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Verfrühte Frühlingstage - Tauentzien-Bummel - Hier spricht man russisch - Scapa-Flow - Zehn Jahre nach Kapp - Unsere "wahre" Gesinnung - Nach dem Youngplan - Proletariat und neue Moral - Die Freude an der Reichswehr.
Beinahe hätte es am vorigen Sonntag die Berliner Massenwanderung nach Werder gegeben. Man denke, es ist erst Anfang März, aber die Stachelbeersträucher schlagen aus! Arme Großstädter erinnern sich dankbar der ausnehmenden Milde dieses ganzen Winters, die eine große Kohlenersparnis bedeutete. Dafür verfluchen ihn aber die Bergleute in der Lausitz. Im Braunkohlenrevier wird nur an vier Tagen in der Woche gearbeitet, die Läger sind voll, nur ein Fünftel der Menge Briketts, die man produzieren könnte, wird hergestellt, in den Häusern entlassener Arbeiter sieht die Not zum Fenster herein. Daran denken wir anderen nicht. Wir freuen uns, daß, ehe die allerletzten Tage wieder Kälte brachten, schon die lackierten Stühle auf dem Bürgersteig vor einigen Cafés standen. Und das Herz pocht fröhlich beim Anblick des ersten breitrandigen Sommerhuts.
Wo man ihn sah ? Natürlich auf der Tauentzien. Aber nicht etwa im Sonnenglast des Mittags. Erst gegen Abend hat der Tauentzien-Bummel für diejenigen Wert, die gesehen werden wollen. Nachmittags trifft man sich nur, um alsbald ungesehen in einer Konditorei zu verschwinden. Das ist die Zeit für den Typ Nixchen. Diese Sechzehnjährigen kreieren keine Modellhüte. Dann aber kommt die Schau derer, die noch Geld für den äußeren Behang haben.
Man las einst vom Untergang des Abendlandes. Das aber ist der Abendgang des Morgenlandes.
Den besten Behang haben vielfach die exotisch prunkenden Damen aus Sowjetrußland, die vielen Gattinnen, Freundinnen, Sekretärinnen der krummnasigen Bolschewiken aus der Botschaft, der Handelsvertretung und den übrigen Komintern-Nestern. Dazu ein paar echtrussische Filmdiven und Filmkomparsen. Man hört mehr russisch auf der Tauentzien in Berlin als englisch auf der Promenade des Anglais in Nizza.
Von den echtrussischen, nicht von den morgenländischen Dämchen sitzen die ganz jungen, die auch wie die Motten zum Licht flattern möchten, vorerst noch meist im Dunkel. Ein halbverhungertes Ding, 10 Jahre alt, haben wir eben sechs Wochen lang etwas hochgefüttert. Das Mädel ist Ballettschülerin, tritt schon öffentlich auf und träumt von einer glänzenden Zukunft in Amerika, wo es dann noch viel mehr Geld als bisher an die Eltern abliefern könne.
Mit vollen Händen streuen es in Berlin nur die herkommmandierten Bolschewiken aus, während daheim in ihrem eigenen Lande "das Volk" in Massen stirbt, nicht einmal die rationierten, auf Karte erhältlichen Lebensmittel bezahlen kann. Diese Sowjetdamen und Sowjetherren bevölkern bei uns die russischen Luxus-Restaurants, um als Tscheka-Agenten etwaige echtrussische Leute, Gegenrevolutionäre, Monarchisten, aufzustöbern und auszuspionieren, ein Auftrag, der aber im Grunde nur offizieller Entschuldigungszettel ist. Denn nur die Roten, nicht die Weißen haben noch Geld für Luxus; die Weißen sind allenfalls Koch, Kellner, Wirtin, Sänger, Musiker, Tänzerin und amüsieren die Roten. "Man zahlt - und du muß tanzen!"
Im Weinrestaurant Tscherkeß am Kurfürstendamm singt allabendlich Jurij Morfessi seine schwermütigen und seine wilden Lieder. Seine Voreltern sind Schwarzmeer-Griechen gewesen, daher noch der Name, aber die Familie ist seit Menschenaltern schon ganz eingerusst; der Sänger selbst war Kadett in Odessa, Offizier in Petersburg. Das schlichtere Tary-Bary in der Nürnberger Straße und nicht weniger als acht andere Russenwirtschaften in der Gegend um den Wittenbergplatz herum ziehen meistens durch ihre Balalaika-Kapellen ein auch deutsches Publikum heran. Der Wechsel von Leid und Ausgelassenheit in ihrer Musik, oft ganz jäh, reißt hin, peitscht die Nerven, der fabelhafte Rhythmus strafft einen dann wieder empor. Nur selten sind diese jungen Leute Berufsmusiker. Am Tage sind sie Gelegenheitsarbeiter, Studenten, Zigarettenstopfer, Buchbinder, Auslaufer, Rechtsanwaltsschreiber, Althändler.
Alle von heißer Dankbarkeit erfüllt, daß sie dem Mordparadies entronnen sind, als sie vielfach noch Kinder waren, und in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Wenn sie noch staatenlos sind, bemühen sie sich um die deutsche Reichsangehörigkeit. Wo sie als Fabrikarbeiter wirken, da sagen sie deutschen Kommunisten die Wahrheit über die Zustände in Sowjetrußland, agitieren womöglich für den Eintritt - in den Stahlhelm, der ihnen selber natürlich verschlossen ist. Es ist nicht einer unter ihnen, der politisch uninteressiert wäre, nicht einer, der nicht die Weltgeschichte der letzten zwanzig Jahre genau kennte.
Da sind dieser Tage die Meinen in dem Scapa-Flow-Film, der freilich nicht die Hälfte von dem hält, was man sich nach dem Titel versprochen hat. Ich bin nicht dabei, habe noch zu arbeiten, will mir nachher berichten lassen. Eine Bekannte unserer Jungens, eine studiosa juris im zweiten Semester, will gleich mir nach Schluß der Vorstellung um 11 Uhr mit den Meinen zusammentreffen. Ein liebes, nettes, begabtes, hochgebildetes Mädel. Wir zwei trinken ein Glas Wein zusammen, ehe die anderen kommen. Ich nenne den Titel des Films, in dem sie sind, und - ich denke, mich rührt der Schlag - ich werde von der Kleinen, die vor einem Jahr an einem Berliner Gymnasium ihre Reifeprüfung glänzend bestanden hat, gefragt:
"Scapa-Flow, was ist das ?"
Mein Gott. Das Herz stockt. Es gibt wohl auch heranwachsende deutsche Menschlein, die von Skagerrak oder Tannenberg nichts wissen. Nur vernebeltes vom 9. und 11. November. Für die "Versailles" ein totes Wort ist. Mein Gott, mein Gott. Geh' nicht allzuhart mit den Eltern ins Gericht. Denn die verdienen doch das höllische Feuer, wenn sie auch versagt haben, wo die Schule versagte. Was soll aus uns werden ? Noch nicht der zehnte Teil des deutschen Volkes ahnt, welches Schicksal eben erst am 11. und 12. März im Reichstag ihm gehämmmert worden ist.
Young-Plan, was ist das ?
Wir hüpfen lachend über morsches Frühjahrseis. Kaum einer hört das Röcheln und Gurgeln der schwarzen Gewässer.
Noch vor zehn Jahren war es anders. Da war noch die lebendige Überlieferung aus helleren Zeiten da, da wußten die damals Zwanzigjährigen noch, was es bedeuten könne, als plötzlich überall in Berlin das Schwarzweißrot wieder emporflatterte, auf den öffentlichen Gebäuden die alte Kriegsflagge. Die Kapprevolte war ein Knabenstreich. Aber sie rettete die Republik vor dem Bolschewismus, der just in jenen Tagen zu seinem Hauptschlag ausholte. Es ist eben, wo ich dies schreibe, der 13. März. An diesem Tage vor zehn Jahren klingelt in aller Herrgottsfrühe mein Ältester bei mir an, den ich in Doeberitz wähne, wo er als Leutnant zur Brigade Ehrhard gekommen ist. Morgens um 6 Uhr schrillt das Telephon.
"Guten Morgen, Vater! Ich stehe auf dem Wilhelmsplatz!"
Was ist los ? Man ist ahnungslos. Eine halbe Stunde später bin ich bei den Leuten, die ausgezogen sind, dem Staate zu helfen, die Verfassung - nicht die des Kaiserreiches, sondern die von Weimar, die kein regierender Bonze mehr achtete - wiederherzustellen und das Reich vor den Spartakisten zu behüten.
Ein Teil dieses Programms ist durchgeführt worden, obwohl das Unternehmen selbst scheiterte; nicht aber gelang die Hauptsache: neue, aufrechte, mannhafte Männer anstelle der parlamentarisch-demokratischen Mollusken in die Regierung zu bringen. Die man präsentierte, denen fehlte jede geschäftsmäßig-politische Klugheit und - der Wille zum letzten Schritt. Die Spartakisten wurden im Laufe der folgenden Monate in Mittel- und Westdeutschland niedergeschlagen, die Staatsmaschine kam wieder in Gang, aber mit ihren alten verbrauchten Werkmeistern.
Der Freiheitswille der Nation wurde erstickt. Im Sommer 1920 trat die Deutsche Volkspartei mit vollem Unterwerfungswillen in die Regierung ein. Von da her, und nicht erst seit Locarno, datiert der Niedergang, wird systematisch jeder Widerstand gegen die Nachkriegszerstörung Deutschlands, wie die Entente sie durchführte, dem nationalen Deutschland verwehrt. Die Erfüller, die an Ententetischen tafeln, sind obenauf. Im März vor zehn Jahren waren sie, als die Marinebrigade in Berlin einmarschierte, ganz klein geworden. Rauscher, der uns jetzt als Gesandter in Warschau den Polenvertrag serviert, war damals Pressechef des Reichskanzlers, des von Barmat bezahlten Genossen Bauer, der gerade noch rechtzeitig nach Dresden ausgerissen war. Man nahm den Pressechef, der unmittelbar davor, unter Fälschung der Unterschriften, den Aufruf zum Generalstreik namens des Reichskabinetts niedergeschrieben hatte, in Haft. Er brach in die Knie und stammelte:
"Sie kennen doch meine wahre Gesinnung! Ich habe doch früher schon Mitarbeiter der Deutschen Tageszeitung werden wollen."
Es gab viele, die damals vor zehn Jahren in Berlin plötzlich ihre "wahre" Gesinnung entdeckten, genau so, wie anderthalb Jahre vorher im November viele Leute als "eigentliche" Sozialisten aufwachten, die früher wilde Kriegsbroschüren oder schleimige Kaiserhymnen geschrieben hatten.
Die Tapferen, die niemals den Mantel nach dem Winde hängen, sind immer in der Minderheit, die Mehrheit fällt jedem Umschwung anheim; das ist ein erbärmliches Zeugnis für die Völker, aber eine Hoffnung für die Männer, die die Geschichte machen. Heute sind diejenigen, die sich gegen die Young-Gesetze gestemmt haben, noch eine Minderheit, heute haben noch - noch - 54 Prozent der Reichstagsabgeordneten dafür gestimmt. Aber die Freiheitsfront wächst. Sie wird einst Rechenschaft von denen fordern, deren "wahre" Gesinnung immer Unterwerfung heißt.
Den Glauben an die Freiheitslieder des Proletariats habe ich längst verloren. Die Massen lassen sich immer beherrschen, nicht nur von dem Landesfeind, dem gegenüber jeder Trotz schwindet, sondern auch von dem Bonzen aus eigenen Reihen. Die angebliche Revolution ist Lohnbewegung gewesen, der angebliche Freiheitsdrang ist Drang zur Futterkrippe. Parteileben und Gesellschaftsleben züchten Herden, nicht Persönlichkeiten. Und die größte Angst, die der Emporgekommene von unten hat, ist meist die Angst vor der Umwelt, die am Ende finden könnte, daß man sich noch nicht ganz stilgemäß benimmt. Im allgemeinen ist dieses Benehmen ja nicht unerlernbar, Art und Unart eignet man sich schnell an, und dann sind die Noch-nicht-Arrivierten womöglich stolz darauf, daß einer der Ihren von den früheren Bourgeois kaum mehr zu unterscheiden ist, nur noch korrumpierter ist. Die ungezählten Prozesse gegen sozialdemokratische Würdenträger, denen Unterschlagung und Betrug und Bestechung nachgewiesen worden ist, haben die Partei nicht zu erschüttern vermocht. "Na ja, heute klauen eben unsere Leute, früher waren es die anderen", erhält man zur Antwort.
Dann, verweist jemand auf die Berliner roten Kommunalgrößen, die bei Kannenberg in der Dorotheenstraße auf Kosten der Sklareks bei Champagner zu 30 Mark die Flasche schlemmten, heißt es gleichmütig: "Warum sollen sie sich nicht auch mal amüsieren ?", wobei gar kein Unterschied dazwischen gemacht wird, ob jemand von seinem eigenen Gelde oder als Bestochener sich amüsiert. Als neulich der Genosse Senatspräsident Grützner, übrigens für seine Person auch nicht gerade ein Cato, sich darüber beschwerte, daß der sozialdemokratische preußische Innenminister mit seiner "Maitresse" bei offiziellen Festen erscheine, da - flog Grützner aus der Partei. Eine Maitresse haben, das ist doch vornehm, nicht ? "Und heute sind wir die Vornehmen, daß es Ihr nur wißt!"
Diese Feststellungen haben mit moralischer Anprangerung nichts zu tun. Wir sind allzumal Sünder. Nur Pharisäer sollen wir nicht sein. Jahrzehntelang hat die Sozialdemokratie in der Agitation davon gelebt, daß sie die Sünden des Bürgertums ausrief. Erst der Sozialismus bringe die neue Moral. Nun ist er da; aber nicht die Moral.
Wir müssen wieder wie unsere Vorväter von 1813 werden.
Leider hilft die Schule weniger als früher dazu. Leider versagt die Werkstatt. Leider ermannt sich nicht jede Familie. Es gibt fast nur noch eine Stelle, an der Männlichkeit und Führertum gelehrt, der Dienst am Staate ohne Rücksicht auf Vorteil und Genuß gepredigt und gelebt wird, das ist die Reichswehr.
Da ist noch vorbildliche Erziehung. Vielleicht wächst in einem der jungen Fähnriche von heute der zukünftige Scharnhorst, der zukünftige Gneisenau heran, und findet in der älteren Generation noch seinen Blücher. Einstweilen, und das ist recht so, denken die jungen Leute freilich mehr an den Alltag und seinen Dienst als an die Zukunft. Der Alltag ist karger und härter als früher, die Ausbildungszeit, durchschnittlich vier Jahre, länger als früher, aber der Frohsinn ist deshalb noch nicht geschwunden, verträgt sich sehr gut mit dem - weil notwendig - größeren Ernste. Lachend erzählt einer von einer schönen Einladung zu einem Vorgesetzten, wo es gut und reichlich, und doch auch interessant und lehrreich gewesen sei. Zum Schluß habe es als Kompott Fähnrichsprüfungsbirnen gegeben. Was ist das nun wieder ? Je nun, das seien die härtesten Birnen aus dem Wecktopf, die das Bestreben hätten, wenn man sie auf seinem Teller zerteilen wolle, auszurutschen und einen Weitsprung zu machen.
13. März 1930 (Donnerstag)
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Studentenferien - Prinzen- und Kronprinzengeschichten - Gesellschaft im Palais Dirksen - Der Fall Hindenburg.
Der März ist für die Studenten schon Ferienmonat. Das Wintersemester ist zu Ende, ganze Züge voll bringen Tausende von Berliner Musensöhnen hinaus in die Elternhäuser im Lande, umgekehrt kommen Tausende, deren Elternhaus in Berlin oder Umgegend steht, hierher von auswärtigen Universitäten zurück. Die bunten Mützen, die in der Reichshauptstadt überhaupt sozusagen ertrinken, truppweise nur mal sonntags Unter den Linden auftauchen, verschwinden in den Ferien ganz. Der Hochschulbetrieb überhaupt macht sich dann kaum mehr bemerkbar; nur die Familien sind froh, daß sie "ihren Jungen" wieder daheim haben.
In Königsberg in Ostpreußen hat bei Ferienbeginn ein hochgeschossener Student, ohne einen Gepäckträger zu bemühen, mit seinem Koffer sich zu dem Zuge begeben, der die Nacht durch nach Berlin fährt, und hat seinen Platz in der dritten Klasse - Holzklasse, Hokla - eingenommen.
Es ist der Prinz Wilhelm, der Älteste des Kronprinzen.
Weshalb er dritter Klasse fährt ? Sicherlich nicht aus Effekthascherei, aber auch nicht aus Mangel an Mitteln; so viel haben die Eltern natürlich, um ihrem Sohn die nächtliche Heimfahrt in der zweiten Klasse zu ermöglichen. Aber er will nicht. Er ist, wie auch andere Zollernprinzen vor ihm, seine ersten Studiensemester hindurch eifriger Korpsstudent gewesen, allerdings wie auch alle mit leisem Aufbegehren gegen den Zwang des Bierkomments. Jetzt beteiligt er sich nicht mehr aktiv an irgend einer studentischen Verbindung, die "gesellschaftliche Rücksichten" zu nehmen hat, ob nun Couleur aufgesetzt wird oder nicht, sondern er ist nur, mit ganzem Herzen, Stahlhelmer. Er hat seine Kommilitonen gern, aber seine Kameraden vielleicht noch lieber. Bis zu den schlichtesten ehemaligen Frontsoldaten - "Muschkoten" - herab; und es tut ihm leid, daß er selber während des Krieges noch ein Kind war und nachher in der Republik nicht Soldat werden konnte. Es ist das reine Gefühl der Kameradschaftlichkeit, das ihn den eifrigen Gruppenführer im Jungstahlhelm, dazu veranlaßt, stets dritter Klasse zu fahren; so wie unsereins im Kriege auf demselben verfaulten Stroh und in demselben Matsch neben seinem Telephonisten oder seinem Burschen lag und nichts dabei fand.
Wenn einer ein Prinzensohn oder ein Königssohn ist, so ist immer Klatsch um ihn. Umsomehr sollte man, wenn man zu den anständigen Menschen sich rechnet, schlichte und verbürgte Wahrheit verbreiten. Von Wilhelms Bruder Louis Ferdinand wird gerade wieder so etwas mißgünstig Erfundenes erzählt.
Äußerlich sieht dieser Prinz nicht so preußisch aus, eher wie ein schlaksiger junger russischer Großfürst, und seine Interessen sind mehr weltwirtschaftlich als militärisch. Schon als Gymnasiast hat er perfekt spanisch gelernt und ist später in Madrid, dann in Buenos Aires gewesen, wo er noch heute bei Ford angestellt ist, und hat von dort aus kürzlich eine Urlaubsreise nach Chile am Stillen Ozean gemacht, -und da sei "die peinliche, aber bezeichnende" Geschichte passiert. Tja, leider. Also die Deutschen in Valparaiso oder sonst einem Ort wollen den Prinzen im Klub begrüßen, haben sich in Gala geworfen, ihre Orden angelegt, darunter ein ehemaliger Fliegeroffizier den Pour le Mérite. Tritt da Prinz Louis Ferdinand ein und sagt wegwerfend:
"Warum tragen Sie eigentlich den ganzen Blechladen vor dem Bauch ?"
Scheußlich. Betretenes Schweigen unter uns, denen das mitgeteilt wird. Von einem durchaus "nationalen" älteren Herrn. Er hat es von Bekannten, die Verwandte irgendwo in Chile haben. Aber da, da kommt die Erlösung! Ein Zuhörer läuft rot an und sagt scharf und bestimmt, er wisse es besser. Wenn wir Deutschen doch die verdammte Klatschsucht aufgeben wollten! Also da sei eben ein Deutscher aus Chile nach Berlin heimgekehrt, der sei bei dem Empfang dabeigewesen und habe ihn erst gestern, ohne Ahnung von dem Klatsch, ganz anders wiedergegeben. "Bitte, Sie können ihn selbst fragen, rufen Sie ihn telephonisch an, Pfalzburg 8277!" Also der Prinz sei hingekommen und habe gesagt: er bitte um Entschuldigung, daß er aus Unwissenheit im einfachen Reiseanzug erschienen sei, er sei beschämt, daß ihn die Herren so ehrten und sogar Orden angelegt hätten! Das war alles. Und alles hatte der Klatsch verdreht.
Der Erzähler - oder vielmehr Berichtiger - kann gleich noch eine Parallele liefern. Er fährt im Kriege nach einer Inspizierung mit dem Kronprinzen zurück in das Quartier Charleville. Unterwegs, in Sedan, in einer kleinen Straße, Panne. Die Chauffeure haben - der Wagen steht gerade vor einem Bäckerladen - eine Viertelstunde zu reparieren. Der Kronprinz tritt ein. Ein niedliches Bäckerfräulein, mit einem Kind auf dem Arme, bedient ihn, verkauft ihm eine große Brezel. Er beißt ab, steckt dem Kinde und schließlich scherzend auch dem Mädel ein Stück in den Mund. In aller Öffentlichkeit. In aller Harmlosigkeit. Man weiß ja: solches Schäkern ist bei ihm Natur. Er scherzt nicht nur mit jedem schönen Mädchen, sondern auch mit jeder alten Frau, mit jedem Kinde, mit jedem Soldaten; und die mögen ihn gerade deshalb gern.
"I bin eifacher Muschkode gwese, aber dees, wissese, hat mer nie gfalle, daß der luschtige Kronprinz so beschimpft worre ist!", sagt mir noch heute ein Weingutsbesitzer vom Neckar.
Also das Auto ist wieder in Ordnung, der Kronprinz braust davon. Einen Monat später sitzt eine Anzahl von Herren im Etappenkasino in Charleville beisammen, und ein Rittmeister erzählt, ja, der Kronprinz, der habe in Sedan in der und der Straße eine Geliebte, und sie habe schon ein Kind von ihm! In diesem Moment kommt vom Nebentisch ein Artillerieoffizier, der die damalige Fahrt mitgemacht hat, erklärt, daß der Kronprinz nie vorher oder nachher dortgewesen sei, und verlangt von dem Rittmeister den Gegenbeweis, widrigenfalls . . .
Den Rittmeister hat man seither nie wieder im Kasino gesehen.
Wo wir diese und andere Erinnerungen ausgetauscht haben ? Auf einer großen Gesellschaft bei Frau v.Dirksen. Exzellenz v.Dirksen, Witwe des Wirklichen Geheimen Rats aus dem Auswärtigen Amt, dessen Sohn heute Botschafter in Moskau ist. Dirksens gehören zu den wenigen letzten Leuten in Berlin, die noch so etwas wie einen "Salon" alter Art unterhalten können, wo der Staatsmann, der Politiker, der Soldat, der Künstler seelisches Ausruhen und tiefes Behagen finden, dazu eine kulturgesättigte Umgebung, wie man sie in unserem verarmenden Lande sonst kaum mehr findet. Ich habe vor Jahren, während der Inflationszeit, einmal erzählt, daß Frau Simrock, die Witwe des großen Berliner Musikverlegers, genötigt war, von ihrer berühmten Böcklin-Sammlung, der reichhaltigsten der Welt, die "Toteninsel" und einige andere Gemälde an das Ausland zu verkaufen. Dirksens haben so etwas Gottlob noch nicht nötig gehabt, nur hat die Frau freilich allerlei an Hypotheken aufnehmen müssen, um alles so aufrechtzuerhalten, wie es unter dem verstorbenen Dirksen und seiner ersten Frau gewesen war. Ihre "Villa" in der Margaretenstraße 11 im Tiergartenviertel ist einst unter sachverständiger Beratung durch Exzellenz Bode, den Generaldirektor der Museen, einfach als Behältnis für Herrn v.Dirksens Kunstschätze, von denen ein wundervoller Tizian mich am meisten begeistert, erbaut worden. Einer der Säle, dabei wie alle behaglich wohnraumartig, ist ganz italienische Hochrenaissance: Bilder, Plastiken, Wände mit Stuck und Bespannung, Deckenmalerei, Vorhänge, Möbel, Gebrauchsgegenstände, alles, alles ist "echt" aus Italien gekommen.
Wie eine Königin, und doch wieder gastfreie deutsche Hausfrau, bewegt sich hier Frau v.Dirksen. Auch der Kaiser ist vor dem Kriege oft hiergewesen und hat sich in dieser Kunstatmosphäre - schon in den Vorzimmern liegen kostbare Inkunabeln - unendlich wohlgefühlt.
Diesmal befinden sich unter den Gästen - es mögen an die hundert sein - neben vielen Politikern der Rechten und sonstigen Männern des öffentlichen Lebens, für die nach dem Buffet ein geistvoller Vortrag des Hofpredigers Döhring noch eine besondere Würze ist, auch einige Damen der alten Gesellschaft und das Prinzenpaar Oskar von Preußen. Aber sonst ist sehr bunte Reihe, bis zu dem kleinen Bäuerlein aus der Pfalz herunter, das Stielaugen macht. Ein witziger Parlamentarier benutzt dieses Erstaunen, nimmt einen Silberteller, zeigt ihn dem Manne aus der Pfalz und sagt:
"Blechgeschirr, praktisch, geht nicht kaputt!"
Schon der alte Klas Dirksen, um 1660 Bürger in Danzig, war ein tüchtiger Mann, die Nachfahren in Königsberg und Berlin mehrten in Arbeit und Sparsamkeit das Erbe, der Großvater des jetzigen Erben wurde dann "so richtig" reich, aber die Familie benutzte das nie zu sinnlosem Luxus. Sie schuf sich dieses Heim sozusagen als deutschen Nationalschatz, zu dem auch Kunstbegeisterte aus fernen Ländern pilgern; und als vor dem Kriege das Forschungsinstitut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet wurde, da konnte Exzellenz v.Dirksen aus überquellendem Herzen und Bankkonto 1 Million Mark bar dazu stiften. Heute ist das nicht mehr möglich, heute haben Inflation und Finanzamt das meiste rasiert, heute ist die Dienerschaft und allerlei sonst noch sehr eingeschränkt. Aber es ist immer noch ein Heim, auf das wir Deutsche stolz sein können. Es ist eines der letzten. Da haben die Engländer doch noch viel, viel mehr, obwohl auch bei ihnen manches Schloß, manche Villa schon unter den Hammer kommt.
Nicht nur deutsches Verarmen, sondern auch deutsche Schwäche lähmt einem heute jedes Lächeln. In diesen Youngwochen wird auch ein loser Spötter, der sonst vom Leben vor allem die lustigen Seiten sieht, für eine Weile ernst. Auf Gesellschaften wird weniger gelacht als sonst. Auch bei Dirksens diesmal an jedem Tisch zuletzt das eine schmerzliche Thema: Hindenburg.
Der gefangene Germanenfürst im Triumphzug der Welschen, das ist das Bild, das vor dem inneren Auge ersteht. Nun haben die Treiber, um das eigene böse Gewissen zu bepflastern, das Dokument mit Hindenburgs Unterschrift erzwungen. Welch' ein Wandel seit fünf Jahren! Damals, noch bevor die Parteien an die Kandidatur Hindenburgs dachten, besuchte ein Privatmann ihn in Hannover, um festzustellen, wie er darüber dächte. Zum ersten Male gebe ich die Erinnerung heute in die Öffentlichkeit. In seinem schweren Grundbaß sagte Hindenburg:
"Jawohl, wenn Seine Majestät der Kaiser damit einverstanden ist! Außerdem würde ich nur in Potsdam, nicht in Berlin residieren! Und nur die schwarzweißrote Flagge kommt mir aufs Haus!"
It is a long way to Tipperary.
Wenige Tage später, als damals Hergt und Stresemann ihn gemeinsam aufsuchten, hatte er schon mehr über die Sache nachgedacht. Er sagte den beiden Herren, natürlich könne er, wenn er Reichspräsident würde, nicht als Parteimann der Rechten regieren. Aber daß er 1930 das Vernichtungsdokument gegen Deutschland unterschreiben würde, hat er sich damals wohl kaum vorgestellt.
Dazwischen noch ein Aufraffen, 1927, als Deutschnationale im Reichskabinett saßen. Auf ihr Betreiben sprach Hindenburg in Tannenberg den Widerruf der Kriegsschuldlüge; mit reinem Herzen und reinen Händen seien wir in einen Verteidigungskrieg gezogen. Deutsche Volkspartei und Sozialdemokratie bagatellisierten die Erklärung, machten sie zunichte. Und dann, 1929, ließ Hindenburg, als sein Tannenberg-Schwur im Volksbegehren wieder auflebte, sich dazu herbei, dagegen Stellung zu nehmen. Das Schlimmste ist zum Schluß jetzt die Aufforderung zur Volksgemeinschaft mit Judas Ischarioth. Auch der sterbende alte Attinghausen in Schillers Tell haucht sein "Seid einig! Einig! Einig!", aber er meint die Einigkeit der Freiheitskämpfer. Niemals hätte er den Seinen zugemutet, Hand in Hand mit den Feinden und Überläufern zu arbeiten.
Und dennoch!
Und dennoch ist es falsch, wenn wir den Ragenden, dessen weltgeschichtliche Größe durch sein jetziges Zusammensinken nicht ausgestrichen werden kann, etwa haßerfüllt oder verächtlich beiseitestellen. Was er trotz alledem dem deutschen Volke bis in die heutigen Tage hinein war, wird vielleicht erst ein kommendes Menschenalter offenbaren.
Er ist für die Linke das unbegreifliche Wunder. "Dieser Reichspräsident, der kein Sozialdemokrat, kein Roter ist, der vielmehr von den national zuverlässigen, ordnungsliebenden und wirtschaftlich gehobenen Schichten auserlesen und gewählt worden ist, dieser Reichspräsident hat sich auf die Seite der Armen, der Arbeitslosen gestellt, er fordert von den Bessersituierten, den wirtschaftlich Gesicherten ein Opfer!", schreibt in seiner Abendausgabe vom 3. März der Vorwärts, nachdem Hindenburgs Äußerung gegenüber dem Volksparteiler Scholz, man müsse für höhere Beiträge zur Erwerbslosenversicherung sein, der Öffentlichkeit bekannt geworden war.
Ganz erschüttert - und das will bei diesem Blatte viel sagen - erklärt der Vorwärts, diese Äußerung habe "geradezu explosionsartig" gewirkt.
Was flog denn da in die Luft ? Die alte, dem Proletariat eingetrichterte Auffassung, daß es nur "eine" reaktionäre Masse gebe, in der Unternehmer und Pfarrer, General und Student sich von einander nicht unterschieden. Und nun plötzlich Hindenburg, von der Rechten an die Republik verschenkt: kein Reaktionär. Das verkörperte Pflichtgefühl, das verkörperte deutsche Gewissen, fern von allen Bindungen des Voreingenommenseins.
Gewiß, er ist heute von der Linken verstrickt und umschnürt, sie expediert ihn wie einen Warenballen, aber das konnte sie nur, weil er sich selbst aufgab und sich ganz in den Dienst der vermeintlichen, ihm aufgedrängten Staatsidee stellte.
Das hätte kein Mann der Linken, der in die Hände der Rechten geraten wäre, fertiggebracht. Selbst in dem Zusammenbruch Hindenburgs steckt also, so paradox es auch klingen mag, unerreichbare Größe, und sie wird, ganz anders, als wir Heutigen es uns denken, einst Früchte tragen, wenn die Massen, durch die Linke ins Unglück gebracht, an ihr verzweifeln und sich sagen: Nur einer von rechts kann uns retten,, denn nur einer von rechts handelt nach seinem Gewissen!
20. März 1930 (Donnerstag)
30
Sehnsucht nach und aus der Großstadt - Konfirmandenzeit - Der dazugehörige Trousseau - Was wir schenken - Gaststätten-Pleite - Wo man noch bacchantisch ist - Das Fest der Staatenlosen.
Not und Lust peitschen den Großstädter. Alles wird "Betrieb", die Arbeit und das Vergnügen. Die Ruhe und das Idyll kommen zu kurz. "Wer't mag, de mag't ja woll mögen!", sagt Fritz Reuter. Eine alte Lehrerin aus einem einsamen Gutshofe schreibt mir ihre Sehnsüchte nach diesem Leben, kommt her, besucht mich. Ich sage: "Ach Gott, wenn wir doch tauschen könnten!" Aber, meinetwegen, ein bißchen Betrieb will ich ihr zeigen. Leider ist sie schon gerade abgereist, als ich ein paar Tage später mit Mühe mich für ein paar Abendstunden freimachen kann.
Mit glänzenden Augen starrt alles her. Sogar die junge Mutter, die in Iringa in Ostafrika, in herrlichem, wildreichem Urwald, auf der Kaffeepflanzung haust, schreibt: "O, o, Berlin, Berlin!" Und dabei ist Ostafrika seit Jahrzehnten umgekehrt mein Sehnsuchtsziel; nur wenn ich ganz bescheiden bin, denke ich : wenn nicht Ostafrika, dann wenigstens eine deutsche Kleinstadt, wo man nach 10 Minuten Weges im Walde sein kann. Und wo man geruhig im "Spion", dem schräg gestellten Spiegel am Fenster, sehen kann, wie Lottchen und Lieschen zum Konfirmandenunterricht gehen.
In Berlin sieht man nur eiliges Gedränge an der Untergrund. Lottchen und Lieschen werden übersehen. Auch hier werden Kinder jetzt konfirmiert, zu Tausenden in allen Stadtteilen, aber das verschwindet in der Masse der Hunderttausende.
Solche Feste sind für die Großstadt kein Zeiteinschnitt mehr; sie machen sich auch öffentlich nicht bemerkbar. Gefeiert werden sie aber in den Familien des kleinen Mittelstandes und der Arbeiterschaft wie eine Hochzeit. Mit einer Fülle von Geschenken. Lottchen und Lieschen, die dann in die Handelsschule kommen oder Auslauferin oder Kartonagearbeiterin werden, erhalten Hemdhöschen aus Crêpe de Chine, seidene Strümpfe, Ringe mit Diamantsplitter und so viele billige Halsketten, daß ein Negerhäuptling daran genug hätte. Bis morgens um fünf wird getanzt und getrunken.
"Hast du schon einen Freund ? Nein ? Na, na!"
Die ersten gewagten Witze steigen.
Es wird einem ganz wehmütig, wenn man - aber nur in verlorenen Nebenstraßen - jetzt irgendwo in einem Schaufenster kleine künstliche Myrthensträußchen sieht, die für die Konfirmanden bestimmt sind.
Als ich konfirmiert wurde, da kannte man das pomphafte Feiern und das luxuriöse Aussteuern noch nicht; da saß ich, freilich in einem neuen Anzug, Hand in Hand mit den Eltern und sonstigen Nächsten da, hatte sie alle so furchtbar lieb und wollte ein guter Mensch werden. Ging auch artig früh zu Bett, nachdem ich meine wenigen Geschenke geordnet: eine Schlipsnadel und drei Bücher. Darunter "Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen?" von Wiese. Ich habe das Buch noch. Aber ich will nur gestehen: ich habe es niemals ganz durchgelesen. Nur das kleine Neue Testament in biegsamem Leder ist mir ein guter Gefährte gewesen.
Gegen die fromme Traktätchenliteratur bin ich noch heute, weil sie selten für die brausende Jugend etwas taugt. Aber Bücher überhaupt, ja, Bücher, die sind immer mein Hauptgeschenk. Gerade jetzt, wo die Schule den Kindern vielfach das Beste vorenthält, die Kenntnis der eigenen deutschen Geschichte.
Ob es sich nun um die Kinder eines Geheimrates oder eines Droschkenkutschers, eines Portiers oder eines Generalmajors handelt: jedesmal schenke ich zur Konfirmation die "Deutsche Geschichte" von Kabisch, Verlag von Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen, das einzige mir bekannte nicht zu teure und anekdotisch fesselnd geschriebene Buch, sogar mit zahlreichen Bildern, das gleich verständlich und anregend für Kinder aus sogenannten gebildeten Familien und Kinder einfacherer Leute ist, vielfach auch von den Eltern und Dienstboten und Nachbarn gern gelesen wird. Der gute alte, deutsche, vaterländische Sinn webt darin. Es ist keine eilige Umstellung auf den November. Handelt es sich um schon ältere Gymnasiasten, so beschere ich ihnen zur Konfirmation daneben das im Verlage von Mittler u.Sohn in Berlin erschienene von Generalmajor v.Cochenhausen herausgegebene "Führertum", ein Werk, auf das unsere Reichswehr stolz sein kann. Von Epaminondas über Cromwell, de Ruyter, Friedrich den Großen, Napoleon, Lee bis zu Moltke die Lebensbilder von 25 großen Führern der Geschichte, preisgekrönte Arbeiten von lauter aktiven Offizieren des Heeres und der Flotte. Das Buch lehrt nicht Monarchie oder Republik, aber Mannheit und Staatsgesinnung, ist emporreißend auch für diejenigen, die heute in unserem staatlichen Elend die Flügel hängen lassen. Cochenhausen habe ich kennengelernt, als er noch junger Leutnant war. Was ein Speerschaft werden will, das reckt sich beizeiten: er war einer unserer gebildetsten Offiziere.
Jungen Mädchen schenke ich dieses Buch freilich nicht. Denen nur Kabischs Geschichte. Und dann - bitte nicht lachen - Henriette Davidis Praktisches Kochbuch (Verlag von Velhagen u.Klasing), seit Jahren herausgegeben und modernisiert durch Frau Professor Luise Holle. Diese Frau Holle aus Vegesack braucht man bloß einmal zu sehen, um sofort Vertrauen zu ihr zu haben, so gut altväterisch-hausfraulich sieht sie aus, obwohl sie stets - aber nur in ihrem Bereich, der Küche - auf das Neueste erpicht ist. Ganze Generationen haben das Buch schon erprobt. Ich selber - nun dürfen Sie lachen - habe es mir, nachdem ich es zuerst als Kind in den Händen der Mutter gesehen, als reifer Mann ins Feld nachschicken lassen. Es ist wirklich das beste der existierenden. Um so größer mein Triumph, weil ich an einer einzigen Stelle doch einen Fehler habe feststellen können. Wie "Borschtsch" gemacht wird, das wissen wir, die wir selber bis tief nach Rußland, bis in die Ukraine, gekommen sind, besser als Frau Holle. Die saure Sahne, verehrte Frau Professor, wird nicht mitgekocht, sondern nach dem Auftragen hineingerührt! Und vor allem: Der Saft einer rohen roten Beete wird kurz vor dem Auftragen noch hineingeschüttet, sonst bekommt die Suppe nicht ihre herrliche Farbe!
In Berlin sind mit Rücksicht auf die Ausländer, die überall etwas Heimisches vorfinden sollen, die Speisekarten der großen Restaurants ungeheuer reichhaltig; da kann man denn nachprüfen, ob die Rezepte für exotische Gerichte in unseren Kochbüchern stimmen. Nur gehen trotzdem die Restaurant vielfach ein, weil sie von den Ausländern allein nicht leben können, der Berliner aber "mangels Kasse" ausbleibt.
Völlig durchgesetzt hat sich jedoch der Kempinski-Betrieb im Haus Vaterland am Potsdamer Bahnhof, nur daß im Laufe von zwei Jahren das Publikum sich sehr verändert hat. Es ist "durchaus Provinz" und, soweit Hiesige in Betracht kommen, auch sicherlich nicht Berlin W; aber wer von außerhalb kommt; getreu der Parole "Jedermann einmal in Berlin", der geht hin, weil man dagewesen sein "muß", wie ehedem in Castans Panoptikum oder in den Amorsälen aus verklungener Zeit. Meist ist er dann grimmig enttäuscht. Nein, dieses Publikum! Nein, dieses Programm! Weiß schon, weiß schon; aber das liegt nur daran, daß man nicht schon "in Stimmung" hinkommt und nicht im Rudel hinkommt.
Habt ihr daheim eine Gesellschaft gehabt, seid ihr schon animiert, dann fahrt, zwei oder drei Autodroschken voll, spät abends zum Kempinski-Betrieb mit der festen Absicht, "Quatsch zu machen" und euch so zu amüsieren, wie man es dem Vernehmen nach beim Bockbier in der "Neuen Welt" in der Hasenheide tut. Dann lernt ihr das kennen, was an Berlin bacchantisch ist. Wer Stimmung mitbringt, der erzeugt auch im Handumdrehen Stimmung; nach zehn Minuten hat er schon mit der jungen Frau vom Nachbartisch die Arme verhenkelt und trinkt mit ihr Brüderschaft. Wie sie heißt ? Keine Ahnung! Ob du sie im Leben wiedersiehst ? Wohl kaum! Aber die Leute an deinem eigenen Tisch, und wenn es die ärgsten Philister sind, werden aufgekratzt, wenn erst einige Liter Grinzinger, der billig und bekömmlich ist, verbraucht sind.
Einmal landet ihr vielleicht auch im blauen Dämmer des türkischen Cafés daselbst, wo jede Frau und jedes Mädel endlich erkennt, wozu es zwei Hände hat: damit der eine Nachbar die eine küssen, der andere die andere streicheln kann. O daß man hundert Hände hätte, nicht wahr ?
Um ihnen dieses harmlos bacchantische Berlin zu zeigen, sind wir neulich mit zwei deutsch-chilenischen Ehepaaren, die alsbald begeistert in dem Milieu schwammen, und der übrigen Gesellschaft im Kempinski-Betrieb gewesen. Zu besonderer Freude unseres ganzen Rudels mit einer "pollita", einem "Putthühnchen" aus guter Familie; wenn so ein junges, lebenslustiges Mädchen dabei ist, ist es alsbald der Verzug aller Anwesenden.
Die sogenannte Vitalität eines Menschen läßt sich bloß erhalten, wenn Arbeit und Vergnügen, Spannung und Entspannung abwechseln; der nur zersorgte Mensch wird in seiner Schaffenskraft gelähmt, und wenn dem Berliner nachgesagt wird, daß er sich sehr lebhaft amusiere, so steht dafür auch seine scharfe Qualitätsarbeit außer Frage. Dieser Tage haben sogar die Ärmsten der Armen, die Staatenlosen, von denen ich im vorigen Jahre erzählte, seit 1917 zum erstenmal ein richtiges Fest gefeiert. Die alten Nansenbaracken auf dem Tempelhofer Feld sind abgerissen, da wurden sie auf die Straße gesetzt. Ein Teil von ihnen ist jetzt im "Negerdorf" untergebracht, wie es im Volksmunde seit der Farbigen-Einquartierung im Kriege heißt, in den Baracken Berlin-Tempelhof, Berliner Straße 169; ein anderer Teil in Baracken in Spandau; der Rest in einem abbruchsreifen, verfallenen Hause im Berliner Zentrum.
Vom Völkerbund (lies: Schlesinger), der nichts für sie tat, haben sie sich freigemacht und einen eigenen Verein gegründet, an dessen Spitze der Oberst a.D. v.Berg steht, ein Deutschrusse. Zu dem Fest im großen Saale der Freunde in der Potsdamer Straße ist er in viel zu kurzen Hosen gekommen; wer weiß, welcher kleine Mensch ihm den Smoking-Anzug geschenkt oder gepumpt hat. Auch andere Besucher würden unter anderen Umständen als komisch auffallen, aber hier unter den Vertriebenen hat man kein Auge dafür, man freut sich mit ihnen und man ist in durchaus guter Gesellschaft.
Mit nur 1 Mark in der Vereinskasse sind die Staatenlosen ans Werk gegangen, haben ein hervorragendes Programm zusammengestellt und - 560 Mark Reinüberschuß erzielt, also etwa einen Taler pro Kopf. Das ist für Leute, die meist nur zweimal in der Woche ein richtiges Mittagbrot haben, schon etwas Beträchtliches; und der gelungene Abend hat wieder neuen Lebensmut gebracht.
Solche Wohltätigkeitsfeste von Verarmten (nicht nur für Verarmte) waren früher manchmal sehr langweilig. Unausweichlich besonders "die Dame mit den getragenen Sachen", nämlich die Patronessa, die Lieder sang, getragene Lieder. Nein, das gab es hier nicht! Allerdings einen lustigen Sechsmännerchor. Aber sonst: fast nur Tanz. Entzückend zwei kleine Mädchen aus der Ballettschule der Nikolajewa, besonders reizvoll dann Tatjana Sawitskaja und Hede Mehrmann aus der Eduardowa-Schule. Dann der junge Schneidenbach als Balalaikaspieler, ferner Olga du Chêne als "Zigeunerin". Eine Fülle von Talenten. Dazu, nur im Publikum, nicht auf der Bühne tanzend, die siebzehnjährige Tochter des von den Bolschewiken ermordeten Generals Rachmaninow, eine königliche blonde Erscheinung, die schon ein Vierteljahr lang in Paris als Tänzerin aufgetreten ist. Aber mit ihren 180 Zentimetern ist sie den Parisern zu groß. "Was sollen wir mit dieser Brünhilde ?" haben die Franzosen gesagt. Jetzt sitzt sie bei der Mutter in der Staatenlosenbaracke in Berlin und hofft, unter den hochgewachsenen Deutschen vielleicht als Mannequin eine Anstellung zu bekommen.
Das Fest, das ich um Mitternacht verließ, soll bis 6 Uhr früh gedauert haben und ohne jeden Mißton verlaufen sein. Dann wurden die gepumpten Kleider eingepackt, das schäbige eigene Zeug wieder bereitgelegt. Der eine setzte sich auf den Bock seiner Droschke, der zweite ging wieder zu Siemens Kisten nageln, der dritte in die Zigarettenfabrik. Eine Dame setzte sich sofort wieder an die Nähmaschine, eine zweite ging an ihre Kochstelle im Restaurant, eine dritte - die junge Frau eines Oberstleutnants a.D., mit der ich eben noch getanzt hatte - an ihren Kleistertopf in der kleinen Buchbinderei.
27. März 1930 (Donnerstag)
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