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Die "größte" Stadt der Welt - Kein Raum, keine Zeit - Ohne volle Kinderstuben - "Warum denn ?" - Was alles los ist - Erik Jan Hanussen - Striemenzaubern und Zettelraten - Reutters sechzig Jahre.
Der Urberliner - aus Breslau oder Stallupönen oder Kottbus - freut sich, wenn er liest, daß die Stadt seiner Wahl 4,3 Millionen Einwohner hat, und vor allem, daß der Gebietsumfang von Groß-Berlin, auf neuen Zustrom berechnet, der größte aller Weltstädte ist. Größer als der von London oder Paris oder Newyork. Erheblich größer als Bodensee oder Genfer See, fast so groß wie die ganze Insel Rügen. Aber diese 100prozentigen Berliner - aus der Provinz - denken nicht daran, daß sie in das Massengrab Deutschlands eingewandert sind, das die Menschen frißt. Die Metropole an der Spree ist keine Kinderstadt: auf je sechs Neugeborene registriert sie je sieben Gestorbene, und wenn sie nicht den ständigen Zuzug von hoffenden Arbeitslosen aus anderen Teilen des Reiches hätte, sänke sie von ihren 4,3 Millionen schnell herab.
Not gibt es auch anderswo, auch jene wirtschaftliche Angst, die die Pforten zur Seligkeit einer gefüllten Kinderstube verschließt. Aber in Berlin kommt noch Raummangel und Zeitmangel hinzu. Dritter Hof, links vier Treppen, Wohnküche und Kammer: kann man darin wirklich ein halbes Dutzend Kinder gesund aufwachsen lassen ? Und wenn Vater und Mutter auf Arbeit sind, erst abends müde beieinander hocken, und den Kleinen, damit sie nur nicht brüllen, ein Schlafmittel eingeben, - ist das noch ein Familienleben ?
Man hat leicht sagen, daß die Leute in entferntere Vororte ziehen sollten. Dann vergehen doch auf die Wege zur und von der Dienststelle im Durchschnitt drei Stunden. Die werden der Pflege und de Erziehung der Kinder doch auch geraubt.
Schon in der Stadt mit ihren bei Arbeitsbeginn und Arbeitsschluß verstopften Straßen braucht man kleine Ewigkeiten für die Straßenbahn. Auch der "Betrieb" nimmt Zeit; jener Vergnügungsbetrieb, bis zu dem billigsten herunter, den der Großstädter braucht, um seine Nerven zu neuer Arbeit aufzupeitschen. Bei besser gestellten Ehepaaren nennt er sich Geselligkeit und ist derselbe Raub am Kinde, bis in die Schichten hinauf, wo die "Babies" der "Nurse" überlassen werden und fast nur noch zum Gutenachtkuß zur Mutter kommen.
Gott sei Dank erzähle ich das nur von anderen Leuten. An mir selbst habe ich noch das Wort ausgekostet: Kinder sind ein Segen des Herrn. Aber sie werden flügge. Die Jahre fliehen pfeilgeschwind. Eines Tages werden die eigenen Kinder wieder eigene Kinder haben, und dann wird man, auch wenn man sich gegen den Gedanken sträubt, auf einmal Opapa. In dem deutschen Massengrabe Groß-Berlin gibt es aber Tausende von Vätern, die es nie werden, weil ihre Nachkommen nicht einmal mehr das Einkindsystem, sondern das Einhundsystem wählen. Wir selber können uns jetzt in der eiligen Flucht der Jahre für einige Wochen wieder die vergangenen Zeiten vorgaukeln, denn ein vierjähriges Bübchen, dessen Mutter an Diphteritis erkrankt war, ist für die Zeit, so lange noch Ansteckungsgefahr besteht, zu uns übergesiedelt und macht mit uns Entdeckungsfahrten durch die Stuben und durch das große, laute, tobende Berlin, in dem es - trotz des Tiergebrülls - noch am stillsten im Zoologischen Garten ist.
Es ist wohlhabender junger Leute Kind, die draußen in einer Villa wohnen und ihr Auto haben. Als unsere eigenen Kinder klein waren, war eine Fahrt in der Autodroschke ihr großes Sehnsuchtsziel. Dieser Junge aber strampelt mit Händen und Füßen:
"Bitte, bitte, einmal Straßenbahn! Bitte, bitte, einmal Untergrund!"
Und er hofft heimlich, daß wir ihm erlauben, einmal so recht fest in eine Pfütze zu treten, wenn es geregnet hat. So machen wir auch umgekehrt einmal eine Entdeckungsreise in das Wunschleben eines Großstadtkindes der besitzenden, nicht nur erwerbenden Klasse. Wir müssen uns hüten, nicht zu sehr nachzugeben.
Sowieso ist mein Ruf in Gefahr. "Onkel macht Quatsch!" jauchzt der Kleine.
Was denn, was denn ? Richtig: wir haben etliche Exemplare des Vogels Strauß uns angesehen - Klapperstorch, sagt der Kleine - und nun ziehe ich den Jungen fort, um ins Elefantenhaus zu gehen. Zureden hilft. Also zitiere ich den Berliner Vers: "Und so zieh'n wir mit Gesang - In ein andres Restaurant!", und so etwas gehört zu dem "Quatsch", der dann sicherlich den Eltern nach den drei Wochen vorgetragen wird. Ein schöner Onkel das! Skandal! Aber dafür stehen Onkel und Tante auch auf tausend wißbegierige Fragen Rede und Antwort, die der geweckte Junge immer wieder stellt.
Warum hebt denn der Schutzmann den Arm ? Warum habt ihr denn keinen Chrysler ? Warum müssen denn eure beiden Soldaten nach Ostern wieder wegfahren ? Warum mußt du denn der Lucie bei dem Wäschelegen helfen ? Warum kann ich denn nicht Schach spielen ? Warum bimmelt denn die Laterne ? Warum heißt denn das Wilhelmplatz ? Warum stößt denn der Kolben in den Zylinder der Lokomotive ? Warum soll ich denn meine Handschuhe von der Erde wieder aufheben ? Warum ist mein kleines Brüderchen denn im Himmel ?
