Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts