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Im Himmel - Die Eröffnung des Titania-Palastes - Der Sprung ins Glück - Das Kino als Erbe des Kolportageromans - Frau Stresemann als Baby - Reimann, Zille, Juryfreie - Auf der Treppe - Admiral Behnke - Prinz August Wilhelms lebende Bilder - Das Kronprinzenpaar bei den alten Offizieren - Der Lippenstift.
"Schöner kann es auch im Himmel nicht sein!", haucht die stattliche Dame im Abendkleid. Da bin ich denn doch etwas überrascht. Allerdings scheint es, daß sich vor uns die Pforte zum Thronsaal Gottes öffnet. Weit und strahlend. Rot überflammt. Nein, jetzt fließt wieder blaues und goldgelbes Licht über den Portikus und ergießt sich über die zweitausend Gesichter der andächtig und ergriffen in der Vorhalle Harrenden. Sphärenklänge klingen hernieder. Orgelton und Glockenspiel braust aus der Höhe daher. Wohl an die 3000 silbernen Pfeifen in zwei mächtigen Gewölbebogen über dem Portal zum Allerheiligsten. Noch nie sah man auf Erden dergleichen. Wie Riesenbänder des Nordlichts am Horizont. Schweben noch keine Engelchöre um uns her, wachsen uns selber noch keine Flügel, schweben wir noch nicht ?
Nin, wir sitzen. Ganz fest in bequemen Reihensesseln. In einem neuen - Kino.
Es ist der Titania-Palast in der Schloßstraße in Steglitz, richtiger: rittlings auf der Grenze von Steglitz und Friedenau. Das waren einmal Vororte von Berlin. Heute ist das zerklüftete Wohngebirge schon ununterbrochen, setzen sich die Häuserschluchten durch ganz Großberlin fort. Man sieht keine Grenzen mehr, auch kein neutrales Ödland mehr zwischen den Bezirken. Alles ist bebaut. Trotzdem besteht für die "Vortortler", die längst keine mehr sind, sondern selber ihr Zentrum für sich, immer noch der Zwang, die großen Vergnügungen "in der Stadt" aufzusuchen. Eigentlich ein Unsinn: mit dem vielen Fahrgeld könnte man doch schon in der Nähe etwas anfangen. Also da hat man, ganz modern, nahezu amerikanisch in der Fülle des dem Publikum Gebotenen, den Titania-Palast in nur 9 Monaten mit zwei Fronten von 58 und 47 und einer Höhe von 30 Metern gebaut und dieser Tage eröffnet:
Der Tag ist da! Es füllt die Menge brausend |
In elf dergleichen Strophen begrüßt uns der Festprolog. Der ist also schon sehr - irdisch. Noch zieht uns wundervolle Musik empor. Das große Orchester spielt Liszts Préludes. Walter Clewing singt seine schönsten Lieder. Aber dann: der Kientopp. Uraufführung des Nero-Films der National: "Der Sprung ins Glück". Das brave kleine Manicure-Mädchen springt nämlich in eine richtige Heirat mit dem Sohn des Milliardärs, nachdem die Nebenbuhlerin und der Schwiegerpapa glücklich abgeschlagen und alle Hindernisse von den "Liebenden" überwunden sind. Alles Friseusen von Berlin schluchzen. Alle Manicure-Mädchen machen vermeintlichen Milliardären blanke Augen. Jedes Ladenfräulein träumt heftig. Und der Titania-Palast wird nicht leer, denn er hat begriffen, was es bedeutet: dem Volke die Kunst. Das bleibt immer dasselbe, nur technisch etwas verändert. Früher kauften sich die Leute an jedem Sonnabend an der Küchentür vom Kolporteur für 10 Pfennige ein Heftchen, die 110. oder 148. Fortsetzung des ganz unwahrscheinlich schönen Romans, und heute - gehen sie eben in den Kientopp. Nibelungen, Alter Fritz, Metropolis, nun ja, das sind die Sensationen für die große Welt. Aber im Vorort und in den Tausenden kleiner Kinos in den Seitenstraßen, da gibt es immer, wie das Stück auch heißen möge, einen solchen "Sprung ins Glück", etwas fürs Herz und für die Phantasie derer, die sonst in ihrem Leben zu viel grauen Alltag haben.
Irgendeinen Sprung ins Glück erträumt man sich ja auch vom Karneval. Am vorigen Sonnabend hat es zehn "große" Maskenbälle und ungezählte kleinere in Berlin gegeben; an die 60 000 fröhlich Kostümierte oder verwegen Ausgezogene waren auf der Jagd nach dem Glück oder wenigstens dem Rausch des Amusements. In allen Ständen. Und jedermann verjüngt. Frau Käte Stresemann sogar bis an die Grenze des Denkbaren, nämlich im Steckkissen, auf dem "Babyball in der Bendlerstraße", wo männiglich so jung war, daß man "guck-guck - da-da" und kille-kille machen konnte, wenn man richtig in der Rolle bleiben wollte. Und, heidi, zwischen den beiden Stockwerken die Rutschbahn! Da sausen Bubi und Baby quietschvergnügt hinunter. Nur der einsame Schutzmann in der Friedrich-Ebert-Straße macht in der Morgenfrühe erstaunte Augen, als die "hohe Frau" im Steckkissen heimfährt, geleitet von einem "Bübchen" im Matrosenanzug mit blanken Knieen.
Wer auch in der Karnevalslust, und sei er Millionär, betonen will, daß er im Grunde seines Herzens Proletarier, zum mindesten guter Republikaner ist, der besucht den Ball der Sozialistischen Monatshefte oder neuerdings den auch schon traditionellen Zille-Ball, wohin der Gent zwar nicht mit einem angeschlagenen, aber einem angetuschten blauen Auge geht. Die größte Masse von annähernd 8000 Kostümierten findet sich auf dem Gauklerfest der Malerschule Reimann, diesmal im neuen Kroll, aber da wird es auch am ehesten leer: diejenigen, die sich langweilen, weil sie langweilig sind, rasen dann im Auto auf einen Sprung ins Glück noch zu irgendeinem anderen Fest. Diesmal stranden viele im "Urwald" der juryfreien Künstler in der Philharmonie. Irgendeinen Titel, irgendeine Idee hat jeder dieser Bälle, aber entsprechend kostümiert, also mitunter bis zur Selbstentsagung, sind da meist nur wirkliche Künstler. Wenn ein an sich hübsches Mädchen, nur weil es in den Urwald geht, sich völlig dunkelbraun verschminkt, und zwar alles, was Büstenhalter und Lendenschurz freilassen, so ist das doch ein Opfer. Wer nicht angestaunt, sondern angefaßt sein will, der lockt doch lieber durch die eigene Haut. Und enthüllt nicht gleich alle Mysterien.
Zu einem richtigen Faschingsball in Berlin gehört, wie zu den ersten Inszenierungen Jeßners im staatlichen Schauspielhaus, vor allem eine Treppe. Es können überhaupt nicht genug Treppen da sein. Sie Shakespeares Hamlet, Akt III, zweite Szene. Komm' hierher, lieber Hamlet, setz' dich zu mir, sagt die Königin. Nein, gute Mutter, hier ist ein stärkerer Magnet, sagt Hamlet. Sagt es und setzt sich zu Opheliens Füßen. "Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen ? Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen!" Es gibt viele solche Hamlet-Ophelia-Paare auf den Treppenstufen. Nur sind manchmal die Rollen vertauscht. Aber trotzdem kann man immer wieder nur sagen: es geht fabelhaft anständig, fast ehrpusselig auf den Berliner Kostümbällen zu. Manch einer merkt überhaupt erst auf der Heimfahrt im Auto, daß wenigstens die Elementarkenntnisse in der Technik des Küssens den braven Bürgermädchen nicht fremd sind. "Um Gotteswillen, anständig bleiben, anständig bleiben!" ist die Parole.
Ich tanze wenig, ich beobachte viel, ich bin ein stiller Gast. Auf einer Alleinwanderung entdecke ich einen noch Stilleren. Der sitzt im Korridor in einer Ecke, tanzt nicht, trinkt nicht, und doch stehen ihm die Schweißperlen auf der Stirn. Er sieht aus wie ein Stangenpferd, das Kolik fürchtet. "Ja, die verdammte neue Angströhre!", stöhnt er. Was denn, was denn ? "Ich meine meinen neuen Gentilagürtel, der den Bauch wegmacht!" O jerum. Und da wollt'se in de Kluft, un da kriegt' se keene Luft, sang Otto Reutter in den alten Zeiten des Korsetts. Aus der Sie ist heute vielfach ein Er geworden. Auch eine dicke alte Dame mit grauen Haarsträhnen sehe ich unter den Vergnügten; die hat das Schnüren schon längst aufgegeben. Aber die Jugend ist grausam. Kommt da ein Bürschchen, tippt die dicke alte Dame auf die Schulter und sagt: "Na, Kleinchen, Deine Mutti hat zu Hause wohl nicht aufgepaßt und da hast Du Dich verlaufen ? Du gehörst doch nicht hierher, die Kindervorstellung ist erst morgen nachmittag!" Aber das alles ist ja so harmlos. Es gibt kaum einen Faschingsball, den man nicht mit Familie, guter Familie, besuchen könnte. Bei den Juryfreien, eines Hauptes länger denn alles Volk, fällt daher der schlanke und elegante Admiral Behnke auch nicht auf, der ehemalige Chef der Marineleitung. Mit derselben Sicherheit, mit der er in der Skagerrakschlacht von seinem zerschossenen Flaggschiff auf ein Torpedoboot balanzierte, um sich im offenen Granatenhagel auf einen anderen Dreadnought zu begeben, steuert er hier zwischen bewunderndem Blickefeuer umher. Auf einem anderen Kostümball habe ich zwei Professoren der Universität getroffen, die nicht mehr allzuweit vor ihrer Emeritierung stehen. Man will doch mal aus sich herausgehen, nicht wahr ? Mal so richtig aus der Haut fahren. Und in eine andere hinein. Das gelegentlich Spielerische liegt uns allen im Blut.
Auch eine starke Mischung der Stände, aber ohne das, was wir Kurfürstendamm zu nennen pflegen, gab es am gestrigen Mittwoch im Zoo: Wohltätigkeitsfest des Nationalverbandes deutscher Offiziere. Arm und Reich gemischt. Kostbare und schlichte Toiletten. Kein Luxussouper, sondern einfaches kaltes Buffet. Eine einzige große Gesinnungsgemeinschaft, stille Freude an dem Schwarzweißrot der Ausschmückung, warme Genugtuung über das stattliche Ergebnis zu Gunsten darbender Witwen und Waisen. Nur noch wenige Herren in Uniform, die meisten in Frack oder Smoking oder einfacher schwarzer Jacke; der zehnjährige Krieg gegen die Motten ist verloren. Aber straff alles, auch im zivilen Rock. Zwischen dem eisengrauen Admiral v.Schröder und dem Oberst v.Struensee, die für den Nationalverband und die Berliner Ortsgruppe die Honneurs machen, sitzt vorn das Kronprinzenpaar. Er mit dem scharfen Fridericusprofil, der gertenschlankste unter allen Angehörigen europäischer Fürstenhäuser, federnd und lebhaft. Sie, mit den lustigen Grübchen im rosigen Gesicht, die wirklich königlichste Erscheinung im ganzen Saale. "Die erste Dame nach den vielen Hausfrauen der Hohenzollern", sagte mir einmal vor langen Jahren sogar der alte Feldmarschall Graf Häseler. Und sonst noch Prinzen und Prinzessinnen. Nachdem das Bühnenspiel verrauscht ist, die lebenden Bilder "weggeräumt" sind, geht der Vorhang noch einmal empor, und auf der Bühne steht der Arrangeur im grauen Malerkittel, lacht glücklich und dankt für den Beifall: es ist der Dr.jur. Prinz August Wilhelm von Preußen. Vom alten Fritz, der mäßige Verse machte, aber gut die Flöte blies, bis zum Bruder Wilhelms I., der als dramatischer Schriftsteller Anerkanntes leistete, hat es auch in dieser Familie gelegentlich manches liebenswürdige Talent gegeben. August Wilhelm, den man, wenn man will, Landrat a.D. nennen könnte, malt; und er sieht auch mit Maleraugen, mit Künstleraugen die ganze Potsdamer und Berliner Gesellschaft an, aus der er sich, Adelige und Bürgerliche kunterbunt durcheinander, seine Figuren für die lebenden Bilder - Porträts nach alten Meistern in Rahmen an der Wand, oder vielmehr aus der Wand - und die Porzellangruppen geholt hat. Leise zeitgemäße Musik ertönt dazu. Der großen Masse der gebannt schauenden Besucher geht eine Ahnung von dem Unterschied zwischen Schlemmerfesten und künstlerischen Darbietungen auf. Er selbst, der Prinz August Wilhelm, hat im Januarheft von "Sport im Bild", als er zum ersten Mal in Potsdam nach langer hingebender Arbeit seine lebende Galerie zusammengestellt hatte, die eine wahre Augenweide ist (ich sehe es ein, ich darf es nicht verraten, welche Damenporträts die entzückendsten waren), eine Plauderei darüber veröffentlicht. Lachend kolportiert eine der darstellenden Damen das sachverständige Urteil der - Theaterfriseuse, die die ganze Probenzeit hindurch den Prinzen hat schalten und walten sehen: "Der Prinz ist ja fabelhaft, der versteht ja vom Bau fast so viel wie mein Regisseur bei der Ufa, man könnte ihn glatt übernehmen!" Das wird ihm weitererzählt. Und lachend legt er die Hand aufs Herz und sagt: "Regisseur bei der Ufa, natürlich, Höhepunkt der Gefühle!" Nein, der will nicht Regisseur sein. Aber den Witwen und Waisen helfen; und den vielen Besuchern aus allen Schichten der Gesellschaft zeigen, was sich an edler Unterhaltung auf "höfischen" Festen bieten läßt.
Nachher im Marmorsaal federt der Kronprinz bald hierhin, bald dorthin, spricht hier einen und dort einen an. Es ist alles so zwanglos, kein "Cercle" wird gehalten, keine Exzellenzen werden vorgeschoben; und die gute Erziehung verbietet es den Erschienenen auch, daß sich eine gaffende Menschenmauer aufbaut. Prinz August Wilhelm tanzt gerade mit der Schönsten im Saale, die nichts dafür kann, daß sie außerdem noch Prinzessin ist. Es wird alles getanzt, "sogar" eine Quadrille, natürlich "mit Kuddelmuddel", denn sowas klappt heute nicht mehr. Nach einer gewohnten Erscheinung sucht man vergeblich: man sieht hier keine Dame mit dem Lippenstift hantieren, denn es sind nur wirkliche Damen da. Aber dann auf dem Heimweg, zu einem kurzen Schlaftrunk im Hotel, da spielt und singt die Kapelle:
In jeder Bar, in jedem Kaffeehaus |
9. Februar 1928 (Donnerstag)
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Galante Filmdamen - Versteigerung Lya de Putti - Der geschlossene Tiergartenklub - Zur Geschichte des Weltkriegsfilms - Rundfunk und Raketenpost.
Im Dunkel vor dem Flimmerlaken wogen die Herzchen. Es gibt wohl nicht ein einziges kleines Mädel, das in diesem Zustand des Hingerissenseins nicht wünschte, selber einmal ein berühmter Filmstar zu sein. Nicht etwa, pah, wegen des Geldes! Obwohl die kleinen Mädel sich doch sagen, es sei schön, wenn jemand allein durch Hergabe seiner Unterschrift, nämlich durch Verkauf von Postkarten mit Autogramm, soviel verdiene als unsereins durch die ganze Berufsarbeit, und dann in den schönsten Kleidern nach St. Moritz gehen oder königlich an der Riviera prunken könne. Aber die Hauptsache, ach, so - geliebt zu sein! So wie man es allabendlich sieht, auf dem Flimmerlaken, von den elegantesten Männern der Welt! Und wenn man diesen kleinen Mädeln sagt, die meisten Filmstars seien brav und bieder verheiratet, zum großen Teil gänzlich unromantisch, dann glauben sie es nicht. Man hat doch Beispiele von Exempeln, sagen sie. Jawohl, die hat man; aber dann gehört dieser Filmstar eben zu den "galanten Damen" und das, o Gott, möchten die kleinen Mädel doch nicht werden.
Zu solchen Damen vom Film, "von denen man spricht", gehört in Berlin am häufigsten Lya de Putti. Lassen wir ihr diesen Künstlernamen. Untersuchen wir nicht, ob diese mit Spreewasser Getaufte nicht in Wirklichkeit Frieda Schmudicke oder so heißt. Irgendwo hab ich's mir mal aufgeschrieben. [6.Band/Glosse 24] Auch braucht man ihr nicht die Jahre oder die Geliebten nachzurechnen oder anzuzweifeln. Was daran Wahres sei ? "Nu, me redt!", sagt achselzuckend der Kurfürstendammer. Lya de Putti sorgt selber dafür, daß man redet. Einmal hat sie mit dem Bein die Glastür unten bei Portiers eingetreten und sich dabei so verletzt, daß die Zeitungen Bulletins bringen mußten. Einmal hat sie morgens um ½3 in ihrer Wohnung eine Auseinandersetzung mit einem Freunde gehabt, daß die Umwohner aufwachten, und ist zum Fenster hinausgesprungen.
Jetzt ist sie nicht in Berlin, sondern drüben in Amerika, in Hollywood. Ha, welche Chance, sagt sich der Auktionator, und in den Blättern erscheint eine Riesenanzeige:
Versteigerung. |
Ganz Berlin ist natürlich da. Wenige Minuten nach 11 Uhr muß die Villa in der Schaperstarße wegen Überfüllung geschlossen werden. In dem größten Raum, der wohl das Speisezimmer gewesen sein mag, sitzen und stehen Kopf an Kopf und Bein an Bein fast 400 Menschen, im Salon nebenan (der Auktionator hat sich in der Schiebetür dazwischen aufgebaut) nicht viel weniger, in der Diele und sonst überall preßt sich die Menschheit auch. Unterdrückte Schmerzensschreie. Schweiß in Strömen. Hie und da wird mit Mühe eine Dame hinausbugsiert, der schlecht geworden ist. Auch Ausländer sind dabei. Unter einer venezianischen 34-flammigen Krone aus vergoldetem Holz habe ich im Treppenhaus auf einem Klubsofa in Daunenverarbeitung mit französischem Seidendamastbezug einen weichen Eckplatz erobert. Gegen meine Knie werden von der Menge allerlei weibliche Rundungen gepreßt. Jetzt sitzen schon, sie können nicht anders, anderthalb Damen auf meinem Schoß. Die halbe ist eine Engländerin, die mit den Armen verzweifelt in der Luft angelt, aber ihren Begleiter, die vier Menschenbreiten weiter an der Treppe zum Oberstock steht, nicht erreichen kann. Sie war schon im Auktionssaal. Sie ruft dem Herrn zu: "Enormous prices! Is the bedroom up there ?" Aha. Also die Preise findet sie ungeheuerlich, und ob oben der Bettraum, das Schlafzimmer sei, das möchte sie wissen. Das möchten sie alle wissen. Das reizt in der Aera des Hilde-Scheller-Prozesses, über den ich, trotz mancher Aufforderung aus dem Leserkreise, wirklich noch nichts schreiben möchte. Aber die Zimmer sind leer, alle Sachen sind unten aufgestapelt wie in einem Kunst- oder Möbelspeicher. Mit einigen Schwierigkeiten kriege ich einen Arm frei und kann in dem gedruckten Katalog verfolgen, was nebenan ausgeboten wird. Ich zähle und staune: da gibt es nicht weniger als 29 echte Teppiche, genug für drei Villen, da gibt es allein 8 Flügeldecken, 59 Ölgemälde und andere Bilder von berühmten Meistern - Ury, Kampf, Kaulbach, Liebermann, Vautier, Steenwijk, Curadi, Stöwer, Ridinger -, ferner 22 Marmor- und Bronzeskulpturen und zahlreiche Kunstantiquitäten von anno 1625, anno 1570 und da herum. Nun erwacht mein Argwohn. Ich kämpfe mich ins Vestibül zurück. Zwei Treppen führen hinunter. An der einen ein elektrisches Transparent: "Herren". An der anderen dasselbe: "Damen". In einem Privathause gibt es doch so etwas kaum. Und nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Das ist ja gar nicht Lya de Puttis Wohnung!
Schaperstraße 6a, - wie ist mir doch ? Richtig, das war ja das Heim des sogenannten Tiergartenklubs. Er ist wie alle Spielklubs, von denen ich einmal ausführlich erzählt habe, kürzlich von der Polizei geschlossen worden. Er steht leer. Allmählich erfahre ich das Weitere. Tagelang und nächtelang sind vorher Lastwagen hier angefahren, angefüllt mit Kostbarkeiten aus allerlei Auktionshäusern und Kunstläden. Dazu ungeheur viel "Pofel" und "Tinnef", wie eine meiner beiden Schoßdamen eben erst festgestellt hat. Er soll im Ramsch mit abgehen. Ein Aschenbecher, den man für 5 Mark in jedem Laden bekommt, hat so hier 11 Mark erbracht. Natürlich sind auch Sachen von Lya de Putti dabei. Vielleicht sogar ein "historisches" zweischläfriges Bett, das sie nicht nach Hollywood mitnehmen kann. Aber niemand aus dem Publikum kann wissen, was wirklich aus ihrem Besitze stammt. Ihr Name ist nur Zugmittel. Auf dem Katalog steht: Wohnungseinrichtung Lya de Putti u.a.B., aber das "u.a.B." hat man übersehen; oder nicht deuten können. Jedenfalls, wie der Berliner sagt, das Geschäft ist richtig. Der Auktionator kann schmunzeln. Die Spekulation auf die Sensationslust ist geglückt.
Wir gönnen übrigens der Lya de Putti Hollywood und Hollywood die Lya de Putti. Mögen die Amerikaner weiter ihre Firlefanzfilme drehen. Deutschland hat der Welt anderes zu sagen, auch im Film. Die größten amerikanischen Moneymaker des Flimmerlakens stellen das immer wieder erschauernd fest. Daher siedeln sie in Hollywood auch so viele deutsche Darsteller an; aber das macht es nicht.
Über den 2. Teil des Weltkriegsfilms der Ufa, "Volk in Not", dessen Uraufführung in Berlin wir eben erlebt haben, drahtet ein amerikanischer Vertreter nach Hause: "Bester Kriegsfilm der Welt". In unserem zerrissenen Volke sind die Meinungen geteilt. Die rote Linke tobt natürlich. Wie komme das Reichsarchivv (das übrigens nicht dem Wehrministerium, sondern dem Innenministerium untersteht) überhaupt dazu, der Ufa Bildstreifen zur Verfügung zu stellen ? Was sei dafür bezahlt worden ? Wo stehe diese Einnahme im Etat ? In gänzlicher Verkennung der Sache schreibt auch die Deutsche Allgemeine Zeitung, von der man manchmal nicht weiß, ob sie Stresemann-offiziös oder Grzesinski-offiziös ist, allerlei Verwunderliches über das "nationale Heiligtum" Verdun und Somme zusammen, das nicht angetastet werden dürfe. Ebenso ist es manchem in die unrechte Kehle gekommen, daß mit ruhiger Objektivität in diesem Film, der nicht hurrahpatriotisch und nicht nationalistisch sein will, sondern eine historische, dichterische, technische Großtat ist, der Spitzbauch des Generals Foch siegreiche Fronten abschreitet, Walter Rathenaus Denkerstirn sich über Bücher beugt, nicht nur fremde Kriegsgefangene bei uns, sondern auch deutsche drüben gezeigt werden. Alle Nationen tauschen solche Bildstreifen jetzt untereinander aus; aus dem Reichsarchiv waren für den 2. Teil des Weltkriegsfilms nicht mehr als 205 Meter nötig, die bar und schwer von der Ufa bezahlt sind; jedem Zahler stehen sie da zur Verfügung.
Das meiste ist - gestellt. Wenigstens, soweit es sich um Frontkämpfe handelt. Ist das eine Enttäuschung ? Nur für ganz Unwissende. Jeder Frontkämpfer weiß doch, daß man im Trommelfeuer nicht kurbeln kann. Eine einzige solche Aufnahme, Originalaufnahme, existiert, aus einigen 100 Metern Entfernung gesehen. Der sie drehte, der Rittmeister Freiherr v.Redern, ist dabei gefallen. Auch bei dem gestellten Trommelfeuer ist es nicht ungefährlich gewesen: ein Kinooperateur wurde dabei verschüttet, konnte aber, nach einer halben Stunde verzweifelten Buddelns, noch lebend geborgen werden. Dieses Feuer ist nach langen kostspieligen Versuchen nachgebaut worden. An ein weitverzweigtes unterirdisches Drahtnetz wurden im ganzen Gelände gewaltige Ladungen gelegt und durch Starkstrom zur Entzündung gebracht, so daß die Erde sich bäumte und barst und 30 Meter hoch ihren Inhalt ausspie, ganz wie in Wirklichkeit Bäume und Unterstände und Menschen (hier Puppen) in die Luft flogen. Die ganze Feste Douaumont wurde nachgebaut, und ihre Erstürmer - Hauptmann Haupt, Oberleutnant v.Brandis, Leutnant Rathke - spielten darin ihre Rolle aus dem Kriege noch einmal. Einer der beiden Verfasser des Films, Major a.D. Soldan, konstruierte sich nach seinen Photographien erneut seinen Unterstand vor Verdun, sein Bataillons-Stabsquartier, und wiederholte darin die echten Szenen von damals. Nicht ein eiziger Schauspieler ist beschäftigt. Nur Kriegsteilnehmer und etliche junge Soldaten von heute darunter. Außerdem hat man noch die Propagandafilme aus dem Kriege selbst, die damals hinter der Front von Sturmgruppen gestellt wurden; sie wurden damals im neutralen Auslande verbreitet und sind noch heute überall zu haben. Nach dem 1. Teil, "Des Volkes Heldengang", ist dieser zweite, der die Belagerung der Mittelmächte in Europa in einem geschlossenen, durch unsere Ausfälle nur stets wieder erweiterten und ausgebauchten Ringe zeigt, vielleicht etwas quälender. Aber das schadet nichts. Wir müssen auch die Qualen des Einzelnen von damals, hier komprimiert und für ein ganzes Volk aufgezeigt, im Bilde wiedererleben, weil daraus umso heller die Heldengröße der Nation erstrahlt. "Wir waren nicht Mensch, wir waren nicht Mann, wir standen wie Stein und wie Stahl!", heißt der Leitvers. Auch für die Heimat mit ihren arbeitenden Frauen und darbenden Kindern; die ganze Brotkartenzeit mit ihrem Schlangestehen nach 30 Gramm Margarine für die Woche ersteht für uns und - auch der "Schieber" bei Hennessy und Importen wird uns nicht verheimlicht. Wahrheit, Wahrheit! Nur ganz knapp hie und da eine winzige Prise Sentimentalität, aber auch die gehört ja zum wahren deutschen Wesen. Das "Stille Nacht, heilige Nacht" im Unterstande am 24. Dezember ist kein Kitsch. Außerdem steht die Realistik des Sichlausens dicht daneben. Und dazwischen immer wieder, das war schon im 1. Teil das Fesselndste, die Trickfilme, die die großen Operationen versinnbildlichen, das Herumwerfen der Millionenheere vom Westen zum Osten, vom Osten zum Westen, das Überrennen der russischen Festungen, das Einbeulen der Verdunfront. Man vermißt, abgesehen von einer kleinen Episode, die Darstellung der Flottenkämpfe. Die Marine will, wie ich höre, mit einem eigenen Seefilm herauskommen. Schade. Unsere Flotte war der rechte Flügel der Nation und außerdem überall ihre Ausfallkraft, bis Finnland hinauf und bis zu den Dardanellen und tief in alle Ozeane. Sie gehört untrennbar dazu. Daß man dies im Kriege nicht überall erkannte und sie vielfach für ein politisches Reservekapital hielt, das nicht riskiert werden dürfe, ist ein Fehler, den wir fortsetzen und verewigen, wenn wir jetzt einen Sonderfilm für sie herausbringen.
Nach dem Weltkriegsfilm kommt man nach Hause und läßt am Rundfunk die Welt bei sich antreten. Es gibt dafür keine Blockade mehr, man greift sich nach Belieben alles aus der Luft. Also hier ist Toulouse. Da tanzen sie auch Black Bottom. Gerade sagt der dortige Sprecher: Und nun hören Sie die süßen Melodien der "Airs" von . . ., da blökt irgendein Schiff auf dem Mittelmeer ein dringendes Privattelegramm dazwischen: "Tä, tätätää, täätä, tätä, tä". Die englische Station Daventry gibt Motive aus Schumanns Musik mit Erläuterungen eines Vortragenden. Rom bringt eine Operette als Sendespiel. In Moskau hat ein Theaterchor gesungen, ein Foxtrott setzt ein, und der dortige Alfred Braun sagt nicht, wie es bei uns der Fall ist, "Auf Wiederhören!", sondern "Auf Wiedersehen!", do ßwidanija. So weit sind wir noch nicht; das kommt noch, daß wir mit Newyork nicht nur wie jetzt uns unterhalten, sondern uns dabei auch sehen können.
Nun warte ich nur noch, bis die erste Personenpost als Rakete nach dem Monde abgeht. Wenn wir bis dahin nicht unser altes, freies Deutschland wieder haben, schließe ich mich der Expedition an. Sage dann aber nicht: Auf Wiedersehen.
16. Februar 1928 (Donnerstag)
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Bevorzugte Autos - Krantz und Scheller - Der sozialistische Schülerbund - Tanzlehrer Graf Lerchenfeld - Akademieball - Das Kostümfest der engagementslosen Schauspieler - Meine Tragödin.
In der Republik sind wir alle gleich. Nun wenn schon, sagen unsere Zollernprinzen, denn sie sind nicht humorlos. Nur müßten wir auch wirklich alle gleich sein. Auch das sei zugestanden, daß Polizei und Feuerwehr einen Vorrang haben müssen. Einmal habe ich sogar einen Voteil davon gehabt, im vorigen Herbst bei Hindenburgs achtzigster Geburtstagsfeier, als ich in einer Autodroschke zum Stadion hinausfuhr. Es gab Stockungen, man kam nicht mehr vorwärts, das Ausbiegen in Nebenstraßen half nicht. Da sah ich die Wagennummer des Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel. "Dahinterklemmen!", rief ich meinem Kutscher zu. Und wahrhaftig, es ging. Der Wagen des Polizeipräsidenten fuhr nämlich einfach - auf den Bürgersteig, wir hinterdrein, nachher gab es eine Lücke zum Wiedereinschlüpfen auf die Straße, an der nächsten Sperrung öffnete sich die Schutzmannskette vor dem bekannten Wagen, wir hinterdrein, und so ließ ich mich bis zum Stadion lotsen. Leider ist es aber nicht nur Polizei und Feuerwehr allein, die bevorzugt wird. Die Republik ist trotz aller Gleichheitstheorien ein Obrigkeitsstaat geworden, in dem es überall nach der Extrawurst duftet. Neulich, als wir das letzte Mal Schneefall hatten, war das Kronprinzenpaar mit zwei Gästen in's Große Schauspielhaus gefahren. Nach der Vorstellung versuchte der Kronprinz vergeblich sein Auto aus der Karlstraße vorzuholen. "Vorfahren is nich!", sagte instruktionsgemäß der Schutzmann. Also die Damen wateten durch den Matsch. Nun wenn schon. In demselben Augenblick aber spritzte ein Auto vor und marmorierte sie mit dem Straßenschmutz, dieses Auto durfte vorfahren, denn in dieses Auto stieg - Frau Käte Stresemann.
Was ich damit beweisen will ? Daß es schlechter bei uns geworden ist ? Bewahre! Sondern nur, daß im Grunde immer alles beim Alten bleibt. Nur die Personen wechseln. Ich sage jetzt auch nicht etwa, daß "früher" ein solcher Kinderprozeß, wie wir ihn jetzt in Moabit erlebt haben, unmöglich gewesen wäre. Sind unsere Kinder so viel schlechter geworden ? Gab es früher nie eine Hilde Scheller ? Wer das "Nixchen" der Frau Helene v.Mombert (Hans v.Kahlenberg) [recte: Helene Monbart-Keßler] vor 25 Jahren gelesen hat, der weiß doch Bescheid. Auch über Günter Scheller und Paul Krantz genügen ein paar Randbemerkungen, damit die verstörten Eltern aller Stände in Deutschland wenigstens erfahren, um was für Kreise es sich da handelt. Günter ging zu einer Horde des Reichsbanners Schwarzrotgold und zeichnete sich bei einem Überfall dadurch aus, daß er einem nationalen Jung-Bismärcker ein Messer in den Rücken stieß. Der Primaner Paul Krantz aber, der neue Berliner Nationalheld, schreibt jetzt - für ein kommunistisches Abendblatt seine Memoiren. Klar, daß diesem "Proletarierkinde" die Sympathien der Straße gehören. Übrigens hat die Straße Alt-Moabit auch früher, unter dem Kaiserreich, solche Ovationen bei allen Sensationsprozessen gesehen. So bei der Verhandlung gegen den Bankier Sternberg, der sich an kleinen Schulmädchen vergangen hatte. Oder bei der Verhandlung gegen die Gräfin Kwilecka, die der Kindesunterschiebung angeklagt war. Es finden heute auch nicht mehr Verbrechen als früher statt, nachdem wir die Revolutions- und Inflationszeit überwunden haben, nur ist das öffentliche Urteil anders geworden. Es ist lauter und frecher. Es leugnet Gut und Böse. Es vernichtet Autorität und Ehrfurcht. Das ist das Ergebnis der revolutionären Welle, die schon vor Jahrzehnten, lange vor dem Umsturz, ihren Anstoß erhielt. Wie sich das auswirkte, habe ich schon während der ersten russischen Revolution, 1905, als ich den Grafen Leo Tolstoj in Jasnaja Poljana besuchte, feststellen können. Ich hatte hie und da auf dem Wege zu ihm in Städten und Städtchen eine unglaubliche Verwahrlosung der russischen Gymnasialjugend beobachtet. Ich sagte ihm, wie seine Lehre mißverstanden werde. Ich sagte ihm, jetzt tue eine Botschaft von ihm not, denn auf sein Wort höre man doch. Da faltete der alte böse Narr und Komödiant seine Hände und erklärte: "Nein, es ist eine neue Zeit! Heute müssen die Eltern den Kindern gehorchen!" Ganz Ähnliches kann man in Berlin hören. Der Berliner "Sozialistische Schülerbund" hat in der vom Magistrat zur Verfügung gestellten Stadthalle jetzt eine Versammlung abgehalten, in der rote Genossen über den Scheller-Krantz-Prozeß referierten, der städtische Bezirksarzt Hodann und die bekannte Helene Stöcker. Vor zweihundert Kindern, zum Teil zwölf- und dreizehnjährigen, wurden Intimitäten der Affäre vorgetragen, wurde für freie Liebe plädiert, das "veraltete" Autoritätsprinzip der Eltern angegriffen. Hilde Scheller wurde mit den Worten entschuldigt: "Auch reiferen Menschen pflegt es zu passieren, daß der Gegenstand ihrer Neigung wechselt!" Ich wiederhole: die Menschen sind nicht schlechter geworden, aber man versucht es, sie zügelloser zu machen, was früher nicht als erlaubt galt. Man tut dies mit vollem Bewußtsein. Diese jungen Menschen sind ein Wertobjekt für die Partei; denn über kurz oder lang sind sie einmal Wähler, und da sagen sich die Demagogen, daß diese Wähler dem zufallen müssen, der ihnen die "Freiheit" am lockendsten nahebringt. Nieder mit den Eltern! Fort mit dem Schulgesetz! Es lebe die junge Internationale! Uns kann keener!
Mit einiger Genugtuung stellt man nur fest, daß aus dem Kostümball, zu dem Hilde Scheller auf den 29. Februar in ihr Elternhaus geladen hat, nun wohl nichts werden wird. Denn das Mädchen kommt in Fürsorgeerziehung, weit weg von ihrer ganzen Umgebung. Etwas haben wir von der alten Staats- und Gemeindehoheit also noch überkommen. Außerdem ist Aschermittwoch vorbei, und die Zahl der öffentlichen und privaten Kostümbälle war diesmal Legion.
Es ist wirklich schon so, daß der Mensch, der nicht tanzen kann, heute als Spielverderber gilt. Die trunk- und skatfesten Männer - ich weine ihnen keine Träne nach - scheinen auszusterben. Eine Teilung der Gesellschaft in eine weibliche Schar, die sich über Dienstboten unterhält, und eine Gruppe von Männern, die sich Mikoschwitze erzählt, gehört heute zu den historischen Erinnerungen. Die ältesten Herren müssen jede Tante betanzen. Wenn sie sagen, sie verständen das nicht, so weist man sie daraufhin, daß es heute überall Tanzunterricht für ältere Herrschaften gebe, zum Teil sogar kostenfrei. Da lädt eine Anzeige in das Electrola-Haus in der Leipziger Straße, wo die Baronin Dewitz und der Graf J. Lerchenfeld sich die Ehre geben würden, das p.t. Publikum umsonst in die Weisheit des englischen Walzers oder des argentinischen Tango einzuführen. Die Namen locken. Welche Dewitz das ist, die da immer noch elegant, aber mit sehr ausgearbeiteten Muskeln und Sehnen vortanzt, weiß man nicht gleich. Lerchenfelds Großvater war noch Präsident der Reichsräte und alles mögliche sonst noch; der etwa vierunddreißigjährige Enkel aber gibt jetzt privat Tanzstunde und wirbt dafür zahlende Schüler durch Gratistanzen in der Electrola. Ein Kursus vor zwei Jahren im Kaiserhof ging nicht recht. Die Konkurrenz ist zu groß. Unsereins hat noch immer ein etwas peinliches Gefühl, wenn ein Graf Reventlow in der Valencia mimt, ein Graf Montgelas für die nachgerade verjunkerten Ullsteins schreibt, ein Graf Lerchenfeld in der Electrola vortanzt. Man wird rot. Aber man sieht ja schließlich, wie kühl es die Leute nehmen. Es ist gar nicht so peinlich. An der Langwand im oberen Saal des Electrolahauses sitzt unter vielen anderen Damen meine Frau; wir haben abgemacht, daß wir uns nicht kennen. An der anderen Langwand und hinten am Eingang sitzen auch noch Damen zu Hauf, fast alle in sehr ehrbarem Alter, so daß ich wie Napoleon an den Pyramiden das Gefühl habe: fünf Jahrtausende sehen auf mich, der ich als Einziger und als einziger Mann an der Schmalwand sitze, hernieder. Von der einen Langwand löst sich, während das Paar Dewitz-Lerchenfeld zuerst einen sanften Black-Bottom vortanzt, energisch eine Dame im Großmutterjahrgang, steuert - den Stuhl in der Hand - auf mich zu und ruck - ruck - ruckt an meine Seite. Also ich muß. Aber sie kann nicht. Sie hat keine Ahnung von rhythmischem Gefühl. Achtundfünfzig Frauenblicke spießen mich. "Sehen Sie nur, wie der Mensch tanzt! Das ist doch einfach katastrophal!", zischt eine der Damen ihrer Nachbarin zu, - meiner Frau. Da setzt gerade eine Pause ein, setzt neue Musik ein, und der Gtaf Lerchenfeld verkündet: "Damenwahl!" Denn noch zwei Herren werden entdeckt, die sich im Hintergunde verdrücken und auch nicht tanzen wollen. Also mit der Begründung "Aber der hat doch wenigstens Mut gehabt, anzufangen!" chassiert meine Frau quer durch den Saal zu mir und fordert mich zum Charleston auf und erzählt mir ihr Erlebnis. "Wenn Du mir jetzt Du sagst, trete ich Dir die Lackschuhe kaputt!", sage ich. Dann separieren wir uns wieder. Mühsam, sehr mühsam kommt weiter ein bißchen Tanz zustande. Es wollen alle nur zusehen, nicht "für umsonst" Unterricht nehmen. Einige wenige nehmen wenigstens das Adreßkärtchen der Baronin und des Grafen, auf dem Grolmannstraße 12 steht, entgegen. Es ist ein saures Brot. Alle Achtung vor jeder ehrlichen Arbeit, auch vor der Tanzlehre, aber ich kann mir liebere Arbeit vorstellen.
Auf den Massenbällen gibt es trotz aller Tanzpädagogik im wesentlichen doch nur Geschiebe und Gehopse. Und in der Fastnachtszeit in Berlin nicht einmal die fröhliche Beschwingtheit, die man am Rheine kennt. Ich denke da an ein Erlebnis zurück, wie es dort am Rosenmontag in Köln ganz alltäglich ist. Ecke Budengasse und Untertaschenmacher in der Altstadt. Ein altes Kaufhaus. An dem Tage natürlich geschlossen, nur an den Fenstern stehen die angestellten Verkäuferinnen und befreundete Damen. Da klopft es. Nach dem Öffnen stürmen drei junge Männer in Affentracht herein, springen über den Ladentisch, klettern geschwind zu den höchsten Regalen hinauf, fressen dort eine Apfelsine, spucken die Schalen hinunter, rutschen dann in einem Hui abwärts, küssen hintereinander weg sämtliche Ladenmädchen und die übrige Weiblichkeit, und schon sind sie wieder hinaus. Der eine von ihnen ist der älteste Sohn und Erbe des alten Kölnisch-Wasser-Patrizierhauses Johann Maria Farina. Es ist alles harmlos, neckisch, ausgelassen. In Berlin ist man schwerfälliger und ehrbarer, da werden nicht alle Mädercher [sic!] "abgebützt", sondern man geht nur mit seinem Mädel auf den Ball, und wenn es ein Kostümball ist, so hat man da das hergebrachte Recht, in irgendeiner Knutsch-Ecke seinem Schatz einen Dauerkuß zu geben. Am besten konnte man dies auf dem Kunstakademieball studieren. Schade, daß ich keinen grauen Schnurrbart habe. Wer einen hatte, der wurde nämlich Herr Professor genannt, und dem fielen immer wieder die nettesten jungen Krabben in die Arme und um den Hals; und es gab viele Herren Professoren. Die jungen Pärchen aber gaben sehr bald das Tanzen auf und suchten sich ihre Schwalbennester. In den ewig langen Korridoren der Hochschule baumelten überall Mädchenbeine von den Schränken, sofern sie nicht sorglich von den auch oben hockenden Jünglingen empor und in den Arm genommen waren.
Solcher "repräsentativen" Festlichkeiten mit vielen Tausenden von Besuchern wird man bald müde. Es gibt dergleichen, weil die Unternehmer das Geschäft machen wollen, noch bis in den April hinein, nur nimmt die Besucherzahl sichtlich ab. Am Fastnachtsabend selbst habe ich noch etwas ganz Ausgefallenes erwischt. Nämlich das Kostümfest der Gewerkschaft erwerbsloser Bühnendarsteller und Darstellerinnen in Berlin, das in den Sälen des Lehrervereinshauses am Alexanderplatz begangen wurde. Von der Not dieser Leutchen hat die große Welt keine Ahnung. Es sind ihrer über zweitausend in Berlin, keine Schmierenkomödianten, sondern zum Teil erste Kräfte, die jetzt brachliegen und "stempeln" gehen müssen, wöchentlich ihre Erwerbslosenunterstützung abholen. Noch ärger als die Not drückt das Nichtstun. Man hat kein Publikum, und das ist doch Lebensatem. An diesem einen Abend aber tut man wieder was, da gibt es einen Akt "Fledermaus", da gibt es Gesang, Deklamation, Kabarett, Tanzvorführung, flammende Reden an die deutsche Nation voll Erbitterung gegen die in Brot und Gehalt stehenden Prominenten, die angeblich kein Herz für die armen Kollegen und Kolleginnen haben. Gleich in der Garderobe führt mich mein Schicksal mit einer ehedem sehr gefeierten Dame zusammen, einer pompösen Dame, die unter anderem am Königlichen Schauspielhaus und am Wiener Hofburgtheater engagiert war. Diese Dame hatte außerdem den sehr wesentlichen Vorzug, Ballmutter von drei blutjungen netten Käfern zu sein. Da man in der Garderobe trotz Fastnacht sich noch nicht gleich duzt, sagte ich Gnädige Frau zu ihr, als sie mich nach etwas fragte. Aber da brauste sie auf: "Bitte sehr, immer noch Fräulein, wenn auch gereifte Frau! Ich bin aber nicht Männerfeindin. In wen anders kann eine Heldin denn verliebt sein als in den Tenor ? Ich war sogar verlobt mit dem Schuft!" Großartig. Für den Anfang ganz reizend. Auf dem ersten Treppenabsatz erfuhr ich: "Der Hoftheaterintendant hat zu mir gesagt: o Gott, wie kann man nur so schön sein!" Im Saale selbst, an unserem Tisch, gestand sie: "Jetzt bin ich nur noch Stempeltante. Die Schränke voll prachtvoller klassischer Kostüme. Aber vollkommen pleite. Morgen werde ich aus meiner Wohnung herausgeschmissen!" Das Interesse der großen Tragödin an mir kühlte sich aber ab, als ich auf eine Frage von ihr erwiderte, nein, Großindustrieller sei ich nicht. Gerade einen solchen suche sie, sagte sie, denn nur ein solcher könne ihr die dramatische Schule einrichten, die sie leiten möchte. Und dann packten die vier Damen ergeben ihre Pergamente auseinander, in denen die mitgebrachten Brötchen mit Schlackwurst lagen; das übrige letzte Geld hatte der Friseur für diesen Abend bekommen. Die weiblichen Erwerbslosen auf diesem Ball überwiegen. Manchmal ist man erstaunt, daß sie erwerbslos sind. Da tanzt auf der Bühne Fräulein Teichgräber, schlank, sehr hochgewachsen, hübsch, eine Augenweide für jeden Bildhauer, der eine Aphrodite modellieren möchte. Sie war an der Staatsoper, sie ging zur Charell-Revue. Jetzt möchte sie den Weg zurückfinden. Kein Abweg reizt sie.
Das Knallen des ersten Sektkorkens macht Sensation. Nein, das kann sich keiner von der Gewerkschaft leisten; das ist Publikum. Die vom Bau trinken Selters oder gehen eine Treppe tiefer zum Bier. Ein einziger junger Dachs, so ein richtiger begeisterter Mortimer, der Anschluß an eine private Sektecke gefunden hat, hat sich etwas beschnickert. Die Kohlensäure stößt ihm auf. Man könnte sogar sagen: er rülpst wohlig und lange. Rundum ertönt ein "Aber! Aber!" Doch er sieht die Leute verständnislos-glückselig an und sagt nur: "Auf Wiederhören in zwei Minuten!"
23. Februar 1928 (Donnerstag)
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