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Am Markt der Titel-Eitelkeit - "Der Kaiser von Amerika" - Werner-Krauß-Jubiläum - Konzert der Cecilienhilfe - Von deutschem Adel - Historische Kostüme im Letteverein - Die liebe Ministerialrätin.
Als junger Mensch glaubte ich einmal, der häufigste amerikanische Vorname laute: Körnel. Denn immer wieder stellten sich Amerikaner als "Colonel" Soundso vor, also als Oberst.
In Deutschland sind umgekehrt nur die militärischen Titel noch nicht demokratisiert, dagegen alle anderen. Der Doktor humoris causa ist für jeden besseren Gewerkschaftsbeamten erreichbar. Staatssekretär oder Präsident oder Ministerialdirektor: für Zielbewußte eine Kleinigkeit. Sitzt man mit Parlamentariern zusammen und kennt einen von ihnen nicht, so tut man gut, ihn mit "Herr Minister" anzureden. Entweder ist er es oder er war es. Oder er will es werden, und dann geht ihm die Voraus-Titulierung ebenfalls glatt herunter.
Die übrige Berliner Menschheit aber heißt Direktor.
Selbst die Friedrichstraßenmaid sagt nicht mehr "Na, Dicker ?", wie in den proletarischen Zeiten des Kaiserreichs, sondern weiß heute, was sich schickt. Sie redet jeden Grünling nur noch mit Doktor oder Direktor an. Die Eitelkeit der Männer aller Republiken ist ungemessen. Auch in Frankreich spielt der "monsieur décoré" seit Jahrzehnten seine Rolle; wer sich überhaupt einen schwarzen Rock leisten kann, der trägt auch sicher eine Ordensrosette im Knopfloch. Ist es nicht die Ehrenlegion, so ist es doch vielleicht die Auszeichnung für Kunst und Wissenschaft von Abessinien.
Man kann die Eitelkeit und Wichtigtuerei und Dummheit verhöhnen. Dann - lachen die Verhöhnten geschmeichelt. Seit Wochen ist die Berliner Aufführung von Shaws "Kaiser von Amerika" überlaufen, diese beißende Satire auf englische Demokratie und Demokratie überhaupt. Ein paar Intellektuelle dieser Schicht zogen freilich eine Schnute. Darauf lud Max Reinhardt zu einer Sondervorstellung alle Minister und sonstigen Würdenträger Berlins, den Reichskanzler Müller voran, in das Deutsche Theater ein, und siehe da, - sie lachten. Shaw ist ein Schäker. Wenn dieser lange Ire und angebliche Sozialist - aber auf Mussolini hat er einen begeisterten Panegyrikus angestimmt - eine "Heilige Johanna" dichtet, dann ist es ihm nur darum zu tun, die englischen Kriegsrichter von anno dazumal in Rouen und ihre willfährigen französischen Priester aus dem besetzten Gebiet dem allgemeinen Abscheu preiszugeben. Und die groteske Idee, einen englischen König vom Jahre, sagen wir, etwa 1950, also aus einer Zeit, in die wir schon eingetreten sind, zum Kaiser von Amerika (mit der Kolonie England) vorzuschlagen, ist die Schlußapotheose in seinem neuen Stück, das der blutigste Spott auf die Demokratie unserer Tage ist.
Er stellt die heutigen Republikaner-Parlamentarier an den Pranger und kitzelt sie vor allem Volk, bis sie brüllen. Sie stehen am Marterpfahl der Lächerlichkeit. Und Max Reinhardt gehört zu den Seltenen seiner Rasse, die nicht nur über Witz, sondern über echtesten Humor verfügen. Seine Inszenierung des "Kaiser von Amerika" ist in ihrem leichtbeschwingten Stil in der Theatergeschichte so epochemachend wie einst die von Shakespeares Sommernachtstraum.
Dazu hat er Darsteller, die kaum eine andere Bühne Europas aufweisen kann. Den König Magnus spielt Werner Krauß, der Pfarrerssohn aus dem Westerwald, der heute gerade vor 25 Jahren dem Lehrerberuf entwich, um fahrender Mime zu werden. Immer noch hat die Schauspielerei den mächtigen Reiz gerade für wahrheitsliebende, begabte Menschen. Der Grund ist klar. Im Leben schauspielern wir alle; im Schauspiel aber können wir uns geben, wie wir wirklich sind, können wir aus unseren tiefsten Tiefen schöpfen, unser Geheimstes offenbaren, unser Können und unsere Sehnsüchte. Es kommt nur darauf an, daß ein Theaterleiter uns erkennt und an die richtige Stelle stellt.
Von Werner Krauß sah ich schon vielleicht ein gutes Dutzend Verkörperungen oder vielmehr Enthüllungen, darunter den Luther, den Napoleon, den Gneisenau und - Charleys Tante: den Mann und das Kind im Manne, den souveränen Helden und den fröhlich Verspielten.
In seiner jetzigen Rolle ist er eine Art Eduard VII., ein Gemisch von Genialität und Leichtlebigkeit, dabei turmhoch erhaben über dem kleinen Gehudel der Beutepolitiker und Dollarmacher. Wie der "Sozialist" Shaw diese schildert, das ist geradezu Verjüngung für unser Zwerchfell. Wenn man Eduard v.Winterstein als Innenminister Balbus, Otto Wallburg als amerikanischen Botschafter Vanhattan, Maria Bard als Geliebte des Königs, Marga Lion als Ministerin für Verkehrswesen gesehen und diese Kabinettssitzung miterlebt hat, geht man beglückt heim, bereichert nicht nur für den einen Abend, sondern mit einem beständigen Schatz im Herzen.
Hin und wieder kann man in Berlin auch noch einen Blick in unsere vordemokratischen Zeiten tun. Noch existiert die alte Gesellschaft bei uns; nur daß sie von der großen Bühne des Lebens zur Zeit verschwunden ist. Gibt sie sich ein internes Stelldichein, dann ahnt man ihre Größen und ihre Schwächen.
Dieser Tage ließ der Kammerherr v.Stülpnagel im Auftrage der Kronprinzessin die Aufforderung zum Besuch eines Wohltätigkeitskonzerts für die Cecilienhilfe ergehen. Die Räume des Klubs der ehemaligen Gardekavalleriedivision in der Schadowstraße, von deren Wänden alte Reiterbilder von Königen und Prinzen herniedergrüßen, waren von dem Vorsitzenden Grafen Schmettow umsonst zur Verfügung gestellt; und umsonst gab die berühmte Geigerin Edith Lorand ihr und ihres Kammerorchesters großes Können für die gute Sache her.
Sie ist eine Ungarin, einst sehr wohlhabend gewesen, bis die Güter der Familie nach Friedensschluß entschädigungslos an Groß-Rumänien fielen, stammt also aus einem Lande, das wir uns ohne die Ritterlichkeit der Bewohner und - ohne Geigenschluchzen nicht vorstellen können. Aber Edith Lorand lehrt uns ein Neues: ihre Geige kann nicht nur locken und schmeicheln, sondern hat auch, wenn es not tut, eine helle Kommandostimme. Das reißt mit fort. Das ist so, daß hunderttausend Krummsäbel aus der Scheide fliegen müssen. Eljen, Eljen! Es lebe der König, es leben die Frauen! Sie elektrisiert ihre ganze herrlich disziplinierte Kapelle, sie elektrisiert alle Zuhörer, und dabei sind es doch "nur Tänze", die sie vorträgt, von dem ältesten Menuett bis zum neuesten Walzer; am wenigsten liegt ihr vielleicht Griegs Musik, denn Peer Gynts Nordländern ist sie innerlich nicht versippt.
Sie ist ganz Nerv, ganz Schwung, ganz Energie. Man meint, ihr Bogenstrich müßte sogar Mumien erwecken können. Der Kronprinz, der vor ihr sitzt, neben ihm die Kronprinzessin Cecilie, weiter die Prinzessin Friedrich Sigismund von Preußen und ihr baumlanger junger Bruder, ist selber Geiger von Talent und hebt als erster die Hände zum Beifall. Das ist eine charakteristische Bewegung von ihm. Er hebt die Hände langsam bis in Kinnhöhe und klatscht dann.
Jäh und heiß erwacht die Erinnerung: das haben wir doch schon einmal gesehen!
Jawohl, in der historischen Reichstagssitzung einige Jahre vor dem Kriege, in der der Abgeordnete v.Heydebrand gegen Bethmann-Hollwegs Pazifismus zu Felde zog, während doch ringsum das Unwetter sich schon zusammenzöge. In der Hofloge saß in der Uniform der Leibhusaren, Brennpunkt aller Blicke, der Kronprinz. Und er hob die Hände langsam bis in Kinnhöhe, sichtbar allem Volke, und schlug den Wirbel zu Heydebrands Worten. . .
In dem Gardekavalleriekasino ist nicht allzuviel Platz. Es sind nur etwa 160 Personen da. Das gäbe, wenn jedermann nur die Eintrittsgebühr von 10 Mark bezahlt hätte, nicht mehr als 1600 Mark, ein bißchen wenig, um die Cecilienhilfe in Berlin wieder aufleben zu lassen. Unter dem Kaiserreich wirkte sie in reichem Segen namentlich für diejenigen Verarmten im gebildeten Mittelstande, die gar nicht oder nicht genügend von der öffentlichen Fürsorge erfaßt wurden; das war damals, als noch jeder Oberpräsident es sich zur Ehre anrechnete, in seiner Provinz die Helfer zu organisieren, damals, als auch die Verarmten noch nicht zum riesigen Inflationsheer geworden waren. Heute muß man mühsam wieder aufbauen. Es gibt noch immer wohlhabende Auslandsdeutsche, die der Kronprinzessin für ihr Liebeswerk etwas zukommen lassen. Auch unter den zum Lorand-Konzert Erschienenen gibt es einige, die "noch können". Daß unter ihnen die große dem Kaiserhause seit jeher eng verbundene Philanthropin Frau Staudt es nicht bei den 10 Mark bewenden läßt, sondern sich tüchtig löst, ist ganz selbstverständlich.
Nicht alle können es so, nicht die Beamten, Künstler, Schriftsteller, Gelehrten, die hierher gekommen sind, und am wenigsten - heute - der Adel. Der füllt natürlich die Mehrzahl der Plätze, auf die man, nach Begrüßung mit der Hofdame v.Tschirschky, dem Adjutanten Major v.Müldner, dem Kammerherrn v.Stülpnagel zwanglos - nicht nach der Rangliste - gelangt. Daß ich "einen Zacken" habe, weiß ich; das ist mir oft genug mit erhobenem Zeigefinger gesagt worden. Aber hier sitzt man unter einer Menge von - Neunzackigen. Vor mir die Gräfin Arnim-Muskau, zwischen mir und meiner Frau die Gräfin Schwerin-Putzar, davor die Gräfin Botho Wedel, die Gräfin Bismarck-Bohlen, weiterhin die Gräfin Groeben und andere. Darunter wahrhaft königliche Erscheinungen. Könige im Exil, aber Könige! Daß die alte Gesellschaft in der Öffentlichkeit entthront ist, macht nichts an ihrer Haltung; lebt man nicht der Gegenwart, so kann man in der Vergangenheit und der Zukunft leben.
In der Pause und nach Schluß, wo die Kronprinzessin in ihrer herzgewinnenden Art an jedermann herangeht, ob er nun einen Fürstenhut oder nur einen Malerpinsel über dem Wappen trägt, treten auch die übrigen Erschienenen einander näher, soweit sie nicht als geschlossene Potsdamer Gesellschaft es sowieso fast täglich tun. Wandelnde Burgen, wandelnde Schlösser. Schier halberloschene und doch scharfe Augen grüßen sich. "Ihre Tante aus der Tieflebener Linie war die Frau meines Großonkels aus dem Hause Egerstein." Gut, man ist orientiert; seinen Gotha kennt man. Das sind noch die Damen mit reichem Haar und getürmter Frisur, nicht mehr mit dem Diadem, aber vielleicht einem Samtband mit zwei Dutzend Solitären ums Haupt.
Hinten im Saal aber die junge Welt, die von heute, die mit beiden Händen in der Gegenwart werkt. Da ist ja auch unsere bekannte kleine Komteß! Äußeres: Herrenschnitt. Inneres: altpreußische Fanfare. Beruf: Säuglingsturnen. Tagsüber ist sie noch auf allen Vieren herumgekrochen, hier aber am Abend ist sie ganz im Gotha.
Ich denke historisch genug, um zu wissen, was der Adel für Preußen-Deutschland bedeutet hat. Adel ist Menschenzüchtung. Die Überflutung Deutschlands in allen Jahrhunderten, nicht nur im Dreißigjährigen Kriege, mit den sonderbarsten Völkern Europas hat uns viel Blutmischung gebracht, während der Adel größtenteils sich deutsch-nordisch erhalten konnte. Zweierlei zeichnete ihn aus: er war herrschgewohnt, er war dienstgewohnt. Die anderen waren meist nur eines von beidem. Gebrochen wurde der Adel durch Friedrich Wilhelms I. neue examengeborene Beamtenschicht. Das war die Wende. Und heute hat er die Tradition nicht mehr in allen seinen Gliedern zu erhalten vermocht. Die Demokratie ist schon ganz verjunkert. Ein Graf Montgelas, hélas, der Seufzerich der Tante Voß, und andere Edelleute schreiben im Ullsteinsold. Die Führenden im Adel bemühen sich, Stand zu bleiben, ein großer Haufe im Adel aber ist bloßer Name geworden, wie die Republik es befahl. Kommt einst das dritte Reich, dann wird es wohl von irgend einem von uns Bauernabkömmlingen oder von Gevatter Schneider und Handschuhmacher errichtet.
Über dieses "historische" Konzert ist nur wenig in die Öffentlichkeit gedrungen, in ein paar farblosen Lokalnotizen einiger Blätter. Die Linke hat sich ausgeschwiegen, obwohl auch ihre Leute die Aufforderung erhalten haben. Lediglich der Berliner Börsencourier hat etwas gebracht, von seiner Mitarbeiterin Frau von Soundso, der auffallend Hypermodernen mit Monokel.
Dafür drängt sich ganz Berlin zu der Vorführung historischer Kostüme im Lettehaus am Viktoria-Luise-Platz. Hier schaut niemand zurück, auch wenn es da ein Mädel gibt (holde Unbekannte, sei gegrüßt!), die bei einem Wahlaufsatz neulich ein Thema aus einem meiner Bücher bearbeiten wollte. Das ist alles nur drängendes Vorwärts, Kampf der Frau um Geltung, Kenntnis, Arbeit, Verdienst. An der Spitze dieses Riesenheeres von rund 3000 Schülerinnen, die für sämtliche Berufe, abgesehen von denen, die das Universitätsstudium vermittelt, vorbereitet werden, als moderner Generalstabschef die Direktorin Dr. Hauff und unter ihr eine Unzahl von Fachlehrerinnen. Der Kostümkunde-Kursus des Gewerbeseminars im Lettehause veranstaltete die Vorführung. Nicht immer Lichtbild oder Modekupfer, endlich einmal lebendige Menschen!
Von der Minnesängerzeit bis zur Gegenwart, zweiundzwanzig verschiedene Gruppen, alles historisch getreu, alles von den Trägerinnen selbst geschneidert.
So schreiten, so gehen, so tänzeln sie zu passender Musik an uns vorüber und geben uns willkommenen Anschauungsunterricht und, nebenbei gesagt, frohe Augenweide, denn es sind doch lauter hübsche junge Mädchen. Immer wieder muß die Aufführung wiederholt werden. Man staunt achtungsvoll die Damen und Pagen von Hochburgund an, die Paare aus der italienischen und deutschen Renaissance, man lächelt ein bißchen zum holländischen Barock und zum deutschen Biedermeier, man platzt vor Vergnügen beim Erscheinen der Moden von 1880 bis 1890. Man hat viel Studium im Kunstgewerbemuseum in der Lipperheideschen Sammlung nötig gehabt, bis alles richtig war, auch Schnabelschuh oder Federhut oder Unterhöschen, und man hat, wenn man zu den modern Geschorenen gehört, die alten Zöpfe von daheim sich schicken lassen und sie an einem Netz, das den Schnittkopf scharf umspannt, wieder mühsam montiert.
Aber die Begeisterung der Zuschauer entschädigt für alle Mühe. Auch die Hochmögenden von der Unterrichtsverwaltung sind da, vor allem die Ministerialrätin Albrecht, deren blaue Augen immer gütig strahlen. Wenn sie Prüfungskommissar ist, auch wenn sie streng prüft, ist alles voll gläubigen Vertrauens. Es liegt an einer gewissen psycho-physiognomischen Wirkung. "Wenn die Albrecht da ist," sagt mir eine kleine eifrige Seminaristin, "dann kann man im Examen nicht durchfallen; wenn man die nur ansieht, wird einem das Herz sofort leicht und frei, man kann dann gar nicht mehr aufgeregt sein."
20. Februar 1930 (Donnerstag)
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Die Saison neigt sich - Schöner Gigolo - Parfümtänzer zum Ärgern - Schlager-Jazzmusik - Die rußige Großstadt - Entstaubung - Auf dem Ufagelände in Neubabelsberg - Wie Lilian Harvey lachen mußte - Eine historische Ohrfeige.
Wir hatten uns auf dem offiziellen Ball redlich gemopst. Ich mußte beruflich hin. Es gibt zu viele Verbände, die unsereinem wochenlang in den Ohren liegen, bis er verspricht, ihre nächste Veranstaltung, die ja ungemein national und ungemein wohltätig sei, zu besuchen und womöglich darüber zu schreiben. Gott sei Dank, der Winter neigt sich, die offiziellen Bälle schwinden. Diesmal hatten wir - außer mir noch drei Damen, darunter eine ganz junge - uns wirklich gemopst. Fast alles war paarweise erschienen, jeder Hans hatte seine Grete, die anderen gingen ihn nichts an. Also mußte ich allein drei Damen betanzen. Danke. Wenn man vierzehn Stunden Schreibtisch hinter sich hat, will man nicht mehr Schwerarbeiter spielen.
"Wißt Ihr was ? Gehwn wir in die Barberina!"
Gut, gehen wir. Die Flucht erschien um so dringlicher, als wir mit weiteren Bekannten zusammengestoßen waren, lieben Bekannten, die nun mit uns zusammensaßen, aber mit dem gleichen Minus an Herren. Auch ein junges Mädchen dabei, das lustige Füße hatte, aber traurige Augen machte. Also wir ersten fallen in die Barberina ein. Dort gebe ich einem Eintänzer einen Wink, ohne daß unser ahnungsloses junges Mädchen etwas merkt. Schon verbeugt sich ein gutgekleideter Herr vor der Überraschten. Er tanzt blendend. Dann wirbele ich mit ihr einen schnellen Foxtrott. Nun kommt wieder ein Elegant. Schon nicht mehr überrascht, nur erfreut, erhebt sich die junge Dame, schwebt im Gewühl davon.
"Ich glaube fast, es war derselbe Herr von vorhin; er hatte wenigstens dasselbe Parfüm."
Natürlich, du Dummchen. Ein Eintänzer war es, derselbe Eintänzer. Es sind acht da. Aber wo einer von ihnen "anspringt", wie man es nennt, da darf ein anderer, es sei denn, daß man ihn eigens bestellt, nicht hin. Nämlich, damit es nachher wegen des Honorars keine unliebsamen Auseinandersetzungen gibt. Darauf ist der Gigolo doch angewiesen. Die 150 Mark Grundgehalt von der Direktion der Tanzdiele gehen bei der starken Inanspruchnahme allein auf Kleidung und Wäsche hin. Schöner Gigolo, armer Gigolo ? Quatsch. Sentimentaler Quatsch. Es ist ein Beruf wie jeder andere, schon lange nicht mehr von ehemaligen Husarenleutnants ausgeübt, auch nicht mehr nur von abgebauten Bankbeamten, sondern eben von Berufstänzern. Wer an 361 Tagen im Jahr täglich 7 Stunden tanzt, der kann es natürlich im Schlafe.
Sein Handwerk ist auch jeder Romantik entkleidet. Noch vor drei Jahren, als ich mich selber einmal vertretungsweise für eine Woche in einem Hotel in den Kreis dieser Berufsmäßigen aufnehmen ließ, um das Milieu kennen zu lernen, gab es kleine Romane. Da gab es noch Damen, die auf ehemalige Husarenleutnants pürschten. Heute legen sie mehr Wert auf hervorragendes Tanzen; und der Gigolo erweckt im allgemeinen kein größeres Interesse bei ihnen als der Mann am Postschalter oder der Führer in irgend einem Museum.
Manieren muß er natürlich haben. Wenn die Dame - die älteren tun es immer - ihn fragt, wie sie tanze, darf er niemals ehrlich sagen: "Wie ein Nilpferd in Plüsch!" Höchstens flüstert er: "Gnädigste lassen sich ausgezeichnet führen, das ist die Hauptsache!"
Wenn nur das verdammte Parfüm nicht wäre. Das stört noch die meisten unserer Damen, die an das Weibische in der Männerwelt nicht gewöhnt sind, sondern nur daran, daß die Männer von Sauberkeit duften; mit einem leisen Hauch von Tabak dazu. Aber was soll der Gigolo machen ? Erstens stammt er in neun von zehn Fällen aus Wien, wo man, um von Rom oder gar Bukarest nicht erst zu sprechen, noch an ganz andere Dinge gewöhnt ist, und zweitens bringt der Beruf, Verzeihung, doch eine starke Ausdünstung mit sich, die bekämpft werden muß. Da wird manchmal der Teufel mit Beelzebub verjagt.
In einer der Berliner Tanzdielen ist einer der Eintänzer ein Italiener mit etwas negroiden Gesichtszügen; der riecht so betäubend nach Parfüm wie eine Mädelskneipe in einer Hafengasse Port Saids. Trotzdem ist er in gewissen Fällen "sehr gefragt". Eine Dame tanzt unermüdlich mit ihm. Steuert möglichst oft hart an dem Tisch vorüber, an dem ihr gar nicht mehr tanzlustiger Gatte sitzt, und zischt ihrem Gigolo zu:
"Machen Sie mir schöne Augen! Machen Sie mir schöne Augen! Und fassen Sie mich kräftiger! Mein Mann soll sich feste ärgern!"
Schöner Gigolo, armer Gigolo. Ich hab kein Auto, hab kein Rittergut. In einer kleinen Konditorei. Drei Musketiere, drei Kavaliere. Bim bam bulla. Ich bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier. Kleine Frau, sag, wann.
Entsetzlich, entsetzlich.
Die ganze Schlager-Jazzmusik, die einem mit ihren aufdringlichen Rhythmen ständig in den Ohren widerklingt, mit ihren Texten sich frech in jede ernsthafte, geistige Arbeit drängt, kommt einem gegen Ende der Saison wie eine krankhafte Grimasse vor. Luft, Luft! Und ein bißchen Stille! Man beneidet Verwandte, die in dieser Zeit in Celerina im Hochgebirgsschnee sich tummeln. Wenn sie aber zurückkommen, sagen sie sicherlich: "Und jeden Abend haben wir getanzt!" Natürlich, und Cocktails getrunken. Berlin bleibt unter allen Breitengraden, in allen Höhen Berlin. Wer hier Staub schluckt, der tut es auch anderswo. Ich möchte meine Lunge im Röntgenbild nicht sehen. Die fünf Wochen Sommerurlaub, meist auf See, reinigen nur unvollkommen.
Ein paar Zahlen mögen sprechen. Ich bin einer der ersten Familienväter gewesen, die schon vor vielen Jahren (ich tat es "auf Stottern") sich einen Staubsauger anlegten, die übrigen Miteinwohner taten es bald auch, heute werden Teppiche auf unserem Hofe überhaupt nicht mehr geklopft, der Staub wirbelt nicht mehr so in die Fenster. Trotzdem: wenn man nachts die Fenster aufläßt, liegen morgens Rußkörnchen auf weißen Tischdecken. Etwa 4 Prozent der verbrannten Kohlenmenge kommt als Niederschlag zurück. Das bedeutet für Groß-Berlin, daß hier täglich 24 000 Zentner Flugasche niedergehen! In Hamburg mit seinem Hafenbetrieb, in London, in den Städten des Ruhrgebietes ist es, auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, noch mehr. Niemals ist in Berlin die Luft so klar, daß man etwa vom Funkturm aus bis zum äußersten Osten oder vom Kreuzberg bis zum äußersten Norden sehen kann. Nur aus großer Höhe, wenn man im Flugzeug oder Luftschiff oder Freiballon sitzt, kann man die ganze Metropole überschauen, weil man da die Staub- und Rauchschicht nicht in ihrer ganzen horizontalen Verlagerung zu durchdringen braucht; vertikal ist sie keine 600 Meter stark. Vor wenigen Jahren konnte man noch sagen, daß schon in Berlin-Lichterfelde die gute Landluft beginne. Heute muß man viel weiter gehen. Aus jedem Fabrikschornstein von 60 Meter Höhe wird bei trockener Luft und nur 5 Sekundenmetern Wind die Flugasche in winzigen Partikeln von 5 Mü bis zu 100 Kilometern weit getragen.
Wir lechzen nach Entstaubung. Gegen Ausgang des Winters kommt uns auch in den Parlamenten und in den Konzertsälen die Luft so drückend vor, daß wir das Bedürfnis haben, uns "die Kehle zu spülen". Im Plenarsaal des Reichstages wird die Luft angeblich allstündlich erneuert. Aber sie bleibt anthropingeschwängert. Ob man es draußen im Lande glaubt oder nicht: es ist Tatsache, daß das meist gefragte Getränk im Reichstagsrestaurant Selterwasser ist; Selterwasser mit Cognac, Selterwasser mit Milch.
Die beste Entlüftung und Belüftung in vollständig geschlossenem, gänzlich fensterlosem Raum gibt es in den vier neuen Tonfilm-Aufnahmehallen der Ufa in Berlin-Neubabelsberg. Jedes Geräusch von außen muß ausgeschlossen sein. Also man arbeitet innerhalb dicker, fensterloser Mauern bei nur künstlichem Licht. Obwohl die Räume (Ton-Ost, Ton-West, Ton-Süd, Ton-Nord) so groß wie Luftschiffhallen sind, würde die Luft darin, wenn Dutzende von Jupiterlampen und Scheinwerfern brennen, Hunderte von Statisten agieren, sehr bald heiß und schlecht und unatembar sein. Sie wird abgesaugt, in Riesenfiltern in einem Maschinengebäude gewaschen, richtig temperiert und durch unterirdische Stollen von über Mannshöhe wieder eingeblasen.
Zum ersten Male in meinem Leben habe ich dieser Tage die ganze Ufa-Stadt draußen - sie hat eigene Feuerwehr, eigenes Krankenhaus, eigene Fabriken und Werkstätten für buchstäblich alles - besichtigen dürfen, während ich bisher nur einmal nachts bei einer kleinen Aufnahme draußen war. Zum ersten Male. Ich. So, nun werden die vielen Freunde im Reiche, die mich bitten, ihnen einmal solch einen Rundgang zu vermitteln, begreifen, daß es leichter ist, eine Audienz beim König von Ägypten zu besorgen. Versteht ihr nicht ? Herrgott, die Filmleute müssen doch arbeiten! Ihre Produkte könnt ihr euch nachher im Theater ansehen; wenn aber auch nur jeder Hundertste, der den Produktionsprozeß selbst sich ansehen will, zugelassen würde, wäre keine Arbeit mehr möglich.
Ich bin auch nur während einer Pause dagewesen. Da wurde gerade ein Kulturfilm "synchronisiert", nachträglich, um die Ausfuhr ins Ausland zu ermöglichen, englisch und polnisch und spanisch und italienisch und tschechisch "besprochen"; und in Ton-Ost regulierten gerade die Tonmeister (Tonmixer nannte man sie bisher) beim Ausklang der "Letzten Kompagnie", die im nächsten Monat zur Erstaufführung kommt, die Stärkegrade der Glocken, der Orgel und des Orchesters. Durch das breite Glasfenster der Kabuse kann man hinunter in den Aufnahmeraum sehen. Mehrere Telephone, Lautsprecher, neun Variometer, an denen die Tonmeister basteln.
"Gut so, diesmal ging's; aber, bitte, nur genau 32 Sekunden die Glocken schlagen!"
Dank der Einladung des Direktors Ulrich, des Finanzministers dieser Welt, in der mehr Millionen umgesetzt werden als in manchem deutschen Kleinstaat, und des Oberingenieurs Dr. Rösler, des Pontifex Maximus Technicus der Ufa-Betriebe, werde ich noch einmal hineindürfen, wenn im März die Aufnahmen wieder in vollem Gange sind, und dann davon erzählen. Die Produktion selbst untersteht dem Direktor Korell, der sozusagen mehrere Ministerien in sich vereinigt, in den Augen junger Filmstars geradezu Gottähnlichkeit besitzt und doch im Grunde bei allem Berufsernst die Menschenfreundlichkeit selber ist. Ein weiteres Portefeuille ist das für den Verleih. Noch andere schließen sich an. Auch verwaltungstechnisch, mit dem königlichen Kaufmann Generaldirektor Klitzsch an der Spitze, ist die Ufa ein so geordnetes Staatswesen, daß wir nur wünschen könnten, das Deutsche Reich nähme sich ein Beispiel daran. Nur leider auch von Steuern erdrückt. In Amerika ist der Film freier.
Diesmal habe ich mir zunächst das Elektrizitätswerk der Ufa angesehen, das mehr Strom erzeugt, als die ganze Stadt Potsdam verbraucht; dann den Theaterfundus in den Möbelspeichern und die Flucht der Kleiderschränke mit ihren Uniformen für ganze Regimenter, mit ihren Hoftoiletten für die Damenwelt aller König- und Kaiserreiche aller Zeiten; schließlich Berg und Burg und Fluß und Stadt und Wäldchen, die ganze im Freien gebaute oder gewachsene Szenerie.
Da begegnet uns eine Horde von Engländern, die den Text zu der englischen Ausgabe der "Letzten Kompagnie" zu sprechen hatten. Da huscht eine bemalte kleine Filmdiva vorüber, die nur noch zur Kasse will. Halt: Bemalung. Das mimische Spiel, und das ist doch die Hauptsache im Film, ist nicht so einfach, wenn das Gesicht mit Schminke dick verklebt ist. Wenn man einmal lachen soll, dann zerrt irgend etwas im Gesicht.
Das hat neulich Lilian Harvey erfahren, als sie bei der Aufnahme des "Liebeswalzers", letzter Akt, vom hohen Balkon herab ihrem Volk sich zeigen und es anlachen sollte. Es gelang nicht recht.
"Sie lachen nicht glücklich genug! Noch einmal die Szene!" ruft der Regisseur ihr zu.
Noch einmal. Wieder noch einmal. Da kriecht auf dem Balkon, von hinten her, für die Photographie unsichtbar, ein Hilfsregisseur heran, mitten im Spiel, das nicht unterbrochen werden kann, fährt Lilian Harvey mit sanft krabbelnder Hand die Wade hinauf, kitzelt sie in der Kniekehle. Ha! Hahaha! Sie lacht! Sie lacht wie verrückt, sie sieht ganz glückselig aus, ein strahlend tolles Kind. Die Aufnahme ist gelungen.
"Halt, fertig, abblenden!"
Und in demselben Moment dreht Lilian Harvey sich herum und - haut dem Hilfsregisseur eine herunter.
Und das war keine Theaterohrfeige, sodnern eine echte. Nachher im Kasino hat man sich aber wieder vertragen.
Häufiger hört man von Parlaments- und politischen Ohrfeigen. Eine dieser historischen Ohrfeigen hat dieser Tage ihr zehnjähriges Jubiläum feiern können. Scheidemann, der heute von seinen eigenen Leuten nur noch für eine Art Juxbaron gehalten wird, erzählte damals, er sei "von Reaktionären angefallen" worden. Er hatte nun mal den Attentats-Ehrgeiz. In Wahrheit war es etwas anders. Im Gedränge der Aussteigenden am Wannseebahnhof wird jemand gegen Scheidemann, der mit Gefolge erschienen ist, gestoßen. Scheidemann sieht sich um, sieht einen viel kleineren, älteren, grauhaarigen Herrn und - schlägt ihn wortlos ins Gesicht. Dieser kleinere, ältere Grauhaarige ist aber der sportgestählte, boxerprobte, auf seinen Forscherfahrten in Innerasien abgehärtete Professor v.Lecoq. Der landet alsbald einen gewaltigen Faustschlag in die Zähne Scheidemanns, der zurücktaumelt. Vor einem zweiten Hieb, der zum Knockout geworden wäre, retten die dazwischenspringenden Genossen ihren Meister. Aber schon der erste war gute Justiz. Nur daß Scheidemann dies einen ruhmreich von ihm abgewehrten Überfall nennt.
27. Februar 1930 (Donnerstag)
27
Kein Aschermittwoch - Weshalb über so viele Bälle zu berichten ist - Alaaf - Es wird immer weniger getrunken - Handwerk adelt - Das Denkmal der Rauchsünden - Die Blumenfrau auf dem Leipziger Platz.
"Bollen, Bollen, Bollen, een Jroschen zwee Pfund!" ruft der Händler auf den Höfen aus, nachdem er ebenso mit Stentorstimme vorher "Heringe, billig, billig, billig!" angekündigt hat. Also Heringe und Zwiebeln; gut für Aschermittwoch.
Es mag sein, daß hie und da eine Berliner Hausfrau ihrem Eheherrn am Aschermittwoch ein Stückchen sauren Hering auf den Frühstücksteller legt. Aber das ist nur eine scherzhaft symbolische Handlung. Die Reichshauptstadt kennt keinen Aschermittwoch. Sie macht auch nicht - wie die Abgeordneten - Fastnachtsferien. Sie arbeitet ununterbrochen. Ein Angestellter in irgend einem Geschäft, der wehleidig seinen Katzenjammer merken und sich im Beruf gehen ließe, wäre in Berlin einfach undenkbar. Das ist eine gute Schule. Freilich sind auch die Vergnügungen in Berlin so gut wie ununterbrochen. Der Karneval mit seinen Kostümbällen beginnt hier offiziell am Silvesterabend, inoffiziell schon Anfang Dezember, und ist mit dem Aschermittwoch nicht beendet, sondern meist erst mit dem Palmsonntag, wenn auch die Gelegenheiten da immer spärlicher werden.
Die Ursachen dieser Erscheinung sucht man aus dem Stande großstädtischer Moral zu erklären. Das ist auf so vielen Gebieten immer wieder die gleiche irrige Auffassung. Hinterniedertupfenhausen mit nur einem einzigen Fastnachtsball im Jahre ist um keinen Deut moralischer als Berlin. Die Ursachen der ununterbrochenen Ballreihe sind vielmehr rein technisch-wirtschaftlicher Natur.
Die geselligen Veranstaltungen im Winter bedeuten für die meisten Vereine, bis zu den ernstesten wissenschaftlichen hinauf, eine unentbehrliche Position im Einnahmeetat. Der Berliner zahlt nur, "wenn er was davon hat". Von den gewöhnlichen Mitgliederbeiträgen allein kann kaum ein Verein leben. Es gibt Riesenbälle in Berlin, die einen Reingewinn von weit über 100 000 Mark abwerfen, so den alljährlichen Presseball. Andere Feste ergeben weniger, aber immerhin noch erkleckliches, wenn sie einigermaßen gut aufgezogen sind.
Das ist großenteils schon richtig industrialisiert. Ballunternehmer ist ein Beruf wie Grundstücksmakler und andere geworden. Ein solcher Unternehmer nimmt dem Verein fast alle Arbeit ab, die Besorgung der Anzeigen und der sonstigen Reklame, der Eintrittskarten und ihrer Versteuerung, der Namen für den Ehrenausschuß, der Tombola und der anderen Attraktionen, der Musik, der Ausschmückung der Räume - und vor allem die Besorgung des passenden Lokals selbst, in dem 800 bis 8000 Menschen sich erlustieren können. Das ist das schwierigste, denn jeder will möglichst einen Sonnabend, möglichst einen Monatsletzten, allenfalls einen Sonntag allenfalls in der ersten Monatshälfte für sein Fest haben.
Presseball, Reimannball, Sozialistenball und die übrigen großen Bälle haben ihre hergebrachten Tage und Räume, da entstehen keine Schwierigkeiten, auch die landsmannschaftlichen und die Künstler- und Filmbälle, die alle ein gutes Geschäft sind, finden leicht ein Unterkommen. Viele Vereine aber müssen notgedrungen mit einem beliebigen Tage, und wenn es gar Montage oder Freitage in der zweiten Hälfte Dezember oder März sind, vorliebnehmen, weil sonst eben kein passendes Lokal für sie frei ist.
Das ist die eigentliche Ursache, weshalb in Berlin sich die Ballsaison nicht zusammendrängt, sondern über rund 120 Tage erstreckt.
Dann sagt der Fremde oder der mangelhaft Unterrichtete: in Berlin ist ja alle Tage was los; die Leute feiern ja ununterbrochen; so ein Sodom und Gomorrha!
In Wirklichkeit wird Berlin - notgedrungen - immer solider.
Auch diese Besserung hat nicht moralische, sondern finanzielle Motive; zu Völlerei und Betrieb alter Art hat man das Geld nicht mehr. Auch nicht mehr den Leichtsinn der Verzweiflung aus der Inflationszeit. Dazu kommt die Einwirkung, die von dem Sport ausgeht und von dem Wunsche der meisten Zeitgenossen, möglichst lange sich eine elegante Sportfigur und die nötige Frische zum Vergnügen zu erhalten.
Nicht einmal die Rheinländer geben sich in Berlin ganz rheinisch. Ihr Alaaf-Ball, mit den gemieteten "Funken" in alter Grenadieruniform an allen Türpfosten, mit dem Umzug des Prinzen Karneval und seines närrischen Gefolges, mit dem ganzen "echt rheinischen" Trara, stößt in Berlin auf etwas zu dünne Luft. Man ist hier nicht so umgekrempelt lustig, sondern bleibt auch in Kostüm und Maske immer noch der Berufsmensch, der nur gerade einige Stunden ausspannt. Also selbst auf diesem Ball ist es kaum ausgelassen, eher ehrsam spießbürgerlich. Scherze von Tisch zu Tisch ("Wir kennen die Leute ja nicht!") würden direkt auffallen. An unserer Tafel sitzt, allein und mannlos gekommen, eine Dame mit ihrer Tochter. Ein Herr in den sogenannten besten Jahren bittet die um einen Tanz, wird aber abgewiesen. "Das könnte den älteren Herren so passen, ausgerechnet meine Tochter!", sagt die Dame entrüstet. Und stammt dabei, wie wir nachher von ihr erfahren, selber vom Rhein!
Was macht nun solch ein Herr um die Vierzig, der weiblos hergekommen ist und alles "in festen Händen" sieht ? Er wird Mauerblümchentröster. Hie und da steht oder sitzt, mit zuckenden Mundwinkeln, eine gleichaltrige Junggesellin herum. Da wird er nicht abgewiesen. Da leuchten Augen auf und sagen ohne Worte: "Vergelt's Gott!"
Aber es ist nichts Dionysisches dabei. Nur ein junges Mädel, eines der hübschesten auf dem ganzen Fest, sehe ich, das sich wie toll amüsiert. Und wie das ? Sehr einfach! Dieses Mädchen stellt sich, Front zum Publikum, auf das Podium vor die Musiker, wiegt sich in den Hüften, tritt im Takt auf der Stelle, dirigiert mit ausgebreiteten Armen und singt den Text der Schlager mit. Stundenlang, mal bei der einen, mal bei der anderen Kapelle. Stundenlang mit Begeisterung. Läuft dann an den Tisch zu ihren Bekannten oder Anverwandten und stößt atemlos heraus: "Herrlich, herrlich, ich habe überhaupt noch nicht getanzt, nur Jux gemacht!"
Auch die übliche Pärchen-Romantik, das Hingegossensein auf allen Treppenstufen zu den oberen Rängen im Marmorsaal und sonstwo, macht auf dieses Mädchen keinen Eindruck. Und gelebt wird im übrigen recht bescheiden. In dieser Nacht werden die Kellner nicht reich. Steht irgendwo eine Batterie von Flaschen, dann sind es Mineralwasserflaschen um eine einsame billige Weinflasche herum. Oder gar ohne sie. Ich möchte meinen Augen kaum trauen: wahrhaftig, dort in der Ecke zieht ein Herr die von Hause mitgebrachte Reiseflasche Cognac aus der Hüfttasche und gießt daraus sorglich den Seinen je ein paar Tropfen in die Gläser mit Selterwasser! Das ist der Sekt von heute.
Wenn man so etwas an bescheidenen Genüssen erlebt, dann sagt man sich allerdings, daß die schlechten Zeiten schon die halbe Vorarbeit für diejenigen leisten, die für eine Einschränkung des Alkoholverbrauches bei uns eintreten. Der Verbrauch an Wein und Bier und Schnaps ist in den letzten beiden Jahren in Deutschland um fast ein Viertel der früheren Menge zurückgegangen. Ich glaube nicht, daß es da noch nötig ist, wie der Reichstagsausschuß es will, jede öffentliche Alkoholanzeige zu verbieten. Wir würden uns doch wohl lächerlich machen, wenn wir beispielsweise aus den Bahnhofshallen sogar das bekannte Schild entfernen wollten: "Deutsche, trinkt deutschen Wein!" Die Erfahrungen anderer Länder mit dem Halbtrocken-System sind abschreckend genug.
Eine Dame weiß ich, die entschlossen alle Folgerungen aus den schlechten Zeiten zieht, trotzdem aber nicht zu den Eiferern gehört, die jeden guten Tropfen verbannen möchten, sondern ganz gern mit mir einen trinkt. Sie ist ungefähr so alt wie ich, hat aber schon graue Haare; darunter freilich lustige, leuchtende, helle Augen. Ihr Vater war zuletzt Brigadegeneral in Erfurt, ihre Brüder waren auch Offiziere, jetzt lebt keiner mehr von ihnen. Das kleine hinterbliebene Vermögen hatte sie als bekannte fleißige Porträtmalerin und Kopistin gut gemehrt. Das ist nun auch weg. War schon in der Inflation zusammengeschmolzen. Und wer läßt sich heute denn noch malen ? Aber diese Dame, dieser lebfrische kernige Mensch, läßt sich nicht unterkriegen, sondern greift mit geschickten Händen zu. Macht alles. Eben, wo ich dieses schreibe, steht sie auf hoher Leiter am Fenster meines Zimmers und treibt einen Steinbohrer in die Wand. Da soll ein Halter für die Gardinenstange hin. Hammer, Engländer, Zange, alles sonstige Werkzeug liegen daneben, für mich lauter Dinge scheuer Ehrfurcht, denn wenn ich damit hantieren wollte, schlüge ich mir sicher auf den Daumen. Sie aber ist in jeder Beziehung handfertig und geschickt; und will auf keinen Fall etwa bei Verwandten ohne Arbeit hindämmern. Also hat sie allerlei Verwendbares, heute besser Verwendbares, als Porträtmalen es ist, gelernt und, da bin ich aber doch baff, öffentlich in der Zeitschrift des Lyzeumklubs und im Deutschen Adelsblatt angezeigt, daß sie - als Tapeziererin in die Häuser gehe, Umzüge besorge usw. Darunter der volle Name und die Adresse:
"Lonny v.Versen, Berlin-Wilmersdorf, Prinzregentenstraße 75, 4 Tr., Fernspr. Brabant 2897."
Wir kennen uns schon seit Jahren, aber auf so etwas war ich denn doch nicht gefaßt. Bei dem Umzug von Verwandten von uns in Berlin-Schöneberg hat sie so flink, so kräftig, so umsichtig mit Kisten und Kasten hantiert, daß die Putzfrau sie fragte:
"Frollein, arbeeten Sie in Akkord ? Sie sin woll erster Packer bei Knauer ? Wird jut bezahlt, nich ?"
Eben erzählt Fräulein v.Versen mir strahlend, daß sie schon einen Ruf nach Dresden bekommen habe, um dort einer Familie beim Umzug alles zu packen, dann in der anderen Wohnung die Vorhänge anzubringen und verschiedene alte Polstermöbel neu zu beziehen; und für mehrere Berliner Familien mache sie hunderterlei.
Famos. Nun könnte auch ein alter (verrückter, sagen die Meinen) Wunsch von mir in Erfüllung gehen. Ein Denkmal meiner Rauchsünden!
Seit langen Jahren habe ich jedesmal, wenn ich eine echte Importe bekam, das papierene Bauchbindchen der Zigarre mir aufgehoben. Zum erstenmal 1914 in Flandern. Jene große Henry Clay bekam ich vom Admiral v.Schroeder. In der Inflationszeit stiftete mir ein lieber Leser in Chile ein ganzes Kistchen Romeo y Julieta. In besseren Zeiten konnte ich mir gelegentlich auch selber welche leisten. Die vier besten Zigarren meines Lebens kaufte ich mir einst während einer Ferienreise in Barcelona in Spanien; die hatten eine Riesenbinde mit phantastisch schönem Wappen. Ein anderes Bändchen, von einer großen Carvajal, erinnert mich an die Hochzeit eines jungen Freundes. Und hier eins, La Africana: richtig, da habe ich über das erhobene Weinglas hinweg tief in ein Paar schöne Augen geblickt. Und das da, da war gerade mein "Schmied Roms" fertig geworden, las ich das letzte Kapitel bei der Partagas den Meinen vor.
Nun kommt mir Fräulein v.Versen gerade recht. Für ein gänzlich altersschwach gewordenes Tischchen brauche ich Ersatz. Wird gemacht, sagt die gute Versen. In einer Bauglaserei - ich selber hätte die Zeit nicht zum Herumlaufen - läßt sie nach Maß eine Glasplatte schneiden und schleifen, darunter kommt ein Stück Linoleum, auf das sie symmetrisch (zwei Entwürfe der Anordnung hat sie mir vorher gezeichnet) die Bändchen klebt, das Ganze wird in den neuen Tisch gebettet, den sie nach Zeichnung bei einem kleinen Tischler bestellt hat. Alles in allem komme ich billiger dabei weg, als wenn ich eine Möbelfirma damit beauftragt hätte. Und sie hat ihren Lohn, ihre Arbeit, ihre Freude daran. Mir tut nur eines leid, nämlich, daß das Bändchen der Zigarre, die ich zur Einweihung des Denkmals rauchen werde, nicht mehr auf das Denkmal kommt.
Das Schönste an der ganzen Sache ist für mich aber doch das Erlebnis Versen. Ein Stück Kulturgeschichte aus unseren schlechten Zeiten, die das eine Gute haben, daß sie die Lebenstapferkeit mancher deutschen Frau, die man zu den "Drohnen der alten Gesellschaft" zu rechnen geneigt ist, an das Tageslicht bringen.
Wüßten wir mehr derlei voneinander, wir alle aus jeder Volksschicht, so verstünden wir uns besser. Das ärgste ist der Mangel an Glauben zur Arbeitswilligkeit des lieben Nächsten. Es gibt doch kaum Leute bei uns, die von der Faulheit leben. Es fehlt nicht an Fleiß, sondern an Arbeit. Daß der eine mehr verdient, der andere weniger, das wird sich natürlich nie ändern lassen, so lange es verschiedene Menschen gibt, abgestuft nach Begabung, Tatkraft, Sparsinn. Will man alle Menschen mit Gewalt auf den gleichen Nenner bringen, dann geht es nur so wie heute in Sowjetrußland: daß schließlich alle hungern und in Lumpen sich kleiden. In der langen Reihe der Blumenstände auf dem Leipziger Platz ist eine Frau postiert, die nicht so gute Geschäfte macht wie ihre Nachbarinnen links und rechts. Die machen ein freundliches Gesicht. Die sind es zufrieden, daß es "feine Leute" gibt, die ihnen ein Sträußchen abkaufen. Sie aber ärgert sich. Und läßt es merken. Dieser Tage kauft eine alte Dame bei ihr ein paar Tulpen, reicht einen Zehnmarkschein hin, bekommt den Rest heraus, zählt ihn in der offenen Hand und sagt: "Da ist aber eine Mark zu wenig." Die Blumenfrau schimpft sofort los. Die Dame bemerkt ruhig: "Zählen Sie doch selber nach, Sie brauchen mich nicht gleich anzupöbeln". Aber da bekommt sie es noch tüchtiger:
"Wat, pöbeln ? Wenn ick pöbeln will, such' ick ma wat janz anneres zu aus, vastehnse, als Sie olle Zicke!"
6. März 1930 (Donnerstag)
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