"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 25 - 27
4. bis 18. März 1926


25

Die olle Klamotte - Primaner-Tanzkränzchen - Singspiel bei Berndts - Die Delikatessen im Atelier - Am Rundfunk - Hinter den Kulissen der Presse - Geheimrat Horstmann - Claudel und die Boches - Wohltätigkeitstee bei Stresemann

"Olle Klamotte", sagen sie. Keine Ehrfurcht haben sie. Die Jugend hat noch kein Gefühl dafür, daß unsereins sein Herz an sogenannte wertlose Trümmer hängen kann. Vor der großen Flandernschlacht hatte ich dienstlich ein paar Tage in Deutschland, auf dem Flugplatz Köln, zu tun, wohnte in einer Pension am Hohenzollernring und erzählte dort der drallen lebensprühenden Wirtschafterin, daß ich, wenn ich es erlebte, demnächst auf den italienischen Kriegsschauplatz käme, nachher aber auf den asiatischen. Vielleicht könnte ich mir da die Reste des Turms von Babel ansehen. Da fing sie laut an zu lachen. "So 'ne Märchen", sagte sie. Sie glaube an keine einzige von den alten Geschichten. Und nun war ich von Ninive aus etliche Monate später wirklich flußab und landeinwärts bis zu der richtigen Trümmerstätte gepilgert und hatte mir mit Stemmeisen und Hammer ein mächtiges Stück grauen, mit Keilschrift bedeckten Ziegelsteins losgehauen. Ich habe keinen Teppich, keine Eingeborenentracht, keinen türkischen Schal, keinen Damaszenerdolch oder irgendeine Kostbarkeit sonst aus dem asiatischen Feldzuge heimgebracht, nichts, nichts, nur diesen schweren Stein. Jetzt liegt er - unweit eines schwarzgebrannten Stückchens Aluminiumgestänge vom abgestürzten L.Z.37 - in der Halle vor den Augen aller Besucher. Am vorigen Sonnabend sollten es sieben junge Pärchen sein: das diesjährige Fest unserer beiden Primaner, die nun vorher alles inspizieren, ob es der sieben jungen Mädchen und der fünf Kameraden würdig sei. Nötigenfalls wird umgeräumt, versteht sich, obwohl Vater das nicht mag, aber in solchen Fällen denkt man eben, es heiße nicht umsonst Muttersprache - weil Vater doch nicht zu Worte kommt. An den drei großen H über der Truhe rechts - Haeseler, Hindenburg, Helfferich - mit deren eigenhändiger Widmung (bei Helfferich "in dankbarer Erinnerung an die Kampfesgenossenschaft in mancher schweren Fehde") geht man noch achtungsvoll vorüber. "Aber kann die olle Klamotte nicht weg ? Kann der dreckige olle Stein nicht wenigstens zugedeckt werden ?" Ich denke nicht dran, meine lieben Jungen.

Es ist auch so gegangen. Die olle Klamotte hat niemand gestört. Wir haben, wie üblich, von der Galerie herunter - mit Marzipaneiern als Köder an langer Schnur - nach den Mädels geangelt, die danach schnappen mußten. Wir haben ihnen ein kniffliches Diktat gegeben, voll schwieriger Wörter wie gleisnerisch, schurigeln, Grieß, brenzlig,rhythmisch, mit einem Pfundkarton Pralinen für die Siegerin (7 Fehler) und einem Trostpreis für die Letzte (18 Fehler). Wir haben zuletzt um Mitternacht die jungen Herren in einem prachtvollen Parademarsch vor der Damenwelt defilieren lassen, den die europäischen Seismographen sicherlich als Erdbeben registriert haben. Und dazwischen ist nach Herzenslust getanzt worden. Auch der kleine Viktor aus Neapel hat eine Weile seinen Anteil an dem ganzen Frohsinn: er darf mit Papierschlangen dazwischenwerfen. Als Hausherr muß ich natürlich je eine Ehrenrunde mit den durchschnittlich etwa sechzehnjährigen jungen Mädchen machen, wobei ich viel schüchterner bin als sie, denn vor zarten Püppchen habe ich immer Angst. Nachher erzählen sie, wie mir gesteckt worden ist, unter sich, ich tanzte ja überraschend gut. Mit einem heiteren, einem nassen Auge habe ich es aufgenommen; lieber wäre ich doch noch im Alter von 19 Jahren und ließe mit Bedauern feststellen, daß ich in Anbetracht dessen überraschend schlecht tanze. Jedenfalls war es wunderhübsch, das ganze Fest. Auch Leute mit alten Klamotten verstehen also noch zu feiern. Nur daß wir in diesem Jahre nicht mehr dreimal, wie noch in der vorigen Saison, ein solches Kränzchen veranstalten, sondern lediglich an diesem einen Tage.

Auch in zahlreichen anderen Berliner Familien erlebt man heute eine freie, heitere Gesellschaft, bei der es nicht darauf ankommt, ausgesuchte Marken französischen Schaumweins auf den Tisch zu stellen. Wir sind im allgemeinen innerlich unabhängiger geworden. Man kann es auch schon wagen, eine Unterhaltung zu bieten, die an die harmlos köstlichen Genüsse aus Großmutterzeit erinnert. Da hat der Deutschnationale Berndt, der der Bürgermeister von Berlin-Schöneberg, dieser Tage einen Nachmittagstee gegeben, auf dem wir das Vergnügen hatten, die alte Exzellenz Mirbach und sonstige Getreue aus der guten Vornovemberzeit zu sehen,und ein Herr und eine Dame der Gesellschaft führten - ein rührend-liebes, schalkhaftes Singspiel auf. Schon bei dem Worte "Singspiel" wachen allerhand lustige Kindheitserinnerungen auf. Es geht also wirklich ohne große Schlemmerei und ohne Kammermusik Prominenter mit Tausend-Mark-Honoraren. Es hat Zeiten gegeben, wo nur bildende Künstler es wagten, auf ihren Atelierfesten bewußt das Protzen zu vermeiden, während heute doch auch die sogenannten "weiteren Kreise" nur das Beste bieten, was sie haben, nicht mehr; vor allem nichts Erborgtes.

Einer unserer bekanntesten Zeichner lud neulich ein paar Berlin-Westler zu sich ein. Einer von ihnen wollte ihm den Abend "erleichtern" und schickte ihm tags zuvor einen Korb voll teurer Delikatessen hin. Am Abend selbst überreichte der Künstler den unangetasteten Korb wieder dem Krösus und bemerkte gelassen: "Det präpeln Sie man alleene uff oder jeem Se's den Feinkostfritzen retour; sehe ick denn so aus, als wenn ick alle Dage Austern mit Schlagsahne fresse ?"

Wir selber gehören noch zu den ganz Altmodischen, die zum Tanz in kleinem Kreise das Klavierspiel dem Grammophon oder dem Radio - Herrn Ernö Rappée könnten wir uns sowieso nicht leisten - vorziehen. Ich habe noch nicht einmal einen Lautsprecher, wie ihn sonst fast jeder Radiot besitzt. Ich bin aber nicht so unhöflich wie jener andere Hausvater, der brummend erklärte: "Wozu brauche ich einen Lautsprecher - ich bin ja verheiratet!" Bei uns werden nur selten, weil jeder seinen vierzehnstündigen Arbeitstag hat, die Kopfhörer angelegt, und dann auch nur auf wenige Minuten des Ausruhens. Oder zur Kontrolle. Man will gelegentlich doch wieder feststellen, was unter der Leitung des roten Heilmann aus dem deutschen Rundfunk geworden ist. Der sozialdemokratische Abgeordnete Heilmann, der Freund Barmats, ist nicht nur mit einem glänzenden Gehalt seinerzeit bei diesem gewaltigen Propagandainstitut mit nunmehr über einer Million Hörern angestellt worden, sondern hat dann auch einen einmaligen Ehrensold von 75 000 Goldmark erhalten. Das Geschäft geht also sehr gut. Es könnte ausgezeichnetes bieten, bietet auch sehr viel Gutes, aber mehr noch Seichtes. Die große Kunst derer, die wir Feinde unseres Volkes nennen, besteht nicht so sehr im Vergiften, als im Vertrotteln.

Immer noch hat freilich die Presse, vor allem die Berliner Presse, einen größeren Einfluß auf die Massen, als der Rundfunk. Die letzte Entscheidung um die Seele unseres Volkes wird auf Druckpapier ausgefochten. Seit Monaten wird nun dem Volke von artfremden Verderbern eingeredet, unsere nationale Presse sei "von der Großindustrie" ausgehalten und die "Organisation Hugenberg" halte alle Fäden in ihrer Hand. Ach, wenn es so wäre! Aber die Industrie ringt selbst um ihr Dasein, und der Geheimrat Hugenberg hat zwar das große Verdienst, in schwerer Zeit einen Teil der Blätter der Rechten vor der Überflutung durch - die anderen bewahrt zu haben, ist aber nicht der Hans Dampf in allen Gassen, als der er dargestellt wird. Es geht nach der alten Parole: Haltet den Dieb! Das Volk soll nicht merken, daß wir im Gegenteil vor einer ungeheuren Konzentration der "siebenten Großmacht" in landfremden Händen stehen. Nicht die Großindustrie, sondern die Börsendemokratie ist auf dem Marsche. Und der Ullstein-Demokratie leisten Sozialdemokraten und Zentrumsleute, an der Spitze Scheidemann und Spiecker, bewußt Schlepperdienste. Der ganze Klüngel bereitet sich darauf vor, den Staat als seine Futterkrippe auszubauen und die Massen als Stimmvieh für sich einzufangen. Mit großem Kapital arbeiten "Korrespondenzen" und "Reichspressedienste" und "Berliner Bureaus" zu billigem Preise für den vielfach noch ahnungslosen Provinzverleger und bringen ihre Kandidaten rechtzeitig zur Diskussion. Von Genf, wo im Völkerbundsekretariat Gehälter von 60 000 Mark jährlich keine Seltenheit sind, erwartet man viel: da kann man wieder manche seiner Leute unterbringen. Für die oberste der Deutschland offenstehenden Stellungen wird der Geheime Legationsrat Horstmann aus dem Auswärtigen Amte empfohlen, der Mitbesitzer des Frankfurter Generalanzeigers, der noch um 1900 unter dem Chefredakteur Max von Flotow ein rechtsstehendes Organ war, jetzt aber zur Demokratie abgeschwenkt ist. Eine Schwester dieses Horstmann hat vor langen Jahren (ihre Mutter war noch einfaches Nähmädchen in Posen) mit ihrem Gelde einen Grafen Dohna geheiratet, aus diesen Kreisen setzte sich auch die Hilfsmannschaft zusammen, die - noch unter dem Kaiserreich - den jungen Horstmann in die diplomatische Laufbahn bugsierte, aber nun wiegen andere Empfehlungen mehr, nun ist Horstmann, weil er für seine Person "in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Hause Bleichröder" steht, der beste Mann für Genf. So sieht es hinter den Kulissen aus. Das erfährt das Volk natürlich nicht. Es weiß auch heute noch nicht, wer Herr Spiecker ist, der selber nach Genf schielt; seiner ertragreichen Tätigkeit in Oberschlesien lag er einst unter fremdem Namen ob. Und dieselbe Presse, die es so versucht, die politische Ernte einzuheimsen, vielfach noch versteckt und heimlich, geht in kultureller Beziehung schon ganz offen vor. Das Ullsteinsche Mittagsblatt in Berlin vermied es früher, galizischen Import als solchen zu kennzeichnen, während es jetzt frech-freudig hervorhebt, daß die in Nelsons Theater neu auftretende Gesellschaft uns "wienerisch-kurfürstendamm-chaldäisch" komme und daher so erfolgreich sei. Da der deutsche gebildete Mittelstand sich Theaterbesuch immer weniger leisten kann, hat er auch auf das Programm immer weniger Einfluß; es wird von denen diktiert, die hinter den Ullsteinern stehen, und Berlin diktiert weiter für das Reich. Hinter diesen Königen unserer Zeit steht aber auch die "klassenbewußte" Arbeiterschaft mit ihren Volksbühnen. In Berlin bringen sie jetzt ein Gefasel des Franzosen Paul Claudel heraus, der nicht nur während des Krieges uns unflätig beschmutzt, sondern auch noch vor kurzem öffentlich geschrieben hat: "Die Boches bleiben, mit der Flinte in der Hand oder der Feder, immer dieselben Banditen."

Auf diesem kulturellen Gebiet haben wir übrigens schon die Große Koalition, die Einheitsfront von Stresemann bis Scheidemann, eine Front gegen das heimische und für das fremde. Wenn die Ullsteinsche Vossische Zeitung vor fünf Jahren, nach der Besetzung Düsseldorfs durch die Franzosen, ihren dortigen Vertreter darauf hinwies, daß sie bei den Besatzungsbehörden als einziges deutsches Blatt, das für französisch-deutsche Freundschaft eintrete, gern gesehen sei und daß auch die Berliner Illustrierte Zeitung desselben Verlages nichts bringe, was den Franzosen anstößig sein könne, so mochte man darüber noch achselzuckend hinwegsehen. Aber von unserem Außenminister könnte man doch eine stärkere Betonung des Deutschen erwarten. Er hatte in diesen Tagen vor Genf keine Zeit mehr, im Reichstag zu erscheinen, obwohl man ihn auf Bällen und Festessen viel gesehen hat und obwohl er noch am Freitag voriger Woche einen muikalischen Wohltätigkeitstee in seinem Hause hatte, auf dem nicht ein einziger deutscher Komponist zu Gehör kam, sondern nur Paganini, Francoeur, Tartini, Charpentier, Catalani, Bizet, Grieg, Puccini. Sie alle wurden in französischer oder italienischer Sprache gesungen, sogar die bekannten Arien aus Carmen und Tosca, die man bei uns sonst immer deutsch vorträgt. Die Franzosen sind unser Nachlaufen ja schon gewöhnt. Aber auch Mussolini wird sich ingrimmig lachend nun das Kinn streichen.

Ein einziger der anwesenden Künstler, der Schwede Scholander, schämte sich dieses Zustandes. er sang zwei Lieder in deutscher Sprache, die - nicht auf dem Programm standen.
4. März 1926 (Donnerstag)


26

Keilerei bei Portiers - Idas Verlobter, Idas Aussteuer - Bei den Arbeitslosen - Im Jugendheim - "Berlin ohne Hemd" - Nachts im Schwerin-Keller - Der feine Herr an meinem Tisch

Nachts dringt verworrener Lärm vom Hofe herauf. Bei den Portiersleuten ein Mordskrach. Am nächsten Morgen erzählt mit leuchtenden Augen die Frau: "Drei Männa ham sich um unse Ida jehaun!"

Bei diesem Kampf blieb der "Schaffehr", mit dem die Ida bisher "jing", offenbar dritter Sieger, denn er ist seither aus dem Gesichtskreis der Portierstochter verschwunden. Auch der uns bis dato unbekannte zweite Bewerber zeigt sich nicht mehr. Der Fall ist entschieden. Die noch nicht siebzehnjährige Ida ist, wie sie beim Herauffahren im Lift mir erzählt, jetzt "richtiggehend verlobt", natürlich mit dem ersten Sieger. Im Sommer werde geheiratet. "Was ist denn Ihr Verlobter ?" frage ich in freundlicher Anteilnahme. Und ich bekomme die stolze Antwort: "Arbeitsloser!" Ja, das ist heute auch ein Beruf, wenn auch ein mäßig bezahlter.

Sehr, sehr anständig sei ihr Verlobter (der übrigens bereits in der Familie als Schlafbursche und Kostgänger aufgenommen ist); wenn er "stempeln" gehe und die wöchentliche Arbeitslosenunterstützung bekomme, kaufe er dafür immer ihr, der Ida, eine große Schachtel Pralinen, dem Vater eine Schachtel Zigarette, und den Rest gebe er der Mutti. Wieviel das denn sei, frage ich. "Zwei Mark." Also für neun Mark monatlich hat der junge Mann Wohnung und Essen und sozusagen auf Vorschuß auch schon eine Frau, für deren Unterhalt er nicht zu sorgen braucht. Die bedient hin und wieder, wenn Vater in der Kneipe ist und Mutti auf Arbeit, den Fahrstuhl. Oder auch nicht. Wenn sie nämlich ebenfalls "aus ist", etwa im Kientopp mit dem Bräutigam. Morgens hilft sie auch etwas beim Fegen des Treppenhauses. Sonst hat sie den ganzen Tag nichts zu tun. Sentimentale Leute, die keine Anlagen zum Soziologen haben, könnten nun sagen, es sei einfach rührend, wie diese Portiersleute alles für ihre Kinder täten. Jawohl. Uns haben sie immer halb verwundert, halb verächtlich angesehen, weil unsere Kinder auch Schwarzbrot essen, nicht nur Semmeln. Das täten die ihrigen nicht; und Sonntags wollten sie nur Kuchen. Die Ida hat nur wenige Monate einmal sich als Dienstmädchen versucht, dann wurde der Dienst "dem armen lieben Jöhr" erspart, das nichts mehr lernte, auch im Haushalt nicht, sondern privatisierte und baronisierte, zunächst einmal zwei Nächte von Hause wegblieb und dadurch als erwachsen legitimiert war. Die nötige Wäscheaussteuer haben die Eltern schon zusammengeklaut, von uns und anderen Mietern; das weiß jedermann, auch der Hausverwalter, aber wir haben ja unter der Zwangswirtschaft "Mieterschutz" auch für die Portiersleute, also kann man sie nicht an die Luft setzen, wenn man ihnen nicht eine andere Bleibe besorgt. Und wer zahlt den Unterhalt für die Ida und ihren Bräutigam ? Die Wohlhabenden unter den zahlreichen Hausbewohnern geben den "Pochtjehs" monatlich (einzelne bis zu 25 Mark!) ein regelmäßiges Trinkgeld. Das ist so eine Art Versicherung gegen Diebstahl. Es ist eine harte Steuer, aber sie rentiere sich, erklären die meisten.

Wenn man sich in der Großstadt mit offenen Augen umsieht, kann man eine ganze Riesenmappe voll solcher Skizzen aus dem Leben sammeln. Man kriegt dann einen leichten Nebengeschmack auf die Zunge, wenn man Politiker "das Volk" verhimmeln hört, wie es von Lassalle bis Naumann seine Tribunen immer getan haben. Wenn wir ein neues Dienstmädchen bekommen, nahen sich Portiers immer als Versucher. Die "Vorigte", lügen sie, sei viel netter gewesen, mit der habe man gute Freundschaft gehalten, die sei, wenn sie beim Fleischer den Sonntagsbraten für uns geholt habe, dann immer zuerst zu ihnen, den Portiers, gegangen, und habe sie eine Scheibe Kotelett oder Blume Eckstück abschneiden lassen. So etwas muß man erlebt haben. Wer das Volk nur von seinem Schreibtisch aus schildert, aus weichem Herzen und aus Büchern heraus, der malt schattenlos und daher schemenhaft.

Der arbeitslose Bräutigam der Ida ist ein lehrreicher Fall. Aber doch wohl Einzelfall. Man soll nicht generalisieren. Im großen und ganzen wird es wohl so sein, wie es in rührsamen Feuilletons geschildert wird, daß ausgemergelte, hohläugige, verzweifelte Menschen sich in den Arbeitsnachweisen drängen. Auch solche Menschen habe ich gesehen. Die Not ist wirklich groß. Ich habe einen gänzlich unterernährten Arzt getroffen, der mit seiner Geige in einem fremden Stadtteil auf die Höfe ging, sobald die patientenlose Sprechstunde um war. Ich habe eine hochschwangere Frau ächzend die Hebel einer schweren Maschine bedienen sehen, um das tägliche Brot für vier Kinder zu schaffen, da der Mann den Lohn immer versoff. Aber ich finde gerade: das sind die Ausnahmen.

Heute Nacht gegen 4 Uhr habe ich noch auf einem Studiengang "unter das Volk" in einem sogenannten Verbrecherkeller gesessen, von dem ich nachher erzählen will. Und heute früh um 8 Uhr bin ich auf einem städtischen Arbeitsnachweis gewesen, um die Technik des Unterstützungswesens kennen zu lernen.

Das Herz geht einem immer wieder durch. Offen gestanden, bin ich mit dem gedanken hingegangen, vielleicht könnte ich doch einem oder zweien, wenn ich gegen das Massenelend auch nichts vermöchte, helfen. Wo acht Menschen essen, kann der neunte oder zehnte vielleicht auch noch eine Zeitlang regelmäßig sein Mahl bekommen. Oder man hat einen Anzug oder ein paar Stiefel übrig. Oder man macht wenigstens einem, der "bessere Tage" gesehen hat, einmal einen "guten Tag", an dem nichts fehlt, nicht die behagliche Häuslichkeit, der Schluck Wein (den ich selber mir höchst selten gönne), nicht die treffliche Zigarre. Man geht so mit etwas unklaren Gefühlen hin, man wappnet sich gegen die erwarteten Elendsbilder. Nun habe ich stundenlang dagesessen. Ich habe keinerlei herzergreifende Geschichten erlebt, wie man sie in Kalender-Feuilletons findet, wenn auch Not natürlich sichtbar war. Heimgekehrt bin ich nur mit einer ungeheuren Hochachtung vor der Arbeit, die sich Staat und Volk, Kommune und Gesellschaft machen, um die Arbeitslosen nicht untergehen zu lassen, weder materiell noch moralisch; namentlich die Jugendlichen bis zu 18 Jahren nicht. Betäubend ist nur die Massenhaftigkeit. Die große Zahl derer, die keinen Broterwerb haben. Sie erklärt sich nicht nur durch Versailler Vertrag, Londoner Ultimatum, Dawes-Pakt und die ganze Erfüllungspolitik, sondern auch dadurch, daß heute 700 000 junge Leute auf dem Arbeitsmarkt ungebraucht liegen, die wir früher infolge der allgemeinen Wehrpflicht als Soldaten beschäftigten, ernährten und erzogen. Heute - nur sind wir inzwischen viel ärmer geworden - müssen wir einen höheren Betrag als Unterstützung der Arbeitslosen hergeben. In dem mehrstöckigen Bureauhaus, in dem ich beobachte, gibt es einen dauernden Zustrom, alle Räume sind gefüllt, die Beamten "stempeln" geradezu maschinenmäßig die Arbeitslosenkarten, passen dabei aber doch höllisch auf, denn immer wieder wird - namentlich von Jugendlichen, die die tüchtige Kontrolle unterschätzen - iregndein kleiner Schwindel versucht. Die Arbeitslosigkeit selbst festzustellen, ist verhältnismäßig einfach. Wer eine Beschäftigung hat, kann doch keine Versicherungskarte vorweisen, denn die hat der Arbeitgeber; also nur einmalige Aushilfsarbeit oder Hausierdienst oder dergleichen kann man allenfalls verschweigen. Und von 8 bis 12 Uhr muß man dasitzen und darauf warten, daß einem vielleicht Arbeit nachgewiesen wird, und wenn es sich auch nur um gelegentliches Zettelankleben, Teppichklopfen, Ausladenhelfen, Kistenschieben und dergleichen handelt. Wer nur stempeln läßt, Geld holt und stets sofort wieder verschwindet, verliert seine Unterstützung, kriegt nächstens den Stempel nicht mehr. Und der ist nicht so leicht zu fälschen. Er ist mal grün, mal violett, mal rot, mal blau, und es ist in Berlin immer eine Kombination griechischer Buchstaben, so heute Psi, Phi, Gamma. Die Beamten sprechen knapp und bestimmt, sind aber freundlich. Einst war der Empfang einer Armenunterstützung doch eine Art Schande, man war Staatsbürger zweiter Klasse, man durfte nicht zum Reichstag wählen, denn im großen und ganzen war es doch so: wer arbeiten wollte, fand Arbeit, und wer es nicht mehr konnte, dem halfen Verwandte. Heute hat die allgemeine Not das Schamgefühl ausgelöscht. Die Leute kommen mit dem Bewußtsein hin, ein Recht auf das Geld zu haben, das doch der arbeitende Teil des übrigen Volkes aufbringen muß; sie finden sogar, daß ihnen zu wenig ihr Recht wird. und sind zum Schimpfen geneigt und lesen gierig die im Korridor und sonstwo immer wieder angeklebten aufreizenden Handzettel der Kommunisten. Aber es ist doch wohl immer noch so, daß die meisten auch noch von Verwandten oder guten Freunden (oder, siehe oben, von lieben zukünftigen Schwiegereltern) unterstützt werden, denn, soviel ich mir auch die Augen reibe, ich sehe während all der Stunden kaum einen einzigen, der einen wirklich erbarmungswürdigen Eindruck macht; fast alle - außerhalb Berlins mag es nicht viel anders sein - sind noch ordentlich gekleidet, sichtlich genügend ernährt, und jeder zweite raucht auch noch Zigarren oder Zigaretten. Verallgemeinern will ich auch hier nicht; ich berichte aber wirklich Gesehenes.