Alle Stuben, alle Straßen hallen wider von dem : "wa-umdn, wa-umdn ?" Wir alle waren mal so ein kleiner wa-umdn und konnten froh sein, wenn nicht ein barsches "Warum ? Darum!" erscholl, sondern geduldige Elternliebe unseren Wissensdurst stillte.
Manchmal hören wir, wie der Kleine leise sich eine Antwort wiederholt, dann ist es bestimmt Wissensdurst gewesen. Manchmal ist das "Warum denn?" vor einer langen Erklärung oder das "Und dann?" nach einer langen Erklärung freilich nur Gedankenträgheit. Dann muß man das Kind zum Selbstdenken und Selbstantworten wieder zurückführen; und es freut sich der eigenen Kraft. Ist das nicht schön ? Ja, aber . . . ja, dazu hat man eben meist nicht die Zeit mehr. Der Betrieb, der Betrieb!
Die Großstadtkinder haben es wirklich nicht gut, es wäre besser, sie wüchsen nicht zwischen 4,3 Millionen Einwohnern heran, wo jeder jedem die Zeit stiehlt, schon wegen der Entfernungen.
Wo nimmt man nur die Zeit für das Notwendigste her ? Der richtige Großstädter muß doch alles gesehen oder gehört haben, "worüber man spricht". Was, Sie sind noch bei keinem Dirt-Track-Rennen gewesen, wo die Schlacke hochaufspritzt, wenn die Motorradfahrer sich in sie verwühlen ? Und bei der Bembergseide-Konkurrenz waren Sie auch nicht, wo die junge Freiin v.Freyberg - Daisy d'Ora - den ersten Preis für ein Kleid bekam, das die Modeschneiderin Fräulein v.Kritter angefertigt hatte, die Kusine der Landtagsabgeordneten Freiin v.Watter ? Aber Menschenskind, wozu leben Sie in Berlin ? Oder konnten Sie nicht wenigstens in die Gerichtsverhandlung gehen, in der der "Astropath" verurteilt wurde, der aus der Dummheit seiner Mitmenschen so glänzend Kapital zu schlagen verstand ?
Es ist wirklich alle Tage was los in Berlin. Zum Kapitel Dummheit: jetzt haben wir schon den fünften, wiederum gestopft vollen Experimentalvortrag des Hellsehers Erik Jan Hanussen erlebt, der das Tagesgespräch aller Salons ist. Warum er sich diese schwedisch-holländisch-dänische Namensmischung zulegt und sich nicht schlicht und edel Siegfried Krakauer nennt, ist unerfindlich, denn er würde auch so, und dann vielleicht erst recht, in Berlin volle Häuser haben. Ich glaube an das Hellsehen. Aber dann ist es immer, wie im Falle der trojanischen Kassandra, ein schweres Martyrium, eine Kraft, die Leiden bringt. Bringt sie Geld, so ist sie meiner festen Überzeugung nach immer Kunst, immer Trick.
Also halte ich auch Herrn Erik Jan Hanussen nur für einen geschickten Artisten, wie auch fast ausnahmslos alle sogenannten Fakire sich bisher als Gaukler erwiesen haben. Nur glaubt der Großstädter, je weniger gläubig er ist, umso leidenschaftlicher an alle Telepathen, Hellseher, Chiromanten und wie sie sich sonst nennen mögen. Selbst ein so ernster und geschäftstüchtiger Mann wie der ehemalige Bankdirektor und Staatssekretär Dernburg sitzt da ganz in meiner Nähe mit weit aufgerissenen, gar nicht skeptischen Augen. Oder ist er wirklich nur gekommen, weil man doch mitreden muß, wenn von Hanussen gesprochen wird ?
Der Experimentator hält einen langen einleitenden Vortrag über "Das Wunder von Konnersreuth", über die stigmatisierte Therese Neumann, der - mich schläfert er ein - die Zuhörer in einen Erregungszustand versetzen, an das Übernatürliche glauben machen will.
Dann steigt der erste Versuch. Mehrere Damen aus dem Publikum, die "über starke Phantasie" verfügen", werden auf die Bühne gebeten. Hanussen - wählt vier von ihnen aus. Hm. Sie setzen sich mit dem Gesicht zu uns gewendet hin. Es fällt mir auf, daß er hinter ihnen lang geht, ihnen auf den Nacken sieht, bei einer von den vieren wie zufällig das Cape etwas herunterzieht, anscheinend, um sich über irgend etwas zu vergewissern.
"Bitte, meine Damen, die Augen schließen!"
Nun erzählt er allen, dann der einen, der zweiten, der dritten, der vierten irgend etwas, das man sich erregend ausmalen kann. Besonders Nummer drei - sie hat auch schon bei anderen Demonstrationen mitgemimt, wie mir ein Skeptiker erzählt, der junge Filmschauspieler vor mir - scheint "hochempfindlich" zu sein. Sie zuckt mit geschlossenen Augen zusammen, sie krampft sich, sie windet sich, als Erik Jan Hanussen sie in Gedanken in ein Krankenhaus führt. Ist sie in Trance ? Manche Zuschauer glauben es. Ihnen stockt der Atem.
Und nun befiehlt der Telepath allen vier Damen, sie sollten sich vorstellen, daß ein Mann, ein ihnen teurer Mann, mit entblößtem weißen Rücken, an einen einzelnen Baum in weitem grünen Feld gefesselt, dastünde, daß neben ihm ein finsterer Geselle die Peitsche schwinge und auf das Kommando "Eins!" zuschlagen werde . . .
Kurze Pause.
"Eins!"
Wie ein Peitschenhieb kommt schon dieses Wort.
"Ich danke Ihnen, meine Damen, nun öffnen Sie wieder die Augen! So, nun drehen Sie sich bitte um!"
Und, siehe da, alle vier Damen haben - am Nacken einen blutroten Striemen auf der Haut!
Erschauern im Publikum. Wilder Beifall.
Ich aber habe nur lachen können, habe mir die weiteren Experimente geschenkt und bin weggegangen. Das nächste sollte folgendes sein: Jeder aus dem Publikum darf auf einen Zettel ein genaues Datum, einen genauen Ort, seinen genauen Namen schreiben, dann wird Erik Jan Hanussen ihm genau sagen, welches Ereignis der Schreiber an jenem Tage erlebt hat; mit allen Einzelheiten. Aber natürlich könne man nicht Hunderte von Zetteln vornehmen, das würde stundenlang dauern, also werde Erik Jan Hanussens Sekretär - - einige auswählen. Genug, genug. Mit einiger Selbstgefälligkeit erzählt der "Hellseher", daß der Berliner Wintergarten, das große Variété, ihm 60 000 Mark Honorar geboten habe, wenn er einen Monat lang sich dort produziere. Warum nicht ? Er gehört doch auf das Variété! Aber nein: ihm liege nichts am Geldverdienen, sagt er schlicht und edel.
Ein Kollege von ihm aus einer anderen Fakultät im Wintergarten, Otto Reutter, ist der größte, bekannteste, beliebteste und höchstbezahlte Humorist Deutschlands, hat es aber doch nie in seinem Leben zu solch einem phantastischen Honorar gebracht. Sogar die Saharet kam in ihrer allerbesten Zeit - und sie war doch internationale Berühmtheit - nur auf 14 000 Mark im Monat. Jetzt feiert Reutter, mit seinem bürgerlichen Namen heißt er Pfützenreuter, einen Monat lang, den ganzen April hindurch, seinen sechzigsten Geburtstag, den ganz Berlin innig gerührt mit ihm begeht.
Er verkörpert mitten zwischen all dem Rausch und Flitter und in allen Sensationen und exotischen Erregungen das gut Deutsche, das gut Märkische, ist nie "Komiker" gewesen, der mit Grimassen auf die Lachnerven oder mit Schlüpfrigkeiten auf den Sexus wirkt, sondern stets der "Humorist", der die Herzen erklingen läßt.
Otto Reutter ist kleiner Leute Kind aus Gardelegen in der Altmark.
"Ich bin doch der große Sohn meiner Vaterstadt, an meinem Geburtshaus ist jetzt sogar eine Tafel angebracht!"
"So, was steht denn darauf ?"
"Da steht: Verunreinigung dieser Stelle ist verboten!"
Das erzählt er in kleinem Kreise mit seinem bekannten behaglichen Lausbubenlächeln, in dem immer ein Stückchen Wehmut steckt. Seine Genossen vom Variété, die ihn um seine Zugkraft und um seine Honorare beneiden, nennen ihn einen Philister, der an jedem Groschen hänge. Gewiß, er rechnet. Aber er hat es doch auch schwer genug gehabt, ehe er sich seinen Altenteil sichern konnte, das nette Haus mit kleinem Park bei Gardelegen.
Als Junge in der Schule "kliert" er Verse in seine Hefte, brennt aus der Kaufmannslehre zur Bühne durch, spielt als Anfänger mit 18 Jahren im Berliner Americain-Theater "Chlor und keine Rollen" (Chor und kleine Rollen), wie er es heiter nennt, ist dann wieder engagementslos, strandet mit 19 Jahren in Berlin im Asyl für Obdachlose, improvisiert in Karlsruhe Verse in einem Volksgarten, in dem "Militärpersonen vom Feldwebel abwärts" das Stammpublikum bilden, wird entdeckt, steigt jäh empor, ist um 1910 herum der höchstbezahlte Humorist vielleicht Europas, verliert in der Inflation sein ganzes erspartes Vermögen, fällt einige Jahre später wieder mit Geld beim Kabarett im Berliner Equitablepalast herein und muß noch jetzt mit sechzig Jahren täglich, sonntags zweimal, vor dem Publikum singen und schwitzen.
Dies und manches andere weiß man aus Dutzenden von Erinnerungen, die er, immer anders in der Form, Dutzenden von Zeitungen jetzt geschrieben hat. Sie geben aber nur Äußeres. Was er im tiefsten Wesen ist und weshalb man ihn so lieb hat, darüber spricht er nicht. Er ist urdeutsch; und er ist ganz Güte. Er stäupt uns um unserer kleinen Schwächen willen, so in dem bekannten "Alles weje de Leut'" und anderen stets von ihm selbst verfaßten Couplets, die sich ständig verändern, ständig aktualisiert werden; und manchmal ist es nur ein ganz kleiner, feiner Ton, eine ganz kleine Betonung, die uns aufhorchen und nachdenken und besser werden wollen läßt, so in dem Liede an die Adresse aller Egoisten:
Wir l i e b e n uns zu sehr - |
und man lächelt, ja man lacht auch wohl, man nickt sich zu, man stößt sich an, und dem und jenem wird das Auge ein bißchen feucht.
Dieser Otto Reutter braucht nicht zu kalauern, nicht Wortwitze zu machen, nicht die Sinne zu kitzeln, er steckt so voll echtesten, herzhaftesten Humors, daß auch der verdorbene Geschmack daran gesundet. Es ist ein gutes Zeichen für die Heilbarkeit unserer Gebresten, daß Otto Reutter noch volle Häuser macht. Er ist das künstlerische und moralische Plus auf der großen Schuldenseite unseres modernen "Betriebes" in der Weltstadt.
24. April 1930 (Donnerstag)
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Sichere Frühlingszeichen - Die vier Stadien in Werder - Wieder Kunstwochen - Werner Krauß' Ehe - Tausend Krokodile.
Wenn dieser langgezogene Ruf der Händler auf Straßen und Höfen in Berlin, der balkonreichsten Großstadt der Welt, erschallt, dann weiß man: es ist Frühling. Angekündigt wird er schon ein paar Wochen vorher, wenn auf dem Bürgersteig die Kinder mit der Peitsche ihren Kreisel zu treiben beginnen, den Triesel, wie er in Berlin heißt.
Der Höhepunkt des Frühlings aber wird nach wie vor am ersten Blütensonntag in Werder an der Havel gefeiert. Werder: das ist Preußisch-Grinzing. Daß zur Zeit der Kirschenblüte dort die Bismarckhöhe und die Friedrichshöhe so schön sind wie die poetischste japanische Landschaft, kommt vielleicht nur wenigen zu Bewußtsein: man fährt nicht zur Augenweide hin, sondern aus Trinkfreude, aus Lebensübermut, aus Romantik, aus Abenteuerlust, mit dem festen Vorsatz, irgendeinen wohlanständig-gemäßigten Exzeß zu begehen, ohne natürlich, bitte sehr, sich etwa zu besaufen. Nein, man will den Taler auf den Kopf hauen, man will lustig sein, man will aber nicht das, - was dann doch geschieht. Grinzing ist nun mal Grinzing. Werder bleibt Werder; da ist etwas, das ist stärker als wir.
