"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 4 - 6
4. bis 18. Oktober 1928


4

Sowjetrestaurants - Im Teeraum im Westen - Nachts bei Schwannecke - Der Zeppelinbesuch - Eckeners Gegner - Vor dem Photomaten.

Auch in diesem Herbst schießen neue Tanzpaläste, neue Weinrestaurants in Berlin wieder empor. Von den untergehenden ist weniger die Rede. Ein Lokal überschreit immer das andere in Aufmachung und Reklame, um oben zu bleiben. Nur die fremdländischen, die ihr bestimmtes eigenes Publikum haben, können unaufdringlich bleiben. Genau, so, wie etwa die drei deutschen Bierstuben von Appenrodt in London, davon die besuchteste am Picadilly Circus, sich damit begnügen können, daß sie "sich herumsprechen". Von den Zehntausenden von Russen in Berlin weiß auch jeder, wo sein Futtertrog steht, wo er seinen Borschtsch und seine Piroggen findet. In der östlichen Hälfte Berlins, etwa vom "Vorwärts"-Gebäude in der Lindenstraße ab, bekommt man mitunter alle fünf Minuten eine Gastwirtschaft zu sehen, die deutsche, russische und hebräische Aufschriften hat. Da kann man sicher sein, daß hier Bolschewiken verkehren. Im Westen in und um Charlottenburg sind die Schilder der russischen Gaststätten nur zweisprachig oder gar nur deutsch, und die Emigranten, die dort ein- und ausgehen, lieben zwar ihr Mütterchen Rußland heiß und innig, wollen aber von dem Sowjetstaat nichts wissen. Diese Leute, als Monarchisten bei unseren Behörden scheel angesehen, bekommen nicht so leicht eine luxuriöse Familienwohnung mit Küche und Keller wie die Kutisker und Barmat; sie haben fast durchweg nur möblierte Zimmer, sind mit wenigen Ausnahmen einschließlich der Mütter und Kinder berufstätig und auf das Restaurant angewiesen. In der Nürnberger, Bayreuther, Augsburger, Lutherstraße und sonstwo gibt es "feine" russische Speisehäuser mit Balalaika- oder Zigeunermusik und viel abendlichem Betrieb auch für Deutsche, in der Kleiststraße unmittelbar vor dem Wittenbergplatz aber gibt es eines, das sich ganz bescheiden nur "Teeraum" nennt und doch von morgens bis abends, auch von Mittagsgästen, die eilig ihre Buchweizengrütze oder ihr Boeuf Stroganow verzehren, nicht leer wird. So viel Zeit aber haben die meisten Besucher doch, daß sie ihrer bedienenden Kellnerin kavaliermäßig die Hand küssen können. Es ist ja alles unter diesen Geflüchteten und Vertriebenen wie eine große Familie. Die Kellnerinnen werden mit Vor- und Vatersnamen gerufen. Eine dieser meist älteren Damen heißt Wera; sie, die früher kaum je zu Fuß ging, läuft jetzt unermüdlich umher, bedient aber wie eine Königin. Wera, Ljubow, Nadesha - Glaube, Liebe, Hoffnung - sind ja sehr häufige russische Mädchennamen. Man hat Glaube, Liebe, Hoffnung nötig, wenn man als Verbannter in der Fremde lebt. Die eine Kellnerin ist Tochter eines Generals, die andere Witwe eines Grafen, die dritte vielleicht Frau seines ehemaligen Kutschers, die vierte, fünfte, sechste, darunter eine, die noch fast Kind, ist, entstammen auch wohl verschiedenen Ständen, aber allesamt gehören sie zum "alten System" und fügen sich klaglos in nuee Umstände. Hin und wieder sieht man unter den weiblichen Gästen, seltener unter den männlichen, berückend schöne Erscheinungen. Das sind die Arrivierten vom Film.

Unter den deutschen Gaststätten Berlins gibt es, seit die Weißbierstuben am Aussterben sind und der uralte Weinkeller von Lutter & Wegener "vornehm renoviert" und "historisch ausgemalt" ist, kaum mehr eine von örtlicher Eigenart, wie es die Schifferstuben in einzelnen Hansestädten noch sind oder das Blutgericht in Königsberg oder anderswo manches Rathaus. Das Romanische Café mit seiner Bohème an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, jawohl; nur muß man da schon Stammgast sein, denn bei einem flüchtigen Besuch merkt man nichts. "Aber Schwannecke, Schwannecke!", höre ich da rufen. Gewiß, Schwannecke in der Rankestraße, wenige hundert Schritt weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Viktor Schwannecke. Das ist sicherlich eine Sondernummer. Manch einer läuft achtlos vorbei, weil auf dem Schild der Weinstube nur "Stefanie" steht; das ist der Vorname von Schwanneckes Frau, der als Schauspieler im Telephonbuch steht, einst in München Theaterintendant war und heute der kulinarische Mittelpunkt für Bühne, Film und Presse in Berlin ist.

