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Der eiserne Gustav - Bei Vater Jensch - Ferienreise auf deutschen Dampfern! - London, Tanger, Alhambra - Betrieb Kempinski - Zentrum der Lebenslust.
"Hamse, hamse, hamse ?" ruft im Laufen, außer Atem , ohne den Satz vollenden zu können, unsere Schusterfrau mir zu. "Hab' ich, hab' ich!" antworte ich und winke heftig und tue glücklich. Ich habe nämlich auch den eisernen Gustav gesehen.
Mit eisernen Kniekehlen stehen schon seit der Morgenfrühe Tausende und Abertausende von Berlinern Spalier in den Straßen, durch die er kommen soll, der Volksheld, der letzte Rosselenker von Wannsee, Gustav Hartmann, der mit seiner Droschke in 22 Wochen von Berlin nach Paris und wieder zurückgefahren ist. König Karl XII. von Schweden ist im Herbst 1714 von Dimotika in der Türkei bis Stralsund an der Ostsee, das ist noch etwas mehr als Berlin-Paris-Berlin, in 16 Tagen geritten. Tut nichts. Das war ja bloß ein König. Aber ein Droschkenkutscher, ein Droschkenkutscher! Das ist doch einer aus dem Volke. Das ist doch einer von uns. Da lohnt es schon, sich die Beine in den Leib zu stehen, um Kindern und Kindeskindern und den Verwandten draußen im Reich erzählen zu können, man habe dieses Ereignis erlebt, man habe "ihn" gesehen. Arrangiert ist das ganze Unternehmen von einem Ullsteinblatt, das einen Redakteur als Impresario und Dolmetscher mitfahren ließ, und das ganze Unternehmen ist zeitungstechnisch und geschäftlich daher glänzend aufgezogen gewesen. Ganze 22 Wochen lang hatte der Berliner Kleinbürger sein Thema, aus jeder Etappenstation wurde berichtet. Das Sportlich-Technische konnte dabei nicht der eigentliche Reiz sein; der eiserne Gustav hat nicht einmal immer selber kutschiert, sondern hat dies, wenn er mal abends zu ausgiebig gefrühstückt hatte, auch anderen überlassen und ist mitunter behaglich nachgefahren. Immerhin: er war in Paris! Das ist Mekka für die Ullsteins. Auch ein ziemlich lächerliches "Locarno-Auto" haben sie ja hin- und herfahren lassen. Aber der Erfolg ist da, die Massensuggestion ist da, die Tausende, die Zehntausende stehen Kopf an Kopf, und in der Wilhelmstraße, in der ich in einer Autodroschke den Festzug passiere, gibt es 12 Minuten lang eine absolute Verkehrsstockung, in der Leipziger Straße stehen die Straßenbahnwagen festgerammt wie die chinesische Mauer, und so ähnlich ist es überall auf dem Anmarschwege. Als am Skagerraktage eine Marinewache vor dem Palais Hindenburgs aufzog, brachte ein Ullsteinblatt das mißbilligend unter der Überschrift: Verkehrsstörung. Heute aber wird stolz berichtet, daß der eiserne Gustav alles habe stocken lassen. Jawohl. Alles rannte hin. Alles ließ die Arbeit liegen. In den Geschäftshäusern alle Fenster aufgerissen: Stenotypistin und Anwalt und Klient, Ladenfräulein und Kunde und Hausbursche, alles Kopf an Kopf. Und durch dieses Meer von Gaffern trudelt gemütlich auf seinem Bock der alte Hartmann mit einem dicken Blumenkranz um seinen Kutscherzylinder, schmaucht seine Zigarre und freut sich auf die große Weiße mit'n Kümmel, die ihn außer Festansprachen erwartet. Hinterdrein der Zug der "verwandten" Vereine mit ihren Bannern. Schier endlos. Und Bierwagen, Geschäftsdreiräder, Rundfahrtautos schließen sich an, vergessen ihre Touren, folgen dem neuen Rattenfänger von Hameln. Ja, das ist Berlin.
Dabei ist es mir, als sei ich erst gestern bei Vater Jensch gewesen, weit, weit weg von hier. In Sestri Levante am Mittelmeer. Was, Sie kennen Vater Jensch nicht ? Den muß doch jeder Italienreisende kennen. Da kommt das große Ausruhen über einen.
Und wenn die Familien sich endlich doch losreißen müssen, dann betteln die Kinder um ein Abschiedsküßchen von Vater Jensch. Besonders die kleinen Mädchen zwischen 3 und 13 Jahren. Er gäbe gern auch den großen zwischen 16 und 18 eins. Wer er ist ? Natürlich ein Berliner. Wenigstens war er vor 40 Jahren junger Verlagsbuchhändler in Berlin. Wenn er auch, wie die meisten Berliner, nicht aus Berlin stammte, sondern aus der Ostmark. Damals "hatte er es mit der Lunge". Also an die Riviera! An das Hochgebirge, an Arosa und Davos, dachte man in jenen Zeiten noch nicht. Nach Jahr und Tag ist der junge Jensch so gut wie gesund; aber, so wird ihm gesagt, es wäre empfehlenswert, wenn er noch ein paar Jahre im Süden bliebe. Woher nimmt man dazu die Mittel ? Mit einem deutschen Freunde macht Jensch eines Tages einen Ausflug in die Berge, hat nachher einen bildschönen Durst, sagt: "Jetzt, wenn wir einen Schoppen Münchener hätten, o, o,!" Halt, das wäre eine Idee: eine deutsche Bierstube in Genua . . . Und Jensch fährt zu Sedlmayr nach München und sagt: "Herr Kommerzienrat, pumpen Sie mir einen Waggon Bier!" Der lacht, sieht sich das Bürschchen an, überlegt und willfahrt schließlich; schickt auch noch einen erfahrenen Küfer mit. So wird Jensch seßhaft in Italien. Die Familie aber schämt sich halb zu Tode: o Gott, o Gott, der Sohn wird Kneipenwirt! Der Vater ist nämlich Landgerichtspräsident in Bromberg und nationalliberales Mitglied des preußischen Landtages, verschiedene Verwandte sind Offiziere, adelige Rittergutsbesitzer, Gelehrte. Dann pachtet und kauft später Jensch ein Häuschen in Sestri Levante und baut es aus. Heute ist es das Grand Hotel mit 130 Betten, seit Jahrzehnten eine immer wieder aufgesuchte Heimstatt für deutsche Künstler und Dichter, Generale und Staatsmänner, aber auch immer mehr und mehr von Mailänder Patriziern und von Schweizer Familien des gebildeten Mittelstandes aufgesucht, nur im ersten Frühling seit jüngster Zeit etwas verkurfürstendammert: italienische Marmorpracht, sauberste deutsche Führung, der Strand direkt vor der Tür, dabei nicht teuer, - und vor allem, was man sonst in keinem Grand Hotel findet, der Besitzer wirklich der gütig-lustigste Familienvater, der eines jeden Gastes persönliche Wünsche, ehe der Gast selber es gedacht, errät und erfüllt.