Am frühen Morgen knattert man los. Von Jahr zu Jahr mehr auf Motorrädern. Vorn, mit dem Adlerblick ins Weite, kilometerfressend, kühn, im neuen Pullover: der Jüngling. Hinten auf dem Soziussitz - "auf der Pupperlhutschen", sagt man in Österreich - das Puppchen, die Freundin des Jünglings, mit schlanken Seidenbeinen, in echt imitierten Eidechsenschuhen.
Heidi, schon braust man durch Potsdam und den Wildpark. Nun stauen sich gelegentlich schon die Autos. In Werder selbst, wo gewöhnliche und Sonderzüge, Touren- und Extradampfer unermüdlich Menschenfracht löschen, kommt man nur noch im Schritt vorwärts. Es sind da verhältnismäßig mehr Verkehrspolizisten tätig als in der Innenstadt Berlin.
Die Havelseen blauen, der Himmel strahlt, die Blütenpracht leuchtet, aber es fehlt auch nicht an dursterregendem Staube. Her mit der ersten Flasche Johannisbeerwein! Und dann gleich die zweite, bitte Erdbeer! Puppchen soll mal sehen, was ihr Gent verträgt. Und soll mittrinken. Lächerlich, man wird doch wohl zwei lumpige Flaschen herunterkriegen ? Kinder, Kinder, ihr vergeßt, daß der Beerenwein genau doppelt so alkoholreich ist als der Traubenwein; und ihr vergeßt sicherlich die alte Wahrheit, daß Gift - und Alkohol ist Gift - in geringen Mengen anregend wirkt, in großen Mengen aber lähmend.
Erste Stufe: Der Jüngling und sein Puppchen werden vergnügt, aufgekratzt, liebevoll. "Ich weiß nicht, wie mir ist, mir sind heute alle Menschen ganz besonders sympathisch!" Den Nachbarn am Tisch geht es ebenso; und so geht es Zehntausenden von Pärchen, von Einzelgängern, von Familien. Man ist schnell ein Herz und eine Seele. O Welt, wie bist du wunder-, wunderschön!
Zweite Stufe: Auch der Unbegabte, auch der Mundfaule wird sprudelnd witzig und geistreich. Man entdeckt in sich ungeahnte Talente, man will sie steigern, man verlangt in Entdeckerfreude noch eine Flasche, noch eine . . .
Dritte Stufe: noch nicht die Beine, noch nicht die Zunge werden gelähmt, aber die Moral; man verwechselt Mein und Dein, nicht zusammengehörende Paare fußeln miteinander oder umarmen sich. Auch meldet sich bei einzelnen die Hypertrophie des Mutes im Zerstörungsdrang: der und jener haut eine Flasche entzwei, reißt seinem Puppchen den Spitzenkragen ab, tritt unter Gelächter nach einem Kind oder einem Hund.
Vierte Stufe: man lacht nur noch zeitweise und dann unmotiviert, die Sprache versagt, die Extremitäten versagen, Köpfe sinken auf Holztische im Freien, Körper gleiten ganz von den Bänken. In Ställe, in Waggons, auf Strohschütten am Wege werden von handfesten Angestellten der Schanklokale und Vergnügungsparks die "Erledigten" verstaut.
Wer jetzt erst kommt, der - bleibt nüchtern. Die Abschreckung ist zu stark. Auch wer wochentags kommt, wird meist nur angeregt. Herrlich schön ist Werder - abseits vom Rummel. Auch Geltow und die andern Orte rundum sind in voller Blütenpracht.
Überhaupt alles in diesem gesegneten Seengebiet im Westen, ebenso im Osten von Berlin.
Hier könnte die Stadt, wenn sie die Fremden mit ihren Wundern locken wollte, die herrlichsten Wasserfeste veranstalten, "italienische Nächte" von nordisch berückendem Reiz, mit dem historischen friderizianischen Rokoko im Hintergrund. Statt dessen verfällt sie im Mai und Juni dieses Jahres wieder nur auf die Kunstwochen, die schon das letzte Mal ein Bankrott waren, abgesehen von Toscaninis Mitwirken, und nur mit Hilfe sehr zweifelhafter Spenden sehr zweifelhafter Leute sich durchführen ließen, die Oberbürgermeister Böß entgegennahm. Die Zweifelhaften machten ein gutes Geschäft auf anderem Gebiet; der Berliner Steuerzahler hatte es zu büßen.
Bei Über-Oberammergauer Preisen - der Parkettplatz im Staatlichen Opernhause soll an einigen Tagen 40 Mark kosten - sind diese Kunstwochen (und das in unserer demokratisch-republikanischen Zeit!) nichts für das große Volk, sondern eine Renommisterei für reiche Snobs; und für die Freibillettler, die Bonzen im Frack. Eine Stadt, die keine wirklichen Volksfeste mehr kennt, ist übel daran. Wir haben sonst nur noch die kommandierte Verfassungsfeier mit Geldstrafen für die Kommandierten, die sich ihr entziehen, wenn sie noch Schüler sind, mit Disziplinarverfahren gegen Beamte, die nicht antreten, mit Auftragsverlusten für Lieferanten, die nicht flaggen, mit Prozessen gegen Pfarrer, die die violett-weiße parteilose Kreuzfahne hissen. Die Kunstwochen heben nicht den Fremdenverkehr, dienen nur der Repräsentationssucht der städtischen Behörden. Dabei existiert kaum eine Stadt, in der es so viele hungernde und verzweifelnde Künstler gibt, wie gerade in Berlin.
Nur spricht man von ihnen nicht.
Man spricht von den Arrivierten, von den Prominenten, die sich durchgesetzt haben. Und wenn es irgendwie möglich ist: man klatscht über sie.
Das hat wieder einmal Werner Krauß erfahren müssen, als dieser Tage seine Frau aus dem Leben schied. Die Asphaltblätter wußten den Grund sofort: weil er, Werner Krauß, die Absicht gehabt habe, sich von ihr zu trennen. Diesem größten deutschen Menschendarsteller, diesem Dämon der Kunst, geht es natürlich so wie auch anderen Männern, die sich auf ihrer Erfolgshöhe befinden, daß sie nämlich von verzückten Wesen des schönen Geschlechts angebetet werden. Es hat auch schon zwei- oder dreimal in Krauß' Leben deswegen schwere Konflikte gegeben, die er aber siegreich bestanden hat. "Das, was meine Frau in 22 Jahren mit mir durchlebt hat, das kann mir keine andere geben, die sich jetzt gern ins gemachte Bett legen möchte", sagt er schlicht und aufrichtig; es ist das ein Satz, den hundert andere berühmt Gewordene auch finden sollten, wenn nach einer langen Gemeinschaftsreise in der Ehe plötzlich ein "Erlebnis" sie benebelt.
Werner Krauß wollte sich nie von seiner Frau trennen, wollte auf jeden Fall, und auch jeder Kritik Befreundeter gegenüber, durchhalten, mit ihr durchhalten, auch wenn sie allmählich ängstlich, müde, nervös, empfindlich, spießerisch, verbittert geworden war, wie die Befreundeten mit bedauerndem Achselzucken meinten.
Sie war ihm das, was Cosima für Richard Wagner gewesen war: lohende Liebe und doch in unerhörter Klarheit seine beste künstlerische Beraterin, die mit ihm um jedes Problem rang und ihm, vom ersten Rollenstudium bis zur Generalprobe, mehr war als jeder Regisseur, den er meist - weil er sich zu sehr vordränge, zu sehr Techniker sei, in seiner Selbstherrlichkeit den Darsteller knebele - ablehnte.
Einmal ist die Frau im Sommer schon auf dem Kraußschen Bauernhof am Mondsee. Er, Werner Krauß, einsam in Berlin, in der kleinen Villa in Dahlem, festgehalten durch Filmverhandlungen und Theaterspiel; dazu, einsam, sehr einsam, stockend, schwerblütig beschäftigt mit einer neuen Rolle.
Plötzlich geht zu seinem Arbeitszimmer in Dahlem die Tür auf. Er denkt: es ist wohl das Mädchen.
Aber siehe da: es ist die Frau! Noch nie war er so bis ins Innerste erschüttert und beglückt.
Um seinetwillen hat sie sich einst, ganz wie Cosima um Wagners willen, nur schon vor endgültiger Verbindung, von einem anderen losgerissen. Sie stammt aus einer schwäbischen Pfarrersfamilie, war verlobt, sah Krauß in einer durchreisenden Theatergruppe spielen, war hin und - brannte mit ihm durch.
Die jungen Leutchen heirateten und kämpften sich zwischen Hunger und Erbsensuppe durch. Bittere und doch glückliche Jahre. Ohne diese auch wirtschaftlich ungemein tüchtige Hausfrau hätte Krauß - sie war es, die Groschen um Groschen, Taler um Taler, später Hundertmarkschein um Hundertmarkschein sparte - nie das Anwesen am Mondsee, nie die Villa im Schwarzen Grund in Dahlem sein eigen nennen können. "Up ewig ungedeelt" wollte er mit ihr - und seinem Jungen - im Leben und im Tode sein. Schon vor Jahren kaufte er sich auf dem Friedhof an der alten Dorfkirche von Berlin-Dahlem drei Plätze.
"Manche halten mich für verrückt, seitdem ich mich auf dem Dahlemer Friedhof angekauft habe. Ich, - mit meinen Jahren. Aber! Schön ist der Friedhof hier draußen. Ich bin oft da . . . an meinem Platz. Es ist herrlich, der Erdgeruch, der frische Rasen, die Stille. Dort ist meine Erde. Daneben ruhen schon welche. Immer mehr werden es. Die Umgebung füllt sich. Ich spreche mit den Kameraden hier, grüße sie. Blumen blühen aus meiner Erde. Ich nicke ihnen zu . . . Für verrückt halten mich seitdem die Leute."
Das hat Krauß einmal zu Alfred Mühr gesagt, der ein ganz wundervolles Büchlein über ihn ("Die Welt des Schauspielers Werner Krauß", Berlin 1927, Preis gebunden 6 Mark) veröffentlicht hat.
Da steht von der Frau allerdings kaum etwas, das Büchlein beschäftigt sich ausschließlich mit dem Phänomen Werner Krauß. Aber Mühr weiß ebenso wie die wenigen anderen, die in Krauß' Heim verkehren, daß dessen Frau nicht nur in der Familie die Hauptrolle gespielt hat, sondern auch in dem Künstlertum ihres Mannes. Es ist ein schönes, warmes Heim gewesen, voll Sonne und voll Güte, und - Küche und Keller darin stets wohlgefüllt. Werner Krauß, der spröde, herbe, karge, konnte gelegentlich bacchantisch sein wie nur irgendein bäurischer Dickschädel auf dem Bilde alter holländischer Maler.
Mit diesem Schädel, der aber im Ernst ebenso hart ist wie im Bacchanal, überdauert er auch jetzt den häuslichen Zusammenbruch und will sein Heim nötigenfalls von der Bühne herab gegen Taktlosigkeiten der Asphaltpresse verteidigen. Nie hat er, obwohl er noch heute nach seiner letzten Operation sich nur mühsam bewegen kann, besser gespielt als in diesen Tagen, wo er allabendlich als Napoleon "eingreift". Um seinetwillen, um des Todes seiner Gattin willen soll keine Pause eintreten, kein Stück abgesetzt werden, kein Kollege seine Arbeit verlieren. Er reißt sich zusammen. Er arbeitet für drei, für zehn, für hundert. Nun erst erkennen manche, wie er in einsamer Größe hoch über alles Komödiantenmaß emporragt.
In aller Stille, ohne Meldung an die Öffentlichkeit, was nur Pomp und Unruhe gebracht hätte, ist Frau Krauß beigesetzt worden, auf dem Dahlemer Friedhof, in einem der drei bereitstehenden Gräber.
Gerade haben die Eisheiligen, etwas verfrüht, ihren Ausfall gegen den nahenden Sommer versucht. Es hat nichts geholfen: der Sommer ist schon sichtbar geworden.
Wie der Berliner den Frühling am Triesel und an Werders Baumblüte erkennt, so hat er auch seine bestimmten Signale, die den Sommer ankündigen: die Eröffnung des Lunaparks in Berlin-Halensee und die erste Exotenschau im Freien im Berliner Zoologischen Garten. In den Lunapark habe ich diesmal nur ganz kurz hineingeschaut; ich fror, als die nur wenigen Menschen da erblickte. Aber die Sonderschau in der Arena des Zoo hat mich, obgleich sie noch gar nicht eröffnet ist und auch nicht etwa Pressevorbesichtigung war, auf gut anderthalb Stunden gefesselt.
Es sind diesmal keine Marokkaner oder Algerier oder Somali oder Sudanneger da, überhaupt keine Menschen aus dem Orient, sondern - Tiere, wohlgezählte tausend Tiere, Alligatoren aus dem Mississippi, die da in zwei betonierten, langen, flachen Teichen mit gewärmtem Wasser - es zählt 30 Grad Celsius - herumliegen oder herausgleiten und auf dem Sandstrande mit ihrem nachschleifenden hornigen Schwanze Furchen wie die Skiläufer ziehen.
Ich denke manchmal: baden in den Tropen muß herrlich sein. Aber es ist leider meist verboten, abgesehen von flachen Stellen am Meer, denn in der See gibt es Haifische und in den Flüssen Krokodile, die beide Menschenfresser sind und unglaublich schnell zuschnappen können.
Die Krokodile, die Kaimans, die Alligatoren sollen sogar durch eine Art Kinderweinen ihre Opfer anlocken. Das mit den "Krokodilstränen" ist nur nicht ganz richtig, obwohl den Krokodilen manchmal - wenn sie in äußerster Wut sind - tatsächlich etwas aus den Augen tropft. Aber weder am Nil noch im Berliner Aquarium noch hier auf der Sonderschau habe ich ein Krokodil je weinen hören, und Kenner, die ihr Leben lang in den Tropen ihre nahen Nachbarn sind, erklären dasselbe. Meist sind die Tiere stumm. Die hier sollen gerade, während ich da bin, gemessen werden. Der größte Bursche, einer von fünf Metern Länge, ist auf dem Transport eingegangen. Aber einen von 3,45 Metern hat der Wärter, der in großen Gummistiefeln ins Wasser geht, am Schwanze gepackt und versucht ihn daran ans Land zu ziehen. Da wird der Alligator böse und schnaubt und faucht ganz laut. Dieses Fauchen, wobei der Hautsack am Halse sich bläht, kann schließlich trompetenartig werden, fanfarenartig (manche sagen: bellend), aber nie ein Weinen.
Irre ich nicht, so gibt es im ehemaligen Deutschostafrika in den Küstenflüssen kapitale Burschen von sechs Metern Länge und mehr, die mit einem Schwanzhieb einem Menschen die Knochen brechen können. Die uns seit 1919 verschlossene eigene Kolonialwelt ist der schönen und grausigen Wunder voll. Alles, was an exotischen Menschen und Tieren hier im Zoo uns vorgeführt wird, erweckt von neuem auch unter unseren Kindern die Sehnsucht ins Weite. Auch unsere heutigen Kolonialträume werden sich hoffentlich einmal wieder verwirklichen, so wie einst der Kaisertraum, der die langen Jahre von 1806 bis 1871 brauchte, um Tatsache zu werden.
1. Mai 1930 (Donnerstag)
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Die Riviera voll von Berlinern - Wer hat noch Geld ? - Captain Perry im Lunapark - Mein kleiner Freund Franz - Berliner Skandale - Der Böß-Schlager - Väter und Söhne - Das Kaiserbild im Gymnasium.
Die Berliner Modehäuser haben alle Hände voll zu tun, unberufen, toi toi, also es geht uns doch wohl alle Tage besser. Und die Leute, die jetzt von der Riviera zurückkommen, erzählen, etwa 80 Prozent aller Reisenden dort seien Deutsche. Italiener und Franzosen behaupten daher, wir müßten doch massenhaft Geld haben.
Merkwürdig, höchst merkwürdig. Wo ich auch hinhöre, immer haben nämlich "die anderen" das Geld, und "man selber" hat keins, sondern wundert sich, daß es noch Deutsche gibt, die sich soviel leisten können. Vielleicht handelt es sich nur um eine Verlagerung der Ausgaben. Man gibt heute eben für Kleidung und Reisen mehr aus als ehedem und spart dafür an anderen Dingen, wofür man früher mehr übrig hatte, vor allem an der Wohnung und an der sogenannten Geselligkeit.
In Berlin wird binnen wenigen Monaten auch im Tausch oder gegen große Abfindung keine 4-Zimmer-Wohnung mehr zu haben sein, solche zu sieben oder acht Zimmern stehen aber schon heute in Mengen leer.
Weiter: die Königsallee in Berlin-Grunewald ist etwa das, was in Hamburg der Harvestehuder Weg ist; da stehen also die Palazzi der Leute mit Patrizier-Einkommen. Wenn man da sonst - wie in Berlin und Hamburg wird es wohl auch anderswo sein - abends entlang ging, war jedes dritte oder vierte Haus hell erleuchtet. Aha: große Gesellschaft! Der erste Fliederduft mischte sich mit dem des getrüffelten Fasans. Heute liegt alles im Dunkeln - und jedes dritte oder vierte Haus steht zum Verkauf, auch wenn natürlich kein Schildchen mit dem Angebot die Gegend verschandelt, sondern nur die Makler Bescheid wissen.
Aber es gibt immer noch neben den Versinkenden auch Emporkommende, das läßt sich nicht leugnen.
Im Lunapark sehe ich mir die neue Sensation an, die Fahrt an der Todeswand, exekutiert von Captain Bob Perry und einer jungen Partnerin. Perry, der in einer Art "looping the loop" mit 150 Kilometern Stundengeschwindigkeit auf seinem Motorrad an der senkrechten Wand in die Runde saust, dank der Zentrifugalkraft selbst in völlig wagerechter Haltung, schließlich sogar ohne Benutzung der Lenkstange, auch im Damenreitsitz, auch stehend, und unter Knattern und Donnergetöse bis an den oberen Rand dieser etwa zehn Meter hohen Riesentonne innen emporfliegt, hart unter die Nasen der entsetzten Zuschauer, die von der Galerie hinunterstarren, hat das typische Gesicht des alten Berufsradfahrers.
Mit seiner atemraubenden Vorführung, durch die er "die Aufhebung der Schwerkraft" oder auch das Kreiselgesetz demonstrieren will, hat er viel Geld gemacht und besitzt in Los Angeles schon eine Villa und viele Grundstücke mit großer Zukunft, tritt jetzt angeblich auch zum letzten Mal auf, um sich dann in Amerika zur Ruhe zu setzen. Er nennt sich aber nicht nur Captain, sondern ist wirklich, wie ich im Gespräch feststelle, amerikanischer Hauptmann a.D., nämlich ehemaliger Fliegeroffizier, der über die Schlachten von 1917 und 1918 im Weltkriege gut Bescheid weiß und einmal sogar ein Zusammentreffen in den Lüften mit unserem Richthofen gehabt haben will. Das war entschieden gefährlicher als die "Todesfahrt" seither auf dem Motorrad, und wenn er sich der Begegnung damals nicht durch schleuniges Abtrudeln entzogen hätte, wäre er wohl schon längst vermodert. In Zivil ist dieser Captain Perry Mechaniker oder so etwas gewesen; mein bester Flieger, den ich während des Krieges einmal hatte, war Berliner Droschkenkutscher, ein trotz seines Berlinertums wortkarger Mensch und ausgezeichneter, tapferer Soldat, der jetzt freilich wieder Nachttaxe fährt und gerade nur den Lebensunterhalt für die Familie erschwingt, während Captain Perry Millionär geworden ist.
Interesse habe ich auch für das Publikum an der Todeswand. Es ist schon gesiebt, denn Captain Perrys Impresario erhebt 1 Mark Sonder-Eintrittsgeld. Da sieht man Gesichter voll geballter Energie, Gesichter von Emporkömmlingen der Sorte, die "gewöhnt sind, über Leichen zu gehen". Alle nach letzter Fasson gut gekleidet, unbestimmbaren Alters, glatt rasiert; an ihrer Seite natürlich Puppchen, die Privatsekretärin, mit gut gemalten Augenbrauen. Puppchen, die Heldenverehrerin.
Plötzlich entdecke ich unter diesem Publikum auch ein bekanntes Gesicht.
Wo habe ich diesen jungen Mann schon gesehen ? Sicherlich ist das schon lange Jahre her.
Da nickt er mir zu. Richtig: das ist ja "mein kleiner Freund Franz" aus der ersten Inflationszeit! Damals erzählte ich meinen Lesern, wie der kleine Franz sich den Riß in der kurzen Hose eigenhändig mit langem Wollfaden stopfte und einen Altpapierhandel anfing.
Heute sieht er aus wie ein junger Großindustrieller und spricht schon ein reines Hochdeutsch. "Darf ich Sie nachher in meinem Auto nach Hause bringen ?" fragt er. Also doch. Das habe ich schon damals vorausgeahnt, daß es so kommen würde, während ich es nie zu einem eigenen Wagen brächte. Und nun erzählt er. Kurz, knapp, sachlich.
"Sehen Sie, das Schießpulver habe ich nicht erfunden, auf Schule auch nicht viel gelernt. Aber ein Mottenpulver habe ich erfunden. Oder vielmehr gegen billiges Honorar von einem armen Teufel von Chemiker mir machen lassen. Ich machte die Reklame. Das Pulver war sehr gut für die Motten. Wenn sie es zu sich genommen hatten, konnten sie die dicksten Smyrnateppiche ohne Verdauungsbeschwerden vertilgen. Aber die Leute kauften massenhaft. So schaffte ich meine ersten zehntausend Mark. Dann bin ich noch in verschiedenen Branchen tätig gewesen, immer mit Erfolg. Die Dummen werden ja nicht alle. Jetzt möchte ich es mal ein paar Jahre als Impresario versuchen. Am besten mästet man sich noch an einem Meisterboxer, weil bei denen die Gehirnmasse gegenüber den Muskeln immer ein bißchen im Rückstand ist. Aber man kommt nur schwer in den Ring, ich meine, in den Ring ihrer Ausbeuter. Sagen Sie mal, könnten Sie mir nicht einstweilen Niddy Impekoven oder Daisy d'Ora verschaffen ?"
Bedaure, kann ich nicht. Mit so etwas gebe ich mich nicht ab. Da lächelt mein kleiner Freund Franz ganz leise über mich Weltfremden und sagt:
"Verehrter Herr, seien Sie doch nicht so stolz; jedes Geldmachen fängt doch heute mit freundschaftlicher Vermittlung an, und ich habe jeden Vermittler immer gut beteiligt. Oder bin ich Ihnen nicht vertrauenswürdig ? Soll ich Ihnen mal von meiner Bank in Zürich meinen Kontoauszug schicken lassen ? Sicher ist sicher. Sogar jeder halbwegs anständige rote Bonze - politisch bin ich übrigens gänzlich uninteressiert - hat heute sein Guthaben im Auslande. Nur daß die Hunde in Zürich und Amsterdam, weil die Markbeträge sich häufen, heute nur noch zwei Prozent für tägliches Geld vergüten."
Nein danke, lieber Franz; ich brauche Ihren Kontoauszug nicht, ich glaube Ihnen alles aufs Wort, bin aber wirklich "geschäftlich gänzlich uninteressiert".
Na denn nich, sagt Freund Franz leutselig, bietet mir eine importierte egyptische Zigarette zu 40 Pfennig das Stück an, legt zwei Finger an den Hut, der natürlich von Habig aus Wien stammt, und verschwindet in einer Duftwolke mit Puppchen.
Mit dem Vermitteln, da hat er natürlich Recht. Täglich liest man ja in der Zeitung, was allein die rötlichen und roten und knallroten Berliner Stadträte durch Vermitteln verdient haben. Alle Tage liest man neue Namen, neue Summen.
Eben ist Stadtrat Katz, der, wie schon der Name sagt, Demokrat ist, von seinem Urlaub aus Lugano zurückberufen worden, weil angeblich auch er das Mausen nicht hat lassen können. Wir Steuerzahler sind die armen Mäuse. Die Schieber und Vermittler, mit und ohne Offenbarungseid, scheffeln das Geld in diesen "herrlichen Zeiten", die wir seit November 1918 nun schon fast zwölf Jahre erleben. Bei irgendeinem Grundstücksgeschäft, das eben erst neu aufgedeckt ist, sind 780 000 Mark in jemandes Taschen geflossen. Ich weiß nicht, in wessen; ich lese nur noch die Überschriften und die Schlagzeilen, denn ich habe doch mehr zu tun, als den ganzen Tag nur von Vernehmungen in Sachen neudeutscher Korruption zu lesen.
Ds ist längst Thema für die Kabaretts geworden, in denen es zynisch verwitzelt wird. "Korruption ist, was - die anderen daran verdienen, nicht ich!" sagt ein Conferencier im Kabarett der Komiker, und dessen östlich-allzuöstliches Publikum wiehert verständnisinnig. Auch der Fall Böß-Sklarek (die Sklareks werden sich schon irgendwie herauswinden) ist schon längst zum sentimentalen Ulk geworden, verbrettelt nach der Melodie des armen Gigolo. Ich rufe telephonisch eine Dame an, die ein gutes Gedächtnis für derartige Verse hat. Da holt sie ihr noch nicht fünfjähriges Töchterchen an den Apparat. "Komm' her, Dicke, und sing' dem Onkel das Lied von Böß!" Und deutlich schallt es her:
Bürgermeister Böß, Bürgermeister Böß, |
So werden die an den Skandalen Beteiligten, die früher in den damals seltenen Fällen nach einem straffen Gerichtsverfahren, begleitet von dem Fluch der Zeitgenossen, in der Versenkung verschwunden wären, heute allmählich zu einer komischen oder, wenn es sich um die von der Sorte Sklarek handelt, bemitleidenswerten Figur. "Haftunfähig!" sagen die Ärzte. "Die Frage der Korruption wird im Wahlkampf keine Rolle spielen", verkündete der Sozialdemokrat Heilmann selbstbewußt schon im Zenith der Barmat-Affäre. Warum soll man sich über Dinge aufregen, die doch Zeitgeist sind ? Und wenn die roten Schieber - die Barmats und die Sklareks hatten natürlich das Parteibuch - auf Kosten aller Steuerzahler, auf Kosten der Arbeiter und der Arbeitslosigkeit sich auch "gesundmachen" und nebenbei die Bonzen verdienen lassen, was tut's ? Dafür ist auf der anderen Seite die Sozialdemokratie doch die große Gnadenspenderin, die denen, die für sie das Volk bearbeiten und Wähler heranschaffen, Ämter und Ehren zu geben hat.
Viele Kinder von ausgesprochenen Nicht-Sozialdemokraten haben das Heil erkannt und zur roten Fahne geschworen. Der Sohn des verstorbenen bekannten Lutherforschers, des Doktors der Theologie Kawerau in Berlin, der es aber nicht mehr zu erleben brauchte, ist heute der roteste Gymnasialdirektor in der Hauptstadt. Der Sohn des Professors v.Harnack, des ungetreuen ehemaligen Freundes des Kaisers, hat es als Sozialdemokrat bis zum Posten eines Regierungspräsidenten gebracht. Auch die modernen jungen Damen sind schon so. Als im vorigen Jahre die Heidelberger Studentenschaft eine öffentliche Zehn-Jahres-Kundgebung gegen das Versailler Diktat veranstaltete, stand abseits ein kleines Häuflein und demonstrierte dagegen. Unter diesen Kleinen vom sozialistischen Studentenbund, die während des Deutschlandliedes mit dem Gesang der Internationale störten, stand hoch und blond, im eigenen Auto herzugefahren, als Genossin die Studiosa Inge Schacht, die Tochter des Reichsbankpräsidenten, die dieser Tage zwar nicht Legationsrat geworden ist, aber einen Legationsrat geheiratet hat. Es gibt viele Dutzende von Berliner Familien, die derartiges zu beklagen haben; auch der Sohn des bisherigen Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons ist ja sozialdemokratischer Regierungspräsident. Und doch, und doch: das ist nur Episode, ist nur vorübergehende Erscheinung.
Schon die nächste Generation denkt ganz anders. Heute gibt es schon, und zwar viel mehr, als die Öffentlichkeit ahnt, Söhne rote Würdenträger, die sich ihrer Väter, dieser "Parvenus", schämen und ihrerseits auf das Hakenkreuz schwören. Besonders, seit die zur Zeit herrschende Schicht angefangen hat, Märtyrer zu machen. Der Druck auf Universitäten und Schulen hat das Gegenteil des Gewünschten zu Wege gebracht; auf einzelnen Universitäten hat schon mehr als die Hälfte aller Studierenden das Braunhemd oder gehört sonst irgendeiner nationalen Organisation tätig an.
Diese jungen Leute schauen zu den aufrecht gebliebenen Alten empor. Unter denen weiß ich einen - Gott grüße ihn, wenn ihm diese Zeilen zu Gesicht kommen - der noch als Siebziger heute wie eine Fischotter schwimmt und taucht. Er war bis vor wenigen Jahren Direktor eines staatlichen Gymnasiums, in dem alles ein Herz und eine Seele war, aber mit der Parole: "Immer daran denken, nie davon sprechen!"
Eines Tages wird der Kultusminister erwartet. Am Abend vorher geht der Direktor mit dem Pedell in die Aula, tritt vor das bewußte große Bild an der Wand, schmunzelt, und sagt:
"Wilhelm, legst du Wert darauf, den Kultusminister Haenisch zu sehen ? Nein ?", nimmt dann mit Hilfe des Pedells das Bild von der Wand und bringt es in den Keller. Am übernächsten Tage hängt es wieder an der alten Stelle. Bis zum heutigen Tage hat kein Lehrer, kein Schüler, kein Pedell ein Sterbenswörtchen von der Geschichte verraten. Aber sie alle hoffen, einst am Dritten Reich mitschaffen zu können.
8. Mai 1930 (Donnerstag)
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