Für die letztere allerdings nicht in ihrer Gesamtheit; nur die Phosphoreszierenden der Sorte Kerr und Sling und Kuh fühlen sich in diesem Milieu besonders wohl, seltener trifft man da auch Feuilletonisten der Rechten wie Willy Rath, der übrigens dieser Tage nach Paris übergesiedelt ist. In dem langen, schmalen Lokal mit den zwei Zimmern und paar Nischen ist es übervoll nach jeder Première, denn eine Schlacht muß gefeiert werden und ein Manöver endet immer mit Kritik, aber auch an gewöhnlichen Tagen findet man nicht immer Platz, wenn man in größerer Gesellschaft kommt. Nur allein oder zu zweit kann man sich vielleicht einschieben; und dann erlebt man oft sein blaues Wunder an sprühender Geistigkeit und sprühender Dreistigkeit in diesem Kreise. Auch hier kennt, wie im russischen Teeraum in der Kleiststraße, fast jeder jeden. Und Johnny, der Hüter der Garderobe, gibt einem nie eine Marke, denn selbst dann, wenn in seinem Verschlag kein Haken mehr frei ist, sondern Pelze, Hüte, Aktentaschen, Pakete sich zu Bergen häufen, weiß er stets, was einem jeden gehört, und vertut sich nie. Fast alles duzt sich auch hier. Man ist ja vom Bau! Und man lebt gut. "Was helfen alle Kalorien-Theorien, solange Schwannecke existiert ?", hat eine Schauspielerin - in dem hinteren Gange findet man alle Widmungsbilder an den Wänden - unter ihr Porträt geschrieben. Und man trinkt gut. Arme Schlucker verkehren hier nur wenig. Aber wer in trüben Zeiten der Aufhellung bedarf, der findet sie hier. Wahrhaftig, da sitzt ja auch Carola Neher, die schwarzgelockte junge Witwe Klabunds. Und Max Pallenberg, der vielleicht gerade Strohwitwer ist, verläßt die Weinstube mit einer Dame, die nicht seine Gattin Fritzi Massary ist. Das ist "die Kunst, verheiratet und doch glücklich zu sein". Ein Dichter mit Hamletlocke in der Stirn sieht es und ruft einer jungen Filmdiva zu: "Bist du neidisch ?" Sie schnippt mit den Fingern. Pah! Nach drei Tagen ist sie in Venedig, wo ein neuer Film mit ihr gedreht wird; und an ihrer Seite sitzt ein wohlerzogener junger Freund, ehedem österreichischer Fähnrich. Hier in diesem Kreise muß er es weltmännisch dulden, daß seiner Begleiterin der andere Nachbar einmal über das Haar streicht, ein Gegenüber ihre Hand in die seine nimmt. Ein dritter schaut sie faszinierend an, nachdem er ein paar gewagte Geschichten erzählt hat und kommandiert: "Nun, Hertha, jetzt gib ein erotisches Gutachten über mich ab!" Diese Hertha v.Walther hat sich übrigens soeben mit einem Prinzen von Bourbon ganz "richtiggehend" verlobt. Drüben sitzt Franz Molnar mit seiner entzückenden Gattin Lilly Darvas - oder ist es schon wieder eine neue - und klemmt sich lachend das Monokel unter weiße Augenbrauen. In einer Nische Paul Morgan und Trude Hesterberg, die hier honorarfrei Quatsch machen, Schmus machen. Natürlich wird viel fachgesimpelt. Von Kunst und Literatur, meinen Sie ? Gewiß, das auch. Aber am meisten vom Autofahren. Findet man doch bei Schwannecke fast alle die Künstler und Künstlerinnen, die in "Sport und Bild" oder ähnlichen mondänen Zeitschriften immer wieder in ihrem neuen Achtzylindrigen und Sechzigpferdigen photographiert zu sehen sind. Und daß dann Maria Corda oder Elisabeth Pinajew auch hier von verölten Zündkerzen und dem Krach mit dem Prellstein und der Karosserie Schebera und dem, natürlich, 120-Kilometer-Tempo zwischen Marienbad und Leipzig mehr erzählen als von ihrer Kunst, ist klar. Zuhörer, die nicht gerade gut bei Kasse sind, sind hier, wo alles eine einige Nation ist, auch gerngesehene Gäste; wer die Flasche Wein bezahlt, ist ja so wurscht. Nur darf man dann nicht allein hängen bleiben, muß man rechtzeitig mit aufstehen. Einer, der sich nicht losreißen konnte, ruft morgens kurz vor drei Uhr: "Kellner, Geld, viel Geld!"   "Der Herr wünschen zu zahlen ?"   "O nein, au contraire, ganz im Gegenteil!" Das kommt vor. Aber daß ein Kellner bei Schwannecke an einem Gast wirklich etwas verliert, das kommt nicht vor.

Im Gegensatz zum Romanischen Café, in dem die Satten in der Minderheit sind, verkehren bei Schwannecke zumeist die Erfolgreichen, die ihr Schicksal gemeistert haben. Sie haben ihr materielles und ihr geistiges Genügen. Aber auch sie kennen nur die Gemeinschaft der Intellektuellen, mehr nichts. Die Saiten, auf denen bei anderen der Ton "Vaterland" erklingt, sind bei ihnen stumm. Auch das Große, das wir soeben erlebt haben, das Daherschweben des neuen Zeppelin, ist für sie nicht Herzenserschütterung, sondern technischer Gesprächsstoff. Daß die Leute da oben, von irgendwoher aus dem Luftraum, den Berlinern zurufen, man komme nicht am Dienstag Nachmittag, denn da werde alles unsichtig und wolkenverhängt sein, sondern man mache derweil einen Abstecher nach England in schönes Wetter und treffe dann mit diesem zusammen am Mittwoch früh über Berlin ein, und daß jedermann in Berlin und in Deutschland, der einen Rundfunk hat, die Unterhaltung mit anhören kann: Sache! Da werden schon allerhand Reisemöglichkeiten von unseren Prominenten erwogen; am Fenster seiner Zeppelin-Kabine sich für die Bilderblätter photographieren lassen und dann irgendwo vom Atlantic in der Gegend von St. Helena her den Berlinern Grüße zurufen: Sache! Aber für die ungeheure vaterländische Leistung zur Ehre des deutschen Namens, die es zuwegegebracht hat, daß holländische Städte beim Erscheinen des neuen Zeppelin in Begeisterung flaggten und selbst in dem stolzen London, das übrigens nicht überflogen wurde, nachts ungezählte Tausende auf den Straßen ihn erwarteten, und vor allem für den Titanenkampf Eckeners, der sein Lebenswerk gegen die "eisige" Sympathielosigkeit der republikanischen Behörden und der demokratischen Presse durchgefochten hat, hat man kein Verständnis. Ein solches Luftschiff wie der L.Z. 127, der "Graf Zeppelin", dieser deutsche Wunderbau, ist keine Ware, zu deren Fabrikation man Kredite aufnimmt und die man dann mit Aufschlag verkauft, sondern das ist eine gesamtdeutsche Leistung ohne unmittelbaren Geldprofit, nur mit gewaltiger Mehrung unseres Ansehens und daher auch eine Reklame für jegliches deutsche Erzeugnis. Heute läßt es sich der Verlag Ullstein nicht nehmen, einen Spezialzeichner und einen Spezialberichterstatter an Bord des neuen Zeppelin mitfahren zu lassen, denn da winkt ein Geschäft. In den Jahren zuvor aber haben die Ullsteinblätter einschließlich der Vossischen das Niederträchtigste an Agitation gegen die Zeppelinspende geleistet. Warum ? Weil diese Leute nie nach Deutschland fragen, sondern nur noch danach, ob ein tüchtiger Deutscher für Schwarzrotgold oder für Schwarzweißrot ist. Eckener hat es ihnen nicht auf die Nase gebunden. Aber er war dringend verdächtig, am Ende doch schwarzweißrot zu sein, denn alles selbstlos Große kommt aus diesem Lager. Und so bedräute der Kultusminister Dr. Becker in einem Erlaß alle Schuldirektoren, die etwa für die Zeppelinspende warben. Und so erklärte der preußische Staatskommissar für Wohlfahrtspflege, wegen - außenpolitischer Bedenken müßten Haus- und Straßensammlungen verboten werden. Und so schrieb der amtliche preußische Pressedienst, es sei nicht angängig, in einer Zeit allgemeiner Not Millionen aus dem Volke herauszuziehen. Auch das Reich wäre wohl ganz harthörig gewesen, wenn es nicht im letzten Jahre den Deutschnationalen Koch als Verkehrsminister gehabt hätte. Unter unendlichen Schwierigkeiten, dauernd als Agitator auf der Walze, hat es Eckener nun endlich geschafft: ein Wunder, daß er nicht zermürbt ist, ein Wunder, daß unsere Schwarzrotgoldenen ihn nicht bis in die Nervenheilanstalt hineingequält haben! Und nun hacken sie erneut auf ihn los, denn er hat - welch ein Verbrechen - im Abenddämmern am Dienstag angeblich Haus Doorn überflogen, statt es auf seiner Hollandroute wie die Pest zu meiden. Oder wie ein tiefes, barometrisches Minimum. Zum Dreinreden haben sie aber wirklich das Recht verloren. Glatt heraus gesagt: aus ihren Kreisen ist auch noch nicht einmal für drei Rippen des L.Z. 127 das Geld gekommen, sondern immer nur Schelten und Schmälen.

Nun ist die große Erscheinung vorbei, der Alltag hat uns wieder, die Photomaten werden belagert. In Amerika existieren sie seit anderthalb Jahren. Jetzt werfen Siemens & Halske, die die Lizenz erworben haben, Zehntausende davon auf den europäischen Markt; an der Börse steigen die Aktien des Werks. Man setzt sich vor den Apparat, wirft eine Mark hinein, wird binnen 20 Sekunden achtmal geknipst und hat nach 7 Minuten die fertigen Bilder. Es sind Spiegelbilder. Karlchen hat den Scheitel also nachher rechts statt links und Tante Lises große Warze ist von der linken auf die rechte Backe gewandert. Tut nichts. Merkt ja keiner. In Warenhäusern, in Konditoreien, in leerstehenden Läden, überall seit acht Tagen diese Photomaten. Das bedienende Fräulein - später wird man an den photographierenden Automaten keine mehr nötig haben - sagt hundertmal am Tage: "Aber bitte lachen Sie mich doch etwas an!" Wenn das Fräulein nett ist, warum nicht ? Und so kommt denn eine Hochflut unretouchierter grinsender Photos über Berlin. Ein junges Mädchen beschwert sich bei allen Umstehenden. "Sagen Sie bitte selbst, mein Herr, sehe ich so doof aus ?"   "Aber nein doch; lieb, sehr lieb!", sagt der Herr. Alle stecken die Köpfe zusammen, als gehörten sie zueinander, alle kritisieren oder loben gemeinsam. Jeder macht sich noch schnell schön, Puderquasten stäuben, Kämme knistern, Lippenstifte rauschen, alle Spiegel sind besetzt. Ein Pärchen auf der Hochzeitsreise versucht es, sich zusammen auf das Stühlchen zu quetschen, dazu den weißen Riesenrosenstrauß. In der Ecke tritt ein Mädel nervös von einem auf das andere Bein während der sieben Minuten Wartezeit: "O Gott, wie wird's nur geworden sein, ich bin so aufgeregt!" Eine andere aber besieht triumphierend ihren Bildstreifen mit den acht Aufnahmen und sagt zu den Anwesenden: "Und da will es mein Willi nicht glauben, daß ich für den Film begabt bin!"
4. Oktober 1928 (Donnerstag)


5

Ein neuer Herr in der Marineleitung - Die "Niobe" in der Deulig-Wochenschau - Internationale Luftfahrtausstellung - Vor der Ostpreußen-Koje - Lehars "Friederike".

"Ich liebe die Republik!", mit diesen Worten, so erzählt ein Berliner Mosseblatt, habe der neue Chef der Marineleitung, Vizeadmiral Raeder, sein Amt angetreten. Da können die Republikaner also wieder einmal aufatmen. Bei jeder Ernennung in Heer oder Flotte bekommen sie Angstzustände. Auch im Falle Raeder mußte auf ihr Betreiben der Reichswehrminister erst ein Ermittelungsverfahren gegen den Admiral einleiten und ihn über seine "wahre" Gesinnung verhören. "Lieb' mich oder ich freß' Dich!" Er liebt, verkündet Mosse triumphierend. Unsereins kann sich dabei eines leisen Schmunzelns nicht erwehren; nicht etwa, als sei die Liebeserklärung anzuzweifeln, i Gott bewahre, die Mossepresse berichtet ja bekanntlich immer nur die lautere Wahrheit, - sondern eben wegen der Angstzustände. Die Monarchie hatte es nie nötig, außer dem Diensteid noch ein Bekenntnis der Sympathie zu verlangen. Ihr genügte es, wenn ein Offizier tüchtig war und dem Staate mit seinem ganzen Können diente; nach seiner Herzensgesinnung fragte sie nicht, solange er selber sein Inneres für sich behielt.

Raeders gutes Seemannsgesicht kann man jetzt in der Wochenschau jedes Kinos sehen. Es ist durch die Inquisition jedenfalls nicht lädiert. Unser ganzes Volk, soweit es nicht etwa Unvolk ist, freut sich, wenn ein solcher Mann etwas leistet, und erwartet gar nicht, daß er das Vertrauen der spärlichen Republikaner genießt, sondern das der Flotte. Die ist uns trotz des aufgerufenen "Volksbegehrens" gegen jede Seerüstung lieb und teuer. Man soll nur mal die leuchtenden Augen in der Kino-Wochenschau sehen, wenn da jetzt einzelne Szenen vom Dienst an Bord des Segelschulschiffes "Niobe" vorgeführt werden! Verdammt fixe Glieder bekommen da doch unsere Youngsters; das Herz lacht einem im Leibe. Wenn dann nach allerlei Exerzitien, auch Bootsmanövern, die "Niobe" unter allen Segeln daherschwebt, ist es ein wundervolles Bild. Künftige Seeoffiziere und künftige Marineärzte erhalten da ihre erste Ausbildung zu Wasser, junge Leute aus allen Teilen des Vaterlandes, darunter aber wohl, das ist ganz naturgemäß, ein besonders starker Prozentsatz aus Kiel, Wilhelmshaven, Berlin. Daß die Berliner Anverwandten es sich nicht nehmen lassen, die Aufnahmen hier anzusehen, ist klar, denn sie wollen "ihn" beobachten, wie er mit den Kameraden - sie überpurzeln einander fast - die Wanten hinaufentert und Segel setzt. Es flimmert nur alles so schnell vorüber. Zwei Reihen vor uns sitzt eine ganze Familie. Plötzlich springt ein blonder Dreikäsehoch da auf und ruft: "Halt! Halt!" Es gibt Unruhe in der Nachbarschaft, die Eltern drücken den Jungen wieder auf den Sitz nieder. Und die helle Kinderstimme klingt durch den Raum: "Aber da war doch der Hans!"

Unsere Flotte, die vor dem Kriege in ihrem Kampfwert schon die zweitstärkste der Welt war und im Kriege auch der stärksten die Stirn bot, ist jetzt durch feindliches Diktat wieder etwa auf den Zustand von 1873 zurückgeworfen, wo wir noch hinter allen Seemächten rangierten. Aber sie ist kein Trümmerfeld. Es ist junges Leben in ihr, es ist alles keimkräftig; sicherlich geht das Jahrhundert nicht zur Rüste, ohne wieder eine starke deutsche Flotte gesehen zu haben. Die Köpfe sind da. Nur die Weltlage muß sich ändern, und die bleibt nie ganze Menschenalter unverändert und starr. Durchgerungen hat sich schon jetzt die deutsche Leistung (wenn auch vorerst nur im Verkehr) in dem Luftmeer. Große Trupps von Ausländern staunen täglich auf der "Ila", der Internationalen Luftfahrtausstellung in Berlin, nicht nur unsere neuesten Riesenflugzeuge an, sondern auch die "echt deutsche" Methodik bei unserer Fliegerausbildung und bei der Anlage unserer Lufthäfen und bei der Materialprüfung und bei der Erweiterung unseres Streckennetzes über Europa. Gewiß ist Berlin-Tempelhof der schönste, prakischste, luxuriöseste Flugplatz der Welt, das ist international anerkannt, aber deswegen sind die anderen deutschen Plätze beileibe nicht "Provinz", was einem ein einziger Blick auf das Modell etwa des Chemnitzer oder eines anderen modernen Lufthafens schon klarmacht. Da kann noch keine andere Nation mit. Auch die Betriebssicherheit unseres Luftverkehrs ist unübertroffen, denn da schlug uns zum Vorteil aus, was als Schaden gedacht war: wir durften keine Kriegsflugzeuge mehr bauen, infolgedessen waren wir nicht wie noch heute die Franzosen durch die fixe Idee gehemmt, eines Tages statt der Passagiere Bomben zu nehmen, und konnten uns ganz dem Durchkonstruieren des reinen Verkehrsflugzeuges widmen. Unter den Riesen der Ausstellung wird besonders der Rohrbach-Romar mit 36,9 Metern Flügelspannung, dem seine bayerischen Motoren von 1650/2160 Pferdestärken 208 Kilometer Stundengeschwindigkeit geben, von Schaulustigen belagert. Sein schwäbischer Kollege Dornier-Superwal, auch so ein ungeheurer Vorweltdrache, soll in die Ausstellung noch übergeführt werden. Von nahezu ähnlichen Ausmaßen ist aber auch schon das für den Expressdienst Berlin-Wien gebaute Junkers-Flugzeug, auf dem 14 Passagieren bei guter Mitropa-Verpflegung die Stunden zu Minuten werden, ein Erzeugnis jener Dessauer Firma, die in sämtlichen Erdteilen ihr Zeichen gezeigt hat; flankiert wird dieser Riese von der "Bremen" Hünefeld-Köhls und - von der D. 1, die als erstes deutsches Verkehrsflugzeug auf regelmäßiger Tour 1919 in Dienst gestellt wurde und noch heute als Zubringer fliegt, während gleichalterige Apparate anderer Völker längst Gerümpel geworden sind. Kokett, herausfordernd, schnittig stehen die italienischen Flugzeuge da, darunter der kleine Weltrekord-Sportflieger, mit seinen 512 Kilometern Renngeschwindigkeit, und bei fast allen verkündet ein Kärtchen stolz, daß sie "auf dem Luftwege" hergebracht sind; auch tragen sie alle als Abzeichen das faschistische Liktorenbündel. Frankreich erscheint, abgesehen vom Motorenbau, in der Durchbildung seiner Flugzeuge technisch etwas rückständig, auch wenn es mit der "fliegenden Bar" und dem Weltbummler-Farman von Nungesser und Coli Reklame macht. Rußland stellt u.a. ein Krankentransport-Flugzeug, einen Motorschlitten, eine Luftpost-Briefmarkensammlung aus, England hat am meisten zur historischen Ausstellung in Buch und Bild beigetragen, während wir da mit den Anfängen Zeppelins, mit Lilienthals Segelflieger, mit der ersten Rumpler-Taube und vielen sonstigen Erinnerungen aufwarten, Belgien zeigt das Streckennetz im Kongogebiet, ein Dutzend anderer Staaten bringt allerlei Interessantes, die Wissenschaft von der Metallprüfung bis zur Photogrammetrie weist ihre Methoden, kurz, Fachmann und Laie können Stunden und Tage hier verweilen und entdecken doch immer wieder Neues. Nach einem Menschenalter wird alles jetzt unerhört Neue natürlich wieder "historisch" geworden sein. Wie lächerlich kämen uns heute schon die armseligen Gestellchen aus Leinewand und Spanndraht vor, die zwei Jahre vor dem Kriege auf der ersten "Ila" gezeigt wurden! Eine große Neuheit wurde damals allerdings gleich nach der Eröffnung wieder versteckt, das war das Euler-Flugzeug mit dem starr eingebauten Maschinengewehr, eine deutsche Erfindung, deren Lizenz dem guten Geschäftsmann Euler nachher Millionen eingebracht hat; und doch sind wir bei Beginn des Krieges so gut wie unbewaffnet, nur mit der Pistole am Koppel, aufgestiegen, schossen in die blaue Luft, wenn wir feindlichen Fliegern begegneten, salutierten mit der Pistole und kehrten wieder heim. Wie fabelhaft die ganze Entwicklung in wenigen Jahren, in unserem kurzen Zeitalter! Noch sehe ich mich neben Orville Wright sitzen, in einem Flugzeug mit Schlittenkufen, das von einem Katapult über den Rasen geschnellt wurde. Noch denke ich lächelnd an meinen Aufstieg im "P.L.S" zurück, dem kleinen Prall-Luftschiff für drei Personen, in dessen Gondel sich einmal auch Hindenburg - er war damals Kommandierender in Magdeburg - hineinzwängen wollte. Durch die enge Tür ging es nicht. Da wuchteten ihn ein paar Pioniere über die Schanzkleidung hinüber in die Gondel. Geradezu rührend mutet einen der Propeller des allerersten Zeppelin-Luftschiffes auf der Ausstellung an, ein Ding, das man bequem unter seinem Arm, durch den Umhang verborgen, heimtragen kann. Heute überquert "Graf Zeppelin" den Ozean. Heute kann ich das Postflugzeug der Deruluft in Berlin besteigen, übernachte in Moskau, Mineralnyje Wody, Baku und bin am vierten Tage in Teheran in Persien. Sind die Nachtflugstrecken erst durchorganisiert, so kann man Wochenend-Ausflüge an die Riviera machen, für die Pfingsttage nach Ägypten hin- und herrutschen; und schon vorher wird der Luftschiffdienst Sevilla-Buenos Aires eine Südamerikareise während eines Dreiwochenurlaubs ermöglichen.

Merkwürdig viele Engländer, auch ein Inder mit seiner Frau in Nationaltracht, bleiben vor einer Koje stehen, in der der Verkehr von "Ostpreußen einst" und "Ostpreußen jetzt" auf mächtigen Wandkarten gezeigt wird. Einst war Ostpreußen selbstverständlich mit dem Reich zusammengewachsen, durch verschiedene direkte Schnellzüge mit ihm verbunden. Heute ist es eine losgerissene in polnischer Brandung schwimmende Scholle, und um den polnischen Wallgraben herum müssen die deutschen Flugzeuge in weitem Bogen nach Norden ausweichen. Die Ausländer schütteln die Köpfe darüber, daß das deutsche Volk sich diesen Irrsinn gefallen lassen kann; so sinnfällig ist ihnen das bisher noch nicht vor Augen gebracht worden. Vor der Ostpreußen-Koje komme ich mit einem Italiener ins Gespräch. Und er sagt: "Vor der Hochzeit steckt der Mann dem Mädchen sichtbar einen Ring an den Finger. Nachher zieht sie ihm unsichtbar einen Ring durch die Nase. Ihr Deutschen seid die ewigen Hochzeiter unter den Nationen. Dafür kriegt Ihr Euren Nasenring."

Berlin ist in diesen Tagen voll von Fremden aller Länder, die die Luftfahrtausstellung hergezogen hat. Am Abend wollen die Herrschaften dann bummeln. Das kann man in deutschen Großstädten sehr ausgiebig, und namentlich die Sprache der Beine in den Revuen wird ja international verstanden. Das gilt auch von der Musik. Die "Ägyptische Helena" von Strauß in der Staatsoper lockt zwar anscheinend nur Snobs. Aber zu Lehars "Friederike" im Metropoltheater strömt alles in hellen Scharen. Ein Wunder, ein lichtes Wunder! Das Idyll von dem jungen Goethe und der Pfarrerstochter von Sesenheim ist freilich, so sagt mancher, zu hold, als daß es ertragen könnte, zu einer Operette verarbeitet zu werden. Ja, manchmal hat man wirklich das Gefühl einer Beschämung, als mangele uns Deutschen das Taktgefühl gegenüber unserem Dichterheros. Richard Tauber ist ein Sänger von hohen Graden. Aber wenn das Polsterkinn sich auf den schwellenden Tenorbusen preßt und das Falsett-Pianissimo über die opernhaft ausgebreiteten Arme rieselt, denkt man mit leisem Unbehagen: nächstens wird vielleicht in einem Bismarck-Singspiel der eiserne Kanzler Cakewalk tanzen. Und doch wird man dieser kleinen, nagenden Unlust sehr schnell Herr, sowie Käte Dorsch - Friederike Brion - auf der Bühne erscheint und mit den ersten gesprochenen oder gesungenen Worten uns ans Herz greift, sie, die bisher immer nur der Sprechbühne angehört hat, aber dann, als von Harry Liedke Eheverlassene, sich zur rührendsten Musik ihrer an sich nicht großen Stimme heimgefunden hat. Draußen im Wandelgang, wo die Texte und Noten verkauft werden, geht Richard Taubers etwas tenorschmalziges "O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb' ich Dich!" ab wie frische Semmeln. Aber bis in unsere tiefsten Tiefen erschüttert uns Käte Dorschs:

"Ich weiß nur, daß ich ihn liebe,
Und das macht mich selig! . . .
Ich liebe, wie die Blume duftet,
Ohne an das Verwelken zu denken! . . .
Wo  e r  ist, ist die Sonne;
Wo er  n i c h t  ist, ist die Finsternis!
Meine Liebe ist mein Schicksal,
Und was da kommen mag, ich will es tragen!"

Wir jauchzen mit ihr, wir bangen mit ihr, wir möchten ihr die Hände unter die Füße breiten, alles Gute und Liebe in uns erwacht. In dem ganzen Stück sind wir vom Anfang bis zum Ende in holdem Wahn gefesselt; und in dieser reinen Atmosphäre fällt nicht ein einziges auch nur "unpassendes" Wort, geschweige denn eine Zweideutigkeit, eine Schlüpfrigkeit, - es ist alles lauterste Poesie. Dazu Lehars klare, schöne Musik, die, ganz gleich, ob sie drollig oder ergreifend, keck oder tragisch wirken will, der Wirkung sicher ist, noch ganz anders, als in der "Lustigen Witwe" und seinen anderen Operetten. Gewiß ist einzelnes darin (seit dem "Dreimäderlhaus" sind wir dergleichen gewöhnt) nur gut übernommen; es ginge ja auch nicht an, etwa das "Röslein, Röslein, rot, Röslein auf der Heiden" mit einer völlig neuen Melodie herauszubringen. Auch sind die Texte - von Herzer und Löhner - manchmal nicht gerade denen Goethes gleichwertig. Schließlich darf man das ganze Singspiel meinetwegen ein "Alt-Heidelberg" in Musik nennen und es dadurch - herabzusetzen versuchen. Ich sage nur: es ist ein Wunder, ein lichtes Wunder. Vor allem um Käte Dorschs willen. Und dann: ein Wunder in unserer Zeit, in der alles verjazzt, verjuxt, verschweinigelt wird. Und schließlich ein Wunder an dieser Stelle, im Metropoltheater in der Behrenstraße, wo früher nur die leichtesten Revuen gegeben wurden und oben im breiten Promenoir die Friedrichstraßen-Weiblichkeit in den Zwischenakten auf Zahlungskräftige wartete. Man könnte wirklich zu der Illusion kommen, es seien mit Nuditäten keine Geschäfte mehr zu machen und ein veredelter Geschmack erzwänge heute die "Friederike" von den Theaterdirektoren.

Nur ein paar kleine Anachronismen sind mir darin aufgefallen, wozu ich nicht etwa rechne, daß da Goethe schon als Straßburger Student die Berufung nach Weimar erhält. Sondern zwei andere Dinge. In einem Tanzduett, das freilich ganz allerliebst ist, tritt Friederikes Schwester Salomea, der Tracht des 18. Jahrhunderts entsprechend, in langem Kleide auf. Aber wenn sie es herumwirbelt, sieht man ihre wohlgeformten Seidenbeine bis in die höchsten Breitengrade. Darüber nur das Nichts von Schlüpferchen. So etwas ist mir bei anderer Gelegenheit nicht unwillkommen, hier aber gehört nun mal das spitzengesäumte lange Beinkleid her. Und dann: auf diesem Tanzabend in Straßburg verabschiedet sich Goethe, weil er "noch am selben Tage" in Mainz mit dem Großherzog zusammentreffen müsse. Es wundert mich nur, daß ihm nicht erwidert wird, er solle doch nur in Storms Kursbuch nachsehen, es gehe ja gar kein Schnellzug mehr am selben Tage nach Mainz.
11. Oktober 1928 (Donnerstag)


6

Eine Erinnerung an den Klub der Harmlosen - "Herkuleshaus" - Die junge Fürstin Galizyn - Pyjama-Ball - Stil in Sport und Leben - Siemens-Real und Eton-School - Berlin im Licht - Unser Nachwuchs für die Flotte.

Natürlich hatte er wieder die ganze Nacht bei den "Harmlosen" in Berlin gespielt, der kleine Leutnant, den wir alle so gern hatten und wegen seiner unseligen Leidenschaft bedauerten. Nun hing er morgens in Jüterbog in den Bügeln, hatte das heulende Elend und schämte sich vor seinem Oberst, dem er doch in die Hand hinein versprochen hatte, nicht mehr jeuen zu wollen. Wir konnten und mochten ihn nicht trösten. Da vollzog sich ein unabwendbares Geschick. Das hieß, damals, lange vor dem Kriege, immer: Amerika. Im Kasino aber erzählten wir dann dem kleinen Leutnant, auch das sei nicht mehr so einfach. Komme da zum Beispiel ein junger Mann, dem man trotz Räuberzivil auf zwanzig Meter den ehemaligen Offizier ansehe, in New York zu dem Wirt eines deutschen Restaurants:

"Kann ich vielleicht bei Ihnen als Tellerwäscher arbeiten ?"

"Was sind Sie zuletzt in Deutschland gewesen ?"

"Oberleutnant bei einem Infanterieregiment."

"Bedauere, ich nehme bloß Stabsoffiziere von der Gardekavallerie!"

Heute braucht man nicht mehr über das große Wasser zu gehen, sondern kann ruhig in Berlin oder anderen Großstädten einen beliebigen Beruf ergreifen, denn man ist durch den Krieg und die Revolution entwurzelt, nicht durch eigene Haltlosigkeit. Kein Mensch fragt. Von dem ehemaligen Major im Großen Generalstabe, der jetzt als Schuhmachermeister sein Brot verdient, hätte auch keine Zeitung erzählt, wenn er nicht auf die Sohlen der von ihm abgelieferten Damenschuhchen kleine freche Geschichten geklebt hätte und deshalb vor Gericht gekommen wäre. Auch die neunzackige Krone oder der Hermelinhut sind kein Hindernis mehr für die sonderbarsten Beschäftigungen. Das habe ich eben erst wieder im "Herkuleshaus" gesehen, jenseits der Brücke vor dem Lützowplatz, in diesem sehr modernen Einküchenhaus, in dem gut zahlende Junggesellen je eine Zweizimmerwohnung mit Bad innehaben und abends, wenn sie wollen, in Lackpumps, um dadurch eigene Häuslichkeit zu markieren, die Wendeltreppe hinunter in die intime Bar gehen können, wo man ruhig Damen der Gesellschaft empfangen kann. Nebenan ist das Restaurant mit Tanzdiele und Musik für Hausbewohner und Fremde, und da waltet als Terpsichore, die den englischen Walzer lehrt und gesellige Abende veranstaltet, eine junge Fürstin Galizyn. Die habe ich einmal auf meinem Schoß gehabt. Wie meinen Sie ? Nein, leider nicht! Sie war nämlich damals noch ein Baby, und ich war bei ihrer Mutter in ihrem Petersburger Palazzo zu Besuch; der Vater, der General, war gerade auf dem großen Familiengut in der Ukraine, aber in seiner Loge in der Michael-Manege erlebte ich das fabelhafteste Reiterfest mit, das so glänzend sich nur das alte Zarenreich leisten konnte. Soll ich der jungen Principessa davon erzählen ? Ach was. Ich bekäme doch nur ein verlorenes Lächeln als Antwort. Tempi passati. Man hat sein neues Leben. Man hat seine Arbeit im Herkuleshaus zusammen mit dem männlichen Kollegen, van Jaap, der als Tanzlehrer einen Namen hat. Eben ist er für vierzehn Tage bei Kronprinzens in Oels. Zum Auffrischen und Modernisieren des Tanzstils. Denn heute ist es ja nicht mehr so wie vor dreißig Jahren, wo die Jungens einmal acht Wochen lang Polka und Walzer und Masurka und Galopp und Quadrille lernten und damit für ihr Leben genug hatten; heute erbitten die Herren Söhne alle zwei Jahre, wenn nicht gar jedes Jahr, einen Kursus, weil man sonst gräßlich altmodisch werde.

In jenen verklungenen Zeiten wurde fröhlich gehüpft und geglitten und gewiegt, aber von Tanzstil sprach man nicht; allenfalls von dem "historischen Styl" der Gavotten und Menuetts. Sonst gab es Stil nur im deutschen Aufsatz und in der Architektur. Heute veranstalten die rund 50 Berliner Schülerrudervereine alljährlich sogar einen Wettbewerb im Stilrudern, streben also technisch-ästhetische Vollkommenheit statt der bloßen Kilometerfresserei an. Auch gegen Wettbewerbe im Stiltanzen, wie wir sie überall so häufig haben, ist gar nichts einzuwenden. Auch das ist ein "Weg zu Kraft und Schönheit", ob dem man nicht die Augen pharisäisch verdrehen soll. Und wenn eine Lehrerin des Lettehauses jetzt alle ihre jungen Schäfchen zu einem Atelierball im Pyjama einlädt, den die Schülerinnen möglichst farbenfrech und genial-reizend selber schneidern müssen, so bedauere ich dabei nur, für diesen einen Abend mich nicht in eine siebzehnjährige Schülerin verwandeln zu können; Herrenbesuch ist nämlich ausgeschlossen. Das Leben selbst hatte Stil früher nur in der sogenannten ersten Gesellschaft; es war manchmal langweilig, aber es hatte Stil. Heute hat ihn die Jugend aller Stände, und seine Grundlage heißt Sport; und der Sport ist auch ein Stahlbad für die Seele. Den olympischen mit seiner Rekordsucht meine ich dabei nicht, der hat allerlei sehr unangenehme und seelisch häßliche Begleiterscheinungen, wie wir es bei den Fußballern in Amsterdam gesehen haben. Immerhin: wir können stolz darauf sein, daß jene deutschen Kinder, die während des Krieges unter der englischen Hungerblockade im Wachstum zurückblieben, heute wieder in der Reihe der Olympiasieger zu finden sind und da Deutschland den zweiten Platz unter den Nationen erkämpft haben, während die Engländer, die Erbpächter jeglichen Sports, weit hinten rangieren. Dieses Sichaufraffen und Zähnezusammenbeißen eines durch Feindesbosheit in "englischer Krankheit" verkümmerten Volkes hat Stil. Dieser Tage hat Hindenburg die deutschen Medaillenträger der Amsterdamer Olympia empfangen. Rechts neben ihm saß die blondeste Jugend, die Frankfurter Primanerin Helene Mayer, die Tochter aus der Offenbacher Arztfamilie, deren Stil im Florettfechten den aller italienischen und französischen Meister übertrifft. Sie ist nicht von deutschem Geblüt, sondern Jüdin. Und in der langen Reihe unserer Olympiasieger hat sie noch mehrere Stammesgenossen. Das sollte uns nachdenklich machen; schon vor Jahren habe ich auf diese letzte Stufe der Emanzipation unserer Fremdstämmigen hingewiesen, die durch den Stil im Sport sich vollends in das Europäertum hereinpauken wollen. Es ist sinnlos, heute noch die alten Phrasen von den "Plattfüßigen" wiederzukäuen, statt dafür zu sorgen, daß in unseren eigenen Reihen die Bierbäuche verschwinden und daß die klassisch-griechische Auffassung von Lebensstil und Kalokagathie wieder lebendig wird.

Mit mephistophelischem Grinsen spotten darüber freilich jene Kurfürstendammer, deren negroide Söhne das Siemens-Realgymnasium bevölkern. Das ist eine Jugend, die in den Kabaretts der Berliner Galizier den Lebensatem einsaugt. So wurde es denn in der Öffentlichkeit auch ganz allgemein für wahr gehalten, daß die Siemens-Gymnasiasten kürzlich einen Aufruf zum Kampfe gegen die Reaktion und für freie Liebe schon aller Sechzehnjährigen an die Mitschüler in Deutschland erlassen hätten. Vielleicht hat irgendein kommunistisches Mitglied des "Bundes entschiedener Schulreformer" sich diese Mystifikation erlaubt, die bereits zu einer Anfrage im preußischen Landtag geführt hat. Der schlichte Bürger sagt sich, ein Wunder wäre es ja nicht, denn solche Propaganda hat sich doch schon in Berliner städtischen Aulen, sogar vor Vierzehn- und Dreizehnjährigen breitgemacht, und eine "Berichtigung mit dem Rohrstock" ist bekanntlich streng verboten. Man darf ja heute Ohrfeigengesichter nicht mehr ohrfeigen, die zukünftigen Herren Wähler nicht anfassen. Männliche Nationen denken darüber ganz anders. Die Engländer stehen auf dem altgriechischen Standpunkt, daß man einen Menschen nicht erziehen kann, wenn man ihn nicht züchtigen darf. In ihrer Eton-Schule bei Windsor, aus der die berühmtesten Staatsmänner, Dichter, Gelehrten, Feldherren, lauter Führernaturen, hervorgegangen sind, befindet sich in jeder Klasse ein Bußbänkchen und im Wandschrank Rute und Stock, die mitleidslos bei zwei Arten von Vergehen in Anwendung kommen: bei Unbotmäßigkeit gegenüber einem Lehrer und bei Beschwindeln eines Lehrers. Disziplin muß sein. Wahrheit muß sein. Bis zum 18. Lebensjahr sind die jungen Herrchen dem Prügel unterworfen; und ich habe noch nie gehört, daß etwa ein Admiralssohn oder ein Grafenkind sich darüber beschwert hätte. Ähnlich ist es ja auch in allen anderen englischen Schulen. Und was an den Universitäten, auch an den Colleges für weibliche Studierende, getrieben wird, das ist in der harten Disziplinierung nach unseren Begriffen geradezu Kommißerziehung. Und das neben aller sportlichen Freiheit. Auch neben aller Freiheit für sogenannte Hundestreiche, die reichlich begangen werden. Nur will man drüben ganze Männer, ganze Frauen haben, nicht jene Halben, die dann nur im großstädtischen Nachtsumpf sich treiben lassen, im Geschiebe, in der Masse bleiben, nie Führer werden können.

Ich wünschte, daß dergleichen Erkenntnis auch in Berlin wieder aufdämmerte. Dann wäre die Hauptstadt wirklich die Lichtstadt. Aber dieses "Berlin im Licht", das uns zur vorigen Wochenwende vorgeführt wurde, ist, "bei Licht besehen", doch nur ein geschminktes, nicht ein von innen her strahlendes Wesen. Es gab erleuchtetere Köpfe in Berlin zu jener Zeit, als man noch mit der Stallaterne in der Hand heimwärts stapfte. Aber natürlich war der Anblick - wir haben die ganze Geschichte, die eine gute halbe Million gekostet hat, den reicheren amerikanischen Städten nachgemacht, die die Lichtwochen längst kennen - stellenweise märchenhaft schön. Nicht Unter den Linden, wo man karnevalistisch die Bäume mit bunten Glühbirnen besteckt hatte, nicht in der Tauentzienstraße, wo ganz geschmacklose Reklamen an beleuchteten kleinen Fesselballonen angebracht waren, allenfalls schon in der Leipziger Straße, über die in hohem Netz ein weißes Sternengefunkel gespannt war; das wirklich Schöne war das Anleuchten architektonischer Besonderheiten, des Brandenburger Tores, der Kuppelkirchen auf dem Gendarmenmarkt, des Museums am Lustgarten, und nahezu überirdisch hehr strahlte die in den Sattel gesetzte Germania auf dem Westgiebel des Reichstages, deren Patina sich wie duurchsichtiger Smaragd von dem goldenen Mittelbau abhob. Bei keinem Fürstenbesuch, bei keinem Einzug eines eisernen Gustav, bei keinem Zeppelinflug, ja nicht einmal je am letzten Sonntag vor Weihnachten sah man solche Menschenmassen auf den Straßen. Brot und Spiele brauche das Volk, hieß es im alten Rom. Die Gratisvorstellung "Berlin im Licht" gehörte in diesem Sinne zu überlieferter Regierungsweisheit.

"Herrjeses, meine Handtasche!"

Ja, gute Frau, auch die Berliner Taschendiebe sind helle.

"Drücken Sie doch nicht so!"

Ja, gnädiges Fräulein, das Großstadtgedränge ist auch das Paradies der sogenannten Wärmer.

Man freut sich, wenn man wieder zu Hause ist, nachdem man auf Umwegen, durch trübselig dunkle Nebenstraßen, das Heim erreicht hat. Da ist kein für "den" Tag angeschminktes Licht, da ist die wohlige Helle aller Tage und das ständige Behagen. Und ein paar wohlerzogene junge Leute, Seekadetten aus Kiel, die vor der großen Weltreise auf dem Kreuzer "Emden" noch einmal Urlaub in die Reichshauptstadt bekommen haben, sitzen bei uns um den Tisch. Sie wundern sich, daß die Kartoffeln so schön rund sind. Wenn sie sie auf der "Niobe" geschält hätten, wären sie immer viereckig geworden. Auf einmal ist in dem bürgerlichen Haushalt alles von Interesse für sie, auch der Nähtisch der Dame, denn sie haben ja selber mit ungelenken Fingern dutzendfach ihre Stammrollennummer in ihre Wäschestücke sticken müssen, auch die Sidol-Kanne in der Küche, denn mit sämtlichen Putzmitteln der Welt, deren Reste sich noch in den Schwielenrissen ihrer Hände zeigen, sind sie doch umgegangen. Dazu der sonstige feste, straffe Dienst. Und die stete Kontrolle bis zu dem Beichtstuhl, genannt Logbuch. Das ist natürlich eine ganz andere Erziehung, als die Primaner des Siemens-Realgymnasiums in Charlottenburg sie vermutlich zu Hause erhalten. Gott sei Dank scheint das deutsche Volk ein wenig Verständnis dafür zu haben, denn für das Volksbegehren zur Abschaffung der Kriegsschiffe haben sich noch keine fünf Prozent der Reichtagswähler gefunden.
18. Oktober 1928 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts