"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 31 - 33
3. bis 16. April 1930


31

Bilder voll Liebreiz - Wir schwärmen gemeinsam - Niddy Impekoven - Sex Appeal - "Blauer Engel" und "Letzte Kompagnie" - Der Tonfilm siegt - Achtung, Aufnahme! - Die imitierte Gans vorm Mikrofon.

Auf dem Schreibtisch meiner Frau steht ein Bildchen von Niddy Impekoven, mit ein paar lieben und tiefen Worten der Künstlerin und ihrer Unterschrift darunter. In der Schublade liegt, auch mit eigenhändigem Namenszug, aber für einen Empfänger aus verklungenem Jahrhundert bestimmt, eine Gravure der letzten Herzogin von Kurland, der schönsten Frau ihrer Tage. Daneben aus der Reihe unserer Mitlebenden eine Photographie Lucie Höflichs aus der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren und eine der Tänzerin Saharet aus deren Jugendblüte. Und noch manche andere. In der Geldtasche aber trägt meine Frau zur ständigen Erquickung ein Bildchen von Mady Christians bei sich.

Es ist angenehm und praktisch, eine Frau zu haben, die begeistert Dumas' Lady Hamilton liest und nicht nur für alle Schönen der Vergangenheit, sondern auch für die Schönen der Gegenwart schwärmt; man kann dann straflos ein bißchen mitschwärmen.

Nach Jahren des Nichtsehens sitze ich nun wieder einmal eine knappe halbe Stunde der jungen Frau Niddy Impekoven gegenüber und habe das beglückende Gefühl des Dahinschwebens in reiner holder Schwärmerei. Man dünkt sich so entsühnt, wenn man diesem Kinde in die dunkelblauen Augen schaut, diesem unfangbaren Elf, der im nächsten Augenblick in selige Höhen emporgleiten könnte. Ist dieses zarte Pastellbild wirklich von Fleisch und Blut ? Sicherlich. Wir plaudern ja miteinander von alltäglichen Dingen, von Reisen und Rauchen; von der Kunst, die für sie ein Gemisch von Gottesdienst und Schelmerei ist, nur wenig. Sie hat ja einmal, nur ein bißchen hastig, eine dreimonatliche Reise um die Erde gemacht, als der übliche verfrachtete Passagier, etwas ängstlich so allein als blutjunges Ding, gelegentlich aufatmend bei guten Leuten, so der Familie des Botschafters Solf in Tokio. Da hat sie alle Schönheiten der Welt eingesogen. Nun will sie der Welt ihre Anmut bringen. Im August reist sie nach Indien, wird in zwölf Städten der großen Sundainseln auftreten, später vielleicht noch in Shanghai und anderswo. Und ich weiß: alle Menschen rund um den Erdball werden sagen, ein so wunderseliges Erlebnis konnte ihnen nur Deutschland bescheren.

Morgen tanzt Niddy Impekoven - es ist eine wiederum ausverkaufte Zugabe - bei ihrem diesjährigen Hiersein das vierte Mal in Berlin. Die Meinigen und ich sind immer da; nicht nur die Augen trinken sich satt, nicht nur in den Ohren schwingt Sphärenharmonie, sondern auch die Seelen sind von etwas erfüllt, wofür es keine irdischen Maßstäbe gibt.

Ich beneide die Hamburger, denen sie demnächst einmal ihre große Kunst schenkt. Ich beneide ihre musikalische Begleiterin, die feinfühlige Siemens, und auch Niddy Impekovens junge Schwester, die wohl beide auf die große Asienreise mitdürfen. Ich beneide den kleinen vierhundertjährigen verhutzelten Broncebuddha, den sie ständig bei sich hat. Und ich beneide nicht zum wenigsten Hans Frentz, den Schriftsteller, Schwiegersohn Hermann Sudermanns, der in seinem Buche "Niddy Impekoven und ihre Tänze", mit 34 Abbildungen geschmückt, im Urban-Verlag in Freiburg i.B. erschienen, in klare Worte alles das über die Künstlerin hat fassen können, wo unsereins versagt und ins Stammeln gerät.

Und doch möchte ich Niddy Impekoven der ganzen Welt schenken, damit die ganze Welt darob besser würde. Berlin ist begnadet, weil hier im November 1904, mitten in der Stadt, in der Friedrichstraße Nr. 218 im 5. Stock, Niddy zufällig geboren wurde. Ihr Programm hat sie in den letzten Jahren vertieft und erweitert, bringt zum Schluß wieder die lieben schalkhaften Sachen, davor aber verschiedenes Neues, schwermütig und doch erlösend; ihr "Lamento" hat diesmal den tiefsten Eindruck auf uns gemacht. Ich möchte fast sagen: an der Aufnahmefähigkeit, die jemand für diese Kunst hat oder nicht hat, kann man ermessen, ob er eine Seele hat oder nicht hat. Es fehlt nicht viel, so spränge ich den Leuten, die in der Nachbarloge in der "Komödie" am Kurfürstendamm sitzen, an die Kehle. Von da her ertönt nämlich nach Schluß des ersten Teiles der Darbietung eine fette Stimme:

"Hatse Sex Appeal ? Hatse nich! Wozu tanztse denn ?"

Das ist eine abgrundtiefe Gemeinheit von der perlenbehängten dicken Frau.

Da gefallen mir die beiden jungen Studenten viel besser, denen - auch bei den Schelmentänzen - die Tränen der Erschütterung in den Augen stehen. Die ganze Sinnenwelt versinkt vor ihnen und erscheint ihnen in diesem Augenblick als Unrat. Ist es wirklich immer nötig, daß Geschlechtsreiz, Sex Appeal, von einem schönen jungen Weibe ausgeht ? Mag sie einen Mann, einen Geliebten haben. Kann sie für uns andere nicht ein scheues Heiligtum sein ? Es ist schlimm, wenn wir "Helenen in jedem Weibe" sehen müssen. Aber darauf sind wir heute eingestellt, Theater, Kino, Variété unterstreichen die Technik des Sichkriegens, das Wie und Warum.

Mit Ausnahmen natürlich. In dem "Blauen Engel", der neuen Meisterleistung Emil Jannings', wirft der Sex Appeal in seiner plebejischsten Form einen ehrenfesten Mann aus dem Geleise und läßt ihn tragisch enden. In der "Letzten Kompagnie", auch einem Tonfilm der Ufa, in dem Konrad Veidt seine sonstigen Leistungen bei weitem übertrifft, ist der Sex Appeal nur in einer leisen Andeutung zarter Mädchengüte zu finden. Hier wie dort kein "glückliches Ende". Also im Grunde nichts für den Schaupöbel, der starken Nervenreiz oder angenehme Entspannung sucht, aber nichts Nachdenkliches will. Im "Blauen Engel" muß er sich aber Gedanken über Lola-Lulu-Pandora machen, über das Leid, das durch sie über die thumben Männer kommt, und in der "Letzten Kompagnie" über die Opferidee des Krieges, daß ihrer dreizehn auf verlorenem Posten ausharren und sterben, um ihrer zweitausend zu retten. Trotzdem machen beide Tonfilme ihren großen Siegesweg; denn sie sind unerhört künstlerisch aufgebaut, mit Bildern von berückender Schönheit.

Nur mit innerem Widerstreben bin ich früher manchmal in den stummen Film gegangen. Aber Gott sei Dank, er war wenigstens stumm. Man entrann dem Großstadtlärm in das tiefe Schweigen und Anschauen; die Begleitmusik überhörte man. Mit noch größerer Abneigung ließ ich mich dann in die Tonfilme zerren. Also selbst im Saale, im festlichen Saale, mußte man jetzt die Straßenbahn in den Kurven nicht nur sehen, sondern auch kreischen hören, die Eisenbahn daherdonnern, die Schiffssirenen heulen, und selbst in sonst sehr stillen Szenen mußte man jemand auf Holzpantinen dahertappen oder Hähne krähen, Hunde bellen hören. Jedes nur denkbare Geräusch wurde uns vorgesetzt, und alles hatte einen überdies heiseren, nasalen Grammophonton.

Nun aber kommt der Tonfilm aus seinen Kinderkrankheiten heraus. Was ich für schier unmöglich hielt, wird doch schließlich Wahrheit, nämlich der vollkommene, wirklichkeitsgetreue ganz reine Ton. Im Laboratorium ist er es schon heute. In der Fabrikation noch nicht ganz. Jedenfalls aber setzt sich das Hörspiel auf der Leinewand durch.

Irgendein kleines Kinotheater von vielleicht 200 Plätzen zu billigsten Preisen kann sich das nicht leisten, denn die Einrichtung der Apparatur kosten annähernd 60 000 Mark. Also werden sich die Kleinen noch eine Weile mit Plattenmusik und Plattendialog behelfen und nachher, wenn jedermann in die "hundertprozentigen" Tonfilme läuft, die Bude überhaupt zumachen.

Nur die Großen bleiben noch; und die Kinokapellen bleiben auf der Strecke.

Die Technik, die in Deutschland unter Führung der Klangfilm-GmbH. und der Ufa, hat sich in schnellem Wachstum entwickelt. Die Apparaturen der Klangfilm-Gesellschaft arbeiten heute, selbst bei nicht geschultem Personal, ohne Panne wochenlang Tag und Nacht hindurch in ununterbrochener Schicht; und die riesigen Aufnahmeateliers der Ufa in Neubabelsberg sind so schalldicht, daß in dem einen der ganze Schlachtenlärm der "Letzten Kompagnie" dahertobt, daneben aber ungestört die intimsten Szenen des "Blauen Engels" mit hauchzarten Seufzern aufgenommen werden können. Überall ein Gewirr von ungezählten Kabeln in Gummischläuchen. Es ist alles ungeheuer maschinell geworden; überfährt in der Schlacht eine Kanone ein wichtiges Kabel, so kann unter Umständen die ganze Aufnahme dadurch unterbrochen sein, muß man von neuem anfangen. Es ist auf hundert Dinge zu achten, die man früher nicht kannte. Auch die zischenden Bogenlampen sind verschwunden. Man kann heute nur noch lautloses Licht gebrauchen.

Die jungen Mädchen, die filmen möchten, ahnen nicht, wie ermüdend das heute ist; ermüdender als Steineklopfen. Früher, auf dem Theater, ja, da war es noch anders. Man lernte seine Rolle zu Hause. Dann saß nach ein paar Proben das Ganze. Dann noch, wie Irene Triesch in ihren jungen Jahren es zu machen pflegte, eine halbe Flasche Cognac vor der Première, und der Erfolg war da.

Und heute ? Hört zu.

Also zwischen Versatzstücken, Apparaten, Kabeln, Lampen, Mikrophonen und etlichen Dutzend dreinsprechenden, telephonierenden, korrigierenden Menschen steht das Paar, der Filmheld und die Filmschöne. Während daneben eine Darstellerin, die noch Zeit hat, laut ruft: "Ich geh' noch mal Kaffee trinken!", eine andere einem Dritten erklärt: "Nein, am Ersten bin ich nicht mehr hier!", während ein Elektriker beim Lehrling eine Stulle bestellt, zwei Arbeiter an einer Treppe sägen, muß das Paar, jetzt schon zum 30. Male, probeweise die beiden Sätzchen wiederholen:

"Hans, was wird denn nun geschehen - dein Korpsbrüder . . ."

"Ach, Lore, das ist ja doch ganz gleich, Hauptsache, daß ich dich wiederhabe!"

Munterer, munterer, noch munterer den Satz, verlangt der Regisseur. Zum 31. Male zupft sich das Mädchen den Ausschnitt herunter, zum 31. Male legt ihr der Student die Hände um den Oberarm, zum 31. Male steigen die Sätzchen.

"Nein, so geht das nicht! Ist doch viel zu schmalzig! In der Provinz schwimmt dann der Saal von Tränen weg! Aber die Presse schimpft, und die Berliner Kritiker verderben alles! Etwas entschmalzen, bitte!" telephoniert einer der Tonmeister, Dr. Leistner, aus dem Abhörraum von oben. Also das 32. Mal. Das 40. Mal, das 50. Endlich ist es so weit, daß das Kommando erschallt:

"Vollständige Ruhe! Achtung! Aufnahme!"

Wenige Sekunden, in denen alle Lampen aufleuchten, stechen, die Augen schier verbrennen.

Es war nichts.

Der Augenaufschlag war nichts.

Noch einmal Probe ohne Aufnahme, noch etliche Male, immer mit den zwei Sätzchen. Dem Mädchen zittern schon die Knie. Der Held muß sich die feuchten Hände pudern. Das 70., 80. Mal.

Nach dem 92. bin ich weggegangen.

Über die Frage, ob man beim Filmen, bis zur Unkenntlichkeit verschminkt, erotische Anwandlungen hat, bin ich jetzt im Klaren. Nein, man ist nur totmüde.

In einem anderen Atelier wird ein Kulturfilm gedreht. Der Regisseur Prager macht es. Der Tonmeister Rühland mixt. Eine Tierstimmenimitatorin, nennen wir sie Fräulein Müller, ist da, um Gänsegeschnatter zu produzieren, wenn die lebenden Originalgänse es trotz liebevollsten Zuredens an unrechter Stelle tun oder gar überhaupt verstockt schweigen.

Rühland telephoniert: "Können Sie nicht Fräulein Müller 10 Meter weiter nach Süden schieben ? Mikrophon bitte 1 Meter Abstand!"

Prager antwortet: "Ist es so recht ? Wir fangen jetzt mit dem Gänsegeschnatter an, bitte abhören!"

Rühland: "Fräulein Müller darf aber nicht so laut schnattern!"

Prager: "Ist es jetzt leise genug ?"

Rühland: "Ja, aber Fräulein Müller hat noch etwas Nachhall, wir müssen sie noch abdämpfen, bitte zu beiden Seiten Vorhänge!"

Die abgedämpfte Imitationsgans habe ich mir nicht weiter angehört. Ich erschauere, wenn ich mir vorstelle, daß diese harte und, man darf wohl sagen, "eintönige" Arbeit in der Hochsaison hier Tag und Nacht fortgeht. Eine junge Dame von 18 Jahren hat mich auf diesem Ausflug nach Neubabelsberg begleitet. Ich denke, die ist nun ganz entgeistert, aller Illusionen ledig. Aber die Augen stehen ihr voll Wasser. Aus Mitgefühl mit den überanstrengten Berufsdarstellern des Films ? Bewahre! Die junge Dame ist trotz der wie ein Möbelmagazin, wie eine Werft vollgestopften Halle, trotz des Hin und Her der Arbeiter und Beleuchter, trotz der ewigen Wiederholungen "ganz drin", immer noch in den zwei Sätzchen, und fühlt immer noch mit dem Studentenmädel:

"Hans, was wird denn nun geschehen - deine Korpsbrüder . . ."
3. April 1930 (Donnerstag)


32

Zwischen Nachtschwärmern - Im Ganymed-Kasino - Kellnerleben in der Großstadt - Morgens in der Markthalle - Wie die Blumen herkommen - Der Stadtkoffer - Heimlose junge Mädchen - Die Berliner Junggesellin.

Morgens gegen ½4 Uhr wird es auf den Straßen lebendig, weil alle Gaststätten ihren Besuchern zur Polizeistunde um 3 Uhr Feierabend gebieten müssen.

Es ist nicht gerade mehr "flutender" Verkehr, abgesehen von ein paar bevorzugten Lokalen, aber man ist doch verblüfft, plötzlich so viele "Nachtschwärmer" zu sehen. Sind sie es wirklich ? Ich bin erstaunt, immer wieder erstaunt, wie ernst und nüchtern die meisten enteilen. Bis mir eines Tages Erleuchtung kommt: unter diesen Leuten sind natürlich auch Nachtschwärmer, auch vereinzelte "Hocker", nur nicht immer in der Mehrheit; in der Mehrheit sind es oft - die Angestellten der Gaststätten, die Kellner, der Geschäftsführer, das Garderobefräulein, die Tellerwäscherin, der W.-C.-Wärter. Die können froh sein, daß sie endlich nach Hause kommen. Was, sie tun es nicht ? Nein, nicht alle. Manchmal scheint es einem: nur wenige.

In allen Stadtteilen gibt es Kellnerlokale, die um ½4 Uhr morgens plötzlich sich füllen und in denen in den nächsten Stunden genau der Trubel sich wiederholt, den es anderswo bis zur Polizeistunde gegeben hat, nur daß jetzt die Kellner nicht mehr bedienen, sondern Gast sind, allein oder mit einem Mädel oder in Gruppen essen oder trinken oder auch ein Tänzchen riskieren. Ich habe keinen Ausweis, nach dem man am Eingang dieser Lokale gefragt wird, aber ich lasse mich mit einem großen Haufen durchschleusen - und nun bin ich auch im "Ganymed-Kasino".

An unserem runden Tische, an den ich beim Hereinströmen verschlagen werde, sitzt eine kalte Mamsell (die Walterin über den Aufschnitt in einem Restaurant), die ein rheinischer Geschäftsführer durch eindeutige Witze zu erwärmen versucht.

Mir gegenüber ein jetzt selbständiger früherer Angestellter, der gleich den Stolz seines Lebens herauskramt: Photographien aus dem Feldzug in der Türkei, wo er in einer Fliegerabteilung Monteurgehilfe war und im Sommer 1918 mich gesehen haben will, als ich von Mossul herübergeflogen war.

Rechts von ihm sieht man nur einen hellblonden Schopf herunterhängen. Er gehört zu dem auf die Brust gesunkenen Kopf eines gleich nach dem Platznehmen vor Müdigkeit eingeschlafenen jungen Musikers.

Zwischen ihm und mir aber - eine echte Araberin mit scharfgratiger edelgeformter Nase zwischen kohlschwarzen Augen. Die hellen Fingernägel heben sich fast geisterhaft ab von den in ihrem Schoß liegenden braunen Händen. Leider trägt sie weder Schleier noch orientalische Gewandung. Sie ist zur Zeit arbeitslos. Von Beruf ist sie - Schrammelsängerin. Da bleibt einem aber doch die Spucke bei weg, sagt der Berliner. Jawohl, sie weanert ganz unverfälscht, sie ist schon als kleines Kind nach Wien gekommen und dort erzogen worden, dann nach Deutschland mit der ganzen Familie, der eine Bruder hat bei den Ludwigsburger Dragonern den Krieg mitgemacht, sie selber ist im Reservelazarett in Heilbronn als Pflegerin ausgebildet und dann dem Dominikanerkloster in Düsseldorf überwiesen worden. Jetzt kommt sie in die Jahre, die einem, wenn man Volkssängerin ist, weniger gefallen, hat kein Engagement nach dem letzten in Leipzig gefunden und sieht mit ihren tragisch-finsteren Augenbrauen aus wie eine Medea vor dem Kindermord.

An einem Nebentisch steht plötzlich ein Herr, ein fabelhafter Gent, auf und verbeugt sich vor mir. Ich trete näher, begrüße die Begleiterin, die als vollendete Dame sich bewegt, und frage ihn, woher wir uns kennen; ja, sagt er, er sei doch Kellner im Hotel Exzelsior, wo ich manchmal meinen Kaffee nehme.

Ich äußere mein Erstaunen über die Lebenslust aller dieser Leute, die doch im Durchschnitt 12 Stunden harte Arbeit hinter sich haben, totmüde sein müssen, Sehnsucht nach dem Bett daheim haben müssen.

"Ja, mein Herr, haben wir auch. Aber wer hat denn in der Großstadt eine Bleibe dicht an der Arbeitsstätte ? Jetzt fährt keine Bahn mehr. Viele wohnen billig im Vorort. Um 5,02 Uhr geht der erste Zug nach Grünau, um 5,11 nach Zossen, um 4,52 nach Frohnau. Die meisten von uns wohnen näher, aber doch hoch im Norden. Ein Auto können wir uns doch nicht jede Nacht leisten."

Da habe ich also die Erklärung. Das Polizeipräsidium genehmigt diese Nachtlokale für Angehörige des Gastwirtsgewerbes, damit sie nicht gezwungen sind, stundenlang bei jedem Wetter auf der Straße herumzulaufen oder in den Vorhallen der Bahnhöfe zu stehen. Nicht Lebenslust, sondern Notwendigkeit gebietet das. Daheim kommen diese Leute dann im Durchschnitt um ½6 Uhr morgens an und schlafen wie tot bis Mittag; dann aufstehen, gründlich säubern, frische Wäsche anziehen, zurück zur Arbeit! Familienleben: Fehlanzeige. Wir Bürger, wir Schwärmer, wir Hocker ahnen nicht, womit unsere Fidelität uns hier erkauft wird. Der Arbeiter aber, der in dieser Pause zwischen Abend und Morgen, weil zu anderen Zeiten der Verkehr es verhindert, das Pflaster oder die Straßenbahngeleise repariert, sieht wütend auf die Bourgeois, auf die Bummler. Er weiß wohl nicht, daß es fast durchweg Kellner sind, die auch hart frohnden müssen.

Wenn die zu den Bahnhöfen gehen, kommen schon die ersten Menschen von der Bahn. Alle mit großen Kiepen auf dem Rücken. Oder es rattern Fuhrwerke, meist sind es Autos, daher, Fast alle - mit Blumen beladen.

Das wollte ich mir längst einmal ansehen, nur scheut man sich, etwa um 4 Uhr morgens aufzustehen oder bis 5 Uhr morgens aufzubleiben, wenn man sowieso den ganzen Tag über seine Schreibtischarbeit hat. Nun ist es, dank dem Erkundungsgang in das Ganymed-Kasino, so weit, nun kann ich einmal in aller Herrgottsfrühe in die Markthalle. Zolas "Bauch von Paris" hat mich vor Jahren einmal dazu angeregt, den "Bauch von Berlin" aufzusuchen, die ungeheure Lebensmittelanfuhr in der Zentralmarkthalle zu beschreiben, wo die Züge direkt hereindonnern und entladen werden, außerdem eine ganze Wagenburg die umliegenden Straßen verstopft. Diesmal ist es die Markthalle in der Lindenstraße. Und darin nur die Halle mit den Blumen. Duft und Farbe locken im Morgengrauen.

"Quasseln Sie eenen annern an, ick habe keene Zeit!", sagt an einem Stand das Fräulein, das immer neue Berge von Blumen, die von männlichen Markthelfern herangerollt werden, flink heraushebt, enthüllt, aufstellt, ordnet. Das geht mit geradezu maschineller Fixigkeit. Ich bleibe ruhig, zeige meinen Presseausweis.

"Aber, mein verehrtes Fräulein, wenn Sie morgen zu einer Schönheitskonkurrenz gingen, müßten Sie sich doch auch ausfragen lassen!"

Da ist sie besänftigt, da antwortet sie, da wirft sie mir, ohne von der eiligen Arbeit aufzuschauen, kurze Bemerkungen hin. Sie steht jeden Morgen draußen im Vorort in der Gärtnerei um 3 Uhr auf. Im Lastauto zur Stadt. Es ist eine große Gärtnerei, die in der Halle ihren eigenen Stand hat; die kleinen bringen nur ihre Ware her und verkaufen sie an die Standinhaber. Bei denen holen sich früh gegen 6 Uhr die Blumengeschäfte ihren Tagesbedarf. Also der normale Instanzenweg geht vom Gärtner über den Kleinhändler der Markthalle in den Laden.

Was kostet ein Riesenstrauß, den ich für 6 Mark zu einem Geburtstag erstehe, dem Ladenkaufmann ? Drei Mark! Also ich bezahle 100% Aufschlag. Und doch ist das nicht etwa reiner Zwischengewinn, reiner Verteilergewinn, denn nicht alles wird abgesetzt. Am zweiten, spätestens am dritten Tage müssen die Blumen, nicht mehr ganz frisch, schon in Kränze oder Körbchen verarbeitet werden; noch weitere zwei Tage, dann muß sie, wenn sie nicht abgesetzt sind, wegwerfen. Es ist ein ausgesprochenes Risikogeschäft, und der Substanzverluste sehr groß, obwohl die Großstadt für wahre Unsummen Blumen frißt.

Leider auch aus dem Auslande. In Schnellzügen - direkte Wagen von der Riviera - oder im Flugzeug kommen sie nach Berlin zum Importeur, von ihm in alle Markthallen und Großgeschäfte. Anemonen aus Frankreich, Ranunkeln aus Italien, Rosen aus Holland werden vor meinen Augen entladen. Die Holländer umgehen schon vielfach die Importeure. Im Hof dieser Markthalle sehe ich einige Mynheeren; sie verhandeln mit Standinhabern direkt.