Richtig erhebend ist es, zu erfahren, wieviel Mühe man sich namentlich mit den Jugendlichen gibt, damit sie nicht unter die Räder kommen. Nach dem Stempeln und dem Gelderheben stehen diesen Menschenkindern für den Rest des Achtstundentages, oft auch noch für den Abend, die Jugendheime zur Verfügung, wo beamtete Pfleger und Fürsorger ihrer warten. Auch Sport- und Spielplätze sind damit verbunden. Auch die städtischen Bäder stehen den Arbeitslosen offen. In einem der Heime bin ich gewesen und habe mir das Programm dieser Woche abgeschrieben. Montag: Probe für den Bunten Abend. Dienstag: 3 Uhr Baden, ½8 Uhr Bunter Abend. Mittwoch: Wanderung in den Müggelbergen (Bahnfahrt auch stets kostenlos), &frax12;4 Uhr Theater. Donnerstag: Wanderung nach Babelsberg, Sportspiele. Freitag: Sternwarte Treptow, Lichtbildvortrag über deutsche Städte. Sonnabend: Sportspiele, Wanderung nach dem altertümlichen Bernau. Wundervoll, nicht wahr ? Als Kaiser Wilhelm I. im November 1881 den Grund zu der deutschen Sozialreform legte, hieß es in seiner Thronrede, das geschehe ohne jede Rücksicht auf Dank oder Undank. Man hat keinen Dank geerntet. Aber wenn Staat und Gesellschaft dann auch noch zulassen, daß große Parteien ihre Arbeit in den Schmutz ziehen und das Volk verhetzen, so geben sie kampflos sich selber auf.

Mit diesem politischen Verbrechertum kokettiert die Regierung. Die Kommunisten nennt Severing väterlich politische Kinder. Und mit dem strafgesetzlichen Verbrechertum kokettiert die Gesellschaft. Ich für meine Person breche freilich grundsätzlich den Verkehr mit jedem Menschen ab, der mit blau untermaltem Auge auf sogenannte Apachenfeste geht.

Wir haben das von Paris, von wo auch die Dirnenlieder stammen. Der letzte Kitzel für brillantenbepackte Berliner Kommerzienrätinnen und eine sentimentale Erinnerung für gewisse Neureiche. Aber auch der kleine Mittelstand wird schon infiziert, und zwar durch die Revuetheater eines "James" Klein und anderer Galizier, die doch - weil sie nicht die geringste geistige Anstrengung verlangen, nur Aufnahme mit schier geblendeten Augen - gerade von dem behäbigen Spießbürger besucht werden. Kaum eine Revue mehr ohne Apachenszene. Auch die neueste seit einigen Tagen gespielte Revue, die der Pleite-Klein ("zu gesund", sagen die Seinen) frech "Berlin ohne Hemd" nennt, hat natürlich wieder solch eine Szene. "Er" ist gerade aus dem Gefängnis entlassen; "Sie" ist ein schmieriger Zille-Typ. Der Dialog ist ekelhaft. Das ist noch viel widerwärtiger, als das sonst übliche Drum und Dran (an den auftretenden "Damen" ist freilich sehr wenig drum und dran) dieser Revuen, an deren weiblichen Karyatiden man sich längst überdrüssig gesehen hat. Eine große Zahl von Verbänden hat jüngst in einer Eingabe die staatliche Zensur dagegen auf den Plan gerufen. Aber der Staat kann nicht viel ausrichten, wenn das Publikum gedankenlos bleibt und schmatzend zu Plattheiten läuft, während Bergers hinreißende "Königin Luise" wegen zu schwachen Besuchs sehr bald vom Theaterprogramm abgesetzt werden mußte.

Staatliches Reglementieren schadet manchmal sogar. Die für eine Weltstadt "unmögliche" Polizeistunde um 1 Uhr, um welche Zeit jetzt auch jedes anständige große Kaffeehaus schließen muß, hat uns nur die Blüte der geheimen Nacht- und Nepplokale eingebracht. Nur annähernd ein Dutzend sogenannter Verbrecherkeller läßt Severing in Berlin die ganze Nacht über offenstehen. Da kann die Polizei gelegentlich eine Razzia machen und bekommt dabei häufig Langgesuchte, Langvermißte in die Finger. Aber auch das wird immer schwerer, denn diese Lokale sind völlig überflutet von harmloser Gesellschaft. Vor dem Kriege habe ich einmal eine Streife mitgemacht, die mir grauenvolle Bilder der Entartung und Verlumpung zeigte, wo die Verbrecher zusammenhockten wie die Wanzen in einem Nest. Damals saß der gute Bürger eben nicht da, sondern trank friedlich im Café Bauer oder Café Viktoria das unwiderruflich letzte Glas Pilsener oder den Schlußmokka. Heute fährt von 1 Uhr nachts ab ein Auto nach dem anderen etwa vor dem Schwerin-Keller vor. Apachenmäßig ist dort nur der Ausschank von Bier: wer "eine Kalte" verlangt, kriegt die Buddel, kein Glas, und muß sie so an die Lippen setzen. Aber der Mokka oder die Wiener Würstchen oder die Prärie-Auster werden wie in einem "erstklassigen" Resaturant von Kellnern in blendender Wäsche serviert. Es ist gestopft voll. Lauter sogenannte anständige Leute schauen sich die Augen aus nach Verbrechern. Man sieht aber rundum keinen.

Stundenlang sitze ich an einem Tischchen, an dem auch ein Herr der guten Gesellschaft Platz genommen hat. Wir unterhalten uns sehr gebildet. Mindestens das Maturum hat der Mann sicher. Er ist gewählt gekleidet, spricht gewählt, und er hilft mir suchen. Das einzige, was wir entdecken, ist schließlich ein etwas angeheitertes Mädchen von verfallenem Habitus, das in einem Moment, wo es sich unbeobachtet glaubt, Kokain schnupft.

Nachher sagt mir der Kellner, mein Gegenüber sei einer der glänzendsten Taschendiebe der Welt. Mir ist aber nichts weggekommen. Die Sicherheit im Schwerin-Keller ist sozusagen Ehrensache.
11. März 1926 (Donnerstag)


27

Der Herr ohne Fahrkarte - Höflichkeit hierzulande und anderswo - Die Umschmeichelung des Käufers - Kleine Geschenke - Volksbegehren - Pariser Modetee in Berlin - Keine Bleichsucht mehr - Im Salon de Beauté

"Det kenn' wa!"

Ein durchbohrender Blick ruht auf meinem Gesicht, eine schwere Hand auf meiner Schulter. "Det kenn' wa!", sagt der Beamte, nachdem ich stotternd erklärt habe, ich hätte meine Karte 2. Klasse verloren, und er bringt mich, den offensichtlichen Betrüger, zu dem Fahrdienstleiter der Untergrundbahn. Die Angst vor solchen Szenen geht durch unser ganzes Volk. Die Fahrkarte, das Theaterbillet, der Ausweis für die Generalversammlung, der Paß, das Abonnementsheftchen werden immer wieder befühlt, ob man sie auch richtig in der Tasche hat, denn man weiß sicher, daß man sonst vom Portier bis zum Publikum nur erbarmungslose Richter findet und Grobheiten einstecken muß. Die Grobheit ist überhaupt fast immer ein Kind des Mißtrauens.

Die höflichsten Menschen, sagte man früher, seien die Franzosen. Ja, mit dem Mundwerk! Rücksichtslos rennt der Pariser die entgegenkommende Dame, wenn sie nicht sehr jung und sehr pikant ist, vom Bürgersteig in den Dreck; aber die höflichste Phrase entflattert dabei seinem Munde. Bei dem Louvre-Brande traten die Herren der Schöpfung das schwache Geschlecht zu Boden, um nur sich selber zu retten, und teilten Faustschläge an junge Mädchen aus, die im Wege standen.

Nein, die höflichsten Menschen sind, nach meinen Erfahrungen, in Europa die Engländer. Die Engländer in England, will ich gleich hinzufügen. Auf dem Kontinent, unter Fremden, beißen sie ihre Nation heraus, sind sie oft unleidlich. Daheim aber sind sie höflich, weil sie gegen den Landsmann von vornherein kein Mißtrauen hegen, sondern grundsätzlich annehmen, daß er ein Gentleman ist, selbst wenn er wie ein Tramp aussieht. Aus dem Süden und Norden und Westen von London, weit über Croydon und Finchley und Richmond hinaus, kommen täglich Hunderttausende mit der Bahn in die City. Ohne Aufenthalt strömen sie, die Hände in den Taschen, durch die Sperren, sagen nur das eine Losungswort: season. Sie haben also ein Saison-Billet; eine Monatskarte, wie wir sagen. Automatisch gibt der Schaffner zur Antwort: Thank you, Sir! Man steht drüben auf dem Standpunkt, daß natürlich einmal auch ein Betrug vorkommen könne, daß man aber nicht um des möglicherweise einen Schäbigen willen zehntausend Gentlemen zu belästigen brauche. Das Vertrauen zum Publikum aber erzieht dieses zur Ehrlichkeit. Es kommt in England kaum je vor, daß die Mutter eines elfjährigen Junmgen am Schalter behauptet, er sei noch nicht zehn Jahre.

Natürlich hängt dies auch mit der Jahrhunderte alten Wohlhabenheit des englischen Bürgertums zusammen. In Ländern der Armut glaubt man dir nicht, auch wenn die Bevölkerung zu den ritterlichsten der Erde gehört. Zahlst du in Spanien mit einem Duro, so haut der Kaufmann die Münze erst auf den Ladentisch, um am Klange die Echtheit zu prüfen. In Deutschland aber war Menschenalter lang besonders das Beamtentum durch sein Mißtrauen und seine Grobheit berüchtigt. Sehr viel besser wurde es damit in den letzten zehn Jahren vor dem Kriege. Das war die Zeit unseres beispiellosen materiellen Aufschwungs unter Wilhelm II., wo wir auf dem Wege dazu waren, das reichste Volk der Erde zu werden. Die spezifische Grobheit des Publikums aber in Berlin oder in München war einfach autochthone Überhebung. Ein Bund "Pro Gentilezza" wollte das ändern. Er brach daran zusammen, daß wir in der großen Warennot allesamt zu Kriechern vor jedem Ladenfräulein wurden und dafür Grobheiten ernteten; denn wahre gegenseitige Höflichkeit wird nur durch gleiches Selbstgefühl auf beiden Seiten ermöglicht. Inzwischen hat sich die Lage ja wieder verändert, die Ware ist da, aber der Käufer eine Seltenheit, und infolgedessen werden wir in den Läden wieder behandelt wie die Lords. Selbst Einkäufe im Werte von nur einigen wenigen Mark werden einem in Berlin ins Haus geschickt. Die läppische Zugabe der Kinderballons, die eine Zeitlang - übrigens auf der gesamten bewohnten Erde - Mode war, läßt nach, aber dafür gibt es bald in allen großen Warenhäusern "umsonst" allerlei Vorträge und Aufführungen, und daß kleine Geschenke die Freundschaft erhalten, das hat auch jedes Spezialgeschäft begriffen. Der größte Berliner Seifenladen gibt seinen Kundinnen, sobald die Quitungsmarken in ihrem Heft 15 Mark ausweisen, ein solches Geschenk: drei Küchenhandtücher oder ein Toilettetäschchen oder eine "Krümel-Garnitur" (Schippe und Handfeger für den Speisetisch) oder ein Spitzentaschentuch oder eine Grammophonplatte und dergleichen mehr. Und wer in irgendeinem Hotel - jetzt sind schon alle so weit - nachmittags für 2½ Mark beim Mokka Roulette tanzt, kann mit einer Schachtel Zigaretten oder einem Fläschchen Likör oder Parfum bereichert heimgehen. In der Wilhelma am Kurfürstendamm, der schwarzweißroten Bierburg, in der allabendlich der aus dem alten Heere bekannte Königliche Musikmeister Becker seine Kapelle dirigiert, erhalten allabendlich je 20 ausgeloste Gäste je einen Liter Triumphator-Freibier; und montags und freitags ist ein ganzes Spanferkel zu gewinnen. Überall wird der Kunde als eine Kostbarkeit geschätzt. Sogar auf den Berliner Finanzämtern ist eine Ära der Höflichkeit ausgebrochen.

Wir haben nicht etwa unser Wesen geändert, sondern nur die Methode, um - das letzte Geld dem herauszulocken, der noch welches hat. In Wirklichkeit gönnt es keiner dem anderen. Schon die Möglichkeit, daß unsere früheren Fürsten einen Teil ihres Privateigentums behalten könnten, hetzt Millionen zum Protest.

Noch nicht die Hälfte der Leute, die jetzt von den Roten zum Volksbegehren geschleppt sind, weiß wirklich, um was es sich handelt. Die einen haben sich vorreden lassen, daß das Volk "3 Milliarden" an die Herrscherhäuser bezahlen solle. Nein, nicht einen Pfennig! Die Hohenzollern und die übrigen sollten nur einen Teil ihres Eigentums - so bestimmten es die beiderseits angenommenen Vergleiche - aus der durch die Revolution beschlagnahmten Masse zurückerhalten; und von diesem unbestrittenen Privateigentum wollte beispielsweise der Staat Preußen wiederum einen Teil käuflich erwerben. Durch die ganze Agitation will man das Volk betäuben und es vergessen lassen, daß rund 5 Milliarden Goldmark während der Revolution rechnungslos veruntreut, über 2 Milliarden Goldmark bei Behörden und Privaten durch Arbeiter- und Soldatenräte erpreßt sind, daß die Entente um fast 52 Milliarden Goldmark Deutschland beraubt hat und daß laut Dawes-Pakt jährlich 2½ Milliarden Goldmark von uns abgeführt werden müssen. Nicht die Fürsten saugen uns aus, sondern die Novemberlinge und der Landesfeind! Aber das dürfen die Leutchen natürlich nicht wissen. Die Mehrzahl der Verhetzten glaubt sogar, wenn das Volksbegehren zum Volksentscheid führe und dieser Erfolg habe, so würden "Milliarden" an die Unterzeichner zur Ausschüttung gelangen. In Berlin-Wedding hat ein altes Frauchen seiner Unterschrift noch Straße, Hausnummer, Stockwerk hinzugefügt und den Wahlvorstand gefragt, ob er es gut lesen könne; denn sie wünsche, daß das Geld dann auch richtig bei ihr eintreffe. Wenn die Berliner so "aufgeklärt" sind, braucht man um die anderen erst recht nicht besorgt zu sein. Im schwäbischen Oberlande kenne ich ein Bauerndorf, in dessen Nähe ein Fürst - kein ehemals regierender, sondern einer vom gewöhnlichen, nicht einmal Hochadel - ein Waldstück besitzt, da mit der jetzigen Auseinandersetzung natürlich nichts zu tun hat. Trotzdem hat der erleuchtete Schultheiß alle Einwohner zum Volksbegehren veranlaßt, denn: "Die wo net unnerschreibe, kriehe nix vom Fürschtewäldle!"

Schon während des Krieges und der Blockade haben wir unter dem Irrtum gelitten, daß es nur auf das "Erfassen" ankomme, auf die Verteilung. Dabei können schließlich alle verhungern. Es kommt auf die Vermehrung der Produktion an. Das ist das einzig wahre. Die wenigen Einsichtigen im Volke verfechten noch heute diesen Grundsatz und tun alles, was sie können, damit wir mehr eigene Güter erzeugen. Aber die gedankenlose Menge läßt sich nicht nur vom Auslande auspowern, sondern verlangt sogar noch selber nach fremder Ware. Die "echt englischen" Stoffe in den Anzeigen unserer Maßgeschäfte hören nicht auf; und ein "deutscher" Kunstgewerbe-Professor, Haas-Heye, der nicht gerade im besten Rufe bei uns steht, kommt uns nun sogar mit großer Reklame für Pariser Modehäuser.

Modetees sind in Berlin, ja in Deutschland überhaupt, zurzeit die große Mode. Nach Jazzbandklängen die Mannequins dahertänzeln zu sehen, in sinnberückenden Toiletten vom Pyjama bis zum Abendkleid, das gehört nun einmal zu den sinnlichen Erregungen, auf die die großstädtische Damenwelt nicht mehr verzichten will. In Berlin N und in Berlin S veranstalten kleine Konfektionsgeschäfte solche Vorführungen in Kaffeehäusern. Im Mercedespalast Unter den Linden oder im Faun des Westens in der Tauentzienstraße tun es die großen Luxushäuser. Und im Hotel Kaiserhof ist Professor Haas-Heye als Prophet der 20 bekanntesten Pariser Modefirmen aufgetreten, ein Genuß, den der Berliner Sterbliche an diesen drei Tagen mit 15 Mark Eintrittsgeld bezahlen mußte. Die Pariser Geschäftemacher haben uns offenbar überschätzt. Diese Schau ist nicht zu dem großen gesellschaftlichen Ereignis und händlerischen Erfolge geworden, sondern blieb im wesentlichen eine Angelegenheit für Fachleute. Feiste Konfektionäre mit ihren Direktricen saßen da, dazwischen auch mal eine Modezeichnerin. Einer der Vielmögenden vom Hausvogteiplatz kann es nicht unterlassen, fast jede der vorführenden jungen Pariserinnen, die zuerst über das Podium an der ganzen Langwand des großen Saales wandeln und nachher sich zwischen allen Tischchen hindurchschlängeln, anzuhalten und hier und da sachverständig am Stoff zu zupfen.

"Ne me touchez pas, s'il vous plaît, monsieur!", sagt möglichst liebenswürdig eines der Mädchen.

"Was hat se gesagt, von Tusche und so ?" fragt der Konfektionär seine Direktrice; und die gibt die Frage weiter an ihr "Fräulein mit Sprachkenntnissen". Eine Einigung wird aber nicht erzielt.

Außer mir sind wohl nur sehr wenige Menchen im Saale, die nicht zum Fach gehören, aber gern die Art studieren, in der diese Mädchen aus der Fremde auftreten. Es ist lange her, seit ich vor dem Kriege in Frankreich war, doch der Typ verändert sich nicht. Die Pariser Mannequins sind alle hüftenjung, haben aber starre Holzschnittgesichter, die nicht einmal durch die Bemalung puppenhaft werden. Jede das Modell einer Medea, die gerade zwei Kinder getötet hat. Man traut der Pariserin in diesem Babel der Welt - heute ist es dies wieder mehr als je - die beste Technik in ihrem urewigen Fach des Männerbetörens zu, aber eben auch nur Technik, keine wirkliche Hingebung oder Leidenschaft. Dazu fehlt es zu sehr an liebenswerten Männern. Irgendwo in ihren Gesichtszügen hat fast jede Pariserin etwas Herbes, so, als hätte man sie fast unmerklich mit einem harten Faber Nr.3 gefurcht. Aber wie sie hier, trotz der Stöckelschuhe katzenleise, in der Pracht ihrer Gewänder den Zuschauer beschleichen, wie sie diskret sich wiegen oder mit dem Hauch eines Schulterzuckens etwas hervorheben, das ist hohe Schule. Im großen und ganzen kann man, bei aller Achtung vor dem Geschmack der Pariser Zeichner, aber doch nur sagen, daß wir in Berlin nicht um Zollbreite hinter ihnen zurückbleiben. Einiges wenige fällt als bizarr auf, so die großen Pleureusen-Fächer, die bei uns nicht gesellschaftsfähig, sondern erst variétéfähig sind, aber sonst hat man alles vom Hut bis zu den Schuhen gleich reizvoll auch hier in deutschen Modellhäusern. Die Länge der Kleider ist übrigens ganz uniform: sie enden alle hart unterhalb des Knies, nicht weiter oben, nicht weiter unten, ganz gleich, ob sie für jüngere oder ältere Damen bestimmt sind. Nur ein einziges macht eine Ausnahme, ein weißes Brautkleid. Das reicht bis zu den Knöcheln. Das ist wirklich endlich einmal sicherer Takt, ist Stilgefühl, das uns Deutschen bereits abhanden zu kommen beginnt. Eine Braut im kniefreien Tanzkleidchen, dabei mit einer unmotivierten Schleppe von der Achsel her, oben von dem Orangenblüten- oder Myrthenschleier umwallt, ist eine gestückelte unechte Erscheinung. Wenigstens dieses eine Mal muß das symbolisch Zarte und zauberhaft Geheimnisvolle - sagen wir ruhig: das Keusche - des jungen Mädchens, das von dem Mädchentum Abschied nimmt, zum Ausdruck kommen.

Sonst aber sei nichts gegen die heutige Tracht gesagt, soweit sie nicht bewußt indezent wird. Seit unsere Frauen und Mädchen dem Schnüren entsagt haben, siet sie nicht über zwei "warmen" noch einen "Anstandsunterrock" tragen, seit sie Licht und Luft und Bewegungsfreiheit haben, seit sie ihren "Teint" nicht mehr durch Handschuhe und Sonnenschirm hüten, gehört die Bleichsucht bei uns zu den verschwindenden Krankheiten. Auch ausländische Besucher, die seit 1914 nicht mehr bei uns gewesen sind, stellen mit Erstaunen fest, wie frei und "adelig" die deutschen Frauen und Mädchen in ihrer äußeren Erscheinung heute sind, verglichen mit dem gedrückten Wesen von früher, - nur ahnen diese Besucher freilich nicht, daß es den meisten Berlinerinnen weniger auf das Adelige als auf das Kesse ankommt.

Ein paarmal bin ich jetzt im Wartezimmer eines unserer größten Salons de Beauté im Berliner Westen gewesen. In allen Kabinen hört man sprechen. Mit einem Miniaturmesser werden unseren Modeschönen die Augenbrauen abrasiert und dann neu gemalt.

"Bitte bogenförmig fein und ganz hoch oben, ich möchte ein unschuldsvoll fragendes Gesicht!", sagt eine Dame.

"Bitte die Augenbrauen dicht, fast zusammen und richtig eckig, so Typ Leidenschaft!", verlangt eine andere.
18. März 1926 (Donnerstag)



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Glossen 28 - 30

© Karlheinz Everts