Zum dritten Mal in meinem Leben bin ich im Grand Hotel Jensch. Diesmal sind wir unser vier aus einem Hause. Und wenn man morgens im Pyjama durch den Palmenvorgarten zum Strande hinübergeht, jauchzt man und dankt innerlich für diesen schönen, lang ausklingenden Abschluß einer wundervollen Reise. Seit meinem 17. Lebensjahre habe ich jede Ferienzeit und jede Urlaubszeit, wenn der Geldbeutel es nur irgendwie gestattete, auf dem Wasser verbracht. In allen Meeren rund um Europa einschließlich des kaspischen habe ich mich herumgetrieben. Eine der schönsten Ferienreisen, schön zu allen Jahreszeiten, kann man mit der Woermann- und Ostafrikalinie machen. Es braucht nicht gleich um Afrika herum oder nach Ägypten oder zu den Canarischen Inseln zu gehen, es ist schon herrlich, wenn man von Hamburg die 15 Tage nach Genua sich erkürt. Alle drei Klassen sind empfehlenswert. Immer ist es eine angenehme Kur für Leib und Seele. Schätzt man die Verpflegung nach ihrem Werte ein, so ist die 1. Klasse ein Luxussanatorium, die 2. ein Hotel ersten Ranges, die 3. ein vornehm bürgerlicher Gasthof; die Reise selbst hat man sozusagen umsonst. Auf der regelmäßigen Tour bringt uns der "Adolph Woermann", der erschütterungsfreieste, lautloseste Turbinendampfer, den ich kenne, zuerst nach Antwerpen. Die dortigen Liegetage benutzen die meisten Passagiere zu Tagesausflügen nach Brüssel, Brügge, Ostende und zu den Schlachtfeldern. Um dem Hafengelärm ganz zu entgehen, brenne ich durch, fahre ich über Ostende-Dover nach London, verbringe 4½ äußerst anregende und lehrreiche Tage dort, erreiche den Dampfer wieder in Southampton und freue mich, wieder "daheim" zu sein; man möchte jeden Schiffsoffizier, jeden Steward, jeden Passagier umarmen. Die Gesellschaft ist natürlich etwas anders geschichtet als vor dem Kriege. Unter den 260 Mitreisenden befindet sich nur ein einziger deutscher Großgrundbesitzer mit seiner Frau, ein nettes Paar, das für die paar Wochen die schweren Sorgen an den Nagel gehängt hat. Ärzte und Anwälte von Ruf bis zu dem berühmten und humorvollen Chirurgen aus Wien so viele, daß man für jeden Krankheits- oder Kriminalfall ein Dutzend Kapazitäten zur Hand hätte. Dann eine ganze Clique junger Ehepaare aus Berlin-Wannsee, die Frauen sportschlank und elegant, aber von offenbar nicht sehr alter Wohlhabenheit. Amerikanische Filmleute auf einer Expedition zu Wilden. Portugiesische, deutsche, spanische Familien und Einzelreisende auf der Rückkehr vom Urlaub, zurück nach Afrika. Ein Belgier mit dem typischen Schürzenjägergesicht des Filmhelden reist in den Kongostaat; wenn ein Missionar 100 Eingeborene zu Christen mache, mache er selber 200 wieder zu Heiden, sagt er frech. Es ist wirklich ein buntes, interessantes Gewühl; wer sich absondern will, kann es immer, wer aber plaudern will, der bereichert sich immer. Mir gegenüber sitzt der mir liebste Gast, ein einfacher englischer Maschinensetzer, der von Bristol kommt und zu den "Weekly Times" nach Nairobi in Ostafrika geht. Ein vergnügter Bursche, der sich bis Genua die 1. Klasse, von da ab die 2. leistet, ein unterhaltsames weitgereistes Kerlchen, voll von irischem Humor. Während des köstlichen Abschiedsfestes auf hoher See zwischen Spanien und Italien - das Wetter war so gut, daß man täglich an Deck tanzen konnte - gab es allerhand Überraschungen und kleine Geschenke von der Reederei, die mein Gegenüber sich aufsetzte, ansteckte, einsteckte. Und dann sagte er: "Jetzt sehe ich aus wie ein Christbaum, nun müßte ich zurück nach Bristol, Bescherung machen!" Es ist nicht so von ohngefähr, daß die Ausländer deutsche Schiffe bevorzugen; nirgends fände man derartigen Komfort und derartige Behaglichkeit, sagte mir ein Lord im Pullmanwagen zwischen Dover und London. Etwas einsilbig, wenn auch sehr höflich, war an Bord nur der Verkehr zwischen mir und meinem Nachbarn zur Linken. Das war eine sozialdemokratische deutsche Kommunalgröße. Die Einsilbigkeit machte sich ganz zwanglos, denn der Mann futterte unentwegt. Einmal mißbilligte seine Frau das Glas Pilsener, das er im Rauchzimmer trank, laut und öffentlich und rauschte dann hoheitsvoll hinaus. Er seufzte, rief mit seinen Blicken die ganze Umgebung zur Zeugenschaft auf und rief: "Und mit so ein Stücke muß man nun zusammen die Reise machen!"
Es ist nur schön, daß man unterwegs auf solch einer großen Seereise kaum je an häusliche Ketten denkt, so überwältigend sind die Eindrücke. Lissabons Ruf erscheint uns zwar übertrieben. Von See aus sehen Oslo, Reval, Rio, Venedig, Konstantinopel noch viel reizvoller aus. Auch ist die Bevölkerung nach unseren Begriffen etwas zerlumpt; die 21 Revolutionen, die sie seit 1910 erlebt hat, scheinen ihr wirtschaftlich nicht gut bekommen zu sein. Dafür entschädigt uns reichlich unser Landausflug zum alten Königsschloß Cintra in den Bergen. Ganz buntes, rein orientalisches Gewühl umfängt uns tags darauf in Tanger in Marokko; da habe ich meine schönste photographische Beute an Augenblicksbildern auf den Straßen gemacht. Weiter nach Malaga, dann auf trefflicher Chaussee im Auto durch das Felsengebirge der Sierra Nevada die 135 Kilometer nach Granada in Spanien zur Alhambra: das ist der Höhepunkt der Reise. Ein Tag nur. "Was, die Alhambra, und nicht einmal bei Mondschein ?" sagen alte Weltenbummler. Ich weiß, ich weiß. Auf dem Vesuv bei Vollmond; im Colloseum bei Vollmond; an der Sphinx bei Vollmond. Aber das ist nur Kitschbedürfnis. Man kann sich auch am Tage an der Alhambra trunken trinken. Stundenlang könnte ich noch heute in der Erinnerung an die Märchenarchitektur und die Zaubergärten schwelgen.
In Berlin haben wir nichts Ähnliches dem Fremden zu bieten. "Haben wir nicht ? Machen wir!" Der Berliner Unternehmer versteht es meisterhaft, mit vollendeten Illusionen zu arbeiten. In den Tiroler Bergen habe ich mich noch ein paar Tage mit Höhenluft vollgepumpt, nun falle ich sozusagen direkt vom Bahnhof in den - "Betrieb Kempinski" ein. In dem umgebauten Haus Vaterland am Potsdamer Bahnhof. Das ist wirklich der beste Titel: Betrieb, Betrieb, Betrieb! Vor einem Jahre erzählte ich schon von den Plänen zu diesem Hause der Nationen. Gehen wir zuerst auf die Rheinterrasse, fangen wir mit Deutschem an! Vor den großen, geöffneten Rundbogenfenstern ein entzückendes Panorama, in hellem Sonnenglanz tief unten St. Goar, wenn man die Rebenhänge, die zum Greifen nahe an die Fenster reichen, hinuntersieht. Ein Dampfer, in Miniaturformat natürlich, damit er perspektivisch richtig wirkt, quert den Strom, ein Schlepper mit Kähnen kommt gefahren, ein Eisenbahnzug verläßt den Tunnel, drüben auf der Burg flattert in wirklichem Winde die Fahne. Eine Stunde lang genießt man das leuchtende Bild, ruft die Erinnerung an jedes Dörfchen und Häuschen in sich wach. Da verfinstert sich der Himmel. Wolkenfetzen jagen über den Kuppelhorizont. Der Wind pfeift. Die ersten schweren Regentropfen, wirkliche Tropfen, fallen, Schauer gehen über den Rhein, ein Gewitter bricht los. Nach einer Weile hellt es sich wieder auf, erstrahlt die Landschaft aufs neue. Wie, wir haben wirklich schon die zweite Flasche 1921er Niersteiner Domtal Spätlese getrunken ? Nur nicht festkneipen! Es gibt ja noch so viel! Man verläßt die Rheinterrasse, auf der Studenten in der Tracht von Anno Biedermeier alte Volkslieder singen. Man geht in einen anderen Riesensaal zum Grinzinger bei Wien. Oder zum Eibsee ins Löwenbräu. Oder ins ungarische Wirtshaus. Oder in die spanische Bodega. Oder in die Wild-West-Bar. Betrieb, Betrieb, Betrieb! Überall "echte" Eingeborene. Im türlischen Café radebrecht einer der Niggerbedienten vorerst nur ein bißchen englisch. Es ist für 8000 Besucher in diesem Hause Platz; trotzdem mußte es schon wiederholt zeitweise wegen Überfüllung geschlossen werden. Die letzte Flasche Schaumwein wird im großen Ballsaal getrunken, der nicht mehr national, sondern kosmopolitisch ist. Feenhafte Sache, sagt der Provinzler; nur ein bißchen viel Geglitzer, etwa so, wie an den Karussells auf den Rummelplätzen. Vorführungen, Revue, dernier cri. Sache! Merkwürdig, daß man auch bekannte Gesichter sieht. Am Tische links ein junges Mädel neben einem alten amerikanischen Kavalier; tags darauf nimmt es als Garderobefräulein im Hotel Exzelsior, an der Säule unterhalb des Tanzraumes, wieder Hüte und Mäntel entgegen. Gegenüber ein Bekannter aus Hannover mit mehreren Damen und Herren von dort. Und als wir spät nachts aufbrechen, kommt noch ein Professor der technischen Hochschule Charlottenburg herauf. Er stottert schon ein bißchen mit den Beinen.
Das ist einfach eine Weltattraktion. Berlin - und sogar wieder die City, nicht der Westen - im Vergnügungsbetrieb wieder an der Spitze. London ist ehrbar und stumpfsinnig, Paris ist gemein und popelig. Berlin will Zentrum der Lebenslust werden. New York ist begeistert. Der "trip to Berlin" wird Parole.
13. September 1928 (Donnerstag)
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Die eiserne Fliege - Schlagsahne und Charleston - Rohkostler - Ich steh' mit Ruth gut - Unsere Schwimmbäder - Vom Schminken - Bummel auf dem Rummel.
Schön sind die Ferien. Sehr schön die Ferien vom Ich. Ganz besonders schön, meint mancher, die Ferien von der besseren Hälfte. Aber auch die Ferien von den herangewachsenen Kindern können nett sein. Man ist auf einmal so unbeaufsichtigt. Jahrelang habe ich mir, unter fachmännischer Kritik der Herren Jungens, lange Selbstbinder elegant und zeitraubend knoten und mit einer Perle bestechen müssen. Jetzt aber kann ich mir gelegentlich wieder einfach eine "eiserne Fliege" an den Kragen knacken. Kein Mensch sagt mir mit wohlwollendem Lächeln: "Wie siehst Du wieder aus ? Du lernst es aber auch nie!" Natürlich kann auch eine sogenannte Fliege sehr flott aussehen. Zu einem feinen Seidenhemd in südlicheren Gegenden. Aber "anständig" ist sie angeblich nur, wenn sie geknotet ist; was die Herren Jungens ja heutzutage sogar von dem schwarzen Smokingschlips verlangen, den ich immer noch konfektioniert beziehe und einfach hinten zuschnalle. Wie kann man nur! Ja, daran ist wohl meine Mutter schuld. Zu meinem sechzehnten Geburtstage schenkte sie mir eine selbstgenähte salatgrüne Krawatte auf Pappe, mit zwei Ösen aus Gummischnur, eine Krawatte, die man abwechselnd mit dem oberen oder unteren Ende befestigen konnte. O Gott, was war ich stolz auf diesen "gemauerten" Schlips! Seither habe ich eine kleine Schwäche für technisch vereinfachte Bekleidungsstücke nicht loswerden können. Aber dann sitzt man bei irgendeinem Tanztee, fühlt, wie man gemustert wird, und faßt sich verlegen an den Hals. Auch in der deutschen Herrenwelt hat die Eleganz in den letzten dreißig Jahren erheblich zugenommen. Bis in die Kreise der Tagelöhner hinein. Der junge Mann unserer Portierstochter, von Beruf und aus Neigung Arbeitsloser, hat zwar nie reine Fingernägel, aber stets die wunderbarsten Schlipse und Taschentücher und an jedem Sonnabend frisch beim Friseur gewelltes Haar. Die Ausländer in Berlin staunen. Sie finden die Frauen aller Stände hier äußerst schick und die jungen Männer aller Stände geradezu kokett.
Nur finden sie in diesem Jahre seit langer Zeit wieder zum ersten Male, daß wir erneut anfangen, dick zu werden. Man schleckt zu viel Schlagsahne. Und man tanzt sie sich nicht mehr wie noch 1926 energisch wieder ab. Die wilden Zappeltänze sind endgültig veraltet, nur die Vorstadtgents versuchen es noch manchmal mit dem Charleston von früher. Er wirkt heute schon unästhetisch. Als die alte Herzogin d'Uzès ihn vor Jahren zum ersten Male sah, sagte sie: "Ach! Zu meiner Zeit machte man das nur im Schlafzimmer!" Also man tanzt 1928 sehr ruhig und sehr gemessen, nur den Walzer wieder etwas beschwingter. Und, wie gesagt, man schleckt Schlagsahne. Und man ißt wieder, ohne nach Kalorien zu fragen, allerlei Fettes und Derbes. Daneben aber nehmen die Rohkostler überhand. Das ist schon fast eine neue Heilslehre geworden, die dem Mazdaznanismus Konkurrenz macht. Wir hatten einmal, ohne es vorher zu wissen, daß er "entschiedener" Rohkostler sei, einen solchen zu Tisch bei uns. Es gab einen leckeren Truthahn. Unser Rohkostler bat jedoch nur um etwas frische Butter, holte einen mächtigen rohen Blumenkohl hervor, säbelte sich davon Stücke ab, strich Butter darauf und kaute und knirschte daran. Wirklich modische Leute aus Deutschland aber machen richtige Rohkostkuren am Ursitz der neuen Lehre, beim Professor Bircher-Benner in Zürich. Wer im Winter zu viele schwere Diners hat mitmachen müssen, der Neuregierer aus Berlin, der Großindustrielle aus dem Ruhrgebiet oder aus Sachsen, der Handelsherr aus Hamburg, ist im Sommer im Gand Hotel Dolder oberhalb Zürichs gewesen und hat dort vorschriftsmäßig gerohkostlert, hat also 30 Mark täglich für volle Pension bezahlt und dafür Mohrrüben vorgeschüttet bekommen. Diese Leute erklären natürlich nachher, es sei eine wunderbare Sache, sie fühlten sich wie neugeboren. Gewiß, das glaube ich gerne; denn infolge unzweckmäßiger Ernährung litten sie eben an fetter Dysämie. Schon Professor Dr. Lahmann, vom Weißen Hirsch bei Dresden, versuchte ihr vor nun bald vierzig Jahren durch sein diätetisches Heilverfahren, das Rohkostzusatz vorsah, beizukommen, aber heute wird das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet. Die vernünftig gemischte Kost, wie sie unsere guten Hausfrauen darbieten, wird sich auch da schließlich behaupten. Einstweilen haben unsere Säuglingsfürsorgen alle Hände voll zu tun, um die Schäden einzudämmen, die der Rohkostfanatismus anrichtet. Ein Stuttgarter Arzt, Dr. Camerer, hat neuerdings in einer langen Versuchsreihe nachgewiesen, wie die Säuglinge schon wenige Wochen nach der "muttermilchwertigen" Rohkost reagieren: sie weigern die Annahme, sie speien, sie erbrechen. Den Berliner Müttern aus dem Volke das klarzumachen, hält aber sehr schwer. Sie sind nun mal fürs Moderne. Sie füttern ihren Kindern einen Bananenbauch an. Und soweit sie noch für Milch sind, verlangen sie wenigstens "Höhensonnenmilch", von Quarzlampen eigens bestrahlte Kuhmilch. Wenn der Arzt oder die Fürsorgeschwester erklärt, Muttermilch sei und bleibe das beste, werden sie groß angesehen. Gräßlich unmoderne Menschen! Wo bleibt die Figur, wenn man selber nährt ? Und wo bleibt das Frauenrecht auf den täglichen Tanz ?
Es gibt immer weniger Großstadtmütter, die ihren Kindern Märchen richtig erzählen oder Volkslieder vorsingen können, weil die heutige Generation junger Mütter schon mit "Schlagern" großgeworden ist. Man hört sie überall, im Tanzlokal, aus dem Rundfunk, dem Leierkasten, ja selbst im Wagenabteil oder im Segelboot oder auf der Grunewaldlichtung aus dem Reisegrammophon. Die jungen Paare tanzen darnach oder trällern und summen mit. Die nicht mehr begehrenswerten Frauen aber finden sich zueinander und tanzen zu zweit ohne Herren. Das ist heutzutage schon in Lokalen gestattet, in denen es früher unerhört gewesen wäre. Und die ältesten Semester singen begeistert zur Musik:
"Ich steh' mit Ruth gut, |
oder irgendeine andere Berliner Nationalhymne, die heute im allgemeinen etwa eine vierwöchige Lebensdauer hat. Nur die Schwimmbäder, in denen doch auch beide Geschlechter sich in Spiel und Kurzweil ergehen, sind bis heute noch frei von der Musikseuche. Das Wellenbad in Berlin-Halensee, immer noch eine der größten Lockungen der Reichshauptstadt, wird von den Völkischen zwar als "Judenaquarium" verketzert, von anderen als "Poussierbad" naserümpfend abgetan, ist aber in Wirklichkeit eine Stätte der harmlos Fröhlichen und zum Teil der reinen Sportbegeisterten. Wer's nicht glaubt, der gehe selbst hin oder erkundige sich beim "Klub der Gummikavaliere" darnach. Im Adreßbuch findet er diesen Verein, einst auf Rügen gegründet, freilich nicht.
Baß erstaunt sind Fremde, die es seit Jahren nicht mehr gesehen haben, jetzt über das Strandbad Wannsee, das in den herrlichen Septembertagen dieses Jahres, bei 19 Grad Wasserwärme, immer noch bevölkert ist. Kein großes Nordseebad brauchte sich dieser Anlagen zu schämen. Hier hat die Stadt Berlin wirklich Vorbildliches geleistet. Man braucht nicht mehr auf staubigen Sandwegen hinzukeuchen. Eine gute Autostraße führt bis zum Eingang, Autobusse vermitteln den Verkehr, ein mächtiges Verwaltungsgebäude mit eigenem Postamt krönt das Steilufer, schöne Parkanlagen umfangen einen, der Blick über den weiten Sandstrand zu Füßen und dahinter den blauen Wannsee und die Havelbreite und Schwanenwerder und Kladow ist freigemacht, man trinkt ein entzückendes Landschaftsbild, das den Vergleich mit mancher südlichen Gegend wohl aushalten kann, und im Bade selbst sind alle Einrichtungen praktisch, sauber, modern. Am Sonntag die Überschrift natürlich immer noch: Zille! Berliner "Milljöh". Frauen aus dem Volke mit Hemd und Unterrock als Badekostüm. Aber wochentags, besonders vormittags: Recznicek oder Wennerberg! Alle Achtung. Da sieht man doch schon Gestalten junger Herren und junger Damen, auch in der äußeren Aufmachung, die gut und gern ein paar Badenummern illustrierter Blätter zieren könnten. Und das ganze Strandbad - Freibad nennt es sich nicht mehr, das klingt nicht mehr vornehm genug - ist mit einem Schlage um 50 Prozent ehrbarer geworden, seit das Photographieren am Strande verboten ist. Da sitzt im feinen weißen Sand, in Luft und Sonne, in einem Badeanzug, der vielleicht schon die Riviera und den Lido gesehen hat, eine Dame der besten Gesellschaft mit ihren beiden Kindern. Der größere Junge tollt in selbstvergessener Lust. Der ganz kleine Nackedei aber tappt ins Wasser und hält den Schwänen, die zutraulich herangekommen sind, furchtlos Brotbrocken hin, schreit auch nicht etwa, als ein Schwan sein ganzes Händchen schnappt und erst im Schnabel den Brotbrocken davon abstreift. Da tut es einem ausnahmsweise leid, daß man nicht mehr photographieren darf. Mittags kann man ein frugales, aber gut bürgerliches Mahl im Strandrestaurant einnehmen, oder vielmehr vor dem Strandrestaurant, und braucht sich dazu nicht erst umzukleiden. Bademantel oder Badeanzug genügt. Nur der Pyjama ist hier noch nicht Mode. Also auch noch nicht der Wettbewerb im Raffinement dieses Kleidungsstückes. Man sieht nicht wie an der Riviera etwa eine gutgefärbte Dame mit schwarzseidenem, weißgarniertem Turban, schwarzseidenen Höschen mit weißer Passepoilierung und Stöckelschuhen aus schwarzem Lack mit einem besonderen Ausschnitt vorn, der die rosig getünchten Zehen offenbart.
Man sieht überhaupt keine Bemalung. Wenn unsere Frauen wüßten, weshalb das Schminken in Europa einst Mode geworden ist, würden sie es in Rassestolz unterlassen. Weil sie es - nicht nötig haben. Als römische Offiziere, Soldaten, Beamte vor rund zweitausend Jahren von ihrem Kommando in erobertem germanischem Gebiet auf Urlaub heimkamen, erzählten sie: "Und Mädchen gibt es da, Mädchen . . ." "Na wie denn, wie denn ?" "Wie Milch und Blut, sage ich Euch!" Und da fingen die braunhäutigen Weiber von Rom an, sich weiß und rosig zu schminken, um den deutschen Mädchen zu gleichen. Mögen es noch heute die am Mittelmeer und die asiatischer Urheimat tun, um ihre Abkunft zu verbergen. Aber wir brauchen unseren Affen nicht nachzuäffen.
Es gibt auch sonst schon der Nachäfferei genug bei uns. Zuerst haben die Kabaretts galizisch-pariserischer Mischung unser sogenanntes "gutes" Publikum erobert, das in Wirklichkeit in Geschmacksdingen oft das schlechteste ist. Neuerdings werden am Kurfürstendamm Paläste für sie gebaut. Aber alsbald mußten das auch die Kleinbürger nachäffen, und heute regiert die Zote schon auf den "für das Volk" arbeitenden Rummelplätzen. Überall an der Peripherie der Stadt, aber auch mitten darin auf noch unbebauten Plätzen erstehen sie. Der Grundstock ist immer noch der alte: Karussell, Schiffsschaukel, Schießbude. Auch das anatomische Kabinett und die Abnormitätenschau.
"Das größte Wunder der Welt, |
lese ich da, und der Ausrufer verkündet es auch, und ich entrichte meine 10 Pfennige und darf dafür im Zelt zwei Neugeborene - in Spiritus sehen; vielleicht ist es auch nur Wasser und vielleicht sind diese Zwillinge nur ein nachgemachtes Präparat. Es ist ein Skandal, daß für dergleichen dem Publikum die Groschen aus der Tasche gezogen werden. Nebenbei die "größte Weltschau mit Theater und Humor", 20 Pfennige, "das muß man gesehen haben, da muß man reingetreten sein". Ein Ensemble von drei Köpfen, arg verbrauchten Artisten. Der eine rupft aus einem achtfach zusammengelegten Blatt Seidenpapier ein Muster von Arabesken. "Diese Kunst hat mir der berühmte japanische Fakir Matura gelernt, der 1924 seinen Beruf plötzlich aufgab, als alle seine Angehörigen in einem Taifun umgekommen waren, denn Japan ist bekanntlich sehr vulkanreich." Es folgt ein Dutzend "Nacktskulpturen" von dem weiblichen Mitglied der Gesellschaft. Die Frau, mit sehr viel Alters- und Speckfalten, hat nur einen schmutzigen Büstenhalter und dito Lendenschurz an. Nummer drei, alter August, macht dazu obszöne Bemerkungen. Dann werden den Erschienenen sehr eindeutige, sehr grobe Anekdoten und Witze erzählt, ob denen ein alter Gorilla erröten könnte. Ein etwa vierzehnjähriger Junge wiehert dazu wie besessen. Die Mehrzahl der Zuhörer sind jugendliche Arbeitsburschen und kleine Mädchen, vereinzelt sitzen da auch eine ältere Frau, ein Bierkutscher, ein Postbote, eine Stenotypistin. Neben mir auf der Bank rutscht eine dürftige, etwas schmuddelig wirkende vielleicht Elfjährige herum, schielt mich von unten her an und kokettiert mit einem Loch in ihrem Strumpf oberhalb des Knies. Ein junger Kerl mit Verbrechervisage dirigiert die Kleine. Ich bin froh, als ich wieder heraus bin.
Ich kann es verstehen, daß Menschen, die in den brodelnden Großstadtsumpf einmal hineinsehen, entweder sozialer Heiland werden oder vor Verzweiflung Selbstmord begehen möchten.
20. September 1928 (Donnerstag)
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Frau Meestern - Hungerlöhne in der Konfektion - Im Maßsalon - Erika von Thellmann als Käuferin - Internationale Bureauaustellung - Im Gemüsekeller - Der vergessene Lilienthalhügel.
Ein zuerst befremdeter, dann vergnügter Blick trifft mich. Die Dame, die ich so auf der Straße engerufen habe, war es sonst gewohnt, gnädige Frau von mir genannt zu werden. Eine Dame der guten Gesellschaft, immer auffallend schick gekleidet. Dann hat sie, durch die Inflation gemausert, kurz entschlossen selber Nadel und Faden zur Hand genommen, etliche Jahre wie wild gearbeitet und gelernt, und schließlich ihre Prüfung als Schneidermeisterin abgelegt. Jetzt kann sie sich daraufhin Lehrmädchen halten. Ihr Verständnis für das, was zum Gutangezogensein nötig ist, war schon vorher in der Gesellschaft bekannt, kurz, nun fehlt es ihr nicht an Kunden, sie ist sozusagen ein gemachter Mann. So wie ihr geht es noch etlichen hundert anderen Damen in Berlin. Sie sind reichlich beschäftigt. Vor zwanzig Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen, da war die Nachfrage nach Eleganz noch minimal. Eine Frau von 35 Jahren gehörte doch damals, wenn sie nicht gerade zu den Spitzen des Landes zählte, auf das Altenteil, auf die Drachenburg im Ballsaal, auf das Sofa beim Kaffeeklatsch, und nach wenigen Jahren endgültig in "das Schwarzseidene" hinein. Heute sitze ich im Wartezimmer eines Berliner Maßsalons, wie diese Schneidermeisterinnen ihr Unternehmen nennen, und werde von fünf Damen gemustert, die ebenfalls warten und das allein erschienene männliche Wesen höchst interessiert beäugen. Ich glaube, daß sie alle schon rund 40 Jahre alt sind. Aber sie alle sind farbig, seidig, jung und schick und, wie ich alsbald sehe, in der stummen Sprache der eminent kniefreien Beine sehr bewandert. Leider werde ich zu früh von der Inhaberin des Salons abgerufen, die mir auf ein paar Fragen Rede und Antwort stehen will. Sie werden mir glücklich und froh beantwortet. Man hat Arbeit. Man kann seine künstlerische Phantasie in Geld umsetzen. Anlernen läßt sich die natürlich nicht; jede künstlerische Begabung ist angeboren.
In die Maßsalons bin ich auf dem Wege über die Konfektion geraten. Die Schaufenster lockten mit ihrer billigen Pracht für die beginnende Wintersaison, da wollte ich mal gern wissen, wie das alles so entsteht. Wie das Pariser Modell eines an sich schlichten, aber doch ungemein eleganten Nachmittagskleides ankommt, bevorzugten Kundinnen gezeigt, gleich in vier, fünf, acht Exemplaren für sie kopiert wird, verhundertfacht, vertausendfacht wird in den "Arbeitsstuben" der Zwischenmeister und so in alle Länder geht. Da wird man aber nur sehr niedergedrückt. Erstens verflüchtigt sich der Modellzauber sehr bald, es ist so, als sei einem Falter der Flaum abgestrichen, der Schmelz, oder so, als werde ein Telegramm in deutscher Sprache von Charbin in der Mandschurei nach Buschir in Persien gekabelt, dann dem inzwischen in Durban in Südafrika gelandeten Empfänger nachgekabelt; das Deutsch ist dann oft kaum wiederzuerkennen. Zweitens läßt man wegen der Ziffern, die man dabei beiläufig erkundet, die Flügel hängen.
Stoff und Zutaten zu einem Kleide, das ich da sehe, kosten 22 Mark. Für die Arbeit - es sind mehrere Volants daran - werden der Zwischenmeisterin 3 Mark bezahlt, dafür muß sie es fix und fertig machen. Der Großkonfektionär nimmt zunächst "für Miete" 10 Prozent von den Rohstoffkosten, also 2,20 Mark, dazu 12 Mark als seinen Geschäftsgewinn, so daß das Kleid für 27,20 Mark engros auf den Markt kommt. Im Laden kostet es dem Publikum 49,50 Mark. Für ein einfaches Tanzkleidchen aus Taft werden aber nur 1,25 Mark Arbeitslohn angesetzt; das kostet dann etwa 30 Mark. Und es gibt schon Kleider, für die den Nähstuben bloß 80 Pfennige gezahlt werden.
Ähnlich wie bei den Kleidern, die "von der Stange" verkauft werden, mögen die Dinge auch im Schuhmachergewerbe, bei den Strumpfwirkern, in der Hutmacherei liegen. Wenn Millionen deutscher Mädchen und Frauen vom Kopf bis zum Fuß gefällig, aber "vor allem ganz billig" eingekleidet sein wollen und in den Zeitungsanzeigen und in den Schaufenstern nach noch immer Billigerem suchen, so drückt das natürlich auf den Lohn aller der deutschen Mitschwestern, die von der Arbeit für die Fassade der Menschen leben. Wer sich statt dessen Maßarbeit leisten kann, der muß natürlich erheblich mehr bezahlen, kann dafür aber auch mit gutem Gewissen sagen, daß in allgemeinen gutgelohnte Hände für ihn tätig sind. Man weiß sie zu schätzen. Sogenannte erste Kräfte haben da sogar ein sehr anständiges Einkommen, und die fertigen Sachen sind nachher doch nicht etwa "unerhört" teuer. Das sind sie allenfalls in jenen Maßsalons, deren luxuriöse Einrichtung und deren Reklame übergroße Spesen verursacht. Das Haus Schultz, das für Fritzi Massary arbeitet und zur Erprobung des Eindrucks eine eigene Bühne mit Ober-, Unter- und Seitenlicht hat, lächelt natürlich über jemand, der nur mit wenigen hundert Mark in der Tasche ein pompöses Abendkleid sich zulegen will. Auch das Haus Marbach in der Lennéstraße, das mehrere Stockwerke voll Arbeiterinnen hat und den halben Kurfürstendamm zu seinem Kundenkreis zählt, kann nicht annähernd zu Konfektionspreisen liefern. Oder wenn man bei Kuhnen in der Tiergartenstraße eintritt, wo die Königin Amanullah sich einige Toiletten machen ließ, wird man von galonierten Dienern empfangen und hat den Eindruck, in einem Gesandtschaftspalais zu sein. Dazu behaupten die Leute, die Nebenkosten rieben sie auf. Dazu gehörten beispielsweise kleine "Erkenntlichkeiten" gegenüber gewissen Modeberichterstatterinnen; oder die ungeheuren Nachlässe, die man manchen Schauspielerinnen bewilligen müsse, weil die diese Vergütung für lebende Reklame verlangten. Viele von unseren Künstlerinnen bevorzugen kleinere und bescheidenere Maßsalons, wenn diese nur über eine Leiterin von Phantasie und Geschmack verfügen. Die Ungarin Fräulein Hallaß, die Schwester von Frau Professor Abel in Berlin, bestellte sich, als sie mit der Haller-Revue auf Gastspielreisen durch Deutschland ging, ihren Trousseau im Maßsalon von Kiepenheuer in der Lützowstraße, der nur mit 9 Angestellten arbeitet; aber darunter war, für nur wenige hundert Mark, ein ganz fabelhaftes Lamékleid, mit einem großen blauen Vogel aus Straß bestickt, das nicht nur bühnenwirksam war, sondern auch auf jedem privaten oder öffentlichen Ball angenehmes Aufsehen erregt hätte. Erika v.Thellmann hat - sie ist insofern ein Ausnahmemensch, als sie stets voll bezahlt, nie einen Nachlaß "von wegen Reklame" verlangt - ihre Ausstattung für die Première der nächsten Woche im Lustspielhaus vom Maßsalon Domke in der Nürnberger Straße herstellen lassen, von dem ich eben auf der Modenschau bei Kroll ein faszinierendes Abendkleid in Orange mit gleichem Umhang, wozu allein für die vielen Rüschen 25 Meter Seidentüll verbraucht worden sind, gesehen habe. Das ist auch nicht nur für Milliardäre. Im vorigen Jahre trugen die Prinzessin Schönaich-Carolath und die Prinzessin Lily Ratibor auf dem Presseball Kleider von Domkes; kein einziges kostete auch nur 300 Mark. Das ist für Frauen aus unbegütertem Mittelstande immer noch sehr viel Geld, reicht ihnen aber, einmal im Jahre bis zum Nichtwiederkennen verändert, doch für mehrere Saisons und alle ihre "großen" Gelegenheiten aus. Der Erfolg der Zunahme guter und gut beschäftigter Maßsalons bei uns ist jedenfalls der, daß alle Welt über den Schick der deutschen Frau, die vor 20 Jahren noch als geschmacklos galt, erstaunt ist. Hie und da habe ich auch in die Werkstätten selbst hineingesehen, mich nicht nur auf Wartezimmer und Salon beschränkt. Mesdames et Messieurs, da bin ich aber baff gewesen; es sitzen ja gar keine Zille-Figuren da, sondern lauter nette und selber geschmackvolle junge Mädchen aus gebildeten Familien. Die meisten Maßsalons nehmen, wie mir gesagt wird, nur Lehrmädchen mit dem Reifezeugnis eines Lyzeums auf.
Auf solchen Erkundungsgängen in der Großstadt lernt man immer wieder eine Unmenge zu. Der Durchschnittsberliner weiß zwar wohl kaum Roggen von Weizen zu unterscheiden, aber alle Neuheiten der Technik bekommt er als einer der ersten vorgesetzt, seit wir draußen am Kaiserdamm die großen Meßpaläste haben. Jetzt stehen wir unmittelbar vor der "Ila", der internationalen Luftfahrtausstellung. Und gerade eben ist die internationale Bureauausstellung zu Ende gegangen. Staunend habe ich vor der mechanischen Kartothek für Behörden gestanden. Ein Druck auf den elektrischen Knopf, und die Maschine speit unermüdlich Tausende fertig addressierter Briefumschläge aus, je nach dem Knopf entweder alle Evangelischen des Stadtbezirks oder alle Reichstagswähler oder alle Hausbesitzer und so. Und dann die Rechenmaschinen! In 30, 40, 55 Sekunden ist das untrügliche Resultat da. Zwanzig sechsstellige Ziffern addiert und davon 12 Prozent Rabatt abgezogen. Oder festgestellt, daß die Quadratwurzel aus 106 929 bestimmt 327 ist. Oder die Zahl der für eine Mauer von 7,25 Meter Länge, 2,50 Meter Höhe, 0,50 Meter Breite nötigen Ziegelsteine angegeben, wenn der Ziegelstein 30x15x7,5 Zentimeter groß ist. Oder beantworten, wieviel Rupien man für 505,40 Reichsmark erhalten muß, wenn der Pfundkurs 20,42 Reichsmark beträgt und die Rupie in London 27,5 Pence steht. So etwas rechne ich auf Reisen häufig im Kopfe aus, ohne elektrischen Knopf, aber erstens dauert es 30 Minuten statt ebensoviel Sekunden, zweitens ist das Resultat falsch, und drittens werde ich nachher noch vom Wechsler betrogen.
Mit Dingen, die der Natur näher stehen als der Technik, wissen wir Berliner, wie gesagt, weniger Bescheid. Da ist im Nebenhause der Gemüsekeller der Frau Moser, die schon vor 25 Jahren die "alte Frau Moser" war, heute noch etwas harthöriger ist, aber ihre Goldgrube nicht aufgibt, über der das Schild winkt: "Hier kann gerollt werden!" An der mächtigen Rolle versammeln sich die Dienstmädchen der Familien, die in ihrer Küche keine eigene Mangel haben, rollen die Wäsche und hecheln die Herrschaften durch. Das ist die lebendige Tageszeitung des ganzen Stadtviertels, da haben wir noch die Kleinstadt in Reinkultur. Rundum aber sieht man ein Stilleben von Suppenwürfeln, Landbrot, Flaschenbier, Stiefelwichse, Margarine, Waschblau, Kohlköpfen und tausend anderen Dingen. Ein paar schöne Birnen vor dem Kellereingang locken mich herein. Da steht unten ein kleines Kind und haucht schüchtern: "Ein Pfund Flocken, bitte!" Frau Moser versteht nicht. Ich sage laut: "Ein Pfund Flocken möchte die Kleine!" Da fragt Frau Moser: "Ja, wat vor welche ?" Ich beuge mich zu dem Kinde, nehme meinen ganzen mühsam angelernten Hausvatergrips zusammen und sage stolz: "Willst Du Haferflocken oder Seifenflocken ?" Nun, denke ich, habe ich das Rätsel der Sphinx gelöst. Fabelhaft, nicht ? Aber das Mädel piept nur verschüchtert: "Ich weiß nicht." Die alte Frau Moser klopft da der Kleinen auf die Schulter: "Jeh man ruff zur Tante und fra' nochmal." Nach einer Minute ist das Kind aus dem Nachbarhause wieder zurück; es soll Schneeflocken holen. Ausgerechnet im September, in nur 31 Meter Berliner Seehöhe. Ich schäme mich fast, das der Frau Moser laut wiederzugeben. Aber die schüttet der Kleinen gleichmütig ein Pfund Kartoffeln in das Körbchen. Ja, das sei eine gute Kartoffelsorte. Keine Ahnung. Als ich Kind war, mußten wir, glaub' ich, "Dabersche" oder "Rosen" oder "Nierenkartoffeln" holen. Schneeflocken aber kannten wir nur in der ursprünglichen Bedeutung; die ließen sich zu Bällen zusammendrücken, die wir dem Mathematiklehrer zu Beginn der Stunde in die Gummigaloschen schoben. Man lernt wirklich nie aus. Und man lernt ja gern.
Nur als Nation sind wir, scheint es, unbelehrbar. Während alle Völker der Erde ihre Erinnerungen an den Weltkrieg und an sonstige Großtaten wachhalten, lassen wir alles in Vergessenheit geraten. Wer bei uns weiß noch, daß der erste wirklich fliegende Mensch, Lilienthal, ein Deutscher war ? Draußen in Lichterfelde O an der Steinstraße steht noch an einem kleinen See der 15 Meter hohe kegelförmige Hügel, von dem er in den Jahren 1894 bis 1896 seine Gleitflüge machte. Ein 27 Morgen großer Park mit Wiesen und Bäumen ist da und das Parkrestaurant Schulz, dessen Besitzer nur noch ein Lebensziel kennt: daß hier einmal ein deutscher Fliegerehrenhain errichtet würde, von der ganzen Nation. Wären wir Engländer, dann wäre dies längst ein Wallfahrtsort, dann würde auch jeder Ausländer schon beim Vorbeifahren von der Eisenbahn aus etwa meterhohe Lichtbuchstaben sehen:
Aber wir sind eben Deutsche. Daher stecken wir die Broschüre, die Herr Schulz für seine Idee hat erscheinen lassen, nur mit verlegenem Dank in die Tasche. Und daher ist uns dieser Herr Schulz, in dessen Gaststuben es noch ein Kaiserbild mit eigenhändiger Unterschrift und schwarzweißrote Embleme gibt, überhaupt ein sehr verdächtiger Mensch.
27. September 1928 (Donnerstag)
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