Manche Läden verkaufen ihren Rest zu Schleuderpreisen an jene stämmigen Frauen, die auf Straßen und Plätzen die Blumen feilhalten.

"Bloß zwee Jroschen det Sträußken! Bloß zwee Jroschen det Sträußken!"

Der junge Mann kauft es für sein Mädel. Die Hausfrau, durch die Billigkeit verlockt, nimmt es mit. Nachher kommt die Enttäuschung, wenn nach wenigen Stunden die Herrlichkeit verwelkt ist. Aber für den Kaffeetisch, zu dem die Hausfrau gebeten hat, langt es vielleicht gerade noch. Und der junge Mann, der nachmittags auf der Tanzdiele die Rose am Ausschnitt seiner Dame alsbald entseelt herniederhängen sieht, sagt sich, daran sei eben die Hitze schuld. Es kommt ja auch nur auf die Geste an, nicht wahr ? Man hat etwas Liebes getan, das genügt. Und vielleicht ist gerade diese Rose die entscheidende Rose. Das Mädel selbst hat sich sozusagen auch nur hergestohlen, hat daheim noch eine Mutter, "die aufpaßt". Mütter denken immer, daß sie das können. Aber da hat die Tochter, die als Anfängerin in einem Bureau angestellt ist, eben "Überstunden" machen müssen oder die Tochter, die als Primanerin ein Gymnasium besucht, mußte noch zu einer Kameradin wegen der Mathematikaufgabe. Gesegnet sei die Mathematik! Die hilft immer; auf Englisch oder Französisch ist kein Verlaß, denn da gibt es Mütter, die selbst etwas davon verstehen.

Der zweite unumgängliche Helfer aber heißt: Stadtkoffer.

Vor Jahren wollte jedes junge Mädchen, auch wenn nur das Frühstücksbrot darin lag, unbedingt eine Aktentasche haben, um sich damit wichtig zu tun. Heute ist der kleinste Stadtkoffer, der in London bei Tage schon längst alle Handtäschchen verdrängt hat, in Berlin der häufigste Geburtstagswunsch der Kücken. Man hat seinen Schulanzug oder seinen Bureauanzug an, aber im Stadtkoffer ein Tanzkleidchen - es ist ja bloß eine Handvoll - und seidene Strümpfe und ein Paar nette Schuhchen. Was weiß die Mutter davon ? Beruhigt sieht sie ihre Tochter im Alltagsgewande entschweben. "Es ist leichter, einen Sack voll Flöhe zu hüten als ein junges Mädchen", sagt das Sprichwort. Und wer keinen Stadtkoffer hat, der hat doch vielleicht eine Stammkonditorei, wo man sich mit seinem Jüngling trifft. Und dort die Mamsell am Kuchentisch, die bewahrt alles auf und gibt einem Umkleidegelegenheit . . .

Das ist nicht etwa erst heute so, das ist schon immer so gewesen; und den Typ des halbflüggen Nixchens, das sogar einen "älteren Herrn" als Freund hat, hat schon lange vor dem Kriege Hans v.Kahlenberg (Frau v.Mombart) nach dem Leben beschrieben. Dieser Typ war freilich nicht die Regel, ist es auch heute noch nicht. Aber es ist doch Tatsache, daß man heute schon angenehm überrascht ist, wenn einem einmal ein "richtiges Haustöchterchen" über den Weg läuft, weil es in der Großstadt seltener wird. Alles drängt sich zum Erwerb oder zur Ausbildung hierher, und - die Junggesellin nimmt überhand, auch mit allen Gewohnheiten ihres männlichen Seitenstücks, auch mit der sogenannten Budenangst, die einen aus dem unwohnlichen Heim hinaustreibt in eine strahlendere Umgebung, in die öffentliche Gaststätte. Glücklich die Studentin, die in einer guten Familie oder in dem vornehmen Hansemann-Heim (hier allerdings zu einem monatlichen Pensionspreis bis zu 200 Mark) Unterkunft findet. Die Mehrzahl ist aber doch auf die "Bude" angewiesen.

Und manche haben nicht einmal das. In Berlin haben 1664 Studentinnen - arme Mädchen - nicht einmal ein Zimmer, sondern nur eine Schlafstelle! Da ist es kein Wunder, wenn der Lebenshunger erwacht und die Tanzdiele lockt. Bei den jungen Berufstätigen aus anderen Ständen ist es ebenso. Nicht weniger als 14 838 solcher Mädchen haben in Berlin nur eine Schlafstelle.

Es hat keinen Zweck, darüber zu moralisieren, daß Zehntausende unserer Erwachsenen nicht mehr häuslich sind; sie haben eben kein Heim. Man will jetzt Ledigenheime für sie schaffen, aus evangelischen Kreisen der Reichshauptstadt ist der Ruf dazu ergangen, aber durchgreifende Hilfe kann doch niemand bringen. Wir können das Rad nicht mehr zurückdrehen. Der heutige Deutsche ist als Tributsklave nicht mehr in der Lage, in einem Hause voll von Kindern die Töchter so lange zu hegen, bis sie aus dem Hause heraus "dem Manne ihrer Wahl" folgen. Sie müssen schon vorher im Berufsleben schwimmen lernen, im Wettbewerb bestehen, um ihr tägliches Brot ringen. Das bedingt Selbständigkeit; und mit der Selbständigkeit kommen auch die eigenen Wünsche.

Manchmal gibt das frische, forsche Mädels, gute Kameraden, tüchtige Kämpfer, die auch in der Großstadt durchaus nicht ihren Schmelz von den Flügeln zu verlieren brauchen; manchmal aber auch ganz unleidliche Dinger, schnippisch, greulich, eine Qual für die Umgebung, brauchbar eben nur bei dem Aufleben mit ihrem Beau.

In Berlin haben noch manche Witwen große Wohnungen aus besseren Zeiten herübergerettet. Sie können die vielen Zimmer deshalb behalten, weil sie sie an junge Leute vermieten. "Nur an Frauen!" hieß es früher; nur an berufstätige Frauen oder lernenden junge Mädchen, denn man wolle seine Ruhe haben, nicht den ewigen Ärger mit unsoliden männlichen Pensionären oder Mietern.

Heute ist es schon umgekehrt, heute ist der ruhige, bescheidene, mit allem zufriedene Mann als Miteinwohner das Ideal, weil einen die jungen Mädchen "einfach ins Grab brächten". Auch die Mütter daheim seufzen unter den Bengelmanieren ihrer Töchter. Oder ist das nur eine vorübergehende Ausschreitung der Mode ? Wird das jetzt mit dem Verschwinden des glatten Schnittkopfes wieder anders ? In den Zeitungen wird Weiblichkeit als "wieder gefragt" bezeichnet, während die Junggesellin ihre herrischen Unarten abzulegen beginne. "Hoffen wir das Beste, lieber Leser!" hieß es in alten Kolportageromanen am Schlusse der Kapitel, die unvermittelt in einer für die Heldin lebensgefährlichen Situation plötzlich abbrachen. Viel mehr als hoffen kann man nicht. Inzwischen aber ruhig eingestehen: das Berliner Mädel in jeder Form, auch in der leider vermännlichten, hat es in den letzten Jahrzehnten verstanden, entzückend auszusehen.

Ein seit zwanzig Jahren "drüben" lebender Deutschamerikaner, hartgesottener Junggeselle, von den dortigen Girls und Flappers angewidert, ist eben zum erstenmal wieder hier, macht große Augen, ist begeistert und sagt mir mit entschlossener Miene:

"Was bin ich doch für ein Esel gewesen!"
10. April 1930 (Donnerstag)


33

An der Krokuswiese - Wünsche im Frühling - Käfigtiere - 2½-Zimmer-Menschen - Brot und Spiele - Von der Tanzstunde bis zur Brautfahrt - Alles wird nivelliert - Der Bonze - Was Felix Riemkasten für ein Mensch ist.

Das erste Bunt des Frühlings, noch vor den Hüten und Kleidern der Damen, weist immer die Krokuswiese im Zoologischen Garten auf. Da werden jäh die Wünsche wach. Die Weiblichkeit entdeckt rostrote Flecken am Sealkanin oder abgeschabte Stellen am Maulwurfscape, und wie verloren weht ein Satz durch die Luft: "Es lohnt sich, im Sommer einen neuen Pelz zu kaufen, da sind sie billiger!" Der Gatte guckt weg, tut so, als hätte er nichts gehört. Auch er hat seine Wünsche. Der bunte Krokus spiegelt ihm die Blütenpracht des Südens vor. "Ach, wenn man jetzt verreisen könnte!"

In solchen Augenblicken, im Frühling mehr als je, erscheinen einem die Tiere in den Käfigen, vom Meerschweinchen bis zum Löwen, als Schicksalsgefährten, als Leidensgenossen. Ob die sich auch hinaussehnen ? Merkwürdig: wenn zufällig einmal ein Gatter offensteht, entweicht ein großes Raubtier natürlich aus dem Gefängnis, ist aber nach ein paar Sätzen in der fremden Welt gewöhnlich verschüchtert und bleibt mit blödem Gesicht irgendwo stehen oder verkriecht sich. Nur wenn die Menschen schreiend auseinanderstieben, wird es "wild", nämlich nervös, und begeht in Putativnotwehr etwas törichtes, indem es einen anspringt und reißt.

Nein, diese Tiere sind keine Freiheitshelden mehr.

Auch der Frühling strafft nicht ihren Trotz. Unruhig sind sie nur jeweils vor der Fütterung. Außerdem während der Brunst. Sie träumen sicherlich nicht von Dschungel und Steppe. Man hat zu fressen. Man muß das Leben eben nehmen, wie das Leben eben ist. Man ist vielleicht schon im Zoo geboren. Man ist als zivilisiertes Raubtier schließlich Realpolitiker.

Wir ähneln einander immer mehr, diese Käfigtiere aus ehedem königlichen Geschlecht und wir Berliner Ururenkel der Kämpfer von Großbeeren und Dennewitz. Wenn wir nur zu fressen haben! Lieber tot als Sklav: das ist einmal ein brausender Massenakkord gewesen, heute nur noch ein Zirpen. Wer seinen Käfig hat, die berühmte moderne 2½-Zimmer-Wohnung, der nächstens wohl die Eineindrittelzimmerwohnung folgen wird, und täglich das nötigste Futter, der preist sich glücklich. Es gibt doch Leute nur mit Wohnküche. Vor allem anderen steht die Selbsterhaltung! Weshalb sollte man das Kabinett Brüning stürzen, so lange noch eine Aussicht besteht, daß man unter ihm ein paar Monate vor dem Gasschlauch bewahrt bleibt ? Nein, wir im deutschen Zoo von 1930 sind für die Männlichkeit nicht geboren. Sie beschränkt sich auf zweierlei Äußerung. Erstens reißen wir einander selbst, nie unsere Bändiger und Fronvögte; und zweitens haben wir ja immer noch die Brunst. Wir balzen, wir piaffieren, wir schlagen ein Rad, wir kollern, wir röhren.

Natürlich mag es in irgend einer Jugend, die "unseres Volkes Zukunft ist", noch anders aussehen. Natürlich widerspreche ich aus Höflichkeit auch nicht dem Einwand, daß das vermaledeite Berlin doch nicht ganz Deutschland sei. Immerhin: der Zuzug, der heute in die Reichshauptstadt kommt, ist doch genau so wie die schon ausgekochten Berliner.

Brot und Spiele mußte der römische Pöbel haben, dann war er zufrieden, dann begehrte er nicht auf. Und was brauchen wir heute ? Leben und Amusement! In diesen zwei Worten ist das ganze Programm beschlossen.

Früher gab es noch allerlei Poesie da herum. Heute sind wir mehr für neue Sachlichkeit. Unter den tausenden von jungen Mädchen, die alljährlich aus dem Reiche in die Hauptstadt strömen, um hier eine Stellung zu finden oder die Berufsausbildung zu vollenden, kennen wir ein nettes Ding aus guter Familie, dem wir unser Haus und unsere Herzen weit geöffnet haben. Dieses Mädel ist noch etwas scheu, stürzt sich nicht besinnungslos in das Ungewohnte, erzählt uns noch alles. Auch von der neuen Sachlichkeit. Zum Beispiel aus dem Wiederholungskursus in der Tanzstunde, dieser heutigen Verpflichtung für alle Lebensstufen, nicht nur für Backfische und eben eingesegnete Jünglinge. Da ist ein Herr, noch jung, aber schon in auskömmlicher Stellung, der nach ein paar Stunden über das Anatomische ganz im Klaren ist. So was fühlt man doch, nicht wahr ? Trotzdem schlägt er zum Überfluß noch vor, man wolle einmal gemeinsam in das Wellenbad am Lunapark gehen. Warum nicht ? immer sachlich; kein Mensch kauft die Katze im Sack.

Mit einer nicht mehr zu überbietenden Nüchternheit werden diese Besichtigungen vorgenommen und stoßen nur noch selten auf Widerstand aus provinzieller Schamhaftigkeit heraus. Ist es etwa im Orient besser, wird einem geantwortet, wo der Mann das Mädchen, das Mädchen den Mann am Tage der Hochzeit zum ersten Male sieht, früher nie gekannt hat; wo alles nur von Eltern und Vermittlern gemacht wird ? Oder war es etwa in der guten alten Zeit bei uns besser, wo die Männer wattiert, die Mädchen geschnürt waren, wo man im Ballsaal Fischbein und Stahlstangen umfaßte und voneinander nur das wußte, was für eine Gebühr von 5 Mark die Auskunftei angab ?

Gewiß, bei allen Dingen gibt es ein Für und Wider. Ich will auch nicht tadeln oder loben, nur sagen, wie es ist. Und es ist so, daß nach der Verabredung in das Wellenbad gewöhnlich die Aufforderung zu einem gemeinsamen Wochenendausflug erfolgt. Es gibt so nette und ruhige Hotels in Freienwalde und anderen Städtchen in der Umgegend von Berlin.

Nach diesen Ausflügen kommt es zuweilen zu der richtigen größeren Verlobungsreise. Nein, nein, ich habe mich nicht versprochen. Ich meine nicht Hochzeitsreise; zu der hat man später, wenn man die 2½>-Zimmerwohnung bezogen hat und Möbel und Achtröhrenapparat abzahlen muß, vielleicht nicht mehr das nötige Geld. Jeder von uns in Berlin kennt, und zwar aus den eigenen "guten" Kreisen, eine Anzahl von Brautpaaren, die eine mehrwöchige Reise hinter sich haben, ohne daß ein Tantentribunal darüber richtet.

So etwas hat es schon immer gegeben. Nur - eben nicht in den sogenannten guten Kreisen.

Die Nivellierung, die Gleichmacherei, walzt uns alle. Mit der Demokratisierung der Genüsse bei Kempinski und anderswo für das Volk begann es schon vor dem Kriege. Heute gibt es kaum einen Lehrling mehr in Berlin, der nicht müßte, wie Austern oder Kaviar schmecken. Umgekehrt haben die jungen Angehörigen der sogenannten oberen Stände es den anderen abgesehen, wie man sich, sachlich und skrupelfrei, sein Leben einrichtet. "Man geht" mit einem Mädchen jetzt sogar der eigenen Kreise. Die Halbwelt macht schlechte Geschäfte. Die Konkurrenz der "Anständigen" ist zu groß. Die Männer aber sind außerhalb der Arbeitszeit in der Großstadt nahezu völlig gleich gekleidet, sind behandschuht voneinander nicht zu unterscheiden; nur im Gespräch erkannt man die Schicht.

Aber die äußere Nivellierung hat uns einander nicht etwa näher gebracht. Noch immer klafft ein Abgrund zwischen den Ständen, und es fehlt vor allem das eine, was in verklungenen großen Zeiten sie einte und emporriß: die Idee, das Vaterland. "Die Weltgeschichte ist der Kampf um die Futterplätze und den Futteranteil", hat Sombart einmal gesagt. Das gilt 1930 nicht nur von den Völkern, sondern auch von dem Volke. Um Brot und Spiele das Ringen und der Haß innerhalb der Nation, zwischen Arbeitern und Unternehmern, zwischen Bauern, Lehrern, Beamten, Handwerkern, Fabrikanten, Ärzten, Anwälten. Wer weiß etwas von dem anderen Stande ? Wer versteht ihn ? Wer sieht in seine Lebensbedingungen hinein ? Wer ahnt seine Nöte, seine Sehnsüchte ? Nur in der Politik, nur in dem Kampf um die Futterplätze und den Futteranteil, trifft man aufeinander. Als Feind natürlich; und dort faucht man womöglich den eigenen Führer an, wenn er statt dessen von Weltanschauung spricht, von Ehre, von Freiheitswillen. In uns gebildeten Idealisten sieht der Arbeiter nur "die eine reaktionäre Masse" und wir in ihm nur das kronenlose rote Tier aus dem Abgrund, wie es die Offenbarung Johannis schildert.

Aus dieser gegenseitigen Verkennung, aus dieser allseitigen Unkenntnis kann uns kein Politiker mehr herausführen, und wenn er mit Engelszungen redete, sondern nur der Dichter, der Seheraugen hat und dem der Herrgott die große Liebe zu allen seinen Geschöpfen gab.

Da ist einer, ein Dichter, der nach meiner innersten Überzeugung den Nobelpreis der Internationalen und die Adlerplakette des Reichspräsidenten und alles sonst noch Erreichbare an Gut und Ehren bekommen müßte, dazu den heißesten Herzensdank aller wahrhaft Deutschen, ein Dichter, der keine Sekretärinnen und keine Klubsessel hat, sondern sich 30 Mark Vorschuß geben lassen mußte, als er für sich und seine Frau und die kleine Marianne den Wintervorrat an Kartoffeln einkaufte, und jetzt froh ist, daß der erste Ertrag seines neuen Buches ihm eine umfassende Zahnreparatur ermöglicht.

Es ging schon fast nicht mehr mit der ewigen Breinahrung. Da sitzt unser Dichter - Felix Riemkasten heißt er und ist ein kleiner Regierungsbeamter in Braunschweig - mit uns und dem Inhaber des Brunnenverlages in Berlin, um von dem Plan zu diesem Buch zu sprechen; es ist schon einige Monate her. Es wird ihm ein leckeres Kalbsschnitzel vorgesetzt. Er ißt und ißt. Aber nur scheinbar. Die Backentaschen blähen sich. Schließlich muß er beschämt hinaus, um alles das, was er nicht kauen kann, wieder von sich zu geben. Wieviel Qual läge in so etwas für jeden von uns! Außerdem ist Riemkasten kurzsichtig, so daß er eine ganz scharfe Brille tragen muß. Noch außerdem ist er auf einem Ohre taub, auf dem anderen schwerhörig. Und trotzdem, denn er ist ja Dichter, ein strahlender, glücklicher Mensch, der auch seine ganze Umgebung glücklich macht.

Solch ein Wunder sieht man nicht alle Tage. Eine leise Ahnung davon bekam ich schon vor Jahr und Tag, als ich sein Büchlein "Alle Tage Gloria" las, die Geschichte - mit Bildern - seines Töchterchens Marianne, genannt Mananne, eine Geschichte, aus der man übrigens auch Manannes Mütti und Väti so recht lieben lernt. Das steht hoch und wert über allen berühmten Kinderstubengeschichten, selbst wenn sie von Otto Ernst und noch Größeren geschrieben sind.

Aber nun nach dem Büchlein das Buch! Es heißt: "Der Bonze". Geschrieben hat es einer, eben dieser Felix Riemkasten, der zehn Jahre lang als getreuer Idealist der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und ihrem Aufstieg gedient hat und sie und vor allem ihre Führer in- und auswendig kennt, noch heute nicht ihr Feind, vielleicht nur ihr schmerzvoll enttäuschter Verächter ist, immer noch mit der großen Liebe und der großen Gerechtigkeit im Herzen.

Als ich das Manuskript zur Prüfung bekam, hatte es schon ein Lektor in Händen gehabt und an insgesamt 42 Stellen große Fragezeichen an den Rand gemalt. Ich rief den Verleger an und sagte ihm:

"Lassen Sie sofort alle Fragezeichen ausradieren! Bewahren Sie Ihren Lektor vor solcher aktenmäßigen Festlegung seiner Ahnungslosigkeit! Dieses Buch ist das wertvollste des letzten ganzen Menschenalters!"

So denke ich auch heute, wo ich es zum dritten Male durchgelesen habe, wieder hingerissen bin von dieser Entdeckungsreise in unseren vierten Stand, der uns bisher verschlossener war als das heilige Lhassa. Und es ist nicht der vierte Stand allein, es ist das ganze Gewirr von Masse, Demokratie, Futterkrippe, Aufstieg, Klassenhaß, Parlamentarismus, Demagogie, Hunger und Liebe, das so unhold durcheinanderquirlt, so unbegreiflich, so unfaßbar für Menschen aus einer anderen Welt; die denkbar beste, photographisch getreue, manchmal schonungslose und doch von reiner Poesie verklärte Milieuschilderung, die wir je gehabt haben. Der dicke Roman, in Leinen gebunden, kostet 6,80 Mark. Für manchen Leser ist er das Hundertfache wert. Auch ausländische Übersetzer werden sich darum reißen, denn mehr oder weniger in allen Kulturstaaten ist der Bonze der gleiche, siehe den Innenminister Balbus in Shaws "Kaiser von Amerika".

Vielleicht weiß Riemkasten selber noch nicht ganz, was er angerichtet hat, als er jetzt nach zehn Jahren der eifrigsten Mitarbeit aus der sozialdemokratischen Partei austrat und etwa sagte: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" Er ist ja so ein bescheidener, stiller Mensch, so ein - Dichter. Aber immer mit dem fanatischen Wahrheitsdrang. Schon auf der Schulbank. "Warum sagen Sie nichts ?", fragt ihn der Lehrer. Und er antwortet: "Wenn ich das sagen soll, was Ihnen gefällt, dann gefällt es mir nicht, und wenn ich sage, was mir gefällt, dann gefällt es Ihnen nicht, also sage ich lieber gar nichts." Da sieht ihn der Lehrer lange an und meint: "Sie sind ja ein ganz Schlimmer, mein Lieber!" Das ist jetzt die Meinung aller Bonzen in Deutschland; freilich aus einem anderen Grunde: weil er nun doch etwas gesagt hat.

Wenn heute einer plötzlich als Schriftsteller steil über dem Horizont aufflammt, während man bisher kaum etwas von seinem Leuchten wußte, stellt man gewöhnlich die dumme Frage:

"Was waren Sie eigentlich vorher ?"

Da lächelt Riemkasten so ein richtig wehmütiges und doch schalkhaftes Dichterlächeln:

"Mir hat das Leben nichts geschenkt, nicht einmal Beachtung. Alles ist hart erarbeitet. In fünf oder sechs Berufen. Ich war Kaufmann, Statist, Student, Beamter, alles mögliche. Da es mir dauernd schlecht ging und ich darüber empört war, gesellte ich mich zu denen, die es auch schlecht hatten. Jetzt bruzzelt mein Hühnchen leidlich im Topfe. Ich denke aber immer noch an die leeren Töpfe anderer Leute. An denen habe ich mir die Finger verbrannt. Ich Esel dachte, es könne eine neue Welt geben mit neuen Menschen, und habe mich abgeplagt in der Arbeit dafür. Aber ich sah, daß die Masse aus Einzelnen besteht. Die gliedern sich in Macher, Hauptmacher, Mitmacher und in solche, mit denen es gemacht werden kann. An diesem Punkt erwachte ich mit heftigem Niesen aus meinem Traum. Da schrieb ich den Roman, zumal es mir leid tat um so viel Schindluder mit dem guten Glauben der Allerärmsten."

"Und jetzt, lieber Riemkasten ?"

"Auch jetzt lege ich auf äußerlich merkbare Begebnisse in meinem Leben, kurz, auf mein Ergehen, keinen Wert. Ich lebe lieber nach innen hinein. Mein Merkmal ist dies, daß ich Pfeife rauche, ungesellig bin und meine Gedanken gern selbst denke. Das gibt in der heutigen durchorganisierten Welt unweigerlich Kleinholz. Ich bin nicht genormt für diese Welt."

Gott sei Dank, daß er es nicht ist. Sonst säßen wir ohne sein Buch noch im Dunkeln.
16. April 1930 (Mittwoch)



Glossen 28 - 30

Jahresinhalt

Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts