"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 22 - 24
11. bis 25. Februar 1926


22

Die Flasche Mosel - Dionysische Kostümfeste - Der Fünf-Minuten-Kuß - Bei Jussuf Abbo - Machen Sie Coué ? - Doof und doover - Schönheitskonkurrenz in der Philharmonie

Mit dem fröhlich gegrunzten Schlachtruf "Ich alleine kann den Mittelstand doch nicht retten" bestellt Papa Giesecke die zweite Flasche Wein. Bloß nicht immer von Geschäftsaufsicht reden! Schlagen wir mal den Taler auf den Kopp! Also das ist die Stimmng, die man im heurigen Karneval hiue und da findet, weil der Mensch nun mal gelegentlicher Ausgelassenhaeit bedarf, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber die zweite Flasche Mosel, die vor Papa Giesecke steht, war früher um diese Zeit schon die dritte Flasche Champagner. Eine Flasche Mosel und zwei Selters decken heute den Bedarf einer fünfköpfigen Gesellschaft im Verlauf von sechs Ballstunden.

Stiller und gesitteter geht es auf den Kostümfesten zu, verträumter und altväterischer als noch vor zwei Jahren; doch der Geist leidet nicht darunter, daß man an geistigen Getränken spart. Ein leiser schalkhafter Übermut, wie man ihn sonst nur am Rheine kannte, taucht auch im Berliner Maskengewühl gelegentlich endlich auf. Wir werden kaum je so weltmännisch wie Hamburg, so künstlerisch wie München unsere Lebenslust konfektionieren, aber es hat diesmal doch den Anschein, als gelinge uns das fröhliche Aus-der-Haut-Fahren. Es ist, soweit ich es beobachten kann, nicht mehr alles auf Schampus und Sexus, auf möglichst schnellen "Anschluß" in jeder Form gerichtet, sondern eine geistig freie, heitere Tändelei liegt in der Luft, man hat seine Freude an farbenschöner oder geistvoller Mummerei, und man balanciert sorglos an der weitgesteckten haarscharfen Grenze, die das Neck- und Liebesspiel von der Tragik trennt. Erstaunt stellt man fest, daß auch deutsche Damen flirten können. Irgendwo "an der Treppe" treffen sich allstündlich Mann und Frau und drücken sich lachend die Hände für ein paar Kontrollminuten, aber in der Zwischenzeit sind sie in dem bunten Gewühl der Tausende untergetaucht, sind keck und reizen den und jenen, die und jene zu dem prickelnden Spiel mit der Gefahr, die doch keine ist, nur lustig gehimmelt wird, auch wenn sich enger als sonst die Leiber drängen und lockender als sonst Konturen sich enthüllen. Wer wirklich Abenteuer sucht, der braucht in der Großstadt dazu kein Kostümfest; nur kann er hier mal lieben Menschen Liebes sagen, ohne daß es gleich zum klagbaren Primawechsel wird. Was, alter Freund, du hast meiner Frau einen dauerhaften Fünf-Minuten-Kuß angeboten ? Paß' auf, wie ich mich in deiner Verwandtschaft schadlos halte: schon liegt Hamlets Haupt in Ophelias Schoß! Dionysische Lust beschwingt Körper und Geist, vielleicht kommt es auf dem noch ausstehenden letzten Gauklerfest der Malerschule Reimann auch noch zu bacchantischem Tollen, aber der trunkene Silen fehlt in dem Bilde.

Der Bock aber scheint da zu sein. Mit der Wishanskaja, der kommenden Revolutionärin der Tanzkunst, sitzt ein Exote beisammen, dessen blauschwarzes Wuschelhaar und sonstiges Äußere auf Künstlergilde deutet. Ich spreche ihn in allen mir bekannten Sprachen an. Er aber senkt nur den Kopf und stößt damit nach mir. Sieh dich vor, mein Böcklein! Gleich antworte ich mit einem Kinnhaken! Aber schon sind wir gut Freund, so gut man es auf einem solchen Kostümfest sein kann: Jussuf Abbo wird ganz friedlich. Aus Sajed stammt er, dem kleinen arabischen Städtchen aus dem Grenzland zwischen Syrien und Palästina, ist Bildhauer und Graphiker, und Arbeiten von ihm finden sich in der Berliner Nationalgalerie, in den Museen in Hamburg, Mannheim, Chemnitz, und die Galerie von Garvens in Hannover hatte einmal eine Sonderausstellung für ihn veranstaltet. Ei der Tausend! Man ahnt nicht, was auf Berliner Pflaster alles herumläuft.

Diesen märchenhaften Jussuf aus dem Morgenlande muß ich wirklich aufsuchen. Siehe da, er kann ja ganz gut Deutsch sprechen! Er gibt mir richtig seine Adresse an; nur sollte ich vorher schreiben. Dann werde er mich in seinem Atelier erwarten. Inschallah.

Der Brief ist da, ist richtig angekommen, liegt aber natürlich, wie wir nachher feststellen, noch im Kasten. Der Briefkasten selbst, an der Nachbartür, gehört einem anderen Künstler. Man hilft sich eben aus. In dem großen Gebäude, am Ende eines Gartenhofs im Berliner Westen, gibt es in allen Stockwerken nur Ateliers, Kostenpunkt 75 Mark monatlich. Die sind in heutigen Zeiten, wo so verdammt wenig Leute sich noch in Marmor aushauen lassen oder sich irgendeine kleine Zierplastik erwerben, schwer genug aufgebracht. Nach etlichem Palaver durch die Türritze und längerem Warten hat Jussuf Abbo mich endlich eingelassen und entschuldigt sich, daß er trotz des warmen Ofens heute in so verfrorener, abgestorbener Stimmung sei: gerade habe er ein geschäftliches Gespräch mit dem Hauswirt gehabt. Je nun, einen Hauswirt habe ich mir bisher anders vorgestellt; gerade ist ein junges rosiges Mädel weggeschlüpft. Es gibt natürlich immer solche Schwierigkeiten beim Künstlervolk. Da sind beispielsweise, sagen wir einmal, Damen, die Stunden im Aktzeichnen nehmen, andere, die Akt stehen, und wieder andere, die vielleicht durch mehr menschliche als künstlerische Beziehungen mit dem Atelierinhaber verbunden sind. An der Tür eines anderen Ateliers prangt die Inschrift:

"Wer diese Tür ohne meine Zustimmung
öffnet, tut es auf eigene Gefahr;
ich lehne jede Verantwortung für die
etwaigen Folgen ab."

Also Jussuf Abbo, der Mann aus Safed, der Stadt der großen Mystiker und Heiligen, gehörte zu den Bildhauern, die zum Bau der deutschen Auguste-Viktoria-Stiftung auf dem Ölberge berufen wurden. Von ihm stammen u.a. die Stifterwappen um den großen Kamin im Festsaal. Da lernte er Deutsche kennen und Deutsch, und kam 1911 ganz zu uns herüber. Vor zwei Jahren veranstaltete das Kupferstichkabinett in Berlin eine Ausstellung von Bildhauer-Graphik, von Rauch und Schadow angefangen bis zu Rodin und Barlach; da hatte Abbo drei große Wände, und etliches von ihm erwarb das Kabinett. Manche seiner Plastiken verrät, mir sehr unlieb, den Einfluß des Ganzmodernen Lehmbruck, aber das, was er mit wirklich liebender weicher Hand formt, namentlich Frauen- und Kinderköpfe, das ist von bisweilen träumerischer Schönheit. Das "Mädchen in der Dämmerung" existiert schon in zahlreichen Abgüssen in vielen Privathäusern.

Heute lebt Jussuf im wesentlichen anscheinend von Zigaretten. Es geht ihm immer noch besser als manchem deutschen Bildhauer, der Drehscheibe und Spachtel schon verheizt hat. Das Engerschnallen des Leibriemens allein genügt nicht mehr.

Was macht man denn in äußerster Not ? Diogenes konnte in einem Lande, wo ständig warm die Sonne scheint und wo Weintrauben und Oliven einem überall in den Mund hängen, mit einer Tonne vorliebnehmen. Das geht in unseren Breitengraden nicht. Aber wozu haben wir denn "die Kraft des Gemütes", wenn nicht zum Überwinden aller äußeren Mißhelligkeiten ? Ich kannte einen Gymnasialdirektor in Gütersloh in Westfalen, den seit Jahren eine Magenerweiterung täglich mit furchtbaren Schmerzen peinigte. Da schrieb er - ein Buch über die Freude! Die Welt ist ja nur Wille und Vorstellung. Alles ist mit Suggestion zu machen. Das hat man immer schon seit Urzeiten versucht, auch schon vor hundert Jahren, wie es die Gräfin Sophie von Schwerin in ihren Lebenserinnerungen beschreibt, die Fahrt meine ich zu dem Wunderdoktor in Frankreich, und so ist es noch heute. Der neue Modeprophet ist ein Apotheker in Nancy, und wenn dir heute in Berlin jemand begegnet, ist seine zweite Frage sicher die:

"Machen Sie auch Coué ?"

Wie man das macht ? Ganz einfach! Man sagt sich einfach vor, daß es einem alle Tage besser gehe. Die Einbildungskraft, die Autosuggestion, als Heilmittel. Einer der vielen Schüler Coués, die jetzt täglich in verschiedenen Sälen Berlins Vorträge über die Methode halten, Leon Hardt, erzählt uns, er habe vorgestern solch einen Schnupfen gehabt, daß er aus keinem Auge sehen konnte. Dreißig Taschentücher habe er verbraucht. Gekrächzt habe er wie ein Rabe. Und nun doch heute mit klarer Stimme den Vortrag ? Jawohl! Er habe sich einfach immer vorgeredet: "Ich kann den Schnupfen jetzt nicht brauchen, also wird er gleich vorübergehen!" Und weg war er! Sagt Herr Leon Hardt. "Kann man so auch Hühneraugen entfernen ?", ruft da ein Herr aus dem Publikum und erweckt eine stille Heiterkeit. Natürlich bin ich davon überzeugt, daß man Einbildungskrankheiten durch Einbildungskräfte heilen kann. Mancher "nervöse" Kopfschmerz, manche Lähmungserscheinung, manche Zwangsvorstellung, auch das auf Mangel an Selbstbewußtsein beruhende Stottern kann einem wegsuggeriert werden. Die Liste der beispilesweise in Lourdes beseitigten Krankheiten ist noch viel größer. Aber - die Heilung hält nur so lange vor, als die Einbildungskraft vorhält, der Glaube. Herr Leon Hardt schießt schon über das Ziel hinaus, wenn er behauptet, unfruchtbare Ehen durch Coués Methode mit Kindern segnen zu können; die Damen sollten mit ihren dahin zielenden Wünschen nur vertrauensvoll in seine Sprechstunde kommen. Hier ist wirklich die Grenze des polizeilich Zulässigen, sonst erleben wir Fürchterliches durch das neue Heer von Quacksalbern, das jetzt unter der Firma des Apothekers von Nancy über alle Lande sich ergießt. Wenn der achtundsechzigjährige Coué mit seinen großen guten Augen einen Kranken ansieht und beschwörend auf ihn einredet:

"Ça passe, ça passe, ça passe!",

dann ist die suggestive Wirkung erklärlich, aber die Dame, die mit neuralgishen Schmerzen auf das Podium kam, wurde sie bei Leon Hardt trotz seines herrischen "Es geht vorüber, geht vorüber, geht vorüber!" doch nicht los. Dabei will er sogar Lungentuberkulose heilen können! Ebenso nehmen die Hunderte anderer Couéisten den Mund gar voll und werden so zu einer Gefahr für die Volksgesundheit, weil sie von der ärztlichen Hilfe die Leute abhalten. Wir gebildeten Deutschen sind freilich immer noch skeptischer als die Franzosen, der Vortragende wird ein bißchen verulkt, man fragt ihn, ob er die Seekrankheit abschaffen könne und warum er nichts gegen seinen Kahlkopf tue, und in der Pause herrscht in der Garderobe des Blüthnersaales eine kolossal vergnügte Stimmung. Eine Dame sagt, sie habe das System erprobt. Sie sage sich dauernd vor:

"Ich werde alle Tage doof und doover! Ich werde doof und doover! Ich werde doof und doover!" - und wahrhaftig, es sei auch so. Der beste Beweis für die eigene Dummheit sei doch, daß man aus Neugier zu solch einem Vortrag hinlaufe. Es gebe doch Besseres in Berlin zu sehen und zu hören.

Sie haben vollkommen recht, meine Gnädigste! Also gehen wir zur Auswahl der 200 schönsten Damen Berlins. Am Donnerstag nachmittag von 3 bis 5 Uhr im großen Saale der Philharmonie. Die Erwählten bekommen eine freie Ehrenkarte zum Fastnachtsball der Karikaturisten.

Die Berlinerin ist wirklich besser als ihr Ruf. Es strömen nicht, wie alle Welt vermutet, Tausende junger Mädchen zusammen, um sich von Männerblicken taxieren zu lassen. Unter den Preisrichtern sitzt zwar der gütige und humorvolle Fritz Koch-Gotha, dem man mit kindlichem Vertrauen in das väterliche Auge schauen kann, aber auch Willi Jaeckel-Berlin, der in dem Rufe steht, Frauenschönheit sehr intensiv Quadratzentimeter um Quadratzentimeter zu prüfen. Nur 163 Damen stellen sich zur Konkurrenz. Kaum eine aus der sogenannten Geesellschaft, deren gepflegte Gesichter in den Bilderzeitschriften erscheinen, keine von Bühne und Film, auch keine der Berufsschönheiten vom Tanzpodium; auch nur annähernd so nette Frätzchen wie die der Lissy aus der Bonbonnieère oder der Carmen aus Rokoko sucht man hier vergeblich. Nein, fast alles sind kleine vergnügte Bureaufräulein, denen es weniger auf ein offizielles Schönheitspatent als auf den freien Eintritt zum Kostümball ankommt. Bis zur Buchhalterin im gefährlichen Alter. Zwei Mädelchen werden sorglich von ihren Müttern begleitet. Die Mütter gehen auch auf das Podium und - kommen auch in die Stammrolle der Berliner Schönsten. Nur etwa ein Dutzend Bewerberinnen wird, damit die Geschichte den Charakter einer Auswahl behält, von der Pramiierung ausgeschlossen. Die sind natürlich entrüstet, und während die anderthalb Hundert Auserwählten sich zur photographischen Verewigung ordnen, zischen die Zurückgewiesenen zum Podium empor:

"Natürlich gemeine Schiebung! Lauter miese Bestecke sitzen da!"

Klappen dann nach dieser Gefühlerleichterung ihre Spiegelköfferchen auf, bestätigen sich durch Augenschein als die Schönsten im ganzen Lande, schminken sich die sowieso glühenden Ohrläppchen nach und verlassen zornentbrannt den Tempel.
11. Februar 1926 (Donnerstag)


23

Fastnachtspunsch - Ach neige, du Schmerzensreiche - Das verödete Tanzkabarett - Beim Hungerkünstler Jolly - Die Grausamen und die Leichtsinnigen - Der fliegende Hut - Damenkaffee - Bierabend beim Kronprinzen - Der Ehemann als Tänzer

Bei uns im mittleren Norddeutschland bedeutet der Aschermittwoch keinen Schlußstrich unter der Wintersaison. Nach wie vor gleicht ein Tag dem anderen; nur hat es am Fastnachtsdienstag auf allen privaten und einem Teil der öffentlichen Lustbarkeiten nach Mitternacht statt der üblichen belegten Brödchen und dem Glase Bier einen Haufen Berliner Pfannkuchen und heißen Punsch gegeben. Vorsichtige Gäste nippen nur. Wer aber seinen Magen zu einem Ausstellungsraum für eine Musterkollektion verschiedenster Alkoholika macht und dem Wein, dem Champagner, dem Kognak, dem Bier auch noch "Platz da für den Punsch!" zuschreit, der soll sich nicht wundern, wenn Revolution ausbricht und aus dem Chaos ein Kater von Dinosauriergröße geboren wird. Man stößt am Aschermittwochsmorgen deshalb hier und da auf traurige Menschentrümmer. Aber unter unserem Breitengrade doch sehr selten. Das Gros der Berliner Menschheit ist um Fastnacht genau so vernünftig wie sonst. Man will sich doch - für den Ball am Mittwoch, den Gesellschaftsabend am Donnerstag, den Tanztee am Freitag, das Kostümfest am Sonnabend die Visage und die Sprunggelenke nicht ruinieren und außerdem natürlich seine Tagesarbeit gründlich wie immer erledigen.

Auch für die Berliner Gretchen ist nicht der Februar, sondern der Mai der gefährliche Monat. Nicht der Fastnachtstanz, sondern der Osterspaziergang lockert die Gemüter, obwohl alle weiblichen und männlichen Tanten der Welt das Umgekehrte behaupten. Um Bußtag herum bricht dann die Reue aus. Nur reimt sie sich anders als bei Goethe, der nicht Hochdeutsch, sondern Frangfordersch sprach und daher denn auch dichtete:

Ach neiche,
Du Schmerzensreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Es sind heute andere Nöte, die die Menschen in die Knie zwingen. So überströmend einem auch die großstädtische Lust erscheint, weil sie auf Massenkonsum eingerichtet ist: sie ist wirklich bescheidener als je und dient wieder nur zu kurzem Übertäuben. Frau Sorge geht durch das Land. Überall hört man von erwachsenen unterstützungsbedürftigen Angehörigen. Im Vergleich zu früher ist der Vergnügungsetat daher nur ein winziger Bruchteil der Ausgaben geworden. Sonst wäre es ja auch nicht denkbar, daß so viele Unterhaltungsstätten eingehen. In dem typischen Berliner Tanzkabarett, einige wenige gutgehende ausgenommen, sieht es jämmerlich aus. Da sitzt als steinerner Gast bei der billigsten Flasche Wein zu Studienzwecken der graubärtige Professor. Da gehen wieder, da es ihnen finanziell nicht geheuer vorkommt, drei Banklehrlinge. Da tanzen, ohne viel zu verzehren, zwei Ehepaare. Da starrt ernüchtert in das leere Lokal ein junger Guck-in-die-Halbwelt aus Oberprima real. Da drücken sich hungrig ein paar Bureaugirls herum. Sonst niemand. Kein "Betrieb" mehr.

Und da jedermann damit rechnen muß, daß eines Tages auch an ihn das Hungern kommen könnte, übt der - Hungerspezialist eine magische Anziehungskraft aus. Leute aller Stände, die anoch fette Frau Generaldirektor und der hagere Adressenschreiber, die ausgezehrte Rechnungsratswitwe und der vierschrötige Bierkutscher, arm und reich, jung und alt, drängen sich durch die Räume des "Hackepeter" in der nördlichsten Friedrichstraße, dessen Schaufenster mit Schinken und Eisbein verlockend überladen sind, bis in den Saal ganz hinten, der gegen 50 Pfennig Eintrittsgeld zugänglich ist. Da liegt in einem versiegelten Glashäuschen der Wundermann Jolly, ein Mensch von 24 Jahren, der es anderthalb Monate lang ohne jede feste Nahrung aushalten will. Auf 37 Fasttage hat er es schon früher einmal gebracht. Schneewittchen in ihrem Glassarge mag freilich rührender ausgesehen haben. Dieser Jolly mit seinen schwarzen Bartstoppeln ist keine Märchenfigur, sondern wie auch sein Impresario anscheinend ein Geschäfstmann der industriösen Rasse. Er raucht fortgesetzt Zigaretten, die angeblich kein Opium enthalten, und trinkt dazwischen Selterwasser, in das vielleicht wirklich keine Zuckerlösung praktiziert ist. Sonst wäre es ja auch kein Wunder. Ist es eins ? Ich weiß nicht. Ich gehöre nicht zu den zwei Mann der Wach- und Schließgesellschaft, die während der Nacht den Schlaf Jollys betreuen und, wie es heißt, dafür bürgen, daß weder durch das Abflußrohr noch durch die kleinen Luftlöcher etwa mit Hilfe eines dünnen Schlauches dem Rekordhungerer Nahrung zugeführt wird. Natürlich kann man es längere Zeit ohne Nahrung aushalten. Der Bär jewiels den ganzen Winter hindurch. Die Wanze sogar zwei Jahre. Und jener rebellische Dorfschulze aus Irland, der im Gefängnis der englischen Feinde den Hungerstreik durchführte, ist erst nach rund zwei Monaten gestorben. Aber gegen Medien, Derwische, Wahrsager und Hungerkünstler werde ich ein gewisses Mißtrauen nie los. Das öffentliche Hungern gehört übrigens zu den ältesten Berufen. Als ich Kind war, wurde uns von einem solchen Konzertfaster, dem berühmten Italiener Succi, erzählt, wenn wir zum zweitenmal um Pudding baten, und auch in den Jahrhunderten zuvor hat es immer Meister des Schmachtriemens gegeben. Aber für die Besucher ist es jedenfalls, wenn sie gut gefrühstückt oder in ihrer Markttasche ein paar Pfund Kasseler Rippespeer bei sich haben, ein starker Kitzel, um den Glaskasten Jollys herumzugehen, der hier auf einem Ruhebett unter einem warmen Pfühl liegt und sich gleichmütig anstarren läßt wie die Krokodile im Aquarium. Das Wasser läuft den Damen ordentlich im Munde zusammen und ihre grausamen Instinkte regen sich. Am liebsten äße man in Sicht von Jolly eine fette Schinkenstulle und sähe ihm dabei dauernd in die Augen, aber zu schmerzlicher Enttäuschung ist das "polizeilich verboten". Die Indianer wußten schon, warum sie ihre Weiber losließen, wenn sie einen am Marterpfahl hatten. Die Chinesinnen haben sich noch während des Boxerkrieges so betätigt. Und wie gar erst Französinnen zu allen Zeiten bis in die letzten Jahre hinein sich an Folterung erfreuten, auch als Krankenschwestern im Lazarett gegenüber deutschen Gefangenen, davon habe ich in meinem "Franzosenkalender", im Brunnenverlag in Berlin erschienen, eine ganze Anzahl beglaubigter Beispiele aufgezählt.

Männer sind gegen Wesen von Fleisch und Blut nie so erbarmungslos. Nur an der Vernichtung lebloser Sachen haben auch sie ihren Spaß. Wenn einer Dame was an der Kleidung zerreißt oder der Stiefelabsatz verlorengeht, können die Männer sogar lachen, selbst wenn sie es bezahlen müssen. Bespritzt dich ein vorüberfahrendes Auto, so freut sich der Mann. Eine Frau aber versucht dich sofort den Blicken der Schadenfrohen zu entziehen und dich zu säubern. Sie ist nicht so leichtsinnig mit geldwerten Dingen wie der Mann.

Auf dem Heimweg von Friedrichstraße 124 kommen wir über die Weidendammer Brücke, sind schon fast am Bahnhof, meine Frau nämlich und ich, da pfeift ein richtiger Aschermittwochs-Windstoß und packt blitzschnell den Reiherhut, bitte, "den" Reiherhut, der nur bei repräsentativen Gelegenheiten aufgesetzt wird, bei den seltenen Gelegenheiten, wo am hellen Tage der Mann ein Stündchen für seine Frau übrig hat, sie zu irgendeiner eiligen Besichtigung mitnimmt. Dann ist man doch wer. Also "der" Reiherhut, der einzige wirklich teure - es ist übrigens, glaube ich, der dritte, auf den die ewigen Reiherfedern im Laufe der Zeit übergesiedelt sind -, also der Reiherhut rollt auf der Kante davon, als sei er Sechstagefahrer im Sportpalast und als sei soeben als Prämie für den Sieger der nächsten Runden ein Sektfrühstück mit Lya de Putti im Edenhotel ausgelobt. Ich habe gerade kein Flugzeug bei mir, kann den Hut also nicht überholen, obwohl ich alsbald nachstürze. Was tun aber nun die Männer - die Herren - auf der belebten Friedrichstraße vom Bahnhof bis zur Spree, etliche hundert Meter weit ?

Sie bleiben stehen und freuen sich. Kein einziger stellt auch nur den Fuß vor. Jeder sagt sich "Na warte, die Spree!" und schmunzelt. Ich kann es ihnen ja so nachfühlen!

Der gefederte Diskus saust weiter. Wupp - nun ist er durch das eiserne Geländer gesprungen. In weitem Bogen auf die Spree. Schaukelt sich da und lacht auch und segelt stromab. Wenn du zu den Hamburgern kommst, sag', ich laß sie grüßen! Einen Nachfolger kriegst du bis zum nächsten Herbste nicht, und wenn meine Frau in einer Strohschute herumlaufen müßte. Nach wenigen Minuten folgen mindestens hundertzwanzig Augenpaare dem Ausreißer mit dem goldbraunen Samtsegel. Ich bin natürlich, als Mann der nunmehr unbehüteten Frau, unliebsamer Mittelpunkt des Menschenauflaufs. Nähme ich die Sache tragisch, so würde ich sicher noch beschimpft werden. Also nehme ich sie lieber tragikomisch. Ich ziehe mein Taschentuch und winke Abschiedsgrüße. Ein einziger Herr, dem Tonfall nach unverkennbar Balte, möchte mich auf den rechten Weg bringen. "Da drieben stehn doch Bööte!" Ach was. Ehe ich über die Brücke und am anderen Ufer hundert Meter zurück und im Boot bin, ist der Hut längst untergegangen. Er hat schon Schlagseite. In der Menge regt sich nur fachmännisches Interesse, kein Mitleid. Zwei Arbeiter messen mich vom Kopf bis zum Fuß mit feindseligen Blicken. "Der kann jut eenen neien koofen!" Mensch, hast du eine Ahnung; jut ist wirklich gut. Inzwischen kommt der Hut, schon weit ab in der Strömung, ins Wippen. Das freut die Zuschauer. "Nu wird der Lausetopp endlich mal jewaschen!" Es entspinnen sich kritische Debatten, wie weit wohl der Hut, auch nach dem Untertauchen, noch kommen werde, bis zur Havel oder gar zur Elbe, oder ob er zu Boden sinke und ein willkommenes Nest für Aale oder Krebse abgebe. Ganz überraschende geographische und zoologische Meinungen kommen ans Licht. Endlich ist der Segler mit wehender Reiherflagge zur Tiefe gegangen. Also ist nichts mehr zu sehen ? Hat sich also alles sofort verlaufen ? Bewahre. So ist die Großstadt nicht. Sie nimmt alles wichtig. Etwa die Hälfte der angesammelten Menge trottet hinter uns drein, als wir uns entfernen. "Det is der Mann, dem wo seine Frau den Hut valoren hat, in de Spree is a jesaust!", wird den Entgegenkommenden triumphierend verkündet. Nächstens baue ich mir vielleicht auch einen Glaskasten - für die Frau, die ihren Hut verloren hat - und erhebe 50 Pfennig Besichtigungsgebühr.

So etwas Ungeheures spricht sich in Berlin auch ohne Zeitungsreklame herum. Ich höre schon, wie in den nächsten Tagen das Telephon unablässig schrillt. Und was wird es erst an Einladungen regnen! Die Frau mit dem Erlebnis muß doch erzählen. Drüben bei Architektens ist man schon ganz aufgeregt. Und die Oberlandesgerichtspräsidentenwitwe wird bedauern, daß ihr alljährlicher Damenkaffee schon vorüber ist. Das wäre doch noch eine Attraktion! Vielleicht bekäme meine Frau diesmal in Anbetracht der Umstände sogar einen Platz auf dem Sofa. Das vorige Mal - sie kam sehr pünktlich - wurde ihr bedeutet, der Platz müsse freibleiben, denn es käme noch eine Dame, die sei Exzellenz. Alle Welt saß auf Stühlen herum, bis Exzellenz kam und mit der Hausfrau das Sofa besetzte. Und alle Welt saß streng alters- und ranggemäß. Frau Schulze ist zwar jünger als das garuhaarige Fräulein Müller, aber doch verheiratet, also muß Frau Schulze einen Platz näher zum Sofa heran. Frau Regierungsrat aber gehört drei Plätze hinter Frau Ministerialrat. Die muß ganz nahe ans Sofa, damit sie, wie alljährlich, wieder erzählen kann, daß sie im Jahre 1906 acht Tage am Gardasee war. Im übrigen spricht man von der bösen Welt draußen, wo es weibliche Wesen mit Bubiköpfen geben soll. Eine einzige Dame beteiligt sich nicht an dem allgemeinen Gehacke und erregt infolgedessen Mißtrauen und fühlt alsbald, wie aller Blicke an ihrer schon viel zu modernen Kleidung heruntertasten, ob sie am Ende gar - nicht auszudenken - seidene Strümpfe anhabe. Nein, hier an dieser Stätte darf der Teufel nicht sein Spiel treiben. Hier gilt nur Stand und Rang und Sitte, wie anderswo - übrigens ganz ebenso pedantisch genau - bei weniger altmodischen Leuten Steuerklasse und Autopferdestärken und Brillantenkarat.

Es scheint fast, als gebe es nur noch auf den sogenannten Höhen der Menschheit wirkliche Freiheit. Dort, wo der brave Spießbürger sie am wenigsten vermutet: bei unseren ehedem (und hoffentlich bald wieder) Regierenden. Am Hofe des Kaisers hat es eine Anzahl knechtischer Naturen gegeben, das wissen wir aus ihren Memoiren. Wo gibt es überhaupt nicht kleine Seelen ? Aber er selber war groß und frei; er sehnte sich nach aufrechten Menschen, suchte sie in allen Ständen und konnte - die öffentliche Meinung will es freilich nicht glauben - sehr gut Widerspruch vertragen. Das kann sich besonders der rote Spießbürger am wenigsten vorstellen, daß es bei "denen" auch eine Geselligkeit wie unter gebildeten Leuten überhaupt gibt. Nein, es gibt da nur Verschwörungen gegen das Volk.

Ha, sagt der Herr Abgeordnete Rosenfeld - oder war es Herr Rosenbaum - im Reichstagsausschuß. Ha, sagt er, da sind neulich im Niederländischen Palais (dem winzigen letzten Berliner Absteigequartier der Hohenzollern) Unter den Linden die deutschnationalen Abgeordneten beim Kronprinzen gewesen, um mit ihm über die Ausräuberung des deutschen Volkes zu konspirieren. "Ich bin's nicht gewesen!", sagt der eine der engegriffenen Abgeordneten. "Seit Jahr und Tag habe ich den Kronprinzen nicht gesehen!", sagt der andere. Kinder, Kinder, wann lernt ihr es endlich, wenn euch einer auf den Fuß tritt, absichtlich auf den Fuß tritt, euch nicht zu entschuldigen, sondern ihm, man gestatte mir den soldatischen Ausdruck, die Fresse zu passepoilieren ? Warum antwortet ihr nicht, ein Bierabend beim Kronprinzen sei sauberer, als ein Souper bei Barmat ? Es gab übrigens an diesem Abend an einem der letzten Januartage in der guten Stube des Niederländischen "Palais" wirklich nur Bier und kalten Imbiß, dafür aber sehr interessante Menschen. Gewiß, auch Abgeordnete; die schätze ich (mit Ausnahmen natürlich) nicht so ungemein als Gesellschafter, seit ich einen von ihnen einmal auf der Bahn in der I. Klasse sah, aufgelöst in mindestens 12 Bestandteile, die zum Teil von der Decke baumelten, während der organische Rest, in Bäckerhemd und Hose und Pantoffeln gekleidet, am hellen lichten Tage auf der Polsterbank lag. Aber unter den 32 Gästen an jenem Abend stellten die Parlamentarier nur einen kleinen Bruchteil. Es waren etliche Gelehrte da, es waren etliche alte Offiziere da, es waren etliche Schriftsteller da, und zum mindesten sind einem Manne wie beispielsweise Rudolf Presber doch keine finsteren Konspirationen zuzutrauen. Man kam und ging zwanglos, wie Beruf und Zeit es fügten, der Hausherr "hob" keine Tafel "auf", und von dem Enteignungsfeldzug der Revolutionsgewinnler gegen die Angestammten hat vielleicht überhaupt niemand an den kleinen Tischen gesprochen. Gewiß, auch Politik ist, wie immer unter Männern, in leichtem Gespräch gelegentlich gestreift worden. Auch Kunst. Auch Theater. Auch Tanz. Auch Krieg. Auch Jagd. Auch Sport. Manchmal ist auch in irgendeiner der Gruppen herzlich gelacht worden, wenn der eine oder andere persönliche Erinnerungen aus alter oder ganz moderner Zeit wiedergab. So zum Beispiel ein "aufgefangenes" Gespäch aus einer der letzten Gesellschaften:

"Nein, ich tanze nicht mehr mit meinem Mann!"
"Warum denn nicht, gnädige Frau ?"
"Ich glaube bestimmt, er hat zwei linke Füße!"

18. Februar 1926 (Donnerstag)


24

Amtsgericht und Adelsname - Müller, Schulze, Mackensen - Wie die Filmdiven wirklich heißen - Scheidemann auf dem Bummel - Tollers "Entfesselter Wotan" - Auf dem Baltenabend - Vom Nachschminken

Ein einfaches Berliner Amtsgericht hat in die Weimarer Verfassung ein Loch gerissen. Diese Verfassung hat den Adel "als solchen" abgeschafft, aber die Erstarrung seiner Namen angeordnet. Wie sie im November 1918 standesamtlich eingetragen waren, so vererben sie sich, also wenn beispielsweise ein Freiherr Grote heute eine Tochter bekommt, so ist sie nicht die Freiin Grote, sondern das Fräulein Freiherr Grote. Und das Gegenstück dazu: wenn eine unverheiratete alte Freiin Grote eine Jüngling adoptiert, so ist dies fortan laut republikanischem Gesetz der Herr Freiin Grote. Zu wieviel Gelächter etwa in der Berliner fremden Diplomatenwelt das schon die Veranlassung gegeben hat, ist auf keine Kuhhaut zu schreiben. Nun hat endlich eine Dame, Bertha heißt sie mit Vornamen, die Familie der Nobili habe ich vergessen, das Recht auf die richtige Bezeichnung gerichtlich ertrotzt. Wie gesagt, ein einfaches Berliner Amtsgericht hat den Weimarer Unsinn erledigt. Ob der Staat Einspruch erhebt, ist noch nicht bekannt. Tut er es nicht, so verzichtet er also schweigend auf die Verewigung einer Lächerlichkeit, und selbst der kuragierteste Republikaner vergibt sich nichts mehr, wenn er von einer Prinzessin Soundso spricht, statt, wie es bisher republikanischen Rechtes war, von einer Frau Prinz.

Name ist ja Schall und Rauch, wenn kein ganzer Kerl mit Fleisch und Blut dasteht. Es hat sehr tüchtige und sehr berühmte Müllers und Schulzes gegeben und sehr erbärmliche Leute mit hochklingendem Namen. Ahnen zu haben, die kräftig oder verdienstvoll genug waren, sich aus der Masse emporzuschwingen, ist sehr schön; die Geschichte des Hauses dient dann oft dem Schwächling unter den Nachfahren als moralisches Korsett. Aber Ahn in diesem Sinne heute noch - zu werden, sollte unser aller Trachten sein. Auch wenn wir Müller oder Schulze heißen. Es hat doch mal einen Einjährig-Freiwilligen namens Mackensen gegeben, einen Hütejungen namens Reyher, einen Schneidergesellen namens Derfflinger, und nachher standen sie vornean auf deutschen Ruhmestafeln.

Ein bißchen blümerant wird einem heute nur zumute, wenn man sich unter den Namen der Filmdiven und anderer Künstlerinnen zurechtfinden will. Die heißen nämlich fast immer anders als auf den Zetteln, verändern aber auch den wirklichen Namen sehr häufig. Asta Nielsen hieß als Mädchen wenigstens wirklich noch so, ist aber heute, in dritter Ehe, als Asta Chmara standesamtlich eingetragen, nachdem sie nach einem Regisseur und einem Seeoffizier nun einem kleinen Schauspieler östlicher Herkunft die Hand zum "ewigen" Bunde gereicht hat. Die große Pariser Diseuse Yvette Guilbert, die dieser Tage als Sechzigjährige in Berlin wieder durch den Vortrag von "La glu" die gebannten Zuhörer erschauern ließ, ist die Frau eines schwerreichen Herrn Schiller. Das Amtsgericht Berlin-Schöneberg hat vor vierzehn Tagen ein 50/60-P.S.-Dux-Auto der Amalie Janke gepfändet, die als Lya de Putti in der Berliner Film- und Lebewelt bekannt geworden ist; sie stammt aus Ungarn, ist norwegische Staatsangehörige, hat in Berlin ihren Flimmerberuf ausgeübt, ist eben in Amerika (sehr zum Leidwesen - andere sagen: zur Freude - ihrer Berliner Gläubiger) und hat, als sie einmal gerade Witwe geworden war, am Tage darauf ihren ersten Kondolenz-Besucher, den Regisseur Dupont, maßlos überrascht, weil sie am Klavier lustige Schlager herunterrasselte. Auf Duponts erstaunte Bemerkung, er habe sie schmerzgebeugt erwartet, antwortete sie: "O, hätten Sie mich gestern sehen sollen!" Maria Orska, die dieser Tage nach dem Selbstmord ihrer Schwester in das Heim ihres letzten geschiedenen Gatten Bleichröder zurückgekehrt ist, um Ruhe zu finden, heißt eigentlich Rachel Blindermann; sie tritt jetzt wieder in einem Berliner Theater auf, leider nicht in ihrer Glanzrolle als Lulu. Ossi Oswalda ist als Fräulein Sperling aus Berlin-Pankow (an der Panke) zum Film gekommen und war eine Zeitlang mit einem Herrn von Koszian verheiratet. Mia May ist eine geborene Hermine Pfleger, standesamtlich als Frau Josef Mandl eingetragen. Erna Morena, die Frau des Kommunisten Wilhelm Herzog, die auf dem Parteitag in Halle um ihrer kostbaren Toiletten willen so angeglotzt wurde, war einst das Fräulein Fuchs. Einigermaßen schwierig sind die Feststellungen bei Pola Negri, die neulich in einem Interview gesagt hat, ihre erste Liebe sei die Arbeit am Film gewesen; sicherlich weiß sie nicht mehr, wer ihre erste Liebe war. Als Paula Schwarz stand sie vor zehn Jahren in den Listen der Sittenpolizei von Pultusk, auf den Namen Chalupez hat sie einen Geburtsschein, mit einem Grafen Dombski ging sie eine kurze Namensehe ein, Chaplins Frau wollte sie nach einigen Zwischen-Amouren dann werden, läßt aber jetzt verbreiten, daß sie Valentino heiraten werde, der auch nicht so heißt. Natürlich gibt es auch beim Film und den Nachbarberufen eine große Zahl Damen von Welt, Damen aus guter Familie und von unantastbarem Rufe, aber die Halb- und Dreiviertelswelt spielt eben mit hinein. Für manche Leute draußen ist übrigens gerade der Ludergeruch das Lockendste.

Die beiden Welten - oder die drei - berühren sich in Berlin mehr noch als anderswo im Reiche. Wer aus proletarischen Schichten emporgestiegen und Bourgeois geworden ist, eine fürstliche Pension, unversteuerte Reichstagsdiäten und noch dazu die Zinsen in Kopenhagen gut angelegter Revolutionsgewinne zu verzehren hat, wie es bei Philippo Scheidemann der Fall ist, dem macht es dann wohl ein besonderes Vergnügen, hier mitzuschwimmen. Sonst könnten wir es uns doch auch kaum vorstellen, was diesen alten Knaben veranlaßt, den Filmball mitzumachen, auf dem Adlonfest der ausländischen Presse zwischen Sekt und schönen Frauen zu sitzen, von einer teuren Loge aus die Ausgezogenheiten der Nelson-Revue sich anzusehen, überhaupt dort im Großstadtstrudel aufzutauchen, wo man mindestens einen Smoking anhaben muß. Herr Scheidemann sollte wirklich ein bißchen mehr auf seine Gesundheit Rücksicht nehmen, denn bis vor kurzem war er ja bekanntlich, obwohl er Reden in Volksversammlungen schwingen konnte, so krank, daß es ihm unmöglich war, sich über die Vorgeschichte der Revolution in Deutschland als Zeuge vor Gericht vernehmen zu lassen.

Natürlich soll die Erwähnung, daß dieser Volkstribun so lustig in der Saison mitschwimmt, kein Vorwurf sein. Der gute Berliner jeglicher Partei ist in dem Punkte sehr weitherzig, und der Kehrreim eines sehr bekannten Berliner Liedchens ist ihm ganz aus der Seele gesungen:

Warum soll er nicht mit ihr
Vor der Türe stehn ?
Warum soll er nicht mit ihr
Mal konditern gehn ? -

und da es sich bei Großpapa Scheidemann, Heil ihm in seiner Haare Kranz, um sogar noch harmlosere Dinge handelt, werfe keiner einen Stein auf ihn. Nur das ist und bleibt eine leise Enttäuschung für uns, daß solche Berliner Revolutionsgrößen, nachdem das Volk für sie "auf der ganzen Linie gesiegt" hat, nichts besseres zu tun finden, als das Genußleben der Großstadt einzusaugen. Eigentlich hatten wir uns gedacht, es werde nun eine geradezu vulkanische Eruption von Geist beginnen, alles bislang "Unterdrückte" sich funkensprühend entladen. Statt dessen hat es Schlemmerfeste bei Parvus-Helphand auf Schwanenwerder gegeben, wobei einmal der Kultusminister Hänisch in die Havel ausrutschte; statt dessen smokingt Scheidemann durch die Berliner Nächte; statt dessen schreibt Fritz Eberts Sohn eine mäßige Broschüre, nachdem die Vereinigung der Arbeitgeberverbände um eine finanzielle Beihile dazu angeschnorrt worden ist; statt dessen lebt Bauer sein Barmat-Leben. Die angeblich wirklichen Talente aber, die man krampfhaft hochgelobt hat, sind eine gräßliche Enttäuschung, so das Räte-Jüngelchen Toller, der bestenfalls ein Woller, keinesfalls ein Könner ist und bei dessen soeben zum erstenmal in Berlin aufgeführtem "Entfesselten Wotan" selbst den wohlwollendsten schwarzrotgelben Kritikern vor Verlegenheit die Luft ausgeht. Das greuliche Deutsch voll Partizipial-Konstruktionen, dieser ganze beschnittene Stil des Stückes, das in seiner Sprache Sternheims Manier nachäfft, sei Toller verziehen,, denn er ist nun einmal von Geburt nicht schaffender Deutscher, sondern internationaler Eklektiker, aber das Stück selbst ist, wie sogar Freund Holländer ihm bestätigt, spottschlecht. Es soll in der Figur des Schaumschlägers und Barbiers Wotan den völkischen Gedanken, in der Person der übrigen Mitspieler das alte System lächerlich machen, ist aber vollkommen blutleer, rein literarisch erquält, gänzlich witzlos. "Der Mob hat versagt, der schlichte Friseur wird Europa retten."   "Der edle Mensch löst sich nie von Gottes Nabelschnur." Das sind so ein paar Sätze mit Ansätzen zu krampfhaftem Humor, die einen aber kaum die Mundwinkel verziehen lassen. Dieser junge Herr Toller, der sich in München zum roten General aufwarf, dann aber, als die Sache schief ging, alles revolutionäre Heldentum vergaß und schleunigst einen falschen Bart umnahm, ist für die große Menge nur durch die paar Jahre Festung interessant geworden, die er nachher bekam. Weder "Maschinenstürmer" noch "Masse Mensch" noch "Hinkemann" werden in der Literatur auch nur ein Menschenalter überdauern, besonders nicht, nachdem das Vorwärts-Sonntagsfeuilleton "Der entfesselte Wotan" die geistige Impotenz des Dichters, der so schäumend tat, erwiesen hat. Ich denke, nach Weimar sollte ein augusteisches Zeitalter über uns anbrechen. Das Auge sah den Himmel offen, der Geist breitete seine Schwingen, - wo ist denn nur der erste wirkliche Poet, der geniale Bildner, der hinreißende Historiker, der große Staatsmann ? Ach, Armseligkeit überall.

Da ist es denn kein Wunder, daß Menschen von Geist von dieser unfruchtbaren Sache sich abwenden. Viel Platz bleibt einem da nicht, denn die neuen Herrschaften machen sich sehr breit. Gut, so rückt man denn etwas näher zusammen und feiert bescheidene Feste. Jetzt in der grünen Woche hat es allerlei solche Veranstaltungen gegeben. Anheimelnd wie immer war darunter der im Laufe der Jahre nun schon vierte Gesellschaftsabend, den das Baltische Rote Kreuz wiederum im Esplanade veranstaltet hat.

Es ist schon Tradition geworden, daß dazu stets Söhne unseres Kaiserhauses erscheinen. Diesmal war auch der Prinzgemahl der Königin von Holland unter den Gästen, ein liebenswürdiger Gesellschafter und brillanter Erzähler, der nebenbei unendlich viel Gutes an verarmten Deutschen tut. Er ist nicht mehr der schlanke preußische Jägerleutnant, als den ich ihn einst kennen gelernt habe, er ist - wie das Land doch abfärbt! - ein etwas behäbiger holländischer Mynheer geworden, aber sonst ganz der alte gutherzige Deutsche geblieben. Um ihn herum und um den Zollernprinzen August Wilhelm herum und um die immer noch wahrhaft königliche Erscheinung der Frau Geheimrat Dietrich herum, die als Reichsdeutsche zusammen mit der unermüdlichen Baltin Frau von Brümmer die Honneurs macht, drängt sich viel baltisches und reichsdeutsches Jungvolk und dazu die älteren Herren von hüben und drüben, etwa zu gleichen Teilen Eisernes Kreuz und Johanniterkreuz, wirklich gute alte, wenn auch vielfach verarmte Gesellschaft, die manchmal den ganzen Abend mitmacht, ohne sich auch nur ein Glas Bowle oder eine Flasche Selters zu gönnen. Ein kleines Komteßchen, 25 Jahre alt, ist meine erste Tänzerin. Sie ist berufstätig, sagt die Kleine voll Stolz, hat schon die Mutter übrigens vorher erzählt, ist Säuglingspflegerin schon seit sieben Jahren. Der Vater ist als Hauptmann im Felde gefallen, die drei Brüder der Mutter sind im Felde gefallen, mehr als die Hälfte der männlichen Mitglieder des Geschlechtes ist im Felde gefallen. Jäh kommt es einem wieder zu Bewußtsein: über 39 Prozent des aktiven Offizierkorps, doppelt so viel als Mannschaften, starben draußen für Kaiser und Reich. Was sie an Geld ud Gut hinterließen, zerstob in der Not der Zeit. Unser Komteßchen hatte zuletzt die Pflege in dem Hause eines unserer entthronten kleinen Fürsten. Schwer, ach, sehr schwer; die Herrschaften zwar sehr lieb, das Neugeborene ein süßes Kindchen, aber schon das Stubenmädchen sieht die Gräfin, die "Dienstbote" geworden ist, über die Achsel an, weil sie am Herrschaftstische mitißt, - und es gibt da doch wahrhaftig so wenig zu essen, es herrscht buchstäblich Not. So geht es aus einem Hause ins andere, in vornehme und einfache. Und hat man ein Kind lieb gewonnen, dann muß man wieder weg. Die Mutter daheim aber vermietet Zimmer. Übrigens eine prachtvolle Frau, diese Witwe eines auch künstlerisch hochbegabten Offiziers, mit der sich gut plaudern läßt.

Auch hier in dieser Geesellschaft gibt es von der Not noch Unberührte, gibt es Damen in gewählter Toilette, aber die Schlichtheit herrscht vor. Eine einzige Dame, eine reichsdeutsche Frau Konsul, ist extravagant aufgemacht. Wenn sie zum Tanzen die Arme hebt, sieht man zu beiden Seiten des völlig entblößten Rückens, wenn man hinter ihr mit seiner Dame antritt, - die Büste hervorlugen. Alles ist schokiert, sie ist auch die einzige, die sich in der Wahl ihrer Toilette - für diese Gesellschaft - vergriffen hat. Sonst kann man auf dem Baltenabend, der wieder in drängender Fülle die Festsäle des Esplanadehotels durchwogt, zum Unterschied von anderen Berliner Veranstaltungen nicht eine einzige Dame entdecken, die etwa den Farbstift benutzt hat.

Es mag farblose Geschöpfe geben, die das nötig haben. Ich will gern meinen Widerwillen gegen die Tüncherei zurückdämmen. Was aber geradezu eine Ungezogenheit ist, das ist die moderne Sitte, sich in Gegenwart der Herren nachzuschminken. Für die Toilette ist - die Toilette da. Ein Mädchen aus wirklich gutem deutschen Hause zieht in Gesellschaft doch nicht Spiegel und Lippenstift hervor. Nur die sogenannten Mondänen tünchen öffentlich ihre Fassade.

Aber es gibt Mittel dagegen!

Man muß nur als Herr den Mut haben, sich auch lümmelhaft zu benehmen. Ein paar Tage vorher erlebe ich dieses Nachschminken an meinem Tisch im Burgund. Ich stoße meine Begleiterin sichtbar an, weise mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Toilette machende Dame, ziehe eine kleine Schere aus der Westentasche und - schneide mir die Nägel. Zuerst ist alles entsetzt. Aber dann erhebt sich drüben die Dame, weil schließlich alles sie malitiös anlächelt, und verschwindet sehr plötzlich.

Verschwindet mit einer roten und einer blassen Backe.
20.(?) Februar 1926 (Sonnabend)



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© Karlheinz Everts